Zuerst veröffentlicht in Leipziger Volkszeitung, Nr. 218, 219, 221, 20. 23. September 1899.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 1, Erster Halbbd., Dietz Verlag, Berlin 1982, S. 537–554.
I
Leipziger Volkszeitung, Nr. 218, 20. September 1899.
Im Dietzschen Verlage ist soeben die – wie Kautsky selbst in der Vorrede ausdrücklich erklärt – letzte Erwiderung seinerseits an Bernstein erschienen, in der Form eines stattlichen Buches von 12 Bogen unter dem Titel Bernstein und das sozialdemokratische Programm. Eine Antikritik.
Inhaltlich umfaßt das Buch die Gesamtheit der von Bernstein berührten Fragen, also: 1. die Methode (die materialistische Geschichtsauffassung, die Dialektik, der Wert), 2. alle wichtigeren Fragen in bezug auf die wirtschaftlichen Grundlagen des sozialdemokratischen Programms (die Zusammenbruchstheorie, Großbetrieb und Kleinbetrieb, die Zunahme der Besitzenden, die Aktiengesellschaften, die Verwendung des Mehrwertes, die Verelendungstheorie, der neue Mittelstand, die Krisentheorie, die Formulierung des Programms), 3. die Taktik (Politik und Ökonomie, selbständige oder unselbständige Politik, dürfen wir siegen?).
Wir übergehen im folgenden das erste Hauptstück (über die Methode), da es Ansichten darlegt, die wir schon aus den Kautskyschen Artikeln in der Neuen Zeit kennen, und wenden uns direkt an das aktuellste und praktisch wichtigste zweite Hauptstück: die wirtschaftlichen Grundlagen unseres Programms, wo Kautsky Fragen beleuchtet, die in der bisherigen Diskussion mit Bernstein nur lückenhaft und unvollständig berücksichtigt wurden. Es sind drei Einwände, die Bernstein gegen die Marxsche Theorie der kapitalistischen Produktionsweise zu erheben hat: 1. Die Zahl der Besitzenden nimmt nicht ab, sondern zu. 2. Der Kleinbetrieb geht nicht zurück. 3. Die Wahrscheinlichkeit umfassender und verheerender Krisen wird immer geringer. Kautsky analysiert nacheinander diese drei Fragen, wobei er vor allem die zweite als die grundlegende und entscheidende der Prüfung unterzieht.
Nach der Marxschen Lehre führt die ökonomische Entwicklung in der modernen Gesellschaft zum Untergang des selbstwirtschaftenden Arbeiters und zu seiner Verwandlung in einen Lohnarbeiter, der von dem Kapitalisten ausgebeutet wird. Im weiteren Ergebnis führt die kapitalistische Entwicklung zur Expropriation in neuer Form: zur Expropriation der Kapitalisten durch Kapitalisten selbst, durch das Mittel des Konkurrenzkampfes und der Konzentration der Kapitalien. Dieser Vorgang bildet nach Marx seinerseits die materielle Grundlage zur dritten Form der Expropriation: zur Enteignung der Kapitalisten durch die stets anschwellende und durch die kapitalistische Produktionsweise selbst geschulte, vereinte und organisierte Arbeiterklasse, mit anderen Worten, zur Aufhebung der kapitalistischen Gesellschaft. Die Konzentration des Kapitals ist somit für die sozialistischen Bestrebungen von entscheidender Bedeutung. Sie stellt die historische Aufgabe: die Einführung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung; sie produziert die Kräfte zur Lösung der Aufgabe: die Proletarier; und sie schafft die Mittel zur Lösung: die gesellschaftliche Produktion. Kann auch die Lösung selbst, das heißt die sozialistische Umwälzung, nur aus dem Bewußtsein, dem Willen, dem Kampfe des Proletariats entspringen, so schafft doch die Konzentration des Kapitals ebenso die materiellen Voraussetzungen des Kampfes selbst wie seines siegreichen Ausganges. Indem Bernstein die Tatsache der Konzentration bezweifelt, stellt er die wichtigste wirtschaftliche Voraussetzung des Sozialismus in Frage, und es ist höchst wichtig, in diesem Punkte völlige Klarheit zu schaffen.
Bernstein führt zur Bekräftigung seiner Ansichten, daß der Mittelbetrieb, entgegen der Marxschen Annahme, nicht im Rückgang begriffen ist, eine Reihe von statistischen Daten für England, Österreich, Frankreich, die Schweiz und die Vereinigten Staaten an. Aber für jedes dieser Länder bietet er uns die Ergebnisse je einer Zählung und nicht mehrerer Zählungen. Seine Zahlen können uns also über die Richtung der kapitalistischen Entwicklung in jenen Ländern nicht das geringste sagen. Sie zeigen uns höchstens, wie weit die Konzentration dort bereits vorgeschritten ist, wie hoch die Aussichten der sozialistischen Umwälzung stehen. Aber das sind Fragen, die uns hier gar nicht interessieren, denn nicht darauf kommt es ja an, wie bald wir die Umwälzung in Angriff nehmen können, sondern ob wir uns überhaupt in der Richtung auf dieselbe entwickeln. Auf statistische Untersuchungen der Frage, wie weit die Welt noch vom Zukunftsstaat entfernt ist, dürfen wir wohl verzichten. Dann bleiben aber von dem ganzen Zahlenmaterial, das Bernstein vorführt, nur die Ziffern der deutschen Berufs- und Betriebszählungen übrig.
