1921 // Artikel
Karl Radek // Das dritte Jahr des Kampfes der Sowjetrepublik gegen das Weltkapital

Das dritte Jahr des Kampfes der Sowjetrepublik gegen das Weltkapital

1921

Kleine Bibliothek der Russischen Korrespondenz, Nr. 31/32, Frankes Verlag, Leipzig 1921.


I. Die Sprache der Waffen

Die Niederlage Koltschaks, Judenitschs und Denikins

Als das zweite Jahr der Sowjet-Republik zu Ende ging, da drängten die Roten Armeen Koltschak der sibirischen Eisenbahn entlang der endgiltigen Niederlage und Zertrümmerung entgegen. Denikins Truppen waren auf dem großen Rückzuge begriffen und sollten erst im Kaukasus zum Stehen kommen, wo ihrer der Tod zwischen Rostow und Noworossijsk harrte. Herr Lloyd George aber erklärte ruhig, als ob Denikin und Koltschak niemals die Unterstützung Englands genossen hätten, er habe niemals an ihren Sieg geglaubt. Der Bolschewismus sei überhaupt durch das Schwert nicht umzubringen. Warum Koltschak und Denikin zugrunde gehen mußten, das ist jetzt sogar der bürgerlichen Presse klar. Die Berichte, die im Sommer, der Manchester Guardian über die Verhältnisse hinter der Front Koltschaks gebracht hat, und die aus der Feder eines englischen Zuschauers stammen, sie sprechen dieselbe Sprache wie die Selbstbekenntnisse, die wir jetzt von Denikin-Leuten hören.

„Im Hinterlande Denikins herrschte eine grenzenlose Bacchanaille des Profits und des Kapitalismus. Die Spekulanten feierten Orgien, sie raubten und plünderten alles. Es genügt, festzustellen, daß die Engländer gezwungen waren, persönlich die Monturen zu den einzelnen Heeresteilen zu bringen, damit sie unterwegs nicht gestohlen und verkauft wurden. Während in verrückter Weise unerhörte Summen verpulvert wurden, brach die Bevölkerung zusammen unter der Last der Teuerung und aller Art Krisen. Das reichste südliche Brotgebiet litt stark unter dem Mangel an Brot. Wir hatten zu unserer Verfügung ein Kohlengebiet von Weltbedeutung, endlose Vorräte an Petroleum, und wir konnten aus Mangel an Heizmitteln weder Verkehr noch Industrie, in Gang bringen. Die furchtbare Auswahl der Verwaltung machte alle hohen Worte von Gesetzlichkeit und Recht zum Hohn. Die alten Beamten, Polizei-Kommissäre, Abfälle der alten zaristischen Regierung, überfluteten mit allerhand Vollmachten das Land als kleine Satrapen, sie ‚ernährten‘ sich selbst, und sie suchten auch die alten Großgrundbesitzer aufzupäppeln, die mit Hilfe der lokalen Verwaltung und des Militärs die alten Verluste sich zurückerstatteten und an den Bauern Rache nahmen … Es wurde systematisch geraubt. Niemanden wunderte das in letzter Zeit. Es plünderten die Soldaten, es raubten die Offiziere, es raubten viele Generäle.“

So schildert die Läge hinter der Front Denikins der konterrevolutionäre Journalist G.N. Rakowsky in seinem, in Konstantinopel erschienenen Buche: Im Lager der Weißen.

Der Zusammenbruch der Konterrevolution nötigte die Hauptpartner im russischen Bürgerkriege, die Sowjet-Regierung und die englische Regierung, klar zu sagen, was sie weiter zu tun gedächten. Die Sowjet-Regierung gab auf diese Frage ihre Antwort auf dem im Dezember 1919 stattgefundenen Kongreß der Arbeiterräte. Noch dröhnten die Kanonen bei Rostow am Don, noch hatte die Armee die schwere Aufgabe, mitten im bitterkalten Winter den Denikin-Truppen den Gnadenstoß zu erteilen. Aber die Augen der Sowjet-Regierung wandten sich schon. der friedlichen Arbeit zu. Der Kongreß der Arbeiter-, Bauernund Rotarmistenräte stand unter der Losung der friedlichen Arbeit. Ueber die Methoden und Formen der Organisation der Produktion entbrannte eine lebhafte Diskussion in den Reihen der kommunistischen Partei, eine Diskussion, die auf dem Märzkongreß der Partei ihren Abschluß fand und Ausgangspunkt größter Anstrengungen war, durch Arbeitsarmeen die Kraft des Bauerntums zur Wiederherstellung der Industrie zu gebrauchen, ohne die auch die Bauernwirtschaft auf das Niveau des Mittelalters sinken müßte. Die Propaganda der Arbeitsdisziplin füllte die Sowjet-Presse. Die Arbeit wurde zu einer Religion gemacht, und immer breitere Kreise ergriff das freudige Bewußtsein, die Zeit des Mordens sei vorüber, die Sowjet-Regierung und die Sowjet-Republik wenden sich den Aufgaben zu, deretwillen sie entstanden sind: dem Kampfe gegen Not und Elend, der Organisation der wirtschaftlichen Kräfte des zerrütteten Landes.

Die führende Macht der europäischen Konterrevolution, die britische Regierung, schien, nachdem sie die Unausführbarkeit des Planes, mit den Waffen in der Hand Sowjet-Rußland niederzuwerfen, eingesehen hatte, den friedlichen Bestrebungen Sowjet-Rußlands entgegenzukommen. Ende Januar 1920 verkündete ein Radio-Telegramm, der Rat der Alliierten hatte beschlossen, die Blockade Rußlands aufzuheben. Man muß den Eindruck dieser Nachricht an der russischen Front miterlebt haben, um schildern zu können, wie inbrünstig und tief die Sehnsucht nach dem Frieden und nach der Arbeit in den russischen Volksmassen war. Die Verhandlungen, die seit Dezember Litwinoff, eine der besten diplomatischen Kräfte Sowjet-Rußlands, mit O’Grady in Kopenhagen begonnen hatte, haben die Verhandlungen über den modus vivendi zwischen Sowjet-Rußland und der kapitalistischen Welt eingeleitet Bald sollte Litwinoff von Krassin unterstützt werden, einem der besten russischen Techniker, der gleichzeitig altes Mitglied der Kommunistischen Partei Rußlands ist. Sowjet-Rußland war zu bedeutenden Zugeständnissen bereit, um sich die Möglichkeit der friedlichen Arbeit zu sichern. Seine führenden Kreise wie die Massen, auf die es sich stützt, gingen dabei bewußt von der Ansicht aus, die wir im Dezember 1919 in den Worten niederlegten:

„Solange in allen wichtigsten Staaten das Proletariat nicht gesiegt hat, solange es nicht in der Lage ist, alle Produktionskräfte der Welt zum Aufbau zu gebrauchen, solange neben proletarischen kapitalistische Staaten existieren, solange werden die ersten genötigt sein, mit den letzten Kompromisse zu schließen, solange wird es weder einen reinen Sozialismus noch einen reinen Kapitalismus geben, sondern territorial von einander abgegrenzt, werden sie sich auf den eigenen Staatsgebieten Konzessionen machen müssen.“

Bald sollte es sich zeigen, ob England gewillt war, ehrlich ein Kompromiß mit Sowjet-Rußland zu schließen. Die Polenfrage wurde zum Prüfstein des Friedenswillens der englischen Regierung.

Die Polengefahr

Der Polenkrieg war ein Teil des Krieges, den die Entente gegen Sowjet-Rußland seit Ende 1918 führte. Sowjet-Rußland hatte noch in Brest-Litowsk dem deutschen Imperialismus gegenüber die Unabhängigkeit Polens verteidigt. Als Polen, von den Krallen des Zarismus durch die russische Revolution befreit, nun auch durch die deutsche Revolution von den Fesseln des deutschen Imperialismus befreit wurde, hat die Sowjet-Republik die polnische Republik anerkannt, und der Regierung der polnischen Sozialpatrioten mit Daszynski und Pilsudski an der Spitze Verhandlungen vorgeschlagen, die die Erbschaft des Zarismus vollkommen liquidieren sollten. Aber die polnischen Sozialpatrioten fürchteten die Revolution im eigenen Lande. Kleinbürger, die sie waren, wollten sie im unabhängigen Polen den Sozialismus „schmerzlos“ auf demokratischem Wege durchführen. Sie fürchteten die friedlichen Beziehungen mit Sowjet-Rußland, weil sie die Revolution fürchteten. Und eingekeilt zwischen die russische und die deutsche Revolution voller Angst vor ihrem revoltierenden Einfluß, wandten sie ihre Blicke der Entente zu, der einzigen unerschütterten Kapitalistengruppe und erwarteten von ihr das Heil. Sie sollte ihnen Rohstoffe und Maschinen, sie sollte ihnen Waffen gegen die Revolution geben. Für die Entente aber überhaupt war Polen der Wall gegen Sowjet-Rußland, für Frankreich im besonderen der Garant des Versailler Friedens. Polen mußte von Waffen starren, damit es bereit sei, als französischer Vasall ebenso die russische Schuld einzutreiben, wie Deutschland zu bewachen. Diese Rolle übernahm Polen und rückte gegen die beiden Schwesterrepubliken Sowjet-Rußlands, gegen Sowjet-Weißrußland und Sowjet-Litauen unter dem Vorwand, Sowjet-Rußland bereite einen Angriff gegen Polen, vor. Ein Jahr lang sandte die Warschauer Regierung die Söhne polnischer Bauern und Arbeiter an die Ostfront, ein Jahr lang meldeten die polnischen Telegraphen-Agenturen polnische Siege über die Roten Truppen. Dieser Ruhm war billig erkauft. Sowjet-Rußland, das im schweren Kampfe gegen Denikin, Koltschak, Judenitsch, Estland, Lettland, Petljura stand, verhielt sich den Polen gegenüber rein defensiv. Die polnischen Siege wurden auf dem Papier gewonnen. Und im Moment der entscheidenden Kämpfe mit der russischen Konterrevolution schloß Sowjet-Rußland sogar einen Geheimvertrag mit Pilsudski ab, auf Grund dessen die Rote Armee sich auf eine verabredete Linie zurückzog. Herr Pilsudski und die polnischen Sozialpatrioten verrieten schnöde Denikin und die Entente. Denn sie fürchteten die zarischen Generale mehr als Sowjet-Rußland. Sie waren überzeugt, daß der Sieg der Weißen, ein Ende der polnischen Unabhängigkeit bedeutet. Darum nahmen sie zwar fromm und bieder weiter das französische und englische Gold für den Kampf gegen Sowjet-Rußland, aber sie verabredeten mit diesem, wie der Kampf nicht zu führen sei. Sowjet-Rußland schlug ihnen eine direkte Beendigung des Kampfes durch einen Vertrag vor, der Polen ganz Weiß-Rußland bis zur Beresina, Wolhynien und Podolien einbringen sollte. Aber Pilsudski fürchtete den Bruch mit der Entente, er brauchte wenigstens den Anschein des Krieges um nicht demobilisieren zu müssen, was die Entfesselung der inneren sozialen Gegensätze mit sich bringen würde. Als Denikin und Koltschak geschlagen wurden, erwartete das Weiße Polen, daß Sowjet-Rußland nunmehr seine freigewordenen Kräfte an der Westfront zum Angriff verwenden werde. Die Presse der Entente suchten in diesem Glauben zu bestärken. Sowjet-Rußland, das ehrlich den Frieden mit Polen erstrebte, suchte durch eine Reihe von Kundgebungen diese Furcht der polnischen Regierung zu zerstreuen. In einer Kundgebung der höchsten Vertretungen Sowjet-Rußlands, in der Kundgebung des Rates der Volkskommissare, wie des Zentralen Vollzugsausschusses der Sowjets wurde in feierlichster Weise die Unabhängigkeit Polens anerkannt, und Polen Friedensverhandlungen vorgeschlagen.

