Zuerst 1913 als Artikelserie erschienen in Die Neue Zeit, Jg. 31, Bd. 1, S. 272–281, 365–373, 365–373, 611–612.
Abgedruckt in: Frits Kool (Hrsgb.), Dokumente der Weltrevolution, Bd. 3, Die Linke gegen die Parteiherrschaft, Olten: Walter-Verlag, 1970, S. 179–210.
Abschnitt 6 fehlt dort, und ist daher dem Band A. Pannekoek, H. Gorter: Organisation und Taktik der proletarischen Revolution (Frankfurt: Verlag Neue Kritik, 1968, S. 66–9) entnommen.
1. Unsere Differenzen
Die Tatsache liegt vor uns, dass seit einigen Jahren an immer neuen Objekten tiefgehende taktische Gegensätze zutage traten zwischen denjenigen, die früher als Marxisten auf demselben Boden standen und gemeinsam den Kampf für die radikale Taktik des Klassenkampfes gegen den Revisionismus führten. Zuerst brachen sie 1910 scharf hervor in der Diskussion über den Massenstreik zwischen Kautsky und Rosa Luxemburg; dann kamen die Gegensätze über den Imperialismus und die Abrüstungsfrage hinzu, und schließlich griffen sie in die Beurteilung des Stichwahlabkommens des Parteivorstandes und in der Stellung zum Liberalismus auf die wichtigsten Fragen der parlamentarischen Politik über.
Man mag die Tatsache bedauern, aber keine Liebe zur Partei kann sie aus der Welt schaffen; sie kann bloß – und das erfordert das Interesse der Partei – geklärt werden. Einerseits muss ihre Ursache erkannt werden, damit sie als natürlich und unvermeidlich hervortritt; andererseits muss der Inhalt der beiden Anschauungsweisen, müssen ihre tiefsten Grundgedanken und ihre weitesten Konsequenzen möglichst klar aus den beiderseitigen Äußerungen herausgeschält werden, damit die Parteigenossen sich orientieren und wählen können; das ist nur durch eine theoretische Diskussion möglich.
Die Ursache der neuen taktischen Differenzen liegt auf der Hand: Unter dem Einfluss der modernen Formen des Kapitalismus haben sich in der Arbeiterbewegung neue Aktionsformen ausgebildet, die Massenaktionen. Bei ihrem ersten Auftreten wurden sie von allen Marxisten begrüßt und propagiert als Zeichen der revolutionären Entwicklung, als eine Konsequenz unserer revolutionären Taktik. Als sie sich aber zu einer machtvollen Praxis entwickelten, stellten sie neue Probleme; die Frage der sozialen Revolution – bisher ein Endziel in ungreifbarer Ferne – erhob sich als eine beginnende Gegenwartsfrage vor den Augen des kämpfenden Proletariats, und jetzt musste die ganze ungeheure Schwere der Aufgabe jedem gleichsam aus eigener Erfahrung heraus klar werden. Daraus erwuchsen zwei Geistesrichtungen; die eine ergriff das Problem der Revolution und suchte durch Erforschung der Wirkung, der Bedeutung und der Macht der neuen Aktionsformen zu erfassen, wie es dem Proletariat möglich sein wird, die Aufgabe zu lösen; die andere, gleichsam vor der Schwere der Aufgabe zurückschreckend, spürte in den älteren parlamentarischen Aktionsformen nach Tendenzen, die gestatteten, ihre Inangriffnahme vorläufig noch aufzuschieben. Die neue Praxis der Arbeiterbewegung hat eine Trennung der Geister unter den bisherigen Verfechtern der radikalen marxistischen Parteitaktik bewirkt.
Unter diesen Verhältnissen ist es unsere Pflicht als Marxisten, durch eine theoretische Diskussion die Gegensätze möglichst zu klären. Deshalb haben wir in unserem Artikel Massenaktion und Revolution zuerst, gleichsam als Grundlage unserer Anschauungsweise, den Prozess der revolutionären Entwicklung als einen Prozess der Umwälzung der Machtverhältnisse der Klassen dargelegt und in einer Kritik zweier Artikel von Kautsky den Gegensatz unserer Anschauungen klarzumachen versucht. Kautsky hat in seiner Antwort die Sache auf ein anderes Gebiet geschoben; statt die Richtigkeit theoretischer Anschauungen zu kritisieren, hat er uns vorgeworfen, wir wollten der Partei eine neue Taktik aufzwingen. In der Leipziger Volkszeitung vom 9. September 1 haben wir nachgewiesen, wie damit der ganze Sinn unserer Ausführungen auf den Kopf gestellt wurde. 2
Wir hatten uns bemüht, den Unterschied der drei Richtungen, die jetzt in der Partei einander gegenüberstehen – zwei radikale und die revisionistische –, so gut wie möglich klarzustellen. Dem Genossen Kautsky scheint der Sinn dieser ganzen Darlegung entgangen zu sein, denn ärgerlich bemerkt er:
„Meine Auffassung erscheint als purer Revisionismus“ (S. 694).
Wir haben gerade umgekehrt nachgewiesen, dass die Auffassung Kautskys kein Revisionismus ist. Gerade weil viele Genossen, in denen durch die bisherigen Kämpfe der Gegensatz Radikalismus-Revisionismus eingeprägt war und die nach diesem Schema unsere heutigen Differenzen zu bewerten suchen, mitunter an Kautsky irre wurden und fragten, ob er denn allmählich zum Revisionisten werde – gerade deshalb war es nötig, dem entgegenzutreten und aus der besonderen Natur des radikalen Standpunktes Kautskys seine praktische Stellungnahme zu verstehen. Während für den Revisionismus unsere Tätigkeit sich im parlamentarischen Kampfe und im Gewerkschaftskampf, zur Erringung von Reformen und Verbesserungen erschöpft und wir dadurch von selbst in den Sozialismus hineinwachsen – aus dieser Auffassung ergibt sich die nur auf augenblickliche Verbesserungen gerichtete reformistische Taktik –, betont der Radikalismus die Unvermeidlichkeit eines noch vor uns liegenden revolutionären Kampfes zur Eroberung der Herrschaft und richtet er deshalb seine Taktik auf die Steigerung des Klassenbewusstseins und der Macht des Proletariats. Über diese Revolution sind nun unsere Meinungen auseinander gekommen. Für Kautsky bildet sie einen Akt in der Zukunft, eine politische Katastrophe, und haben wir uns bis dahin nur auf jene große Entscheidungsschlacht vorzubereiten, indem wir unsere Macht zusammenbringen, unsere Truppen sammeln und sie einüben. Für uns ist sie ein Prozess der Revolution – in dessen erste Anfänge wir schon hineinwachsen –, weil die Massen erst gesammelt, eingeübt und zu einer zur Eroberung der Herrschaft fähigen Organisation gemacht werden können durch den Kampf um die Herrschaft selbst. Diese Verschiedenheit der Auffassung ergibt eine durchaus verschiedene Bewertung der Gegenwartsaktionen; und es ist klar, dass die revisionistische Ablehnung jeder revolutionären Aktion und ihre Hinausschiebung in unbestimmte Ferne bei Kautsky sie in mancher Gegenwartsfrage einander nahe bringen müssen, in der sie zusammen uns gegenüberstehen. Natürlich soll das nicht besagen, dass diese Richtungen schon in sich geklärte, voneinander deutlich abgegrenzte Gruppen in der Partei bilden – sie sind zum Teil erst miteinander ringende Gedankenströmungen. Auch bedeutet es nicht eine Verwischung der Grenzlinie zwischen dem Kautskyschen Radikalismus und dem Revisionismus, sondern nur eine Annäherung, die freilich, durch die innere Logik der Entwicklung, immer weitergehen wird. 3 Denn ein wirklicher passiver Radikalismus wird in den Massen seinen Boden verlieren müssen. So notwendig es war, sich in der Zeit des ersten Emporkommens der Bewegung auf die bisherigen Kampfmethoden zu beschränken, so unvermeidlich muss dann eine Zeit folgen, in der das Proletariat sein gestiegenes Machtbewusstsein in die Erringung neuer entscheidender Machtpositionen umsetzen will. Die Massenaktionen im Kampfe um das preußische Wahlrecht zeigen diesen Willen. Auch der Revisionismus war ein Ausdruck dieses Strebens, positive Erfolge als Früchte der gesteigerten Macht zu erzielen; und er hat, trotz aller Enttäuschungen und Misserfolge, seinen Einfluss vor allem der Vorstellung zu verdanken, dass die radikale Parteitaktik nur ein passives Abwarten ohne Gewinnung bestimmter Erfolge bedeute und der Marxismus eine fatalistische Lehre sei. Von dem Kampfe um die Erringung neuer wichtiger Positionen kann das Proletariat nicht lassen; wer ihn nicht auf revolutionärem Wege führen will, wird unwiderstehlich, auch gegen seinen Willen, immer weiter auf den reformistischen Weg gedrängt, positiven Erfolgen durch eine besondere Parlamentstaktik und Abmachungen mit anderen Parteien nachzustreben.