Die Zusammenstellung der statistischen Ergebnisse von 1895 und 1882 führt Bernstein mehrmals vor. Was zeigt uns diese Zusammenstellung? Wollte man bloß Bernstein widerlegen, so könnte man sich die Arbeit sehr leicht machen: Man brauchte bloß ihn selbst sprechen zu lassen. Noch im November 1896 schrieb Bernstein nach einer eingehenden Prüfung derselben statistischen Tabellen von 1895 und 1882 in der Neuen Zeit:
„Berücksichtigt man die bedeutenden Verschiebungen in der Verteilung der Arbeitstätigen nach Betriebsklassen, wie sie die neueste Gewerbestatistik aufzeigt, hält man dazu die unbestrittene und unbestreitbare Tatsache, daß die Produktivkraft der Arbeit in den großen Betrieben am stärksten gestiegen ist, so wird man die Folgerung nicht zu kühn finden, daß, wenn 1882, gering gerechnet, zwischen 47 und 54 Prozent der Gesamtproduktion in Industrie und Gewerbe auf die fabrikmäßige Großindustrie entfiel, der Anteil dieser heute nicht geringer als zwischen 60 und 70 Prozent der Gesamtproduktion sein kann. Zwei Drittel, wenn nicht drei Viertel der gewerblichen Produktion Deutschlands gehören der fabrikmäßigen Großproduktion, dem kollektivistischen Großbetrieb. Die Tatsache wird dem Auge durch tausend Umstände verdeckt, vor allem dadurch, daß ein sehr großer Teil dieser Produkte der großen Industrie Halbfabrikate sind und ein anderer uns durch Personen vermittelt wird, die nur scheinbar an seiner Herstellung beteiligt, in Wirklichkeit in bezug auf sie nichts als Händler sind. Aber an ihrer Richtigkeit scheint kein Zweifel möglich.“ 1
Bernstein selbst konstatierte also vor kurzem, daß die fabrikmäßige Großindustrie, die 1882 erst die Hälfte der nationalen Produktion lieferte, dreizehn Jahre später bereits zwei Drittel, wenn nicht drei Viertel derselben erzeugte. Das ist also nicht nur eine unzweifelhafte, sondern sogar eine sehr rapid vor sich gehende Konzentration.
Dieselbe Tatsache kommt zum Vorschein, wenn wir die Zahl der Betriebe in den einzelnen Betriebsgrößen vergleichen: Während die Gesamtzunahme der Betriebe von 1882 bis 1895 4,6 Prozent betrug, vermehrten sich die Kleinbetriebe (1–5 Personen) um 1,8 Prozent, die Riesenbetriebe (über 1.000 Arbeiter) um 100 Prozent!
Der Anteil der Kleinbetriebe an der Gesamtsumme der Betriebe ist freilich immer noch ein riesiger (1882 96 Prozent, 1895 93 Prozent), aber das Bild ändert sich, wenn wir die beschäftigten Personen in Betracht ziehen. Die Gesamtzahl der im Gewerbe beschäftigten Personen wuchs in dem genannten dreizehnjährigen Zeitraum um 40 Prozent, die der im Kleingewerbe Beschäftigten nur um 10 Prozent, die der in den Riesenbetrieben um 110 Prozent! Die Kleinbetriebe, die 1882 noch fast zwei Drittel der gewerblichen Bevölkerung umfaßten, enthielten 1895 weniger als die Hälfte derselben.
So zeigt uns die Statistik der beiden letzten Gewerbezählungen ebenso in bezug auf die Zahl der Betriebe wie auf die produzierte Menge, wie auf die Zahl der beschäftigten Arbeiter einen starken relativen Rückgang des Kleingewerbes und einen starken Fortschritt der Riesenproduktion.
Sehen wir aber weiter, in welchen Produktionszweigen eigentlich der Kleinbetrieb noch am stärksten vertreten ist. In den eigentlichen Industriebranchen – im Bergbau, der chemischen Industrie, der Textilindustrie, dem Maschinenbau, der Papierindustrie, in der Industrie der Steine, Erden und der Leuchtstoffe – in all den Zweigen, die die Grundlage der kapitalistischen Produktion bilden und die große Masse der Arbeiterbevölkerung beschäftigen, hier finden wir den Kleinbetrieb schon zum größten Teil verdrängt durch den Großbetrieb. Ungefähr die Hälfte bis drei Viertel der hier beschäftigten Personen sind in Betrieben mit über 50 Arbeitern konzentriert.
Die eigentlichen Domänen des Kleinbetriebes sind Tierzucht und Fischerei, Bekleidungsgewerbe, Beherbergungs- und Handelsgewerbe, Gärtnerei und die künstlerischen Gewerbe. Hier sehen wir mehr als die Hälfte bis über vier Fünftel der Beschäftigten in Zwergbetrieben mit 1–5 Personen zersplittert. Aber auch hier wirkt die Tendenz der Konzentration ganz deutlich, wenn man die Ergebnisse von 1895 und 1882 vergleicht: Während die Arbeiterschaft der kleinen Betriebe (1-5 Personen) in diesen Zweigen (ausgenommen allein die Kunstgärtnerei) um wenige Prozente gewachsen ist, hat sich die der Großbetriebe (über 50 Personen) verdoppelt, vervierfacht, ja in einigen Zweigen verfünffacht und versiebenfacht. Also auch in der eigentlichen Domäne des Kleinbetriebes wird letzterer vom Großbetrieb überholt und zurückgedrängt.
Von der ganzen Produktion bleiben in letzter Linie bei näherem Zusehen bloß zwei Gewerbe, in denen die im Kleinbetrieb beschäftigte Personenzahl rascher wächst als die Bevölkerung: das Geschäft der Bierwirte und das der Kleinkrämer. Aber im „Erquickungsgewerbe“ führen die meisten Geschäfte nur eine nominell selbständige Existenz, während sie in der Tat bloß Anhängsel großer Brauereien sind. Die Zunahme des Kleinbetriebes ebenso hier wie im Zwischenhandel ist, weit gefehlt, ein Zeichen der Lebensfähigkeit des Kleinbetriebes zu sein, vielmehr ein Produkt seiner Zersetzung. Der Kleinbetrieb ist hier ebenso ein Mittel, das Kleingewerbe in direkte Abhängigkeit vom Proletariat zu bringen, wie zugleich oft nur eine Übergangsstufe des Kleinbürgertums selbst in das Proletariat.
Endlich noch ein Zweig der Wirtschaft weist eine sehr starke Verbreitung des Kleinbetriebes auf: das Verkehrsgewerbe. Aber auch hier bietet die Statistik nur ein ganz schiefes Bild der Wirklichkeit: Während gerade die bedeutendsten modernen Verkehrszweige, die Eisenbahnen, Post und Telegraphen, Gemeindeanstalten für Wasserversorgung, Kehrichtabfuhr etc. nicht in der Statistik figurieren, machen sich in ihr Tausende von Dienstmännern, Totengräbern und Droschkenkutschern als ebenso viele „Betriebe“ breit.
