15. Dezember 1914 // Artikel
Amadeo Bordiga // Sozialismus und „nationale Verteidigung“

Sozialismus und „nationale Verteidigung“

15. Dezember 1914

„Socialismo e ‚difesa nationale’“: Avanti, Nr. 352, Dezember 1914.


Unter den fix und fertigen dogmatischen Formeln, die uns jene als Joch um den Hals hängen möchten, die seit mehr oder weniger langer Zeit – zum Glück für sie und die Gesellschaft – außerhalb unserer „Konvents“ leben, sticht besonders die Formel der „nationalen Verteidigung“ hervor.

Dieses Joch wird bedenkenlos von nicht wenigen unserer Genossen akzeptiert: Als „beschlossen und verkündet“ erscheint, dass jene Sozialisten recht daran tun, sich – sei es als einzelne oder als Partei – völlig mit der nationalen Bourgeoisie zu solidarisieren, wenn es darum geht, das bedrohte Vaterland zu verteidigen.

Dies ist – zur Freude vieler – eine Ausnahme von der… haarsträubenden Regel, die da heißt: Neutralität um jeden Preis. Und doch wird man sich die Sache etwas genauer ansehen dürfen, wobei man über ihre schematischen und formalen Aspekte hinausblickt und sie mithilfe des Zweifels und der Kritik (eines Tages werden wir viele sein, die damit arbeiten) untersucht, die jene „Wahrheit“ in Frage zu stellen wagen, die schon den offiziellen Segen des… anti-sozialistischen Synedriums1 empfangen hatte.

Nicht anders als dem Frommen, wenn er jemanden fluchen hört, stehen den Bourgeois, den Nationalisten, den kriegslüsternen Demokraten die Haare zu Berge, wenn sie hören müssen, dass die Heiligkeit eines „Verteidigungskrieges“ angezweifelt wird; denn nach guter alter Pfaffenart wurde diese landläufige Meinung bekräftigt, indem man einige lateinische Worte oder einige aus der Luft gegriffene Beispiele aufsagte: vim vi repellere licet2, werde ich von einem Missetäter überfallen, gebrauche ich Gewalt, um mich zu verteidigen.

Diese Art und Weise, den Gordischen Knoten zu durchschlagen – nicht gerade ein Ruhmesblatt für die schwergewichtigen Denker, die unsere kollektiven Dumm- und Albernheiten aufgedeckt und diagnostiziert haben wollen –, lässt die Bewertung sämtlicher Faktoren außer acht, die man stets festhalten muss, wenn man die Denkgewohnheiten des gröbsten Dogmatismus wirklich vermeiden will.

Um der Wahrheit willen: Der ehemalige Leiter3 des „Avanti!“ hat vor einigen Monaten, nachdem er aus der uns vorliegenden Frage den Prüfstein gemacht hat, um Sozialisten von Anarchisten (?!) zu unterscheiden, den proletarischen Standpunkt ungefähr wie folgt umrissen: Die Arbeiter sind zwar diejenigen, die, eben weil sie nichts besitzen, auch nichts zu verlieren haben, trotzdem sind sie die größten Opfer einer Invasion, weil sie nicht vor der feindlichen Armee fliehen können, wie es denjenigen möglich ist, die über finanzielle Mittel verfügen. Deshalb seien die Arbeiter am meisten den Repressalien, Greueltaten, Unterdrückungen seitens des Feindes ausgesetzt, und es dürfe nicht sein, dass sich die Sozialistische Partei angesichts dessen gleichgültig verhalte, sondern sie habe in solchen Fällen die Pflicht, mit all ihren Kräften am Krieg gegen den Eindringling teilzunehmen und auf ihre präjudizielle politische Opposition gegen den bürgerlichen Staat zu verzichten.

Von einem sehr vagen Standpunkt aus könnte man sagen, das Proletariat habe ein Interesse daran, die territoriale Integrität der Nation zu wahren, um zu vermeiden, dass über die Klassenunterdrückung hinaus noch eine fremde Unterjochung hinzukommt. Angesichts einer Bedrohung des bereits erreichten Niveaus politischer Freiheit und wirtschaftlichen Wohlstandes sollten die Arbeiter gemeinsame Sache mit der Bourgeoisie machen und im Klassenkampf eine Pause einlegen, bis die Landesgrenzen wieder sicher seien…

Es stimmt, dass eine drohende Invasion die Interessen aller sozialen Klassen eines Staates gewissermaßen vereinigt, und dass der Sieg des Feindes in solchen Fällen für das Proletariat einen materiellen und politischen Schaden bedeutet; eine solche Gefahr lastet jedoch auch schon in Friedenszeiten auf dem Proletariat aller Länder, und dies dank des überall verbreiteten und weltweit in stetigem Anwachsen begriffenen Militarismus. Diese Gefahr wird – zum Nachteil der arbeitenden Klassen aller kriegsführenden Länder – sofort nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen zwei oder mehreren bürgerlichen Regierungen real.