Die polnische Regierung suchte Rat bei den Alliierten. Frankreichs Rat galt selbstverständlich der Unterstützung der kriegerischen Fraktion der polnischen Regierung. Der französische Imperialismus hatte dem Drange der englischen Regierung nachgegeben, der Aufhebung der Handelsblockade zugestimmt. Aber er hat den Gedanken an die Niederwerfung Sowjet-Rußlands nicht aufgegeben. England aber antwortete ausweichend. Lloyd George erklärte zwar den Polen, daß es besser wäre, wenn sie den Frieden schließen würden. Aber er hütete sich, irgendwie auf den Friedensschluß zu drängen. Und Lloyd George repräsentierte allein die englische Regierung nicht: Neben ihm, dem Exponenten der kleinbürgerlichen und der Handelsfriedensstimmungen gab es noch eine zweite englische Regierung, gab es die Regierung Winston Churchills und Lord Curzons. Diese Nebenregierung bestand aus zwei Cliquen: der militärischen und der indischen. Die militärische Clique, die sich um Churchill gruppiert, sieht in Rußland den Vertreter der Weltrevolution. Sie fürchtet den Sieg des Kommunismus in Deutschland und das sich daraus ergebende Bündnis zwischen Sowjet-Rußland und dem Räte-Deutschland. Sie ist für ununterbrochene Anstrengungen zwecks militärischer Niederwerfung Sowjet-Rußlands mit gleichzeitigen. Zugeständnissen an das bürgerliche Deutschland, das den polnischen Wall gegen Sowjet-Rußland stärken soll. Lord Curzon of Cedleston wuchs auf in den Traditionen der Verteidigung Indiens. Als früherer Vize-König von Indien sieht er die englische Politik und die Weltlage von der Terrasse des indischen Vize-Königs-Palais herab. Der Zentralgedanke der auswärtigen Politik Curzons war und bleibt die Schwächung Rußlands, Rußlands überhaupt, ohne Rücksicht darauf, wie die Regierung Rußlands aussieht. Curzon fürchtete den Sieg der Weißen Generale. Er war überzeugt, daß das Weiße Rußland auf eine asiatische Expansion hinsteuern wird, um das russische Volk die Revolution vergessen zu lassen und den Ruhm der herrschenden Generalität und somit ihre innere Position zu stärken. Darum annullierte er im August 1919 den alten russisch-persischen Vertrag und stellte Persien, dieses wichtige Gebiet, das Glacis der indischen Festung, unter alleinige englische Kontrolle. Darum liquidierte er den Dardanellen-Vertrag., und nahm sie unter den „Schutz“ der englischen Kanonen. Es war ihm nicht geheuer bei den Siegen Denikins und die Geschichte wird vielleicht einmal beweisen, daß Curzon eine Hand im Spiele hatte, wenn Denikin und Judenitsch nicht mit der ganzen Macht Englands unterstützt wurden. Nachdem Denikin geschlagen war, mußte die Sorge Curzons sich dem Gedanken zuwenden, wie verlängert man den Zustand des Bürgerkrieges in Rußland, wie läßt man die Wunden Rußlands nicht vernarben. Curzon hatte zwei Eisen im Feuer. Ein Teil der Denikin-Truppen sind im Moment der Niederlage auf der Krim gewesen, wo sie verstärkt durch Flüchtlinge aus dem Kaukasus, unter der Führung Wrangels den Ausgangspunkt einer, neuen Intervention bilden konnten. Im Westen stand das polnische Heer. Genötigt durch die Niederlage der Weißen in Rußland, durch die Friedensstimmung der englischen Arbeiterklasse zu Friedensverhandlungen mit Rußland, wollte Curzon die Liquidierung der anti-bolschewikischen, d. h. für ihn antirussischen Kräfte überhaupt nicht zulassen. Unter der Maske der Humanität begann er Verhandlungen mit Sowjet-Rußland über die Liquidierung der Wrangelfront, deren Aufgabe es war, Zeit zu gewinnen für die Ausrüstung Wrangels. Er rechnete richtig, daß die stark durch den Krieg geschwächten Roten Truppen Wrangel nicht hart bedrängen werden, wenn ihnen die Aussicht eröffnet wird auf eine kampflose Liquidierung der Wrangelfront. Was Polen anbetrifft, so genügte bei dem kriegerischen Drängen der Franzosen, daß er und Churchill Polen wissen ließen, es könne, die ihm, früher versprochenen Waffen weiterkriegen. Sah Polen, daß die Friedenshaltung Lloyd Georges von seinen Kollegen nicht ernst genommen wurde, nun, dann brauchte es die friedlichen Ratschläge des englischen Premierministers nicht ernst zu nehmen. Und Lloyd George? Lloyd George wollte nicht weniger als Curzon die Niederlage Sowjet-Rußlands. Er glaubte nur an den Sieg der Waffen nicht. Curzon und Churchill konnten ihm aber Berichte ihrer Agenten, in erster Linie der Revaler militärischen Mission vorlegen, aus denen hervorging, die Rote Armee sei durch die Friedenssehnsucht vollkommen demoralisiert. Die Ueberführung einzelner Teile der Roten Armee in Arbeitsarmeen wurde in diesen Berichten als Beweis gedeutet, die Räteregierung sähe selbst die Kampfunfähigkeit der Roten Armee ein. Wenn dem so ist, warum dann nicht abwarten, ob es den Polen nicht gelingt, die Rote Armee zu zertrümmern. Dann braucht man dem verhaßten Sowjet-Rußland keine Zugeständnisse zu machen. In dem Willen, „to wait and to see“, wurde Lloyd George bestärkt durch die Haltung Litwinoffs und Krassins in den, Kopenhagener Vorverhandlungen. Statt um den Frieden zu flennen, und den High Honourables Rußland zum Ausverkauf vorzuschlagen, erklärten Litwinoff und Krassin offen, Rußland sei durch den Krieg, den es an der Seite der Alliierten geführt hat, und durch den Bürgerkrieg, den sie finanziert haben, so geschwächt, daß es nicht imstande sei, die alten zarischen Schulden zu bezahlen, und sofort größere Mengen an Getreide und Rohstoffen auszuführen. Es müsse zuerst mit Hilfe des Entente-Kapitals sein Transportwesen heben, die Industrie in Gang bringen, bis es imstande sein wird, als Lieferant von Rohstoffen und Lebensmitteln auf dem Weltmarkt zu erscheinen.