Man fasse alle diese Ziffern zusammen und frage sich dann, ob Bernstein ein Recht hat zu behaupten, das von Marx gezeichnete Bild der kapitalistischen Konzentration entspreche nicht der Wirklichkeit. Wenn je eine Theorie eine glänzende Bestätigung fand, so die Marxsche in den Zahlen der deutschen Berufs- und Betriebszählungen. Überall schreitet der Großbetrieb siegreich vor und ruft den Kleinbetrieb auf der anderen Seite nur wieder ins Leben, um ihn unter dem Schein einer selbständigen Existenz in gänzliche Abhängigkeit von sich zu bringen. Was von den „Hunderttausenden von Unternehmungen“ bleibt, die nach Bernstein einer sozialistischen Umwälzung hinderlich in den Weg treten, sind nach näherem Zusehen – Kautsky gelangt hier fast wörtlich zum gleichen Resultat wie Parvus in seiner ersten Artikelserie gegen Bernstein in der Sächsischen Arbeiter-Zeitung 2 – Obstfrauen, Näherinnen, Friseure, Totengräber, Dienstleute und Droschkenkutscher!
Soviel über die Konzentration in der Industrie. Nun fragt es sich, ob die Marxsche Theorie nicht in der Landwirtschaft Bankrott erlitten hat.
II
Leipziger Volkszeitung Nr. 219, 20. September 1899.
In der Landwirtschaft liegen die Verhältnisse allerdings nicht so klar und einfach wie in der Industrie. Die Hoffnung Marxens aus dem Jahre 1864, „die Vereinigung des gesamten Grundbesitzes in den Händen weniger“ werde die Lösung der Grund-und-Boden-Frage sehr vereinfachen, ist nicht in Erfüllung gegangen. Die Verhältnisse auf dem Lande werden nicht immer einfacher und durchsichtiger, sondern immer verwickelter und schwieriger. Sieht man sich die Statistik der Grundbesitzverhältnisse an, so scheint die Konzentration hier eingeschlafen zu sein, wo nicht zurückgehen zu wollen.
Allein das Verkehrte liegt gerade in der Annahme, die Statistik des Grundbesitzes entspreche wirtschaftlich der Statistik der industriellen Betriebe und gebe über die tatsächliche Entwicklung der Landwirtschaft einen Aufschluß. Dies ist aber nicht der Fall. Der Kleinbesitz ist z. B. in der Landwirtschaft noch nicht ohne weiteres Kleinbetrieb. So ruft gerade der Übergang zur intensiven, also mehr kapitalistischen Wirtschaft gegenwärtig in Ostelbien nach zwei Richtungen Einschränkung der Fläche des Grundbesitzes hervor: erstens durch Zerschlagung übergroßer Güter in kleinere, leichter zu bewirtschaftende, zweitens durch Schaffung kleiner Parzellengüter, die den Zweck haben, den ländlichen Arbeiter an die Scholle zu binden.
Ferner besagt die Statistik des Grundbesitzes an sich weder etwas über die Erwerbsverhältnisse der ländlichen Bevölkerung im ganzen noch auch über ihre wirklichen Besitzverhältnisse, die vielmehr aus den Hypothekenbüchern zu ersehen sind.
Will man also über die Entwicklung der Landwirtschaft Aufschluß bekommen, so muß man die nackten statistischen Zahlen des Grundbesitzes beiseite lassen und die Gesamtheit der Erscheinungen in der modernen Landwirtschaft ins Auge fassen.
Hier sieht man aber vor allem folgende wichtige Tatsachen.
Die landwirtschaftliche Bevölkerung ist im starken Rückgang begriffen: 1882 machte sie noch 42,5 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, 1895 nur noch 35,7 Prozent; die Zahl der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft war 1882 43,4 Prozent aller Erwerbstätigen, 1895 bloß 36,2 Prozent. Dies erklärt sich nur dadurch, weil eine Funktion nach der anderen der Landwirtschaft von der Industrie abgenommen wird, so die Bearbeitung ihrer Rohprodukte und die Anfertigung ihrer Arbeitsmittel.
Zweitens wird ein immer größerer Teil der ländlichen Bevölkerung auf die Industrie als Nebenerwerb angewiesen. Von den Inhabern der landwirtschaftlichen Betriebe im Deutschen Reich sind hauptberuflich tätig: als selbständige Landwirte 45 Prozent, als Lohnarbeiter in der Landwirtschaft 13 Prozent, in der Industrie über 14 Prozent. Von den einzelnen Regierungsbezirken bilden die in der Industrie beschäftigten „Bauern“ z.B. im Bezirk Merseburg 25 Prozent, im Bezirk Düsseldorf 32 Prozent, im Bezirk Arnsdorf ganze 45 Prozent aller Inhaber von landwirtschaftlichen Betrieben!
Drittens wird der Grundbesitz von der Landwirtschaft immer mehr getrennt, ebenso durch das Pachtsystem wie durch die Hypothekenschulden. Die Wirtschaften mit ganz oder teilweise gepachtetem Boden bildeten 1882 44 Prozent, 1895 schon 47 Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe. Die Hypothekenschulden wachsen gleichfalls stark, und wenn sie auch nicht notwendig den Niedergang der Landwirtschaft bedeuten, so bewirken sie jedenfalls, daß der Grundbesitz in Form der Grundrente durch die modernen Kreditanstalten, Banken, Sparkassen u.dgl., immer rascher konzentriert wird, wobei das Interesse der jetzigen Landwirte am Privateigentum. an Grund und Boden, des sie selbst stufenweise verlustig gehen, immer geringer wird.
So führt die Analyse der Verhältnisse auf dem Lande zu dem Ergebnisse – hier entwickelt Kautsky die leitenden Gesichtspunkte seines Buches über die Agrarfrage – daß die Landwirtschaft immer mehr ihren selbständigen wirtschaftlichen Charakter und damit ihre soziale Bedeutung verliert. Die Verwandlung der Kleinbauern in Lohnarbeiter, die steigende Verquickung von Landwirtschaft und Industrie, die Zunahme des Pachtsystems und der Hypothekenschulden, die immer mehr in großen gesellschaftlichen Instituten zentralisiert werden, alles dies bewirkt eine Einverleibung der Landwirtschaft in den gesellschaftlichen Produktionsprozeß. So wird die Marxsche Prognose der kapitalistischen Entwicklung auch auf dem flachen Lande bestätigt. Nicht direkt, indem sie einen der Industrie analogen selbständigen Konzentrationsprozeß durchmacht, sondern umgekehrt, indem sie immer mehr ihre wirtschaftliche Selbständigkeit verliert, wird die Landwirtschaft in den allgemeinen Strom der kapitalistischen Entwicklung hineingezogen, deren Hauptzug die Konzentration des Kapitals ist.