In solch einem kritischen und fieberhaften Augenblick soll also die Sozialistische Partei untersuchen, ob die Voraussetzungen für eine nationale Verteidigung erfüllt sind oder nicht, und dann entscheiden, ob ihr Verhalten auf völliger Eintracht mit den anderen Parteien und der Regierung beruhen oder ob sie sich ausgesprochen ablehnend zeigen will – was sich in verschiedensten Formen äußern könne: von einer Stimmabgabe bis hin zur Ausrufung eines Arbeiteraufstands. Es ist jedoch unmöglich, eine solche Untersuchung durchzuführen, vor allem deshalb, weil die Außenpolitik in den modernen Staaten das ausschließliche Monopol der herrschenden Kreise ist und die ganze diplomatische Tätigkeit geheim gehalten und sogar der parlamentarischen Kontrolle entzogen wird. Wie will man also feststellen – und dies gerade in dem Augenblick, wo es gilt, die eigene Aktion unter größtem Zeitdruck zu beschließen –, welche der kriegführenden Bourgeoisien die Verantwortung für den Krieg zu tragen hat, da doch sämtliche Regierungen behaupten, wider Willen in den Krieg hineingezogen worden zu sein, während sie selbst alles aufgeboten hätten, um den Frieden zu erhalten?

Dies ist jedoch nicht der Kern des Problems. Selbst wenn man eindeutig feststellt, welcher Staat den Krieg provoziert hat, hat man damit noch nicht einen wesentlichen Unterschied zwischen den einzelnen Länder ausgemacht, jedenfalls nicht, was die Risiken und die Invasionsgefahren, denen die Grenzgebiete ausgesetzt sind, angeht. Da eine Mobilmachung der gegnerischen Armeen im Abstand von wenigen Stunden erfolgt, und da man nicht weiß, welche Staaten gemeinsame Sache mit dem Angreifer oder dem Angegriffenen machen werden, sind alle beteiligten Nationen der Drohung einer Invasion ausgesetzt und laufen Gefahr, in Zukunft politisch unterdrückt zu werden – alle Vaterländer sind in Gefahr und für alle bestehen letzten Endes die Voraussetzungen der nationalen Verteidigung. Als 1859 Frankreich und Piemont Österreich den Krieg erklärten, wurde unmittelbar danach die Provinz Novara von der österreichischen Armee besetzt. 1870, als die französische Nation die Absicht hatte, Preußen niederzuwerfen, befand sie sich sehr bald in der katastrophalen Lage einer Defensive. Es liegt auf der Hand, dass in allen Kriegen unter Nachbarstaaten die mehr oder weniger große, jedes Land betreffende Gefahr nicht im Verhältnis zum Kriegsgrund steht, sondern zur stärkeren oder schwächeren militärischen Schlagkraft; und dies besonders deshalb, weil alle Armeen in jedem Moment ihren Plan zur Mobilmachung und ihre strategischen Pläne zur Defensive bzw. Offensive gegen den eventuellen Gegner schon in der Schublade haben.

Nur in den Kolonialkriegen können diejenigen, die Wert darauf legen, gewisse juristische Feinheiten im Grad der Gewaltanwendung vorzubringen, mit Sicherheit – de facto und de jure – sagen, ob ein Übergriff vorliegt und woher er kommt. Aber – welch merkwürdiger Zufall! – es sind gerade die Kolonialkriege, die die Zustimmung der Demokraten finden, also jener Anhänger des Selbstbestimmungsrechts der Nationen, die bei dieser Gelegenheit aus einem weiteren Kästchen ihrer hochentwickelten Gehirne einen neuen Vorwand hervorzaubern: die Verbreitung der demokratischen Kultur.