Die polnische Regierung erklärte sich bereit zu Friedensverhandlungen. Aber als Ort dieser Verhandlungen schlug sie Borissow vor, ein Nest hinter der polnischen Front, an der Eisenbahnlinie, die nach Minsk führt. Die Wahl des Ortes für Friedensverhandlungen sagte jedem Kundigen, an was für einen Frieden Polen dachte. Die polnisch-russische Front zerfiel in zwei Teile, die südwestliche und die nordwestliche Front. Es war für Polen klar, daß Sowjet-Rußland an der Südwestfront schwach sein muß. Das ukrainische Eisenbahnnetz, der Zustand der ukrainischen Bevölkerung, die zwölf Regierungen kommen und gehen sah, und deshalb keiner traute, waren die Erklärung dafür. Dazu kam noch in Betracht, daß ein Schlag an der Südwestfront sich nur dann in der Richtung des Zentrums der polnischen Regierung Warschaus auswirken konnte, wenn ihm ein Schlag an der Nordwestfront folgte. Der kürzeste Weg nach Warschau führte über Minsk. Indem die polnische Regierung einen Waffenstillstand an der ganzen Front ablehnte, und nur auf der Borissower Front einen solchen zuließ, behielt sie sich vor, falls die Sowjet-Regierung nicht allen Forderungen der Polen nachgab, während der Friedensverhandlungen einen Schlag gegen Kiew zu führen, während an der Nordwestfront die Roten Kräfte gebunden bleiben würden. Pilsudski wollte den General Hoffmann spielen. Und wie Hoffmann als Trumpf gegen Sowjet-Rußland den kleinbürgerlichen ukrainischen Nationalisten Petljura ausspielte, um die Ukrainer, d. h. Brot und Kohle, von Sowjet-Rußland zu trennen, so schloß auch Pilsudski ein Abkommen mit Petljura, in dem dieser dreimal durch die Arbeiter- und Bauern-Ukraina verjagte Allerweltsverbündeter und Allerweltsverräter, von Pilsudski als Vertreter der Unabhängigen Ukraina anerkannt wurde. Die Sowjet-Regierung wandte sich am 8. April an die englische Regierung mit einer Note, in der sie diesen Tatsachenbestand feststellte, und als Friedensverhandlungsort u. a. London vorschlug. Damit ward gesagt: wenn die englische Regierung ein wirkliches Friedensinteresse hat, nun, dann hat sie auch die Möglichkeit, ein Kompromiß zwischen Polen und Sowjet-Rußland herbeizuführen, und so das Kriegshinderhis für die Friedensverhandlungen aus dem Wege zu räumen. Tut die englische Regierung dies nicht, nun, dann verwirkt sie das Recht der Einmischung in den polnisch-russischen Krieg als neutrale Macht. Die englische Regierung ließ die Masken fallen. Sie beantwortete die Note der Sowjet-Regierung nicht. Am 29. April begann die Offensive Pilsudskis gegen Kiew, das nur von 6.000 Mann verteidigt wurde. Am 7. Juni fiel Kiew. Die französische Presse lachte die Engländer aus: Ihr wollt durch Verhandlungen mit Sowjet-Rußland Lebensmittel und Rohstoffe kriegen? Dies alles holt uns Pilsudski aus der Ukraina!

Die Verhandlungen mit England

Die englische Regierung führte inzwischen dilatorische Verhandlungen. Sie, die Litwinoff nicht hineinließ mit der Begründung: es handle sich doch nicht um Politik, sondern um wirtschaftliche Beziehungen, begann die Verhandlungen mit der Frage von der Ueberwindung der politischen Hindernisse der wirtschaftlichen Beziehungen. Sie klagte wehleidig über die kommunistische Agitation, die seitens Sowjet-Rußland nicht nur unter den englischen Arbeitern geführt wird, sondern — was für ein Verbrechen! — unter den Orientvölkern, die schon von Gott dazu verurteilt sind, die Wohltaten der englischen Herrschaft zu genießen. Sie forderte die Einstellung dieser Propaganda als Hauptbedingung eines russisch-englischen Handels-Abkommens. Krassin wies darauf hin, daß England das Haupt der antirussischen Koalition, die Leiterin der russischen Konterrevolution, sei. Auf die Aufforderung, der Engländer, den Kampf gegen die englischen Orientinteressen einzustellen, antwortete Krassin mit dem Hinweis darauf, daß Rußland keineswegs in der Lage ist, den Engländern von den Augen abzulesen, worin ihre Orientinteressen bestehen. Rußland grenze an den Orient, und wenn es, auch keine selbstsüchtigen Interessen im Orient verfolge, so ist es sein Interesse, daß keine imperialistische Macht die Orientländer als eine Basis zum Kampfe gegen Sowjetrußland gebrauche, ganz davon abgesehen, daß Rußland durch die Solidarität eines vom Weltkapital bedrängten Volkes mit den Orientvölkern verbunden sei. Die Iswestja spönnen diesen Gedanken weiter. Sie sagten: Sowjet-Rußland sehe in den Orientvölkern keineswegs ein Schacherobjekt. Es ist mit ihrem Aufstieg dauernd verbunden, aber es ist klar, daß, falls England Frieden mit Sowjet-Rußland schließt, dies eine Situation schaffen würde, in der auch die Orientvölker, von Sowjet-Rußland gestützt, zu einem friedlichen modus vivendi mit England gelangen könnten, in dem sie dem Frieden Opfer bringen würden, wie es Sowjet-Rußland in Brest-Litowsk getan hat. Die englische Regierung, die die prekäre Lage Sowjet-Rußlands an der Polenfront zum Abschluß eines Abkommens ausnützen wollte, drängte auf den Abschluß. Am 6. Juli wurde das Abkommen von Sowjet-Rußland unterzeichnet. Das Abkommen garantierte die Freiheit der Handelsbeziehungen der beiden Länder unter der Bedingung des gegenseitigen Verzichts auf feindliche Aktionen und Agitationen, ohne diese zu spezifizieren. Die englische Regierung glaubte durch dies Abkommen einen großen Sieg erfochten zu haben. In Wirklichkeit hat sie ein erst auszufüllendes Stück Papier erlangt. Nicht weil Sowjet-Rußland gewillt wäre, jedes Abkommen mit einer kapitalistischen Regierung nach dem Bethmann-Hollwegschen Muster als scrap of paper zu behandeln. Ohne den diplomatischen Abkommen die Bedeutung heiliger Bücher beizumessen, ist Sowjet-Rußland zweifelsohne gewillt, die Friedensabkommen zu halten, denn es braucht Frieden für seine Wirtschaftsarbeit. Die beste Garantie der Einhaltung des Friedens durch Sowjet-Rußland. ist sein Interesse an den Handelsbeziehungen mit den kapitalistischen Ländern. Aber wenn England glaubte, es werde Rußland binden, während es sich selbst nicht bindet, so war das ein großer Irrtum. Denn mit der feindlichen Stellungnahme Englands gegen Sowjet-Rußland würde die Zurückhaltung Sowjet-Rußlands hinfällig werden. Das Papier des Abkommens stellte also ein leeres Blatt dar, das erst durch die beiden vertragschließenden Parteien ausgefüllt werden sollte.