Das letzte und reifste Ergebnis dieses Prozesses sind eben jene Kartelle, Trusts und Syndikate, deren sich Bernstein erst erinnert, wo sie gegen Marx zeugen sollen, bei der Behandlung der Krisentheorie, und die er ganz vergißt, wo sie der sprechendste Beweis für die Richtigkeit der Marxschen Konzentrationstheorie sind.
Bernstein hat nichts gebracht, was uns veranlassen könnte, von der Marxschen Theorie der fortschreitenden Konzentration des Kapitals abzuweichen. Die Gewerbezählung ebenso wie das Aufkommen der Kartelle und Trusts bestätigen sie aufs glänzendste, und die landwirtschaftliche Entwicklung zeigt sich mit ihr nicht unvereinbar.
Fortschreitende Konzentration des Kapitals heißt aber fortschreitende Verminderung (wenigstens relative) der kleineren Unternehmungen, Zunahme der großen Unternehmungen, also Zunahme der Proletarier und – bis zu einem gewissen Stadium – der Kapitalisten, aber stärkere Abnahme der kleinen Unternehmer, also Zunahme der Besitzlosen, Abnahme der Besitzenden.
Diese Annahme erklärt Bernstein für falsch. Er schreibt in seinem Buche:
„Es ist also durchaus falsch, anzunehmen, daß die gegenwärtige Entwicklung eine relative oder gar absolute Verminderung der Zahl der Besitzenden aufweist. Nicht ‚mehr oder minder‘, sondern schlechtweg mehr, d.h. absolut und relativ wächst die Zahl der Besitzenden. Wären die Tätigkeit und die Aussichten der Sozialdemokratie davon abhängig, daß die Zahl der Besitzenden zurückgeht, dann könnte sie sich in der Tat ‚schlafen legen‘. Aber das Gegenteil ist der Fall. Nicht vom Rückgang, sondern von der Zunahme des gesellschaftlichen Reichtums hängen die Aussichten des Sozialismus ab.“ 3
Vor allem muß man, um Bernsteins Behauptung erwidern zu können, feststellen, was er unter der Zunahme der „Besitzenden“ versteht? Denkt er da an Kapitalisten, an das Kleinbürgertum oder gar an die Arbeiterklasse? Der Sinn des Bernsteinschen Satzes wechselt mehrmals im Laufe seiner Ausführungen. Gleichwohl, welche Bedeutung wir auch unterstellen, die Ergebnisse sprechen nicht für, sondern wider Bernstein.
Das einschlägige Kapitel ist bei Kautsky, was die Klarheit der Darstellung, die Genauigkeit und die Schärfe der Beweisführung betrifft, das beste des ganzen Buches und liest sich mit wahrem Vergnügen. Wir wollen alle Hauptpunkte seiner Kritik kurz Revue passieren lassen.
Hat Bernstein auf die Zunahme der Kapitalisten hinweisen wollen, dann rennt er offene Türen ein, denn bei der von der Marxschen Lehre vorausgesehenen starken Ausdehnung der kapitalistischen Produktionsweise ist offenbar die Zunahme der Zahl der Kapitalisten eine selbstverständliche Erscheinung. Aber gleichzeitig wächst ja auch unstreitig die Zahl der Proletarier, so daß die sozialen Gegensätze sich verschärfen, was der Marxschen Lehre gerade entspricht.
Hat Bernstein an eine Zunahme der Mittelklassen gedacht, dann steht er allerdings im Widerspruch mit den Annahmen des sozialdemokratischen Programms, aber wir werden umsonst nach einer Bestätigung dieser seiner Behauptung suchen.
Bernstein führt freilich eine Reihe von statistischen Beweisen an, die Herrn Oppenheimer als ein „kolossales Zahlenmaterial“ sehr imponiert haben. Aber wie steht es um dieses Zahlenmaterial?
1. Das sind die „Ergebnisse der Veranlagung zur preußischen Ergänzungssteuer“ von 1895 – Zahlen für ein Jahr, die also keinen Vergleich gestatten. Aber auch diese Zahlen werden von anderen Leuten ganz verschieden von Bernstein aufgefaßt. So schreibt darüber der gut bürgerlich denkende Professor Herkner:
„Man kann eine Vermögensteilung unmöglich gutheißen, bei der die zwei obersten, die Millionäre umfassenden Stufen, die 5256 Angehörige zählen, zusammen noch 1621 Millionen Mark mehr besitzen als die zwei untersten Stufen, obwohl diese 767.204 Zensiten darstellen. Und doch bringen diese Zahlen nur den Gegensatz der Besitzverteilung innerhalb der besitzenden Klassen zum Ausdruck. Diese Einkommensverteilung ruft nicht nur vom sozialen, sondern auch vom Standpunkt des wirtschaftlichen Fortschritts schwere Bedenken hervor.“
2. Die Einkommenszahlen für Frankreich. Diese beziehen sich wieder bloß auf ein Jahr, sagen also weder etwas von Zunahme noch von Abnahme der Besitzenden; beruhen außerdem nicht auf statistischen Erhebungen (Frankreich hat keine Einkommensteuer!), sondern auf bloßen Schätzungen, haben also fast gar keinen positiven Wert.
3. Für Sachsen gibt Bernstein einige Angaben aus der Einkommensstatistik für 1879 und 1892, die er aber beliebig aus dem Ganzen herausgegriffen hat. Zieht man das ganze statistische Ergebnis für die Jahre 1879 und 1892 ins Auge, so ergibt sich ein Schluß nicht für, sondern wiederum gegen Bernstein. „Man kann sagen“, schreibt derselbe bürgerliche Professor Herkner über die sächsische Einkommensbewegung, „die gegenwärtige Einkommensverteilung verstärkt relativ am meisten die Schicht des mittleren Arbeiterstandes und die Gruppe der Millionäre“ – ganz nach Marx!
4. Bernstein gibt einen Vergleich der Einkommensverhältnisse für Preußen aus den Jahren 1854 und 1894. Hier fühlt er sich offenbar ganz unwiderleglich. Leider ist ein solcher Vergleich keinen Schuß Pulver wert, denn erstens ist Preußen 1894 territorial und politisch ein ganz anderes Land, als es 1854 war, zweitens aber ist die letzte Einkommensteuerstatistik auf Grund eines ganz anderen Gesetzes vollzogen worden als die vom Jahre 1854, wie überhaupt eine gründlichere Erkenntnis der preußischen Einkommensverteilung erst seit 1891 ermöglicht worden ist.