2. Klasse und Masse
Wir hatten dem Genossen Kautsky vorgeworfen, bei seiner Untersuchung der Aktion der Masse habe er sein marxistisches Rüstzeug zu Hause gelassen, und die Fehlerhaftigkeit seiner Methode ergebe sich schon sofort daraus, dass er zu keinem bestimmten Resultat komme. Kautsky antwortet darauf:
„Mitnichten. Ich habe das Ergebnis meiner Untersuchung sehr bestimmt dahin formuliert, dass jene unorganisierte Masse, die ich untersuche, höchst unberechenbarer Natur sei.“ (S. 655)
Und er weist auf den Flugsand der Wüste hin, der auch unberechenbar ist. Mit allem Respekt vor diesem Beispiel müssen wir jedoch unsere Beweisführung aufrechthalten. Wenn man eine Erscheinung untersucht, und man kommt zu dem Ergebnis, dass sie bald so, bald anders stattfindet und völlig unberechenbar ist, so beweist das bloß, dass man die wirkliche Ursache, die sie beherrscht, nicht gefunden hat. Wenn einer zum Beispiel nach einer Betrachtung der Monderscheinungen das Ergebnis seiner Untersuchung „sehr bestimmt dahin formuliert“, dass der Mond bald im Nordosten, bald im Süden, bald im Westen steht, ganz regellos und unberechenbar, dann wird jeder mit Recht sagen, dass seine Untersuchung resultatlos geblieben ist – natürlich kann es sein, dass die hier wirkende Ursache überhaupt noch nicht auffindbar ist. Ein Vorwurf kann daraus nur erwachsen, wenn er die ihm bekannte Forschungsmethode, die hier allein Resultate geben kann, völlig außer acht gelassen hat.
So liegt die Sache mit Kautskys Behandlung der Aktion der Masse in der Geschichte. Er sieht, wie die Massen jedes Mal anders, bald reaktionär, bald revolutionär auftraten, bald aktiv, bald passiv waren, und er schließt, dass auf diesen unberechenbaren Flugsand nicht zu bauen ist. Was sagt uns aber die marxistische Theorie? Das gesellschaftliche Handeln der Menschen wird – von individuellen Abweichungen abgesehen, also für größere Massen – bestimmt durch ihre materielle Lage, ihre Interessen und die daraus entspringenden Anschauungen – wobei eine Korrektur für die Macht der Tradition vorzunehmen ist –, die für die verschiedenen Klassen verschieden sind. Will man also ihr Auftreten verstehen, so muss man die verschiedenen Klassen scharf auseinander halten; die Aktionen einer lumpenproletarischen, einer kleinbürgerlichen, einer bäuerlichen, einer modern-proletarischen Masse müssen durchaus verschieden sein. Indem Kautsky sie alle unterschiedslos zusammenwirft, konnte er natürlich zu keinem Resultat kommen; aber die sich aus der geschichtlichen Untersuchung ergebende Unberechenbarkeit hegt nicht im Untersuchungsobjekt, in der Masse, sondern in der mangelhaften Methode.
Für die heutige Masse gibt Kautsky einen anderen Grund an, weshalb er ihren Klassencharakter außer acht ließ: als Mischung vieler Klassen hat sie keinen bestimmten Klassencharakter:
„Auf S. 45 meines Artikels untersuchte ich, welche Elemente heute in Deutschland bei solchen Aktionen in Frage kommen könnten. Ich kam zu dem Resultat, dass dazu ohne Kinder und landwirtschaftliche Bevölkerung etwa 30 Millionen zu rechnen seien, wovon etwa ein Zehntel organisierte Arbeiter. Den Rest bilden unorganisierte Arbeiter, zum großen Teil noch mit Ideengängen der Bauernschaft, des Kleinbürgertums, des Lumpenproletariats infiziert, und endlich nicht wenige Mitglieder der letzten zwei Schichten selbst.
Auch jetzt, nach Pannekoeks Tadel, ist es mir noch nicht klar geworden, wieso ich in einer so bunt gemischten Masse einen einheitlichen Klassencharakter entdecken könnte. Das ‚marxistische Rüstzeug‘, das habe ich nicht etwa ‚zu Hause gelassen‘, sondern nie besessen. Genosse meint hier offenbar, das Wesen des Marxismus bestehe darin, überall, wo von Masse die Rede, darunter eine bestimmte Klasse zu verstehen, und zwar heute das industrielle, klassenbewusste Lohnproletariat.“ (S. 656)
Kautsky macht sich hier schlechter, als er ist. Um einen gelegentlichen Fehler zu verteidigen, verallgemeinert er ihn, und zwar mit Unrecht. Um in dieser „bunt gemischten Masse“ einen bestimmten Klassencharakter zu entdecken – er sagt „einheitlichen“, aber es ist klar, dass es sich nur um einen vorwiegenden Klassencharakter handelt, den Charakter der Klasse, die die Mehrheit bildet und deren Anschauungen und Interessen den Ausschlag geben, wie heute die des industriellen Proletariats –, habe er nie ein „marxistisches Rüstzeug“ besessen. Da irrt er sich aber. Denn diese selbe Masse, noch bunter gemischt durch das Hinzutreten der Landbevölkerung, tritt auch in der parlamentarischen Politik auf. Und da sehen wir – alle sozialdemokratischen Schriften gehen davon aus –, dass der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat den Hauptinhalt dieser Politik bildet, dass die Anschauungen und Interessen der Lohnarbeiter diese ganze Politik beherrschen und als Anschauungen und Interessen des Volkes schlechtweg gelten. Was für die Massen in der parlamentarischen Politik gilt, soll auf einmal nicht mehr gelten, sobald sie zu Massenaktionen greifen?
Umgekehrt, in den Massenaktionen tritt der proletarische Klassencharakter noch stärker hervor. In der parlamentarischen Politik zählt das ganze Land mit, auch die entlegensten Dörfer und Kleinstädte; die Konzentration der Menschen spielt keine Rolle. In den Massenaktionen handelt es sich vor allem um Aktionen der dichtgedrängten, großstädtischen Massen. Und hier finden wir, dass nach der neuesten Reichsstatistik in den 42 deutschen Großstädten, nach Ausscheidung von 25 vom Hundert nicht gut bestimmbaren Berufslosen, die Bevölkerung sich in 15,8 vom Hundert Selbständige, 9,1 vom Hundert Angestellte und 75,0 vom Hundert Arbeiter gliedert. Wenn man dann dazu bedenkt, dass von der industriellen Arbeiterschaft in Deutschland 1907 15 vom Hundert in Kleinbetrieben, 29 vom Hundert in Mittelbetrieben, 56 vom Hundert in Groß- und Riesenbetrieben arbeiteten, dann wird klar, in wie hohem Maße schon der Charakter des großindustriellen Lohnarbeiters auf die für Massenaktionen in Betracht kommenden Massen seinen Stempel drückt. Wenn Kautsky hier nur eine bunt gemischte Masse sieht, so weil er erstens die Frauen der organisierten Arbeiter einfach der unorganisierten Masse von 27 Millionen zuzählt und zweitens den unorganisierten oder noch in bürgerlichen Traditionen befangenen Arbeitern den proletarischen Klassencharakter aberkennt. Deshalb weisen wir noch einmal daraufhin, dass im Fortschreiten dieser Aktionen, bei denen die tiefsten Interessen und Leidenschaften der Massen zum Durchbruch kommen, nicht die Angehörigkeit zur Organisation, nicht eine traditionelle Ideologie, sondern immer mehr der reale Klassencharakter den Ausschlag gibt.
Damit wird auch das Verhältnis unserer Methoden klar. Kautsky wirft mir vor, dass meine Methode „vereinfachter Marxismus“ sei; ich bestätige ihm nochmals, dass die seinige weder ein vereinfachter noch ein komplizierter, sondern gar kein Marxismus ist. Jede Wissenschaft, die ein Stück Wirklichkeit erforschen will, muss damit anfangen, die Hauptsachen, die Grundursachen in ihrer einfachsten Gestalt herauszufinden ; indem sie dann nachher immer weitere Einzelheiten, Nebenursachen und weiter abliegende Kräfte zur Korrektur des ersten Resultats hinzuzieht, wird das erste einfache Bild ergänzt, verbessert, weiter kompliziert und so der Wirklichkeit immer mehr angenähert. Nehmen wir das Beispiel der von Kautsky herangezogenen großen Französischen Revolution. In erster Annäherung ergibt sich hier ein Klassenkampf zwischen der Bourgeoisie und den feudalen Klassen; eine Darlegung dieser Hauptsache, deren allgemeine Richtigkeit nicht bestritten werden kann, wäre als „vereinfachter Marxismus“ zu bezeichnen.