Inzwischen suchte die Rote Armee die Bedingungen zu schaffen, unter denen auch die englische Regierung ein lebhaftes Interesse an der Erhaltung des Friedens mit Sowjet-Rußland haben würde.

Der Krieg mit Polen

Das Papier war noch nicht Brocken, auf dem die polnischen bürgerlichen Schwätzer die Siege Pilsudskis mit denen Boleslaus des Tapferen verglichen, die Blumen waren noch nicht verwelkt, mit denen Pilsudski bei seiner Rückkehr aus Kiew auf den Straßen Warschaus beworfen wurde, als im Nordwesten die Offensive Tuchatschewskys begann. Sie wurde von den Polen bei Molodetschno aufgehalten, aber für den Preis der Einsetzung einer Anzahl von der Kiewer Front geholter Divisionen. Das schwächte die polnische Südfront so, daß, als die Kavallerie des früheren Wachtmeisters Budjonny über den Dnjepr hinausgriff, die polnische Südfront erzitterte, und eiligst zurückging. Damit war die Lage der Nordfront unhaltbar geworden. Sie hing in der Luft. Während Büdjonnys Reiterscharen die Polen in erbitterten Kämpfen auf Galizien zurückwarfen, zog sich die Nordfront in Eilmärschen auf Brest-Litowsk und Bialystok, hart verfolgt durch die Truppen Tuchatschewskys. „Hannibal ante portas!“ schrie dieselbe imperialistische Presse der Entente, die kurz vorher die Rote Armee als eine disziplinlose Horde behandelt hatte; Die französische Presse . schrie nach einer militärischen Intervention für Polen. Der Stabschef des Marschall Foch, General Weygand, übernahm die Leitung der polnischen Armee, und England, das am 8. April nichts hören wollte von einer Einmischung zugunsten des Friedens, es zeigte sich auf einmal höchst interessiert an der Herbeiführung des Friedens zwischen Sowjet-Rußland und Polen. Denn wenn, auch England in Polen einen Vasallen Frankreichs sieht, und keinesfalls Ursache hat, diesen Pfeiler der französischen Bestrebungen nach einer Hegemonie auf dem Kontinente zu lieben, so verstand es, daß das Verschwinden des weißgardistischen Polens katastrophale Folgen für die Weltbourgeoisie haben würde. Ein Sowjet-Polen wäre ein Vorwerk Sowjet-Rußlands Die Herrschaft der Arbeiterklasse an der Weichsel würde nicht nur den Versailler Frieden des polnischen Pfeilers berauben sondern sie würde den Sieg des deutschen Proletariats beschleunigen, da dann vom deutschen Proletariat die Furcht vor dem Zerdrücken zwischen dem imperialistischen Frankreich und dem nationalistischen Polen verschwinden würde. Darum vergaß England, daß es mit der verfehlten Sowjet-Regierung keine politischen Verhandlungen fuhren könne. Kamenew durfte an der Spitze einer politischen Delegation nach London fahren, er wurde so liebenswürdig von Lloyd George empfangen, als wäre er ein Abgesandter des bluttriefenden Zaren und nicht der proletarischen Demokratie Rußlands. Und die englische Regierung schlug eine allgemeine Konferenz über die Ostfragen vor. Sie gab zu verstehen, daß es sich um die vollkommene Liquidierung der anti-bolschewikischen Politik handele, der die Anerkennung Sowjet-Rußlands folgen werde. Lloyd George und die seinen setzten die russische Delegation geheimnisvoll ins Vertrauen über alle Differenzen mit dem schlechten Millerand, die natürlich jeder Gassenbube aus den Zeitungen kannte. Der Preis, den Sowjet-Rußland für die Ehre, das größere Vertrauen Lloyd Georges zu genießen, als Millerand angeblich besaß, zu bezahlen hatte, der Preis all dieser Liebenswürdigkeiten sollte in der Unterbrechung der Waffenhandlungen gegen Polen bestehen. Sowjet-Rußland lehnte die englische Einmischung ab. „Weder die englischen Liebenswürdigkeiten noch die Drohungen mit den Strafen der Hölle, die angesichts der Tatsache, daß das englische Volk neben dem jüdischen das Auserwählte ist, immer in Bewegung tritt, wenn englische imperialistische Interessen bedroht sind, weder die Peitsche noch das Zuckerbrot hielten den russischen Vormarsch auf. Sowjet-Rußland war zum Frieden bereit, aber es sollte ein Frieden sein, geschlossen zwischen dem russischen und polnischen Volke, der ein für allemal es der Entente unmöglich machen würde, den polnischen Säbel gegen Sowjet-Rußland zu schwingen.

Die Gefahren des Vormarsches lagen auf der Hand. Je weiter die Rote Armee sich von ihrer Basis entfernte, desto schwieriger war ihre Verpflegung und Versorgung mit Munition. Die schwere Artillerie konnte den Truppen nicht nachfolgen. Es drohte, daß sie aufgebraucht auf den zusammengedrängten Feind stoßen würden. Der Stand des Transportwesens erlaubte gar nicht, alle verfügbaren Kräfte im den Kampf einzusetzen. Diesen Erwägungen gegenüber, die es empfahlen, am Bug Halt zu machen, wiesen die andern darauf, hin, daß, wenn man den Polen Zeit überläßt, so werden sie ihre geschwächte, aber nicht aufgeriebene Armee mit Hilfe Frankreichs reetablieren, und zu einem neuen Schlag ausholen. Und England war nicht imstande, irgendwelche Frankreich bindende Verpflichtungen zu übernehmen. Das Risiko eines Mißlingens wurde gemacht. Die Roten Armeen überschritten den Bug, den Njemen, sie drängten über Brest-Litowsk und Bialistok auf Warschau. Sie griffen über die Weichsel, um die Möglichkeit der Unterstützung Polens durch die Entente von Danzig aus zu verhindern. Trotz der auf der Hand liegenden Gefahren, die bei jeder großen militärischen Operation bestehen, war der vollkommene Sieg möglich. Er scheiterte in erster Linie an organisatorischen Fragen. Die Rote Armee ging zur Offensive in zwei Gruppen geteilt, in die südwestliche und die nordwestliche, die selbständiges Kommando hatten. Bei der Schwierigkeit der Verbindung war das Zusammenarbeiten der beiden Armeegruppen mangelhaft. Dies wurde im Kampfe erkannt und die südwestliche Gruppe wurde dem allgemeinen Kommando Tuchatschewskys unterstellt. Tuchatschewsky, der wußte, daß die polnischen Kräfte, die sich über Brest-Litowsk zurückgezogen haben, nicht auf Warschau, sondern auf Lublin zurückgingen, sah die Gefahr eines Flankenstoßes gegen die die Vorstadt Warschaus, Praga, bestürmende Armee. Er befahl der Kavallerie Budjonnys den Kampf um Lemberg abzubrechen und in der Richtung Lublin einzusetzen. Budjonny war jedoch auf Grund der früheren Befehle des selbständig gen Südwestkommandos in schweren Kämpfen verwickelt und konnte sich vom Feinde nicht ablösen. Das erlaubte Weygand, den Flankenstoß auszuführen, mit dem sich Abtrennungsstöße im Norden vereinigten, die an und für sich keine ausschlaggebende Bedeutung gehabt haben würden, wenn Budjonny zeitig genug eingegriffen hätte. Die bei Warschau zurückgeworfene Armee flutete zurück und hart in den Rückzugskämpfen mitgenommen, konnte sie fast erst an der Beresina haltmachen.