Die zweite Zusammenstellung Bernsteins für Preußen, die aus den Jahren 1876 und 1890, ist aber nicht nur aus den obigen Gründen hinfällig, sondern sie ist obendrein von Bernstein wiederum unvollständig wiedergegeben. Zieht man sie ganz in Betracht, dann zeugt auch sie nicht für. sondern gegen Bernstein. Der Statistiker Soetbeer. der diese Tabelle zusammengestellt hat, muß selbst zugeben, daß die von ihm nachgewiesenen Resultate Anhaltspunkte zu der Behauptung geben, daß sich das Einkommen ungleichmäßiger verteile, da die unteren und oberen Klassen an Häufigkeit zunehmen, die unteren im Durchschnittseinkommen sinken, die höheren steigen.
5. Endlich die letzte der „erdrückenden“ Zahlen: die Akkumulation der Kapitalien in England. Hier ist ein Fehlschluß, von den englischen Verhältnissen auf die allgemeinen Gesetze des Kapitalismus zu schließen, denn England ist sozusagen der Silberschrank der ganzen Welt geworden. Ferner unterscheidet Bernstein in seiner Statistik für England das industrielle vom kaufmännischen und vom Leihkapital nicht, die aber in der Entwicklung der sozialen Gegensätze eine grundverschiedene Rolle spielen. Endlich ist die Statistik als solche hier ohne jeden wissenschaftlichen Wert, weil England – keine Statistik der Einkommen eben besitzt! Seinen Haupttrumpf in bezug auf England hat Bernstein nicht etwa einem wissenschaftlichen Werke, sondern einem tendenziös-bürgerlichen, anonymen Gelegenheitsartikel zum Jubiläum der Königin entnommen.
So löst sich das ganze „erdrückende“ Zahlenmaterial Bernsteins in nichts auf: Ein Vergleich unvergleichbarer Zählungen, einige Schätzungen statt statistischer Daten, einige unvollständig wiedergegebene Tabellen und ein anonymer Aufsatz – das ist Bernsteins Beweismaterial gegen die Marxsche Lehre. Nächstens, sagt Kautsky, wird er dem Kapital ein anonymes Feuilleton aus der Woche des Herrn Scherl entgegenstellen!
III
Leipziger Volkszeitung Nr. 221, 23. September 1899.
Es bleibt noch die dritte mögliche Deutung der von Ber fstnstein gegen die Marxsche Lehre vorgeführten „Zunahme des gesellschaftlichen Reichtums“ zu prüfen: die Hebung der materiellen Lage der Arbeiterklasse. Bernstein zieht wiederholt gegen die angeblich dem Parteiprogramm zugrunde liegende „Verelendungstheorie“ ins Feld. Dabei unterstellt er aber stets eine rein physiologische Bedeutung des von der Marxschen Theorie konstatierten „Elends“ der Arbeiterklasse. Von diesem Standpunkt hätte er allerdings recht, denn gerade in den vorgeschrittensten kapitalistischen Ländern ist eine allgemeine Zunahme physischen Elends nicht mehr zu konstatieren.
Freilich darf man auch das Steigen der Lebenshaltung des Proletariats in diesem Sinne nicht überschätzen. Auch das nackte Elend tritt nur äußerst zäh und äußerst langsam zurück. Davon zeugt die Schilderung, die man uns jetzt von der Lebenshaltung der Arbeitermasse in England gibt, dem Eldorado des Trade-Unionismus, des Genossenschaftswesens, des Munizipalsozialismus und der Demokratie.
Allein weder Marx noch irgendein anderer Sozialist dachten an das physische Elend als Grundlage der sozialistischen Bewegung; stets hatten sie das soziale Elend, d. h. den Abstand zwischen der Lebenshaltung des Proletariats und der Bourgeoisie, im Auge. So schrieb Lassalle in seinem bekannten Offenen Antwortschreiben:
„Alles menschliche Leiden und Entbehren hängt also nur von dem Verhältnis der Befriedigungsmittel zu den in derselben Zeit bereits vorhandenen Bedürfnissen und Lebensgewohnheiten ab. Alles menschliche Leiden und Entbehren und alle menschlichen Befriedigungen, also jede menschliche Lage, bemißt sich somit nur durch den Vergleich mit der Lage, in welcher sich andere Menschen derselben Zeit in bezug auf die gewohnheitsmäßigen Lebensbedürfnisse derselben befinden. Jede Lage einer Klasse bemißt sich somit immer nur durch ihr Verhältnis zu der Lage der andern Klassen in derselben Zeit“ (Bernsteinsche Ausgabe, II, S. 426). 4
Ähnlich drückte sich Rodbertus bereits 1850 in seinem Ersten socialen Brief an von Kirchmann aus:
„Armut ist also ein gesellschaftlicher, d. h. relativer Begriff. Nun behaupte ich, daß der berechtigten Bedürfnisse der arbeitenden Klassen, seitdem diese im übrigen eine höhere gesellschaftliche Stellung eingenommen haben, bedeutend mehrere geworden sind und daß es ebenso unrichtig sein würde, heute, wo sie diese höhere Stellung eingenommen haben, selbst bei gleichgebliebenem Lohn nicht von einer Verschlimmerung ihrer materiellen Lage zu sprechen … Wenn dann noch dazukommt, daß die Zunahme des Nationalreichtums die Mittel zur Erhöhung ihres Einkommens bietet, während sie lediglich den anderen Klassen zugute kommt, so ist es wohl klar, daß in diesem Zwiespalt zwischen Anspruch und Befriedigung, zwischen Reiz und notgedrungener Entsagung die ökonomische Lage der arbeitenden Klassen zerrüttet werden muß.“ 5
In demselben Sinne sprach auch Marx und spricht unser Programm von der Zunahme der Masse des „Elends“ in der bürgerlichen Gesellschaft.
Daß aber das soziale Elend des Proletariats wächst, das beweist uns schon die langsame Hebung seiner Lebenslage auch in physischem Sinne, während der Reichtum. der Bourgeoisie, die Produktivität der Arbeit in reißendem Tempo wachsen. Das beweisen ferner die Zunahme der Frauen- und Kinderarbeit, die relative Abnahme der Eheschließungen usw.