Kautsky hat 1889 in seiner Broschüre die Gliederungen innerhalb jener Klassen untersucht und konnte dadurch das erste einfache Bild erheblich verbessern und vertiefen. Der Kautsky von 1912 würde jedoch sagen: In dieser bunt gemischten Masse, die der damalige dritte Stand darstellte, ist nichts Einheitliches zu entdecken; es ist vergebens, hier bestimmte Aktionen und Resultate zu erwarten. So hegt die Sache auch hier – nur um so viel schwieriger, da es sich um die Zukunft handelt, deren bestimmenden Kräften es in den heutigen Klassen nachzuspüren gilt. In einer ersten Annäherung, um einen ersten allgemeinen Einblick zu bekommen, kann es sich nur um die große Hauptsache der kapitalistischen Welt, um den Kampf der beiden Hauptklassen Bourgeoisie und Proletariat handeln; den Prozess der Revolution als eine Entwicklung ihrer Machtverhältnisse haben wir in kurzen Strichen zu zeichnen versucht. Natürlich wissen wir sehr gut, dass die Wirklichkeit sehr viel komplizierter ist und dass zu ihrer Erfassung noch viele Probleme zu lösen sind – teilweise werden wir da auf die Belehrung der Praxis warten müssen. Die Bourgeoisie ist so wenig eine einheitliche Klasse wie das Proletariat; in beiden wirken noch Traditionen nach; in der Volksmasse treten noch Lumpenproletarier, Kleinbürger, Angestellte auf, deren Handeln aus ihrer speziellen Klassenlage abzuleiten ist. Da sie aber nur Beimischungen bilden, die den lohnproletarischen Hauptcharakter der Masse nicht verwischen können, kann das alles nur als eine Korrektur gelten, die das erste Bild weiter ausbaut, ohne es unrichtig zu machen. Zur Bewältigung und Klärung dieser Fragen ist das Zusammenwirken vieler Kräfte in Gestalt einer Diskussion nötig. Brauchen wir zu sagen, dass wir da vor allem auf die Hilfe des Autors der Klassengegensätze von 1789 rechneten, der durch seine Kritik unserer Skizze auf die noch ausstehenden Probleme und Schwierigkeiten hinweisen könnte? Aber der Kautsky von 1912 erklärt sich außerstande, an dieser wichtigsten Frage für das kämpfende Proletariat, der Erkenntnis der Kräfte, die seinen kommenden revolutionären Kampf gestalten werden, mitzuarbeiten, denn er wisse nicht, wieso er „in einer so bunt gemischten Masse“ wie der heutigen proletarischen Masse einen „einheitlichen Klassencharakter“ entdecken könnte …
3. Die Organisation
In der Leipziger Volkszeitung haben wir nachgewiesen, dass Kautsky mit Unrecht aus unserer Betonung des Organisationsgeistes als das Wesentliche der Organisation ableitet, dass nach meiner Auffassung der Organisationskörper nicht nötig sei. Es bedeutet, dass trotz aller Angriffe auf die äußeren Verbandsformen die Massen, in denen dieser Geist lebt, sich immer wieder zu neuen Organisationen zusammenschließen werden. Und wenn Kautsky erwartet, dass der Staat sich hüten wird, die Arbeiterorganisationen anzugreifen – in 1903 war er noch entgegengesetzter Meinung; siehe Protokoll Dresden, S. 383 –, so kann auch nur der von ihm verspottete Organisationsgeist diesen Optimismus begründen.
Der Organisationsgeist ist in der Tat die bewegende Seele, die dem Körper erst Lebenskraft und Aktionsfähigkeit gibt. Aber diese unsterbliche Seele kann nicht nach christlicher Theologie leiblos im Himmelreich schweben; sie schafft sich immer wieder den Organisationskörper, weil sie die Menschen, in denen sie lebt, zum gemeinsamen, organisierten Handeln zusammenfügt. Dieser Geist ist nicht etwas Abstraktes, Vorgestelltes im Gegensatz zu der „konkreten wirklichen Organisation“, der bestehenden Vereinsform, sondern er ist genau so konkret und wirklich wie diese. Er bindet ihre Elemente, die einzelnen Personen, fester zusammen, als Satzung und Statut sie binden können, so dass sie nicht mehr in lose Atome auseinander fallen, wenn das äußere Band mit Satzung und Statut wegfällt. Wenn die Organisationen als gewaltige, feste, nicht zu spaltende Massenkörper auftreten und handeln können, wenn weder im Angriff und im Kampfe, noch beim Abbruch des Kampfes oder bei einer Niederlage die Geschlossenheit zerbricht, wenn alle als die selbstverständlichste Sache der Welt das eigene Interesse gegen das Interesse der Gesamtheit zurückstellen – so liegt der Grund dazu nicht in den Statutenbestimmungen über Rechte und Pflichten der Mitglieder, auch nicht in der Zaubermacht der Kassen oder der demokratischen Verfassung, sondern in dem Organisationsgeist des Proletariats, in der tiefen Umwandlung seines Charakters. Was Kautsky über die Machtmittel der Organisation sagt, ist gewiss sehr richtig; die Güte der Rüstung, die das Proletariat sich schmiedet, gibt Selbstvertrauen und Kraftgefühl – über die Notwendigkeit für die Arbeiter, sich möglichst gut zu rüsten in kräftigen Zentralverbänden mit guten Kassen, besteht keine Meinungsverschiedenheit unter uns. Aber die Vorzüglichkeit dieser Rüstung beruht als Grundlage auf der Opferwilligkeit der Mitglieder, auf ihrer Disziplin gegen den Verband, auf ihrer Solidarität gegenüber den Genossen, kurz darauf, dass sie ganz andere Menschen geworden sind als die alten individualistischen Kleinbürger und Bauern. Wenn Kautsky diesen neuen Charakter, den Organisationsgeist, für eine Folge der Organisation erklärt, so braucht das erstens zu unserer Auffassung nicht in Widerspruch zu stehen, und zweitens ist es nur halbwegs richtig. Denn diese Umwandlung der menschlichen Natur im Proletariat ist zuerst eine Wirkung der Lebenslage der Arbeiter, die schon durch die gemeinsame Ausbeutung als Masse in derselben Fabrik zum gemeinsamen Handeln erzogen werden, und weiter eine Wirkung seines Klassenkampfes, also der Kampfpraxis der Organisation – die Vereinspraxis des Wählens von Vorständen und des Zahlens von Beiträgen dürfte dabei wohl die allergeringste Rolle spielen.
Worin das Wesen der proletarischen Organisation besteht, ergibt sich sofort, wenn man sich die Frage stellt, was eigentlich eine Gewerkschaft unterscheidet von einem Skatklub, einem Verein zur Bekämpfung der Tierquälerei oder einem Unternehmerverband. Kautsky stellt sich offenbar diese Frage nicht und sieht keinen tiefgehenden prinzipiellen Unterschied zwischen ihnen; daher stellt er auch die gelben Vereine, in die die Unternehmer ihre Arbeiter hineinzwingen, als etwas Gleichartiges neben die kämpfenden proletarischen Organisationen. Er sieht die weltumwälzende Bedeutung der proletarischen Organisation nicht. Er glaubte uns Missachtung der Organisation vorwerfen zu können; in Wirklichkeit schätzt er sie viel niedriger ein als wir. Von allen anderen Vereinen unterscheiden sich die Arbeiterorganisationen dadurch, dass in ihnen eine Solidarität, die völlige Unterordnung des einzelnen unter die Gemeinschaft als das Wesen eines neuen, werdenden Menschtums aufwächst und ihre Kraft bildet. Die proletarische Organisation macht die zuvor zersplitterte machtlose Masse zu einer Einheit, zu einem Wesen mit bewusstem Willen und selbständiger Kraft. Sie bildet den Anfang eines Volkes, das sich selbst verwaltet, das eigene Schicksal regelt und dazu zuerst die fremde Zwangsgewalt von sich abwälzt. In ihr wächst die einzige Macht empor, die die Klassenherrschaft des Ausbeutertums beseitigen kann; das Wachsen der proletarischen Organisation bedeutet im Prinzip schon das Zurückdrängen aller Funktionen der Klassenherrschaft; sie ist die selbst geschaffene Ordnung des Volkes, die im zähen Kampfe die störenden Brutalitäten und despotischen Unterdrückungsversuche der herrschenden Minderheit zurückdrängen und beseitigen muss. In der proletarischen Organisation wächst die neue Menschheit empor, die jetzt zum ersten Male in der Weltgeschichte als eine zusammenhängende Einheit im Entstehen begriffen ist; die Produktion wächst zu einer einheitlichen Weltwirtschaft zusammen, und in den Menschen wächst zugleich das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit, die feste Solidarität, die Brüderlichkeit, die sie zu einem von einheitlichem Willen beherrschten Organismus zusammenbinden. Für Kautsky besteht die Organisation nur in dem „wirklichen konkreten „ Verband oder Verein, von den Arbeitern zu irgendeinem praktischen Zwecke in ihrem Interesse geschaffen und, ähnlich wie ein Unternehmerverband oder ein Krämerverein, nur durch äußere Bindung und Satzung des Statuts zusammengehalten. Fällt dieses äußere Band weg, so fällt das Ganze wieder in Einzelindividuen auseinander und ist die Organisation verschwunden. Aus dieser Auffassung wird es verständlich, weshalb Kautsky die Gefahren, die die Organisation von innen heraus bedrohen, so schwarz ausmalt und so eindringlich gegen unvorsichtige „Kraftproben“ warnt, die Entmutigung, Massendesertion und Untergang der Organisation mit sich schleppen. In dieser Allgemeinheit lässt sich gegen eine solche Mahnung nichts einwenden; unvorsichtige Kraftproben will ja kein Mensch. Die von Kautsky hervorgehobenen schlimmen Folgen einer Niederlage sind auch keine Phantasien; sie entsprechen der Erfahrung einer anfangenden Arbeiterbewegung. Wenn die Arbeiter zuerst zum Organisationsleben erwachen, erwarten sie große Dinge von ihr und ziehen voll Begeisterung in den Kampf; geht der Kampf verloren, dann kehren sie oft enttäuscht und mutlos der Organisation den Rücken, weil sie sie nur von dem unmittelbar praktischen Standpunkt, als Vereine für direkte Vorteile betrachten und der neue Geist in ihnen noch nicht fest Wurzel fassen konnte. Welch ein ganz anderes Bild bietet aber die entwickelte Arbeiterbewegung, wie sie den fortgeschrittensten Ländern immer stärker ihre Züge aufprägt! Immer wieder sehen wir hier, wie die Arbeiter an ihrer Organisation mit der größten Zähigkeit festhalten, wie sie in großen Kämpfen alles aufs Spiel setzen, um ihre Organisationen zu behalten, wie sie durch keine Niederlage und kaum durch den schlimmsten Terrorismus von oben dazu zu bewegen sind, die Organisation aufzugeben. Sie sehen nicht bloß in der Organisation einen Verein, zu nützlichen Zwecken, nein, sie fühlen, dass darin ihre einzige Kraft, ihr einziger Rückhalt liegt, dass sie ohne Organisation machtlos und wehrlos sind, und mit der Allgewalt des Instinktes der Selbsterhaltung beherrscht dieses Bewusstsein ihr ganzes Handeln.