Während an der Weichsel die Rote Armee dabei war, den Lakaien der Weltbourgeoisie, die polnische Bourgeoisie zu schlagen, und so die Weltherrschaft des Kapitals zu erschüttern, sah es in seinen eigenen Domänen die Entstehung der Roten Gefahr. In Deutschland ergriff eine große Erregung die Arbeitermassen. Sie störten die französischen Munitionstransporte und waren daran, die von Noske mit Minenwerfern getöteten Arbeiterräte wieder aufleben zu lassen. In England wurde zum ersten Mal der Gedanke an die Revolution in den Massen lebendig. Auf die Kriegsdrohung der Downingstree antwortete die vom Opportunismus sich noch nicht erhalte Arbeiterklasse, mit der Bildung des Council of action mit der Erklärung, daß sie zum Massenstreik greifen werde, falls die Regierung versuchen sollte, die englische Flotte gegen Sowjet-Rußland einzusetzen. Zum ersten Mal in der englischen Geschichte war die Arbeiterklasse zum ausschlaggebenden Faktor in der auswärtigen Politik geworden.

Ein Alp fiel vom Herzen der Weltbourgeoisie, als die Rote Armee, an der Weichsel geschlagen, zurückkehrte. Wie sie nicht fähig war, die Siege der Roten Armee zu verstehen, so war sie nicht fähig, ihre Niederlagen richtig zu beurteilen. Im August so schrieb der Redakteur eines führenden englischen Organs an seinen Korrespondenten in Rußland — waren die englischen Bourgeois überzeugt, die roten Truppen würden zu Weihnachten, am Rhein stehen. Und Herr Churchill trat schon offen für die Amnestierung der „Hunnen“ ein, die doch nicht schwärzer und weniger zivilisiert seien, als die Senegalneger und die indischen Truppen, die das französische und englische Kapital zur Rettung der Zivilisation (bringt 20 Prozent ein) im Kriege eingesetzt hatten. Jetzt, nachdem die militärische Gefahr seitens Sowjet-Rußlands verschwunden, war, und die revolutionären Arbeiterbewegungen abebbten, prophezeite die gesamte bürgerliche Presse der Welt den Zusammenbruch Sowjet-Rußlands und pries die polnischen Schlachzizen als die Retter der Zivilisation: die, die unter dem König Sobieski das Christentum vor der türkischen Gefahr gerettet haben, die haben jetzt das jüdische Jobbertum gerettet. Heil Pilsudski, dem Retter der Zivilisation und Heil dem General Weygand, der den kopflosen Pilsudski gerettet hat!