Kehren wir zum Thema zurück und nehmen wir an, zu Beginn des Krieges stehe einwandfrei fest, welchem Staat die Verantwortung, vor der „Geschichte“ oder vor „Justitia“, anzulasten sei (was für uns Marxisten immer eine hohle und unnütze Abstraktion bleibt); und nehmen wir weiter an, man würde entsprechend dieser Unterscheidung in der Schuld der Bourgeoisien auch eine Unterscheidung in der Pflicht der Proletarier machen, je nachdem, ob sie dem angegriffenen oder angreifenden Staat angehören. Nun, man hätte damit nichts anderes erreicht, als die Folgen der unseligen Politik der eigenen herrschenden Klasse dem Proletariat und der Sozialistischen Partei aufzuhalsen, die in dem Angreiferstaat leben: sie würden die Pflicht haben, gegen den Krieg zu kämpfen – während die Proletarier des angegriffenen Staates „das Recht“ hätten, in den Reihen der „eigenen“ Armee und unter dem Kommando eines sozialistischen Kriegs (-ministers) zu marschieren, um das Vaterland zu retten; wobei aber niemand etwas einzuwenden haben wird, wenn, falls es die Situation nun mal erfordert, die Landesgrenzen im prächtigen Vorwärtssturm überschritten werden…

Dies ist die logische Konsequenz, zu der uns der unsinnige Begriff der sozialistischen Legitimität des Verteidigungskrieges führt. Diese Beschneidung der anti-militaristischen Aktivität des Proletariats hat, indem diese Theorie in die Praxis übertragen wurde, zum Bankrott der proletarischen Internationale angesichts des europäischen Krieges geführt. Nebenbei gesagt, wenn wir von der Aktion der Sozialistischen Partei gegen den Krieg sprechen, begnügen wir uns damit, die Minimalforderung nach Erhaltung der politischen Klassenopposition gegen den Staat, auch in Kriegszeiten, festzuhalten, da die weiteren Aktionen von den Möglichkeiten der jeweiligen Lage abhängen.

Die ideale Methode wäre, die anti-militaristische Aktion in allen Ländern gleichzeitig durchzuführen, aber eben das ist durch den verderblichen und trügerischen Ausnahmefall der „nationalen Verteidigung“ verunmöglicht worden, auf den sich, gleich ob das zutraf oder nicht, die – in diesem Moment kriegszustimmenden – sozialistischen Parteien beriefen, wobei sie stets zweideutig blieben und mit dieser Doppeldeutigkeit spielten. Im Angreiferstaat wiederum ist es absurd anzunehmen, dass die politische oder revolutionäre Opposition (je nach Kräfteverhältnis und Entwicklungsgrad der sozialistischen Parteien) nicht die Siegesaussichten der kriegführenden Macht schmälert, denn die Siegeschancen eines Staates, ganz gleich ob angegriffener oder angreifender Staat, werden von seiner militärischen Schlagkraft, aber auch vom jeweiligen Entwicklungsgrad der sozialistischen Strömungen im Proletariat abhängen. Wenn also die Sozialistische Partei einen entschlossenen Kampf gegen die eigene Bourgeoisie, unabhängig von deren politisch-diplomatischer Verantwortung, führt, erhöht sich natürlich die Möglichkeit der militärischen Niederlage, eines feindlichen Eindringens und einer zukünftigen politischen Unterjochung.

Die Sozialistische Partei steht daher auf jeden Fall an einem Scheideweg: Entweder die eigene Physiognomie und den größten Teil der eigenen Zukunft auf dem Altar des Vaterlandes zu opfern, oder aber, indem sie ihren spezifischen Kampf schonungslos fortsetzt, die eigene Nation zu schwächen.

Angesichts dieser Verantwortung, worin die famosen Begriffe „Verteidigung“ oder „Angriff“ keine Rolle spielen, darf der Sozialismus niemals auch nur im Geringsten zögern, wenn er sich nicht vollkommen verleugnen will.

Folgt man jedoch der erwähnten Theorie Mussolinis, die ihren Ursprung in einer noch unverdächtigen Epoche hat, läuft dieser Verrat der Sozialistischen Partei angesichts des Feindes darauf hinaus, das Blut des Proletariats zu vergießen. Es ist gerade diese zweideutige Fragestellung, die viele Sozialisten täuscht.