Natürlich sind noch nicht alle Arbeiter so, aber sie werden es immer mehr; dieses neue Wesen entwickelt sich immer stärker im Proletariat. Und daher wird die Gefahr, die Kautsky so schwarz ausmalt, immer weniger schwerwiegend. Gewiss bringt der Kampf Gefahren mit sich, aber zugleich ist der Kampf das Lebenselement der Organisation, worin sie allein wachsen und innerlich kräftig werden kann. Eine Kampftaktik aber, die uns nur Siege und keine Niederlagen bringt, kennen wir nicht; auch bei der größten Vorsicht sind Rückschläge und Niederlagen nicht zu vermeiden, es sei denn, dass man kampflos das Feld räumen wollte, was meist schlimmer wäre als eine Niederlage. Wir müssen damit rechnen, dass nur zu oft auf das kräftige Vorwärtsdringen eine Niederlage folgt, die dem Ansturm ein Halt zuruft, ohne dass die Möglichkeit besteht, dem Kampfe auszuweichen. Mögen wohlmeinende Führer deshalb vor den schlimmen Folgen der Niederlage warnen, die Arbeiter können antworten: Glaubt ihr wirklich, dass wir, denen uns die Organisation in Fleisch und Blut übergegangen ist, die wir wissen und fühlen, dass uns die Organisation mehr ist als das Leben – denn sie ist Leben und Zukunft unserer Klasse –, dass wir bei einer Niederlage sofort unser Vertrauen in die Organisation verlieren und davonlaufen? Gewiss wird von den Massen, die uns im Angriff und im Siege zuströmen, ein ganzer Teil bei dem nächsten Rückschlag wieder abfließen; aber das bedeutet nichts anderes, als dass wir in unseren Aktionen mit größeren Massen zu rechnen haben als dem festen, allmählich wachsenden Bestand unserer unerschütterlichen Kampfbataillone.
Aus dieser Gegenüberstellung der Anschauungen Kautskys und der unsrigen wird auch klar, wie es möglich ist, dass wir, die wir auf dem gleichen theoretischen Boden stehen, in der Beurteilung der Organisation so sehr auseinander gehen können. Es liegt einfach daran, dass wir die Organisation in verschiedenen Entwicklungsstufen vor Augen haben, Kautsky die erst emporkommende Organisation in ihrem Anfang, wir die Organisation in ihrer weiteren Entwicklung. Daher sieht er das Wesentliche der Organisation in der äußeren Form und glaubt er, dass mit dem Antasten dieser Form die ganze Organisation verloren ist. Daher erklärt er, dass die Umwandlung des proletarischen Charakters die Folge und nicht das Wesen der Organisation bildet. Daher sucht er die Hauptwirkung der Organisation auf den Charakter des Arbeiters in der Zuversicht und dem Rückhalt, die ihm die materiellen Mittel der Gesamtheit, namentlich die Kassen bieten. Daher warnt er, dass bei einer großen Niederlage die Arbeiter mutlos der Organisation den Rücken kehren werden. Das entspricht alles der Auffassung, zu der man durch die Beobachtung der im ersten Aufkommen befindlichen Organisation kommen muss. Was er uns gegenüberstellt, beruht also auch auf Wirklichkeit; aber für das, was wir vertreten, nehmen wir das größere Recht in Anspruch, da es die neue, werdende, immer mächtiger sich entfaltende Wirklichkeit ist – vergessen wir nicht, dass Deutschland erst seit einem Jahrzehnt große machtvolle proletarische Organisationen kennt! –, deshalb entspricht es vor allem der Geistesverfassung der jungen Arbeitergeneration, wie sie sich in dem letzten Jahrzehnt ausgebildet hat. Gewiss gilt auch das Alte noch im abnehmenden Maße; Kautskys Auffassungen bilden den Ausdruck des noch Anfangenden, Unvollkommenen, Primitiven in der Organisation, das auch eine Macht, und zwar eine hemmende, zurückhaltende ist. In welchem Verhältnis diese Kräfte zueinander stehen, wird sich in der Praxis ergeben müssen, in Beschluss und Tat der Proletariermassen, die damit bekunden, wessen sie sich fähig erachten.
4. Die Eroberung der Herrschaft
Für die Zurückweisung der merkwürdigen Äußerungen Kautskys über die Rolle des Staates und die Eroberung der politischen Herrschaft sowie für die Beleuchtung seiner Anarchistenriecherei müssen wir auf die Leipziger Volkszeitung vom 10. September verweisen Hier sei nur noch einiges zur Beleuchtung unserer Differenzen hinzugefügt. Die Frage, wie das Proletariat die demokratischen Grundrechte bekommt, die ihm bei genügendem sozialistischem Klassenbewusstsein die politische Herrschaft in die Hand liefern, ist die Grundfrage unserer Taktik. Wir vertreten die Auffassung, dass sie der herrschenden Klasse nur durch Kämpfe abgezwungen werden können, in denen sie ihre ganze Macht gegen das Proletariat ins Feld führt und ihre ganze Macht also vernichtet werden muss. Eine andere Auffassung wäre diese, dass die herrschende Klasse sie freiwillig gibt, durch allgemeine demokratische oder ethische Ideen geleitet, ohne ihre Machtmittel zu benutzen – das wäre das revisionistische friedliche Hineinwachsen in den Zukunftsstaat. Kautsky ist mit keiner der beiden Anschauungen einverstanden; welches Dritte bleibt hier übrig? Wir haben aus seinen Äußerungen geschlossen, dass er sich die Eroberung der Herrschaft als eine einmalige Niederwerfung der Macht des Feindes denkt, als einen Akt ganz anderer Natur als alles, was bis dahin, als Vorbereitung zu dieser Revolution, die Tätigkeit des Proletariats bildet. Weil Kautsky die Richtigkeit dieser Schlussfolgerung bestreitet und Klarheit über seine Grundanschauungen über die Taktik erwünscht ist, führen wir zunächst die wichtigsten Stellen an. Im Oktober 1910 schrieb er:
„Ich vermag mir unter Verhältnissen, wie sie in Deutschland bestehen, einen politischen Massenstreik nur als ein einmaliges Ereignis vorzustellen, in den das ganze Proletariat des Reiches mit seiner ganzen Macht eintritt, als einen Kampf auf Leben und Tod, als einen Kampf, der unsere Gegner niederringt oder die Gesamtheit unserer Organisationen und unsere ganze Macht für Jahre hinaus zerschmettert oder mindestens lähmt.“
(Neue Zeit, XXVIII, 2, S. 374)
Die Niederringung unserer Gegner ist hier wohl nicht anders zu verstehen als die Eroberung der politischen Macht – sonst müsste ja nachher der einmalige Akt zum zweiten- oder dritten Mal wiederholt werden. Natürlich kann der Ansturm sich auch als zu schwach erweisen; dann ist er eben gescheitert, bringt eine schwere Niederlage und muss nachher aufs neue versucht werden; wenn er aber gelingt, ist das Endziel erreicht. Jetzt allerdings erklärt Kautsky (S. 695), dass er niemals behauptet habe, der Massenstreik sei ein Ereignis, bestimmt, die kapitalistische Herrschaft mit einem Schlage niederzuwerfen. Wie dann das obige Zitat zu verstehen ist, ist mir nicht klar.