Der Waffenstillstand in Riga und die Niederlage Wrangels

Sowjet-Rußland hatte genug seiner Söhne unter Waffen, um zur dritten Offensive gegen die Polen überzugehen. Es verzichtete aber auf einen neuen Waffengang und betrat den Weg der Rigaer Friedensverhandlungen mit dem festen Entschluß, sie durch Kompromiß mit dem Weißen Polen zu beenden. Die Gründe, die dafür sprachen, waren eindeutig. Während des polnischen Krieges hat Frankreich Wrangel anerkannt. Damit wurde ein neues Zentrum der russischen Konterrevolution geschaffen, hinter dem in dem gegebenen Moment die ganze Macht Frankreichs stand und morgen auch die, ganze Macht Englands stehen konnte. Mit der polnischen Konterrevolution, war ein Kompromiß möglich. Polen war durch den Krieg hart mitgenommen. Die polnische Bourgeoisie und die polnischen Schlachzizen sahen, wie gering die Hilfe war, die ihnen Frankreich angedeihen lassen konnte. Ihre Presse nannte die Niederlage der Roten Armee „Das Wunder an der Weichsel“ und Wunder sind keine berechenbaren Faktoren. Die Rücksprache in Minsk zeigte, daß die Polen auf das ukrainische Abenteuer, die einzige Frage, in der kein Kompromiß möglich war, verzichten. Es konnte sich also handeln um territoriale Zugeständnisse in Weiß-Rußland und um ökonomische Abkommen. Natürlich war es für Sowjet-Rußland nicht leicht, die weißrussischen Bauern, die den Roten Truppen zugejauchzt haben, den polnischen Schlachzizen auszuliefern. Aber die Sowjetregierung hat nicht zum ersten Mal einen Teil seiner Kinder der Ausbeutung der Feinde ausliefern müssen, um das Leben der Sowjetrepublik selbst keinen Gefahren auszusetzen: blieb Sowjet-Rußland heil, so blieb das Zentrum der Weltrevolution heil, die in der Zukunft alle Unterdrückten befreien wird. In den Sümpfen und Wäldern Weißrußlands lag kein Lebensinteresse Sowjet-Rußlands. Die Besetzung Weißrußlands erschwierigte nur, die ökonomische Lage der polnischen Bourgeoisie. Ueber ökonomische Fragen war ein Kompromiß zwischen Polen und Sowjet-Rußland möglich, und es war desto aussichtsreicher, daß sie natürlich lange Verhandlungen erforderte, während welcher die Position Sowjet-Rußlands durch den Sieg über Wrangel gestärkt werden konnte. Mit Wrangel gab es kein Kompromiß. Wrangel und Sowjet-Rußland waren zwei Zentren: das Zentrum der Konterrevolution und der Revolution in Rußland. Beide kämpften um die Macht im russischen Maßstabe. Anerkannt und unterstützt durch Frankreich, begann Wrangel die Ueberreste aller konterrevolutionären Heere heranzuziehen, und er bedrohte den Lebensnerv Rußlands. Er konnte Sowjet-Rußland abschneiden vom Baku-Petroleum, von dem nordkaukasischen Getreide und er konnte die erst begonnene Restaurationsarbeit im Donez-Kohlenbecken ruinieren. Wrangel mußte geschlagen werden. Noch bevor der polnische Waffenstillstand unterzeichnet war, begannen die Truppentransporte von der Polenfront an die Wrangelsche abzugehen. Ganz Rußland strengte alle Kräfte an, um den Winter für die Kämpfe gegen Wrangel auszunützen. Und es handelte sich nicht nur darum, Wrangel zu schlagen. Der Sieg über Wrangel war ein Sieg über das imperialistische Frankreich. Er war ein Beweis, daß Sowjet-Rußland durch die polnische Niederlage in seinen Fundamenten unberührt geblieben ist. Die Daily News, das Organ der liberalen englischen Bourgeoisie, schrieb mit Recht: Wenn Sowjet-Rußland die Erschütterung durch die Niederlage im Polenkrieg aushält, nun dann steht es fest. Es ist klar, daß nur eine festfundierte Regierung den Verlust von zehntausenden Toten und von zehntausenden Gefangenen ohne tiefere Erschütterung erträgt. Und wie tief die Erschütterung sei, das konnte am besten die Haltung der Roten Armee an der Wrangelfront zeigen. Wird sie durch die Polenniederlage nicht entmutigt sein, wird sie den Strapazen im Süden während des Winters gewachsen sein? — das waren die Fragen, die sich jedem aufdrängten. Die Sowjetregierung bereitete sich für eine Winterkampagne an der Wrangelfront vor. Anfang Oktober begann die Offensive gegen Wrangel unter der Leitung von Frummse. Anfang November war Wrangel abgetan. Der Kampf gegen Wrangel bildet eines der schönsten Ruhmesblätter in der Geschichte der Roten Armee. Es setzte im Süden schon ein bitterer Winter ein. Schneegestöber und Frost wechselten mit Regen, der alle Wege aufweichen ließ. Und obwohl Moskau und Petrograd 15.000 Wintermäntel täglich lieferten, so standen die Soldaten im Felde noch allen Bitternissen des späten Herbstes und des anfangenden Winters ausgesetzt. Die schwere Artillerie konnte schwer herangeführt werden. Und als die Rote Armee die Wrangelschen Heere bis zu den beiden Meeresengen, die die Krim mit dem Kontinent verbinden, getrieben hatte, da stand sie vor ausgezeichnet ausgebauten Verteidigungslinien, die unter der Führung französischer Artillerie-Offiziere, ausgezeichnet bestückt, verteidigt wurden. Nur wenige rechneten mit der Möglichkeit der Forcierung der Meeresengen: Das Rote Heereskommando machte Vorbereitungen zu Flankenschlägen von der See aus. Aber die Roten Truppen, nicht entmutigt durch die polnische Niederlage, gingen todesmutig zu einem Frontalangriff nach dem andern über. Zehntausend Söhne Sowjet-Rußlands blieben auf der Strecke liegen, aber das Sowjet-Banner ward an den Meerengen gehißt und bald leuchtete der Sowjetstern von den Türmen Sewastopols ins Schwarze Meer hinein, den Völkern des Ostens den Weg des Kampfes und des Sieges zeigend.

Mitte November konnte der umsichtige, kluge und ruhige Kommandant der Roten Armee, der frühere zarische Oberst Sergej Sergeitsch Kamenew der Sowjetregierung freudestrahlend, melden, daß er einstweilen arbeitslos sei. Wenn der Sieg über Wrangel gezeigt hat, wie gut der Geist der Roten Armee, wie treu sie zum Sowjetbanner halte, so hat er auch gezeigt, daß Sowjet-Rußland in seinem Offizierskorps nicht nur auf die jungen proletarischen Roten Offiziere rechnen kann, sondern daß in den drei Jahren des Bürgerkrieges sich aus den alten zarischen Offizieren eine Elite herauskristallisiert hat, die mit der Sowjet-Regierung innig verbunden ist. Es sei hier gesagt, daß Kamenew, als es zu wählen galt zwischen, der Weiterführung des Krieges gegen Polen, wofür er aus nationalen Gründen sein mußte, und zwischen Wrangel, mit dem ihm seine Vergangenheit verband, kühl und klar das Interesse der Sowjet-Republik erfassend, sich für den entscheidenden Kampf gegen Wrangel aussprach. Die proletarische Diktatur hat sich in der Offizierselite treuere Verbündete erworben, weil alle denkenden, mit ihrem Volke fühlenden Offiziere verstehen, daß nur die Proletarierherrschaft Rußland von dem Geschick einer kapitalistischen Kolonie retten kann, weil sie zu verstehen beginnen, daß die alte kapitalistische Welt abstirbt, und man mit der neuen proletarischen gehen muß, wenn man nicht auf den Hundeinseln des Bosporus in den englischen Konzentrationslagern enden.