Ist die Lage der Proletarier eine elende und geknechtete, so muß die Masse des Elends und der Knechtschaft innerhalb des gesamten Volkes in dem Grade wachsen, in dem das Proletariat an Zahl den übrigen Volksklassen gegenüber zunimmt; und daß es allenthalben wächst, ist eine unleugbare Tatsache.
Aber die Zunahme der Zahl der Proletarier im Volke ist selbst wieder nur ein Symptom, freilich auch wieder eine Ursache wachsenden Elends in den anderen Volksklassen.
Eine Erhebung aus physischem Elend tritt allerdings früher oder später für viele Schichten der Lohnarbeiterschaft ein. Aber die kapitalistische Produktionsweise ist in ständigem Fortschreiten begriffen, erobert beständig neue Gewerbszweige und neue Gegenden, in denen sie die Besitzer von selbständigen Kleinbetrieben degradiert, proletarisiert, ins Elend schleudert, und dieser Prozeß kann kein Ende nehmen außer mit der kapitalistischen Produktionsweise selbst.
Der dritte Haupteinwurf Bernsteins gegen die wirtschaftlichen Grundlagen des sozialdemokratischen Programms bezieht sich auf die Krisen. Bernstein unterstellt, daß die Sozialdemokratie ihre Aussichten auf den sozialistischen Sieg von einer Weltkrisis abhängig mache, und er beweist mit allen Mitteln, daß eine solche in nächster Zeit nicht zu erwarten ist. Selbstverständlich handelt es sich wiederum um seine eigene Erfindung. Die Marxsche Lehre hat nur nachgewiesen, daß Krisen sich aus der kapitalistischen Entwicklung mit Naturnotwendigkeit ergeben und daß diese Entwicklung die Tendenz habe, die Krisen stets zu verschärfen und schließlich zu einer ausweglosen Überproduktion zu führen.
Ob dies richtig oder ob wir einer immer geregelteren, krisenlosen kapitalistischen Entwicklung entgegengehen, wie Bernstein annimmt, ist der Kern der Frage.
Die Tendenz zur Krisenbildung selbst ergibt sich aus der einfachen und unbestreitbaren Tatsache, daß, während eine unaufhörliche Erweiterung eine Lebensbedingung der kapitalistischen Produktion ist und während diese Erweiterung an sich schrankenlos ist, die Absatzmöglichkeit, der Markt, sowohl der innere wie der äußere, in jedem Lande seine Grenzen hat. Derselbe Widerspruch zwischen der Ausdehnung der Produktion und den Schranken des Marktes muß mit Naturnotwendigkeit früher oder später den Zeitpunkt herbeiführen, wo der Kapitalismus einfach an seinen eigenen Absatzverhältnissen scheitert, wo er eine gesellschaftliche Unmöglichkeit, die sozialistische Umwälzung im gleichen Maße eine Notwendigkeit wird.
Dieser Zustand braucht nicht notwendig in einer endgültigen, allgemeinen Weltkrise, er kann nach und nach für einen Produktionszweig nach dem anderen eintreten.
In der Textilindustrie ist heute bereits in ihren alten Sitzen die Zeit chronischer Überproduktion gekommen. Wohl erweitert sich immer noch der Markt, aber viel rascher nimmt die Zahl der auswärtigen Konkurrenten zu. So ist denn in England seine mächtige Textilindustrie bereits in eine Periode der Stagnation eingetreten.
Besser steht es noch um die Eisenindustrie, der der Eisenbahnbau in den barbarischen und halbzivilisierten Ländern und die militaristischen Rüstungen immer noch frisches Blut zuführen. Aber dieselbe Vervollkommnung der Kommunikation mit rückständigen Ländern führt auf der anderen Seite einen wachsenden Import von Rohprodukten aus ihnen nach den alten kapitalistischen Gebieten mit sich und erzeugt dort den Zustand chronischer Überproduktion in der Landwirtschaft und ihren Industrien, der Spiritus- und Zuckerproduktion.
Aber auch der Aufschwung der Eisenindustrie (inklusive der Maschinenproduktion), die heute die führende Industrie ist und auf der in erster Linie die gegenwärtige Periode der Prosperität beruht, muß einmal ein Ende nehmen, nicht nur ein zeitweiliges, in einer vorübergehenden Krise, sondern er muß schließlich in chronische Überproduktion und Stagnation auslaufen, immer vorausgesetzt, daß die kapitalistische Produktionsweise sich ungestört weiterentwickelt, denn die Eisenindustrie gräbt sich selbst ihr Grab durch die Einbürgerung der Maschine im Ausland. Erzeugt sie zuerst vorwiegend Konkurrenten für die einheimische Textilindustrie und Landwirtschaft, so früher oder später auch die eigenen Konkurrenten, die nicht nur die Bedürfnisse ihres Landes selbst befriedigen, sondern auch einen stets wachsenden Überschuß für den Weltmarkt produzieren. Fast scheint es, als wäre auch in der Eisenindustrie England an der Grenze der Ausdehnungsfähigkeit gegenüber Deutschland und vor allem den Vereinigten Staaten angekommen. Ist aber einmal die Eisenindustrie der Länder der Großindustrie dort, wo heute Textilindustrie und Landwirtschaft Englands sind, dann hat die Expansionsfähigkeit der kapitalistischen Produktionsweise ein Ende und damit auch ihre Lebensfähigkeit. Das braucht aber nicht allzulange zu währen, wenn man sich erinnert, wie rasch die Vereinigten Staaten, Japan, Rußland eine nennenswerte Großindustrie entwickelt haben.
Ob also eine Weltkrisis, ob die partiellen Krisen bald oder nicht bald eintreten, das sind sehr untergeordnete Fragen, die man auch gar nicht beantworten kann. Genug, die allgemeine Überproduktion in dieser oder jener Form muß und wird über kurz oder lang eintreten. Und dies ist es, was das Todesurteil für die kapitalistische Gesellschaft bedeutet.
Freilich braucht deshalb letztere gar nicht einmal bis zur äußersten Grenze der Überproduktion am Leben zu bleiben.