In seinem Artikel Die Aktion der Masse schrieb Kautsky 1911 über die spontanen Aktionen der unorganisierten Masse (der Straße):
„Gelingt aber die Massenaktion, tritt sie mit einer so überwältigenden Wucht, so großer Erregung und Rücksichtslosigkeit der Massen, so ungeheurem Umfang ihres Bereichs, so überraschender Plötzlichkeit bei so ungünstiger Situation unserer Gegner auf, dass sie unwiderstehlich wirkt, dann kann die Masse heute den Sieg ganz anders ausnutzen als ehedem. (Folgt der Hinweis auf die Arbeiterorganisationen.) Wo diese Organisationen Wurzel gefasst haben, da sind die Zeiten vorbei, in denen das Proletariat durch seine Siege in spontanen Massenaktionen nur für einzelne, gerade in der Opposition begriffene Fraktionen seiner Gegner die Kastanien aus dem Feuer holte. Es wird sie künftighin selbst verzehren können.“
(Neue Zeit, XXX, 1, S. 116)
Auch diesen Satz kann ich nicht anders verstehen, als dass hier, statt wie früher einer bürgerlichen Gruppe, jetzt dem Proletariat selbst die politische Herrschaft in die Hände fallt infolge einer gewaltigen spontanen Erhebung der unorganisierten Massen, die durch besondere aufpeitschende Ereignisse veranlasst wurde. Auch hier ist die Möglichkeit vorgesehen, dass zuerst vergebliche Anstürme stattfinden, die in einer Niederlage zusammenbrechen, bevor einmal der Angriff gelingt. Eine solche politische Revolution fällt, durch Teilnehmer und Methoden, völlig außerhalb des Rahmens der heutigen Arbeiterbewegung; während diese ihre Auf klärungs- und Organisationsarbeit regelmäßig weiterführt, bricht auf einmal unter dem Einfluss gewaltiger Ereignisse, völlig unberechenbar, die Revolution „wie aus einer andern Welt“ über sie herein. Wir können also nichts anderes daraus lesen, als wir in unserem Artikel darlegten. Das Wesentlichste ist dabei nicht, dass diese Revolution ein einmaliger kurzer Akt sei; auch wenn die Eroberung der Herrschaft aus einigen solchen Akten (Massenstreiks und Aktionen der „Straße“) bestehen soll, bleibt als das Wesentliche dieser Auffassung der scharfe Gegensatz bestehen zwischen der Gegenwartsarbeit des Proletariats und der künftigen revolutionären Eroberung der Herrschaft, die einer ganz anderen Ordnung der Dinge angehört. Das wird von Kautsky jetzt ausdrücklich bestätigt:
„Ich möchte nur noch zur Vermeidung von Missverständnissen darauf hinweisen, dass ich in meiner Polemik mit der Genossin Luxemburg vom politischen Massenzwangsstreik handelte, in meinem Artikel über die Aktion der Massen von Straßenunruhen rede. Von ihnen behauptete ich, sie könnten unter Umständen politische Katastrophen herbeiführen, seien aber unberechenbar und nicht nach Belieben zu veranstalten. Ich handelte dabei nicht von bloßen Straßendemonstrationen“. (S. 695)
„Ich wiederhole es nochmals, meine Theorie des ‚passiven Radikalismus’, das heißt des Abwartens der passenden Gelegenheit und Stimmung der Masse, die beide nicht von vornherein zu berechnen oder durch Organisationsbeschluss herbeizuführen seien, bezog sich nur auf Straßenunruhen und Massenstreiks, die eine politische Entscheidung erzwingen wollen – also nicht auf Straßendemonstrationen und auch nicht auf Demonstrationsstreiks. Solche können sehr wohl gelegentlich durch Partei- oder Gewerkschaftsbeschluss ohne Rücksicht auf die Stimmung der unorganisierten Masse herbeigeführt werden, bedingen aber auch keine neue Taktik, solange sie bloße Demonstrationen bleiben.“ (S. 696)
Wir wollen nicht darauf eingehen, dass ein politischer Massenstreik, der 1910 nur als einmaliger Akt denkbar hieß und deshalb damals für den preußischen Wahlrechtskampf unerlaubt war, jetzt auf einmal als „Demonstrationsstreik“ unter den willkürlich zu veranstaltenden Gegenwartsaktionen auftaucht. Wir weisen bloß daraufhin, wie Kautsky hier die Gegenwartsaktionen, die nur Demonstrationen sind und willkürlich veranstaltet werden, scharf von den unberechenbaren revolutionären Zukunftsaktionen trennt. In dem Gegenwartskampf mögen mal neue Rechte gewonnen werden – mit einem Schritt zur Eroberung der Herrschaft haben sie nichts zu tun, sonst würde ja die herrschende Klasse ihnen einen Widerstand entgegenstellen, der nur durch Zwangsstreiks zu brechen wäre. Arbeiterfreundliche Regierungen mögen mit arbeiterfeindlichen abwechseln, Straßendemonstrationen und Massenstreiks mögen dabei eine Rolle spielen, aber mit alledem wird nichts Wesentliches in der Welt geändert; unser Kampf bleibt „ein politischer Kampf gegen die Regierungen“, der sich auf „Opposition“ beschränkt und die Staatsgewalt mit ihren Ministerien unbehelligt lässt. Bis auf einmal durch äußere Ereignisse eine riesige Volkserhebung aufflammt mit Straßenunruhen oder Zwangsstreiks, die mit dieser ganzen Geschichte Schluss macht.
Eine solche Anschauungsweise ist nur möglich, wenn man den Bück an den äußeren politischen Formen haften lässt und für die materielle Wirklichkeit, die dahinter steckt, kein Auge hat. Nur die Betrachtung der Machtfaktoren der kämpfenden Klassen, die hier wachsen, dort abnehmen und einander zu vernichten suchen, bietet den Schlüssel zum Verständnis der revolutionären Entwicklung. Sie hebt den scharfen Gegensatz zwischen Gegenwartsaktion und Revolution auf. Zwischen den verschiedenen von Kautsky erwähnten Aktionsformen besteht kein schroffer Gegensatz, sondern nur ein gradueller Unterschied, als schwache und sehr kräftige Aktionsformen derselben Gattung. Erstens in ihrem Ursprung; auch die einfachen Demonstrationen sind nicht willkürlich zu veranstalten, sondern sie sind nur möglich, wenn äußere Anlässe eine starke Erregung geweckt haben, wie jetzt die Teuerung und die Kriegsgefahr und 1910 die preußische Wahlrechtsvorlage. Je stärker die Erregung, um so machtvoller können sich die Aktionen entfalten. Für die stärkste Form des Massenstreiks gilt nicht einfach, wie Kautsky S. 695 ausführt, dass wir sie „aufs energischste zu fördern und zur Stärkung des Proletariats zu benutzen“ hätten, wenn durch solche Bedingungen eine Massenbewegung schon entstanden ist; sondern wenn die Bedingungen da sind, hat die Partei als die bewusste Trägerin der tiefsten Empfindungen der ausgebeuteten Massen die nötigen Aktionen zu veranstalten und die Führung zu übernehmen – also im großen ähnlich zu handeln wie heute im kleinen. Die Anlässe sind unberechenbar, aber die Aktionen sind unsere eigene Tat. Zweitens in den Teilnehmern; unsere Gegenwartsdemonstrationen können wir nicht strenge auf die Mitglieder beschränken; wenn diese auch zuerst ihre Kerntruppen bilden, werden andere sich im Laufe des Kampfes anschließen. In unserem vorigen Aufsatz legten wir dar, wie sich beim Steigen der Aktion der Kreis der Beteiligten bis auf die große Volksmasse steigert, ohne dass dabei von regellosen Elementen der Straße im alten Sinne die Rede sein kann. Drittens in der Wirkung der Aktion; die Eroberung der Herrschaft durch die stärksten Aktionsformen besteht im tiefsten Grunde in der Auflösung der Machtmittel des Feindes und in dem Aufbau der eigenen Macht. Aber auch die heutigen Aktionen, die einfachen Straßendemonstrationen, zeitigen schon im kleinen Maßstab diese Wirkung; als die Polizei 1910 machtlos den Versuch aufgeben musste, die Demonstrationen zu verhindern, bedeutete das eine erste Abbröckelung der Macht der Staatsgewalt, die völlig zu besiegen den Inhalt der Revolution bildet. In diesem Sinne kann man jene Massenaktionen als den Anfang der deutschen Revolution bezeichnen.
Der hier dargelegte Gegensatz unserer Auffassungen mag zunächst rein theoretischer Natur erscheinen; aber er hat doch eine große praktische Bedeutung für unsere Taktik. Nach der Kautskyschen Auffassung muss man sich jedes Mal, wenn der Anlass zu einer kräftigen Aktion auftaucht, die angstvolle Frage stellen, ob sie uns nicht durch ihre Konsequenzen, indem sie die ganze Macht des Gegners gegen uns mobil macht, zu einer „Machtprobe“ treiben wird, das heißt zu einem Versuch, die Revolution zu machen. Und weil man weiß, dass wir dafür noch zu schwach sind, wird man nur zu leicht vor der Aktion zurückschrecken – das war der Sinn der Massenstreikdebatte in der Neuen Zeit 1910. Wer aber den von Kautsky aufgestellten Gegensatz zwischen Gegenwartsaktion und Revolution nicht anerkennt, beurteilt jede Aktion als eine Gegenwartsfrage, die nach den vorhandenen Bedingungen und Stimmungen der Masse geprüft und doch zugleich als Teil eines großen Zieles bewertet wird. Man dringt bei jeder Aktion, ohne sich durch falsche theoretische Zukunftserwägungen lähmen zu lassen, so weit vorwärts, als bei den vorliegenden Verhältnissen möglich erscheint. Denn es handelt sich dabei nie um die volle Revolution, auch nicht um einen bloßen Gegenwartsgewinn, sondern immer um einen Schritt auf dem Wege der Revolution.