Vorläufig ist nicht abzusehen, wie die kriegerische, von der Bourgeoisie geschaffene Lage ohne das Blutopfer des Proletariats gelöst werden könnte, und wir glauben kaum, dass die Tränen der Mütter der gefallenen Soldaten weniger bitter sein werden, weil diese bei der Invasion fremden Territoriums ihr Leben gelassen haben. Jede Parteinahme für eine Angriffs- oder Verteidigungsaktion bedeutet Leid für das Proletariat. Unser Programm ist eins der Negation, das nicht danach strebt, die gegenwärtigen Institutionen gerecht und nützlich zu machen, sondern darauf ausgerichtet ist, die anhaltenden quälenden Widersprüche durch die revolutionäre Flut zu brechen. Das Proletariat wird das Blut seiner Söhne mit dem eigenen Blute bezahlen: Der Sozialismus kann keinen anderen Weg finden, um die Schäbigkeit und Abscheulichkeit der kapitalistischen Welt zu überwinden. Wird den zukünftigen Menschen die zeitgenössische Geschichte etwa nicht absurd erscheinen müssen, wenn man z.B. an die gewerkschaftlichen Forderungen denkt, die durch Streiks durchgesetzt werden sollen, um den Arbeitern um den Preis von Hunger und Elend einen etwas höheren Lebensstandard zu sichern? Diese Widersprüche haften den Grundpfeilern des von uns bekämpften Systems an und werden sich zwangsläufig in unserem ganzen Kampf widerspiegeln: In die Geschichte wird er wohl als ein heroisches, jedoch trauriges Martyrium eingehen, in dem die gegen die Interessen der herrschenden Klasse gerichteten Auseinandersetzungen immer in einem Blutbad der Unterdrückten (der Streikenden und der Schergen, bzw. zu Soldaten gemachten Proletarier, die unter dieser oder jener bürgerlichen Fahne zu kämpfen gezwungen wurden) ausgehen.

Das Dilemma, der Scheideweg vor dem die Sozialistische Partei steht, gleicht dem Shakespeareschen „Sein oder Nichtsein“.

Auf keinen Fall kann sich der Sozialismus der nationalen Einheit beugen, ohne sich selbst zu verleugnen. Diese wird von allen anderen Parteien immer dann hochgehalten und gepriesen, wenn das Vaterland in Gefahr ist, auch wenn die Lage durch die Schuld oder den Willen der eigenen Regierung entstanden ist. Aber selbst wenn der Wille einer feindlichen Regierung, vielleicht sogar mit der scheinbaren Komplizenschaft des eigenen Volkes, das schreckliche Phänomen des Krieges hervorgerufen hat, können und dürfen wir die nationale Einheit nicht zu unserer Sache machen.

Das Opfer, das die anderen Parteien bringen, ist ein ganz anderes als das, was von unserer Partei verlangt würde. In den anderen Ideologien, die den uneingestandenen Drang der herrschenden Minderheit vertuschen – nämlich ihr Recht auf Ausbeutung zu wahren –, ist die nationale Einheit und der Burgfrieden als Zielsetzung klar ausgesprochen. Wir indes sind die Partei der offenen sozialen Zwietracht, der offen erklärten Klassenfeindschaft – und den Sozialismus, unter vom Gegner entlehnten Vorwänden, davon abzubringen, bedeutet ihn zu vernichten.

Wir glauben, dass diejenigen, die einem Rendezvous zwischen Sozialismus und nationalen Fragen nachjagen, dahin kommen werden festzustellen, dass die einzige Bedeutung der historischen Mission der in staatlichen Einrichtungen konstituierten Nationalität der Nationalismus ist, für den es immer eine Nation ist, die immer im Recht ist, und die sich umso mehr im Recht befindet, je größer ihre Armee und je kleiner ihr innerer Klassendualismus ist.

Auf jeden Fall kann man mit der klaren Aussage schließen, dass die am wenigsten glückliche, am wenigsten marxistische und sozialistische Lösung des Verhältnisses zwischen Sozialismus und Nationalität die ist, die im Gemeinplatz der „nationalen Verteidigung“ zum Ausdruck kommt.


Anmerkungen

1. Synedrium (auch: Sanhedrin): der Hohe Rat; lange Zeit die oberste jüdische religiöse und politische Instanz, gleichzeitig das oberste Gericht.

2. vim vi repellere licet (lat.): „Gewalt darf mit Gewalt erwidert werden“; römischer Rechtsgrundsatz zum Notwehrrecht.

3. Gemeint ist Mussolini, Chefredakteur des Avanti von Dezember 1912 bis Oktober 1914.