Die unheilbar chronische Überproduktion, sie bedeutet die letzte Grenze, bis zu der das kapitalistische Regime sich überhaupt behaupten kann, sie braucht nicht notwendigerweise seine Todesursache zu bedeuten. Die materialistische Geschichtsauffassung kennt neben dem ökonomischen Zwange noch andere Faktoren der sozialen Entwicklung, die zwar ökonomisch motiviert, aber nichtsdestoweniger vielfach ideeller, ethischer Natur sind und die wir zusammenfassen in der Formel des Klassenkampfes. Der Klassenkampf des Proletariats kann zum Umsturz der kapitalistischen Produktionsweise führen, ehe noch diese in das Stadium ihrer Verwesung eingetreten. Wenn der Hinweis auf die chronische Überproduktion nicht gleichbedeutend ist mit der Prophezeiung der großen Weltkrisis, so überhaupt nicht mit der Prophezeiung einer besonderen Art des Untergangs der kapitalistischen Produktion. Seine Bedeutung besteht darin, daß er durch Festsetzung einer äußersten Grenze der Lebensfähigkeit der heutigen Gesellschaft den Sozialismus aus jenem nebelhaften Bereich, in das ihn heute so viele Sozialisten verweisen, uns näher rückt, so daß dieser aus einem Ziel, das vielleicht nach 500 Jahren verwirklicht werden dürfte – vielleicht auch nicht – ein absehbares und notwendiges Ziel praktischer Politik wird.
Aber die Kartelle? Sind dies nicht Mittel, die Produktion einzuschränken und zu regulieren, also der Überproduktion und den Krisen vorzubeugen? Ja, im Innern des Landes sucht jedes Unternehmerkartell das Angebot einzuschränken, aber nur um die Schleuderkonkurrenz im Auslande nur um so mehr zu verschärfen, also einer Überproduktion geradezu vorzuarbeiten. Bernstein muß das zugeben, wirft aber ein:
„‚In der Regel‘ geht dies Manöver nur da an, wo dem Kartell ein Schutzzoll Deckung gewährt [Hervorhebung – R.L.], der es dem Ausland unmöglich macht, ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen.“ 6
Die regulierende und rettende Tätigkeit der Kartelle wird also von Bernstein selbst an eine Aufhebung des Schutzzollsystems als Vorbedingung geknüpft. Aber dadurch wird sie von ihm selbst auch zur Chimäre gemacht, denn an eine Rückkehr zum Freihandel gegenwärtig denken kann nur jemand, der die Welt auf dem Kopf stehend betrachtet.
Aber wir nehmen an, die Kartelle seien wirklich imstande, die Krisen durch Einschränkung der Produktion zu bannen. Was wäre damit für das Proletariat und die Mittelschichten gewonnen? Die Kartelle sind eines der kräftigsten Mittel zur Expropriation der kleinen Kapitalisten. Wenn die in gleicher Richtung gehende Wirkung der Krisis durch die des Kartells abgelöst wird, so wird die Herrschaft des Großkapitals dadurch nicht weniger unerträglich.
Wodurch kann das Kartell der Krise vorbeugen? Doch nur durch Einschränkung der Produktion. Wir haben aber gesehen, daß stete Ausdehnung der Produktion eine Lebensbedingung für die kapitalistische Produktionsweise ist und vor allem für das Proletariat. Wie sich die Kartelle, wenn es ihnen gelänge, die Produktion zu regeln, mit dem neu akkumulierten Kapital abfänden, ob sie nicht durch dessen Drängen immer wieder zur Erweiterung der Produktion getrieben oder gesprengt würden, das geht uns hier nichts an. Aber sicher ist es, daß jede Hemmung der Ausdehnung der Produktion in der heutigen Produktionsweise unerträgliche Zustände hervorrufen muß und daß es eine Torheit ist, zu glauben, diese würden von den Arbeitern weniger hart empfunden, wenn sie durch künstliche Kartellierung der Unternehmer statt durch Krisen und Bankrotte hervorgerufen werden. Im Gegenteil, wenn die Unternehmer der Krise dadurch vorbeugen wollen, daß sie deren Nachteile den Proletariern in Zeiten der Prosperität aufbürden, wenn sie, um den Profit zu retten, die Arbeiter allein die Folgen einer Produktionseinschränkung tragen lassen, wenn sie ihnen die Folgen einer Überproduktion auferlegen, ehe noch eine solche eingetreten, so kann dies nur dazu führen, den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit aufs höchste zu steigern.
Weit entfernt, die zum Sozialismus führenden Wirkungen der Krisen aufzuheben, müssen sie vielmehr in derselben Richtung wirken, und das wahrscheinlich, ohne die Krisen zu hemmen. Mehr als jede andere Erscheinung des kapitalistischen Wirtschaftslebens erfüllen sie die arbeitenden Schichten des Volkes mit dem Empfinden der Notwendigkeit der Expropriation der Expropriateure und mit dem Bewußtsein, daß die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat das einzig wirksame Mittel ist, ihnen zu Leibe zu gehen.
Mit seinen Ausführungen über Krisen und Kartelle schließt Bernstein seine Untersuchungen über die wirtschaftliche Entwicklung der modernen Gesellschaft. Geben sie uns Veranlassung, unser Programm zu ändern? Haben sie erwiesen, daß die ökonomische Entwicklung in anderer Richtung vor sich geht als sie Marx gezeichnet?
Ich denke, sagt Kautsky, wir können auf diese Frage ruhig mit Nein antworten.
Bernstein hat in seinem letzten Artikel im Vorwärts 7 seine Kritik hauptsächlich gegen die Formulierung der Begründung unseres Programms gerichtet. Tatsächlich handelt es sich nicht um die Formulierung, sondern um die Begründung, um die ganze Auffassung, um das sozialistische Programm selbst. Bernstein behauptet, auf sozialistischem Standpunkt nach wie vor zu stehen. Vergebens würde man aber nach einer Begründung seines Sozialismus fragen. Dieser Sozialismus liegt denn auch bloß in seiner subjektiven Vorstellung. Objektiv, vom Standpunkte seiner theoretischen Ausführungen, gehört Bernstein, wie Kautsky konstatiert, in jenes bunte Lager des sozialreformerischen Liberalismus, das ihn auch mit vollem Recht für sich reklamiert.