5. Parlamentarismus und Massenaktion
Massenaktionen sind nichts Neues, sondern so alt wie der Parlamentarismus selbst; jede Klasse, die sich des Parlamentarismus bediente, hat auch gelegentlich Massenaktionen angewandt. Denn sie bilden eine notwendige Ergänzung, oder richtiger noch, eine Korrektur des Parlamentarismus. Da das Parlament, wo das parlamentarische System ausgebildet ist, die Gesetze, also auch das Wahlgesetz, für sich selbst bestimmt, hätte eine einmal herrschende Klasse oder Clique es in der Hand, trotz aller gesellschaftlichen Entwicklung, ihre Herrschaft für alle Ewigkeit zu festigen. Tritt aber ihre Herrschaft zu der neuen Entwicklung zu sehr in Widerspruch, dann tritt die Massenaktion, oft in der Gestalt einer Revolution oder Volkserhebung, als Korrektur auf, fegt die herrschende Clique weg, zwingt dem Parlament ein anderes Wahlgesetz auf und bringt derart Parlament und Gesellschaft wieder miteinander in Übereinstimmung. Auch kann es vorkommen, dass eine Massenaktion als Wirkung eines großen Notstandes der Massen auftritt, als Druck auf das Parlament, Maßnahmen zur Abhilfe zu treffen. Die Furcht vor den Folgen der Volksempörung zwingt oft die im Parlament herrschende Klasse zu Maßnahmen im Interesse der Massen, für die sie sonst nicht zu haben wäre. Ob bei diesen Massenaktionen zugleich Männer im Parlament sitzen, die als ihre Wortführer auftreten, ist zwar alles andere als wertlos oder gleichgültig, aber doch nebensächlich; die bestimmende und entscheidende Kraft liegt draußen. Auch jetzt sind wir in eine Periode geraten, in der diese Korrektur des Parlamentarismus mehr als je nötig ist; einerseits ruft der Kampf um das demokratische Wahlrecht, andererseits die Teuerung und die Kriegsgefahr Massenaktionen hervor. Kautsky weist mit Vorliebe darauf hin, dass diese Kampfformen nichts Neues darstellen; er betont die Gleichartigkeit mit dem Früheren. Wir heben dagegen das Neue hervor, wodurch sie sich von allem Früheren unterscheiden. Mit dem Anfang der Anwendung dieser Methoden durch das sozialistische Proletariat Deutschlands bekommen sie einen neuen Charakter, eine neue Bedeutung und neue Konsequenzen, die zu erörtern gerade Inhalt und Ziel meines Artikels war. Erstens weil das hoch organisierte, klassenbewusste Proletariat, dessen entwickeltsten Typus wir im deutschen Proletariat vor uns haben, einen ganz anderen Klassencharakter als frühere Volksmassen aufweist und daher seine Aktionen, auch wo sie nicht direkt einem Wahlrechtskampf dienen, eine tief umwälzende Wirkung auf die ganze Gesellschaft, auf die Staatsgewalt und auf die Massen, ausüben müssen.
Mit Unrecht glaubt also Kautsky als mustergültiges Beispiel England anführen zu können, „wo wir am besten das Wesen moderner Massenaktionen studieren können“. Wir reden über politische Massenaktionen, die neue Rechte erobern sollen, damit die Macht des Proletariats im Parlament zum Ausdruck kommt – in England handelte es sich um gewerkschaftliche Massenaktionen, um einen Riesenstreik für gewerkschaftliche Forderungen, der als Ausdruck der Schwäche der alten konservativen Gewerkschaftsmethoden Hilfe bei der Regierung suchte. Wir reden über Aktionen eines sozialistisch durchgebildeten, politisch reifen Proletariats wie in Deutschland – in England fehlte den streikenden Massen noch völlig diese sozialistische Einsicht, die politische Klarheit, die für solche Aktionen nötig sind. Gewiss, auch sie beweisen, dass die Arbeiterbewegung ohne Massenaktionen nicht auskommt; auch sie sind Folgen des Imperialismus. Aber trotz der bewundernswerten Solidarität und Ausdauer, die sie dabei zeigten, tragen sie doch mehr den Charakter von Verzweiflungsausbrüchen als von bewussten Aktionen, die zur Eroberung der Herrschaft führen und nur von einem sozialistisch durchgebildeten Proletariat unternommen werden können.
In der Leipziger Volkszeitung haben wir schon darauf hingewiesen, dass Parlamentarismus und Massenaktion nicht zueinander in Gegensatz stehen, sondern dass die Massenaktionen im Wahlrechtskampf dazu dienen, einen neuen breiteren Boden für den Parlamentarismus zu gewinnen. Und in unserem ersten Artikel bezeichneten wir die moderne Form des Kapitalismus, den Imperialismus, durch seine Kriegsgefahr 4 und seine Teuerung als die Quelle der modernen Massenaktionen. Dem Genossen Kautsky erscheint es jedoch „nicht recht verständlich“, dass sich daraus „die Notwendigkeit einer neuen Taktik“, soll also heißen: die Notwendigkeit von Massenaktionen ergibt; denn die allgemeinen Wirkungen der Elementarkräfte des Kapitalismus, gegen die die Parlamente machtlos sind, können auch durch Massenaktionen, die doch nur den Zweck haben, „Parlamentsbeschlüsse zu ersetzen oder zu erpressen“, so wenig wie durch irgendeine andere politische Aktion beseitigt werden – wie zum Beispiel die Ursachen der Teuerung, die in Missernte, Goldproduktion und Kartellwesen liegen. Schade, dass die Pariser von 1848, die durch Teuerung und Krise in den Aufstand getrieben wurden, das nicht gewusst haben; dann hätten sie sicher keine Februarrevolution gemacht. Vielleicht erblickt Genosse Kautsky darin wieder eine Probe des Unverstandes der Massen, deren Instinkt auf keine vernünftigen Erwägungen hört. Wenn aber die Masse, entgegen den Ratschlägen des Theoretikers, dass gegen solche Elementarübel des Kapitalismus keine politische Aktion etwas helfen kann, dennoch, durch Hunger und Not aufgepeitscht, sich zu mächtigen Aktionen zusammentut und Abhilfe fordert, so hat der Instinkt der Masse recht und die Wissenschaft des Theoretikers unrecht. Erstens, weil die Aktion sich unmittelbare Ziele stellen kann, die nicht sinnlos sind; Regierungen und Behörden können, wenn sie nur durch einen kräftigen Druck gezwungen werden, sehr viel zur Linderung der Not tun, auch wenn diese Not nicht – wie in Deutschland durch Zoll und Grenzsperre – eine Folge von Parlamentsbeschlüssen ist, sondern aus tieferen Ursachen stammt. Zweitens, weil die bleibende Wirkung großer Massenaktionen eine mehr oder weniger tiefgehende Erschütterung der Kapitalherrschaft ist, also die Grundursache in ihrer Wurzel antastet. Kautsky geht immer von dem Grundgedanken aus, dass der Kapitalismus, solange er noch nicht in den Sozialismus umgeschlagen ist, als eine feste, unabänderliche Tatsache hinzunehmen ist, gegen deren Wirkungen es vergebens ist, Sturm zu laufen. Solange das Proletariat noch schwach ist, ist es auch richtig, dass nicht eine Einzelerscheinung – wie Krieg, Teuerung, Arbeitslosigkeit – zu beseitigen ist, während übrigens der Kapitalismus in alter Kraft weiter besteht. Das wird aber unrichtig für die Periode des untergehenden Kapitalismus, in der das machtvoll emporgestiegene Proletariat gegen diese Elementargewalten seinen eigenen Willen und seine Kraft als eine andere Elementargewalt des Kapitalismus in die Waage wirft. Wenn diese Anschauung des Überganges vom Kapitalismus zum Sozialismus dem Genossen Kautsky „reichlich unklar und geheimnisvoll“ dünkt – was nur ausdrückt, dass sie ihm neu erscheint –, so nur deshalb, weil er Kapitalismus und Sozialismus als fertige, feste Dinge ansieht und ihren Übergang nicht als einen dialektischen Prozess erfasst. Wo das Proletariat jetzt gegen die Einzelwirkungen des Kapitalismus Sturm läuft, bedeutet jede dieser Aktionen eine Schwächung der Kapitalmacht, eine Stärkung der eigenen Macht, einen weiteren Schritt in dem Prozess der Revolution.
6. Der Marxismus und die Rolle der Partei
Zum Schlusse noch ein paar Worte über die Theorie. Sie sind nötig, weil ein paar Mal in Kautskys Ausführungen leise Andeutungen gemacht wurden, als hätten wir mit unseren Darlegungen den Boden des Marxismus, der materialistischen Geschichtsauffassung verlassen. Das eine Mal, wo er unsere Auffassung des Wesens der Organisation als – für einen Materialisten sonderbaren – Spiritualismus bezeichnet. Das andere Mal, wo er unsere Auffassung, dass das Proletariat „im stetigen Angriff und Vorwärtsdrängen“, in von Aktion zu Aktion sich steigerndem Klassenkampf seine Macht und seine Freiheit aufbauen muss, dahin interpretiert, der Parteivorstand solle die Revolution „veranstalten“ …
Der Marxismus erklärt alles Handeln der Menschen in Geschichte und Politik aus den materiellen, insbesondere den wirtschaftlichen Verhältnissen. Ein immer wiederkehrendes bürgerliches Missverständnis wirft uns vor, dass wir dabei den menschlichen Geist ausschalten, den Menschen zum toten Werkzeug, zur Marionette wirtschaftlicher Kräfte machen. Demgegenüber heben wir immer hervor, dass der Marxismus den Geist nicht ausschaltet. Alles, was die Menschen in Bewegung setzt, muss durch ihren Geist hindurch. Ihr Handeln wird durch ihren Willen, durch alles, was in ihrem Geiste als Idee, Prinzipien, Beweggründe lebt, bestimmt. Aber der Marxismus sagt, dass dieses Geistige in dem Menschen völlig ein Produkt der ihn umgebenden materiellen Welt ist, dass also die wirtschaftlichen Verhältnisse nur dadurch sein Handeln bestimmen, dass sie auf seinen Geist einwirken und seinen Willen bestimmen. Die soziale Revolution als Folge der kapitalistischen Entwicklung kommt nur dadurch zustande, dass die wirtschaftliche Umwälzung zuerst den Geist des Proletariats umgestaltet, ihm einen neuen Inhalt gibt und seinen Willen in diese Richtung lenkt. Sowie die sozialdemokratische Betätigung ausdrückt, wie eine neue Einsicht und ein neuer Willen den Geist des Proletariats erfüllt, so ist auch die Organisation Ausdruck und Wirkung einer tiefen geistigen Umwälzung des Proletariats. Diese geistige Umwälzung ist das Mittelglied, durch das hindurch die wirtschaftliche Entwicklung zur Tat der sozialen Revolution führt. Über diese Rolle des Geistes im Marxismus wird zwischen Kautsky und uns keine Meinungsverschiedenheit herrschen.
Allerdings liegt auch hier noch eine Differenz zwischen uns vor; nicht in der abstrakt-theoretischen Formulierung, sondern in der praktischen Betonung. Wenn wir zuerst den Satz aussprechen: „Die Menschen werden in ihrem Handeln völlig durch die materiellen Verhältnisse bestimmt“, und dann den anderen: „Aber die Menschen müssen ihre Geschichte selbst machen durch ihr eigenes Handeln“ – so bilden sie zusammen erst die ganze marxistische Auffassung. Der erste schließt die Willkür aus, als könnte man eine Revolution nach Belieben machen; der zweite beseitigt den Fatalismus, als hätten wir nur abzuwarten, bis in wunderbarer Weise aus irgendeiner Reife der Entwicklung die Revolution von selbst emporschießt. So richtig beide Sätze theoretisch sind, so werden sie doch notwendig im Laufe der Entwicklung verschieden betont. Solange die Partei sich noch im ersten Emporsteigen befindet, das Proletariat erst sammeln muss und das Ziel ihrer Tätigkeit vor allem in ihrer eigenen Entwicklung sucht, gibt ihr die im ersten Satze enthaltene Wahrheit die Geduld für den langsamen Aufbau, das Bewusstsein der Vergangenheit aller vorzeitigen Putsche und die ruhige Sicherheit des endlichen Sieges. Dann trägt der Marxismus einen vorwiegend historisch-ökonomischen Charakter; dann ist er die Lehre der ökonomischen Bestimmtheit aller Geschichte und prägt uns ein, dass man die Verhältnisse ausreifen lassen muss. In dem Masse aber, wie das Proletariat sich zu einer Massenbewegung sammelt, imstande, in das gesellschaftliche Leben tatkräftig einzugreifen, muss immer mehr das Bewusstsein des zweiten Satzes emporsteigen. Dann drängt sich der Gedanke nach vorn, dass es darauf ankomme, die Welt nicht einfach zu interpretieren, sondern sie zu verändern. Dann wird der Marxismus zur Theorie der proletarischen Aktion. Dann treten die Fragen, wie sich in Einzelheiten Geist und Willen des Proletariats unter dem Einfluss der Verhältnisse entwickeln und wie die verschiedenen Einflüsse sie gestalten, in den Vordergrund; dann wird das Interesse für die philosophische Seite des Marxismus, für das Wesen des Geistes lebendig. So werden zwei Marxisten, die unter dem Einfluss dieser verschiedenen Stufen stehen, sich verschieden äußern, indem der eine vor allem die Bedingtheit, der andere vor allem die Aktivität des Geistes betont; sie werden ihre Wahrheiten gegeneinander ins Feld führen und doch genau derselben marxistischen Theorie huldigen. Von praktischer Bedeutung ist hier aber eine ganz andere Differenz. Wir stimmen Kautsky vollkommen bei, dass eine Person oder Gruppe nicht die Revolution machen kann. Kautsky wird uns genau so beistimmen, dass das Proletariat die Revolution machen muss. Wie steht es nun aber mit der Partei, die ein Mittelding ist, einerseits eine große Gruppe, die bewusst ihre Aktionen beschließt, andererseits die Vertreterin und Führerin des ganzen Proletariats ist? Was ist die Aufgabe der Partei?
Kautsky drückt sie, soweit es sich um die Revolution handelt, in der Darlegung seiner Taktik folgendermaßen aus: „Anwendung des Zwangsmassenstreiks, aber nur in seltenen, äußersten Fällen, nur dann und dort, wo die Massen nicht mehr zu halten sind.“ (S. 697) Also, solange die Massen noch zu halten sind, soll die Partei sie halten; solange es nur irgendwo möglich ist, soll sie ihre Aufgabe darin erblicken, die Massen ruhig zu halten, sie von Aktionen abzuhalten; nur wenn es nicht mehr geht, wenn die Volksempörung alle Schranken niederzureißen droht, öffnet sie die Schleusen und stellt sich womöglich an die Spitze. Die Rollen sind also derart verteilt, dass alle Energie, alle Aktivität, aus der die Revolution entspringt, aus den Massen kommen muss, während die Partei diese Aktivität möglichst lange niederzuhalten, zu hemmen, zu bremsen hat. So darf man aber ihr Verhältnis nicht auffassen. Gewiss kommt alle Aktivität aus den Massen, die durch die Unterdrückung, das Elend, die Rechtlosigkeit zur Empörung, zur revolutionären Tatkraft aufgestachelt werden und dann durch ihre Angriffe die Kapitalherrschaft beseitigen müssen. Aber die Partei hat sie darüber belehrt, dass Verzweiflungsausbrüche einzelner oder einzelner Gruppen machtlos sind und dass nur gemeinsames, geschlossenes, organisiertes Handeln Erfolge bringen kann. Sie hat die Massen diszipliniert und von fruchtloser Verzettelung ihrer revolutionären Energie zurückgehalten. Aber das ist natürlich nur die eine, die negative Seite ihrer Wirkung; denn positiv bedeutet es, dass die Partei zugleich den Weg zeigt, diese Energien in einer anderen erfolgreichen Weise anzuwenden, und dort vorangeht. Die Massen haben einen Teil ihrer Energie, ihrer revolutionären Willenskraft der organisierten Gesamtheit, der Partei gleichsam übertragen, nicht damit er verloren geht, sondern damit die Partei ihn als ihren Gesamtwillen betätigt. Was die Massen dabei an Initiative und spontaner Aktionskraft verlieren, ist kein wirklicher Verlust, sondern kommt an einer anderen Stelle in anderer Form als Initiative und Aktionskraft der Partei wieder zum Vorschein; es findet gleichsam eine Transformation der Energie statt. Die Massen bleiben, auch wenn in ihnen – wie zum Beispiel bei der Teuerung – die höchste Empörung aufflammt, doch ruhig, weil sie darauf rechnen, dass die Partei sie zu Aktionen aufrufen wird, in denen ihre Energie am zweckmäßigsten und erfolgreichsten angewandt wird. Daher kann das Verhältnis von Masse und Partei nicht so sein, wie Kautsky es darstellt. Würde die Partei es als ihre Aufgabe betrachten, die Massen solange als es nur geht von Aktionen zurückzuhalten, so bedeutete die Parteidisziplin den Verlust an Initiative und spontaner Aktionskraft der Massen, einen wirklichen Verlust, statt eine Transformation der Energie. Dann bedeutete die Existenz der Partei eine Schmälerung der revolutionären Kraft des Proletariats statt ihre Stärkung. Sie kann sich nicht einfach hinstellen und abwarten, bis die Massen, denen sie einen Teil ihrer spontanen Kraft genommen hat, trotzdem aus sich selbst losbrechen; die Disziplin, das Vertrauen in ihre Führung, das die Massen ruhig hält, stellt ihr die Aufgabe, aktiv einzugreifen und selbst die Massen im richtigen Augenblick zu Aktionen aufzurufen. Die Partei hat also, wie wir schon darlegten, in der Tat die Aufgabe, revolutionäre Aktionen zu veranstalten, weil sie die Trägerin eines wichtigen Teiles der Aktionskraft der Masse ist – aber sie kann das nicht nach Willkür zu beliebiger Zeit, weil sie nicht den ganzen Willen des ganzen Proletariats restlos in sich aufgenommen hat und es also nicht wie Soldaten aufmarschieren lassen kann. Sie hat den geeigneten Zeitpunkt abzuwarten – nicht bis die Massen nicht mehr zu halten sind und von selbst losbrechen, sondern – bis die Verhältnisse eine so große Erregung und Leidenschaft in den Massen wachrufen, dass große Massenaktionen gelingen können. In solcher Weise verwirklicht sich jetzt die marxistische Lehre, dass die Menschen, durch die ökonomische Entwicklung bestimmt und getrieben, selbst ihre Geschichte machen. Die revolutionäre Kraft, die in der Erregung der Massen, Wirkung der Unerträglichkeit des Kapitalismus, steckt, darf nicht unbenutzt bleiben und damit verloren gehen; sie darf sich auch nicht in unorganisierten Ausbrüchen verzetteln, sondern sie muss in organisierter Weise, in von der Partei veranstalteten Aktionen für das Ziel, die Kapitalherrschaft zu schwächen, nutzbar gemacht werden. In dieser revolutionären Taktik wird die marxistische Theorie zur Tat.
Zum Schluss
Zu dem Artikel Kautskys: Der jüngste Radikalismus möchte ich mir, damit keine Missverständnisse übrig bleiben, noch einige Schlussbemerkungen gestatten. Wenn ich auch verstehen kann, dass in der Zeit der Kriegsgefahr die Lust zur Beschäftigung mit theoretischen Grundfragen der Taktik nicht groß ist, so kann uns dabei doch die Tatsache trösten, dass Massenaktionen auch in der Frage der Bekämpfung der Kriegsgefahr nicht ganz bedeutungslos sind.