Wir übergehen das letzte Hauptstück des Kautskyschen Buches über die Taktik, wo er die Notwendigkeit eines selbständigen politischen Kampfes der Arbeiterklasse gegenüber den Bernsteinschen Mahnungen zur liberalen „Sammlungspolitik“ nachweist. Zum Schluß beantwortet Kautsky die Frage, „ob wir siegen dürfen“ trotz der Befürchtungen, die Bernstein wegen der mangelnden politischen Reife des Proletariats hegt.
Das Proletariat, sagt Kautsky, steht, was seine politische Reife betrifft, allen anderen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft gar nicht nach, am allerwenigsten seine Elite, die bei einer Machtergreifung die Führung selbstverständlich übernehmen würde. Aber dies ganze Räsonnement über die Reife ist ja überhaupt eine absurde und müßige Beschäftigung, da eine Eroberung der Staatsgewalt durch das Proletariat doch nicht ein beliebig künstlich hervorzurufendes, sondern nur ein notwendiges historisches Ereignis sein kann.
„Wenn es aber absurd ist, von dem Aufschub eines historischen Ereignisses zu reden, was haben dann die Kassandrarufe von der mangelnden politischen Reife des Proletariats für einen Sinn? Wir sind nicht die Lenker der historischen Entwicklung. Diese hängt von Faktoren ab, die weit mächtiger sind als einzelne Parteien und ihre frommen Wünsche. Ob das Proletariat jetzt schon weit genug ist, die politische Herrschaft zu übernehmen, ob es dereinst, wenn es die politische Macht erobert, in allen Punkten schon die nötigen politischen Fähigkeiten entwickeln, ~ es der ungeheuren historischen Aufgabe, die ihm zufällt, ohne weiteres gewachsen sein wird, ob seine Siege durch Niederlagen unterbrochen sein werden, ob die kommende politische Entwicklung eine langsame oder schnelle sein wird – wer könnte darauf antworten? Wenn man aber diese Fragen nicht beantworten kann, wird alles Spintisieren über die heutige politische Reife des Proletariats zwecklos, und es kommt auf kein höheres Niveau durch die Verdächtigung derjenigen, die in die apodiktische Impotenzerklärung des Proletariats nicht mit einstimmen. Unsere Aufgabe besteht nicht darin, das Proletariat mitten im Kampfe zu entmutigen durch grundloses Verkleinern seiner politischen Fähigkeiten, sondern darin, die höchsten Anforderungen an die politischen Fähigkeiten des Proletariats zu stellen und daher alles aufzubieten, sie möglichst zu steigern, so daß jeder Moment es auf der größten Höhe seiner Leistungsfähigkeit findet.
Zu dieser Aufgabe gehört es aber nicht nur, daß wir das Proletariat organisieren und ihm bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen erkämpfen helfen. Dazu gehört es auch, daß wir den Blick des Proletariats erweitern über den Kreis seiner Augenblicks- und Berufsinteressen hinaus, daß wir es die großen Zusammenhänge aller proletarischen Interessen untereinander und mit den allgemeinen gesellschaftlichen Interessen erkennen lassen. Es gehört dazu, daß wir ihm große Zwecke setzen, mit denen es selbst zu höherem Geistesleben heranwächst, daß wir es erheben über die alltägliche Kleinarbeit, die unentbehrlich ist und die das Leben dringend erheischt, die es uns aber ebendeshalb von selbst aufdrängt, ohne daß wir nötig hätten, dazu besonders eifrig zu mahnen. Sorgen wir dafür, daß nicht Kleinheitswahn das Proletariat und seine Ziele degradiert, daß nicht an Stelle einer weit ausblickenden grundsätzlichen Politik das Fortwursteln von Fall zu Fall eintritt, mit anderen Worten, daß nicht die nüchterne Alltäglichkeit den Idealismus überwuchert, daß nicht das Bewußtsein der großen historischen Aufgaben verlorengeht, die dem Proletariat gestellt sind. Wenn wir in diesem Sinne unsere volle Kraft einsetzen, haben wir unsere Pflicht als Sozialdemokraten getan: der Erfolg unseres Wirkens steht in der Hand von Faktoren, die wir nicht beherrschen.“ 8
Mit diesen Worten schließt Kautsky sein Buch, mit dem die Polemik gegen Bernstein den glücklichsten Abschluß findet. Nun gibt es keine einzige Behauptung seinerseits, die nicht geprüft, beantwortet und gründlich widerlegt worden wäre.
Worauf wir besonders in diesem Buche aufmerksam machen möchten, sind die Abschnitte, wo das eigentliche Fundament der Bernsteinschen Kritik, seine statistischen Beweise gegen die sozialdemokratischen Lehren, einer eingehenden Prüfung unterzogen sind.
Es wird jetzt vielerorten zugunsten Bernsteins die Freiheit der Wissenschaft in Anspruch genommen. Man lese fleißig die von uns besprochenen Kapitel des Kautskyschen Buches, man überzeuge sich, mit welchen „wissenschaftlichen“ Mitteln hier von Bernstein gearbeitet wurde, und man wird vielleicht zu der Einsicht kommen, daß ein Appell an die Wissenschaft bei dieser letzten aus unseren Reihen hervorgegangenen Attacke gegen die Sozialdemokratie nicht minder eine Frivolität ist wie bei den früheren Attacken aus dem Lager der Herren Wolf, Wenckstern, May und Konsorten.
Anmerkungen
1. Eduard Bernstein: Probleme des Sozialismus, in: Die Neue Zeit (Stuttgart), 15. Jg. 1896/97. Erster Band, S. 310/311.
2. Diese Serie von 10 Artikeln unter dem Titel E. Bernsteins Umwälzung des Sozialismus erschien vom 28. Januar bis 1. März 1898 in der Sächsischen Arbeiter-Zeitung.
3. Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S. 50/51.
4. Ferd. Lassalle’s Reden und Schriften. Neue Gesammt-Ausgabe. Mit einer biographischen Einleitung herausgegeben von Ed. Bernstein, Zweiter Band, Berlin 1893, S. 426/427.
5. Rodbertus: Sociale Briefe an von Kirchmann. Erster Brief: Die sociale Bedeutung der Staatswirthschaft, Berlin 1850, S. 71/72.
6. Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, S. 78.
7. Eduard Bernstein: Meine Stellung zum theoretischen Teil des Erfurter Programms, in: Vorwärts (Berlin), Nr. 206 vom 3. September 1899.
8. Karl Kautsky: Bernstein und das sozialdemokratische Programm, Stuttgart 1899, S. 194/195.