Erstens: Wenn man von dem Klassencharakter als der bestimmenden Ursache des menschlichen Handelns redet, so handelt es sich nicht, wie Kautsky glaubt, um eine Ursache inmitten der Hunderte von anderen Ursachen, die bei jeder Erscheinung mitspielen. Der Klassencharakter von Volksmassen ist der Inbegriff der Eigenschaften, die ihnen durch ihre Stellung im Produktionsprozess zukommen, der auf ihren Willen und ihr Handeln einwirkenden Kräfte, die aus der Gesellschaft entsprießen. Wer die Aktion der Massen untersucht, hat diesen Klassencharakter zuerst als das Allerwichtigste in Rechnung zu ziehen, und der Vorwurf, den wir Kautskys historischer Untersuchung machten: dass er ihn völlig außer acht ließ, bleibt also im vollen Umfang bestehen. Zweitens glaubt Kautsky einen Gegensatz zwischen uns in der Frage der Organisationskämpfe aufstellen zu können in dem Sinne, dass er nur von siegreichen Kämpfen etwas wissen will, wir aber gleichgültig dagegen seien, ob sie Siege oder Niederlagen bringen. Dass das Unsinn ist, versteht jedermann. Man kämpft nur – außer ausnahmsweise in Zwangslagen –, wenn man mit Gewinn und Sieg rechnet. Kann aber Kautsky in diesen Fällen auch den Sieg garantieren? Wenn nicht, so wäre, wenn er Niederlagen wegen ihrer schlimmen Folgen unbedingt vermeiden will, die Konsequenz, vor jedem Kampfe zurückzuschrecken. Ich habe demgegenüber hervorgehoben, dass vernichtende Niederlagen bei hoch entwickelter Organisation nicht oder kaum möglich sind vorausgesetzt natürlich, dass man nicht blindlings drauflos schlägt, sondern dann und derart kämpft, wie Notwendigkeit und Aussicht auf Erfolg gebieten. Wann das ist, darüber mögen graduelle Unterschiede zwischen uns bestehen; aber nicht wir, die wir theoretisch darüber diskutieren, sondern andere, die Massen und die Organisationsleiter, entscheiden praktisch darüber.
Drittens noch eine Bemerkung über die Eroberung der politischen Macht. Auf die Frage, wie das Proletariat die Herrschaft erobern kann, und ob diese Eroberung möglich ist, ohne dass die Machtmittel der Staatsgewalt, die die herrschende Klasse dann anwendet, dabei gebrochen werden, geht Kautsky mit keinem Worte ein. Er sucht nicht nachzuweisen, dass meine Darlegungen und Anschauungen unrichtig sind; er sucht sie nur mit einem Namen zu belegen, der den Parteigenossen unsympathisch ist und dadurch ihre Voreingenommenheit weckt. Hat er aber recht, dass diese Anschauungen syndikalistisch sind, um so besser für den Syndikalismus. Wenn Kautsky die Richtigkeit meiner Ausführungen nicht anfechten kann, sie aber, um sie zu diskreditieren, als syndikalistisch bezeichnet, so liefert er im Grunde nur ein Plädoyer für den Syndikalismus. Es hieße den Lesern der Neuen Zeit, die meine Ausführungen, auch die Zurückweisung in der Leipziger Volkszeitung, gelesen haben, allzu viel Gedankenlosigkeit zumuten, wollte ich mich ernsthaft dagegen wehren; muss doch Kautsky selbst meine „Inkonsequenz“ hervorheben, dass meine Stellung zum Parlamentarismus derjenigen der Syndikalisten völlig entgegengesetzt ist. Wer sich näher dafür interessiert, den muss ich auf meine Schrift „Die taktischen Differenzen in der Arbeiterbewegung verweisen.
Gegen mein kleines Zitat von Engels führt Kautsky eine ganze Reihe anderer Zitate auf. Ich habe in meinen Artikeln fast keine Zitate von Marx und Engels gebracht; wer die neue Wissenschaft, die sie uns gebracht haben, völlig in sich aufgenommen hat, der braucht nicht immerfort mit Zitaten aus ihren Werken zu beweisen, dass er in ihren Fußstapfen wandert. Und er kann es nicht, wenn es sich um Fragen handelt, die in dieser Gestalt damals, als sie schrieben, der Sozialdemokratie noch nicht vorlagen. Ich führte Engels nur an, um zu zeigen, wie er für eine solche Staatsfrömmigkeit, wie sie in Kautskys Einwänden zutage trat, nur Spott übrig hatte. Demgegenüber führt nun Kautsky Marx selbst an. Er hätte nichts Besseres tun können, um den Unterschied unserer Methoden und Anschauungen in ein klares Licht zu setzen. Er beruft sich auf die Vorschläge, die Marx 1847 im Kommunistischen Manifest machte, zu deren Durchführung eine starke Staatsgewalt nötig wäre. Besteht darin aber der Marxismus, dass man auf die besonderen praktischen Vorschläge schwört, die Marx unter ganz anderen Verhältnissen machte, zu einer Zeit, als von einer proletarischen Massenbewegung noch keine Rede war? Gewiss, so wie ich die Entwicklung der sozialen Revolution darstelle, findet man sie nicht bei Marx und Engels, aus dem einfachen Grunde, weil sie die moderne Erscheinung einer stets wachsenden proletarischen Massenorganisation mit sozialistischem Geiste aus eigener Anschauung nie gekannt haben; und diese Erscheinung muss den Verlauf der Revolution und unsere Vorstellungen über sie gewaltig beeinflussen. Im Jahre 1847 war die proletarische Revolution nur denkbar als die Diktatur einer Minderheitsgruppe, die die Zwangsgewalt des Staates für die Arbeiterklasse anwendet. Heute sehen wir, dass jene Revolution nur als Auflehnung und Selbstherrschaft der großen Masse möglich ist. In dieser neuen Erscheinung wurzelt die von mir entwickelte Anschauung; ich untersuchte, welche Bedeutung sie für die soziale Revolution hat. Wenn Kautsky sich demgegenüber an die Buchstaben von Marx’ Vorschlägen aus 1847 hält, so ist das kein Marxismus, sondern eher sein direktes Gegenteil.
Schließlich noch eine Bemerkung. Kautsky fürchtet, von Massenaktionen könne am wenigsten was kommen, wenn ihre theoretischen Befürworter sich mit anderen Genossen entzweien. Aber Massenaktionen entstehen doch nicht dadurch, dass Theoretiker sich über ihre Bedeutung einigen und beschließen, dass es losgehen kann. Sie kommen empor aus der Notwendigkeit der Lage, durch das unmittelbare Empfinden der Massen, mögen wir sie wünschen oder nicht. Von unseren Diskussionen hängt nur ab, ob sie, statt instinktiv, mit klarem Bewusstsein ihres Wesens durchgeführt werden.
Anmerkungen
1. Wir haben aus vorliegendem Artikel eine Reihe von Ausführungen gestrichen, die sich inhaltlich mit unserer ersten Zurückweisung der Missdeutungen Kautskys in der Leipziger Volkszeitung vom 9., 10. und 11. September und der Bremer Bürgerzeitung vom 10., 11. und 12. September deckten. Die Redaktion hatte uns um jene Streichung aus Rücksicht auf die Raumverhältnisse der Neuen Zeit ersucht. Wir verweisen daher unsere Leser auf die erwähnten Artikel, zu denen die vorliegenden Ausführungen die Ergänzung bilden.
2. Wenn aus Anlass jener Richtigstellungen Hilferding in der Neuen Zeit von einem „vollen Rückzug“ redet, so ist das wohl nur als ein hämischer Ausfall ohne Bedeutung zu bewerten. Wer denkt da nicht an den Richter aus früherer Zeit, der unseren Genossen feige Verleugnung ihrer Grundsätze vorwarf, weil sie bestritten, den Königsmord zu predigen?
3. Der Chemnitzer Parteitag hat in der Tat schon – darin liegt seine Bedeutung als Übergang zu einer Neuorientierung – das Zusammengehen des Hauptteils der Radikalen mit den Revisionisten auf einer mittleren Linie, auf einer vom Parteivorstand vertretenen Taktik des gemäßigten Reformismus (Typus Stichwahlabkommen mit Dämpfung) gebracht.
4. Zu dem, was wir über die Bekämpfung der Kriegsgefahr und den Gegensatz unserer Anschauungen über Krieg und Proletariat in der Leipziger Volkszeitung vom 11. September ausführten, haben wir nichts hinzuzufügen als nur dies eine: Kautsky weist auf die englischen Arbeiter beim Burenkrieg, die russischen in 1904 und die italienischen in 1911 hin, die den Krieg nicht verhinderten, und er spöttelt darüber, dass dieser von mir behauptete „unvermeidliche“ Versuch der Arbeiter bisher immer ausblieb. Er lässt dabei völlig aus dem Auge, dass es sich in allen diesen Fällen nicht um einen europäischen Krieg, sondern um einen Kolonialkrieg handelte, bei dem von einer gewaltigen wirtschaftlichen Katastrophe im eigenen Lande gar keine Rede sein konnte. Solche wesentlichen Unterschiede dürft ein Mann wie Kautsky nicht aus dem Auge verlieren.