II. Vor der Entscheidung

Die Bilanz der Entente-Politik

Das Jahr 1920 führte zu Ende, was das Jahr 1919 gebracht hat: die Zertrümmerung der Interventionspläne der Entente. Sowjet-Rußland hat mit den einst vom Zarismus unterjochten Randvölkern, mit den Finnen, Esten, Letten, Litauern Frieden geschlossen. Es ist dabei, den Frieden mit Polen zu schließen. Es kann mit Rumänien, wenn dieses auf einen Frieden nicht eingeht, leicht fertig werden. Was bedeutet das? Das bedeutet, daß all die Vasallen der Entente zu wenig Vertrauen zu ihren Herren haben. Entweder rechnen sie, die Entente ist weit, die Rote Armee ist nah, und sie werden von der Entente im entscheidenden Momente im Stich gelassen, oder sie lassen sich leiten durch die Einsicht, daß die Entente gar nicht gewillt ist, ihre dauernde Existenz anzuerkennen, daß sie nicht einmal imstande ist, dies zu tun, wenn sie ihre Karte auf die russische Konterrevolution setzen will. Schließlich verstehen sie, daß das Verhältnis zur Entente ihre Ausbeutung durch das Ententekapital mit sich bringt, falls sie keine Gegenversicherung durch den Frieden mit Sowjet-Rußland haben. Und schließlich die Zerfahrenheit, der Ententepolitik hat in ihnen den Glauben an die Festigkeit ihres, antibolschewikischen Kurses untergraben. Die Randvölker sind als allgemeine Trumpf aus der Hand der Entente durch die Sowjetpolitik geschlagen worden. Noch wird die Entente vielleicht imstande sein, diese oder jene Clique eines Randstaates in Bewegung gegen Sowjet-Rußland zu bringen, eine allgemeine Front gegen Sowjet-Rußland aus den Randstaaten wird die Entente nicht mehr imstande sein, zu formen. Dies destoweniger, als die massenpsychologischen Grundlagen einer solchen Intervention vollkommen verschwunden sind. Die Bourgeoisie der Randstaaten konnte die Bauern und Kleinbürger ihrer Länder gegen Sowjet-Rußland nur dadurch auf die Beine bringen, daß sie ihnen das Märchen von dem Sowjet-Imperialismus vorerzählte. Sowjet-Rußland hat dieses Märchen zerschlagen. Es war nicht nur in dem Moment zum Frieden entschlossen, wo es von stärkeren Feinden bedroht war, sondern es hat den Frieden gehalten, als seine Armeen frei wurden. Die Massen in Estland, Lettland, Litauen, beginnen zu verstehen, daß sie belogen wurden. Das alte nationale Mißtrauen zu den Russen, das Resultat der alten zarischen nationalen Unterdrückungspolitik, es verschwindet. Und die Bourgeoisie, die so furchtbare Angst hatte, Sowjet-Rußland könnte unter der Maske des Friedens den Umsturz in den Randländern vorbereiten, sie rechnet folgendermaßen: an und für sich stellen die Randländer mit einer sehr schwachen Arbeiterklasse kein besonderes Anziehungsobjekt für Sowjet-Rußland. Politisch und ökonomisch sind sie nur Transitländer, für Wären wie für revolutionäre Ideen. Siegt die Revolution im Deutschland, dann – das wissen, sehr gut, die Leute in den bürgerlichem Kreisen dieser Randländer – wird auch das Proletariat dieser Randländer die Kraft finden, die Macht zu ergreifen. Aber bis dieser Tag der Sintflut eintritt, hat Sowjet-Rußland gar kein Interesse, diese Länder zu überrennen. Es braucht sie eben als Fenster zu Europa, solange es keinen stabilen Frieden mit England erreicht hat. Hat es diesen Frieden, so wird es ein desto lebhafteres Interesse haben, ihn nicht aufs Spiel zu setzen durch Angriffe auf Länder, mit. denen es erst den Frieden geschlossen hat. Diese Rechnung der bürgerlichen Kreise, – und man findet sie in allen Köpfen in den Randländern – , stärkt ihre friedliche Stimmung desto mehr, je mehr sie am Transithandel mit Rußland verdienen. Die Zertrümmerung der von der Entente finanzierten und organisierten Kräfte der russischen Konterrevolution hat in weiten Kreisen der Entente-Politiker die sehr richtige Ueberzeugung gestärkt, daß jeder Angriff auf Sowjet-Rußland nur die moralische Position der Sowjetregierung stärke, indem er nicht nur die Angst der Bauern um ihren Grund und Boden, nicht nur die Angst des Proletariats vor der Herrschaft des weißen Terrors, sondern auch die nationalen Gefühle der Intellektuellen mobil macht Aber die Niederlagen der Weißen haben noch eine andere Folge. Die geschlagenen, im Stich gelassenen, in ganz Europa herumwandernden weißen Offiziere und Flüchtlinge, die mit der Ausnahme der kleinen Schicht der Generalität und der Schieber, alle Bitternisse der Emigration, alle Schrecknisse der ententistischen Konzentrationslager auszukosten bekommen, sie klagen die Entente der Schuld an ihrem Los an. Sie klagen die Entente an, d aß sie sie nur als Schachfiguren in ihrem Kampfe um die Ausbeutung Rußlands behandelt hat Es genügt, einen Blick in die weißgardistische Presse Rußlands zu werfen, um zu sehen, daß die Entente, in erster Linie England, die Kunst fertig gebracht hat, nicht nur die. Arbeiter und Bauernmassen Rußlands, sondern auch die Weißen im Haß zu sich zu vereinigen. Natürlich kann die Entente aus diesen zerlumpten, verhungerten, deklassierten Elementen immer ein paar Zehntausende fur Geld mobil machen. Sie haben nichts zu verlieren; sie würden sich ebenso gern oder ungern dem König von Siam, wie dem König von England vermieten. Aber mit diesen Ironsides ohne Glauben, ohne Willen, ohne Ziel, kann man keine Schlachten gewinnen.

Gewisse Ententekreise, sehen ein, daß die Karte auf die aktiven konterrevolutionären Kräfte ausgespielt hat. Sie ziehen daraus den Schluß: nun dann gilt es zu warten, bis der Hunger, das wirtschaftliche Chaos die Passivität der Massen der Bauern Rußlands überwindet und sie zu einem aktiven konterrevolutionären Massenfaktor macht. Aber klügere Elemente der Entente sehen ein, daß diese Rechnung auf sehr schwache Füße gestellt ist. Wenn Rußland nicht genötigt ist, im Kriege seine Produktion aufzuzehren, so wird es seine Energie dem Wiederaufbau seiner Produktionskräfte zuwenden. Es wird sogar ohne Hilfe des Auslandes sich langsam zu erholen beginnen, und schließlich sagen die Engländer mit Professor Seely: der Hunger allein ist kein revolutionärer Faktor, er ist nur ein revoltierender Faktor. Mit den Revolten wird noch jede Regierung fertig, wenn sie auch nur Hunderttausende entschlossener Männer besitzt, die mit ihr auf Leben und Tod verbunden sind; damit aus Revolten eine Revolution wird, ist eine organisierende Kraft nötig, die sich auf eine aufsteigende soziale Schicht stützt, die weiß, was sie will, die Ideale hat, die die Massen anfeuern können. Die weißgardistische Presse gibt aber zu, daß sie keine Ideale besitze, die die Massen auf die Beine bringen. Wenn man die klügsten weißgardistischen Organe liest, so sieht man in ihnen eine Atmosphäre vollkommener Verzagtheit und Hoffnungslosigkeit. Mystisch rechnen sie, daß einmal das Damaskus für den Bolschewismus kommen muß, aber wann und wie? Das können sie nicht sagen. Das Bramarbasieren der Sozialisten-revolutionäre, das „Volk“ werde aufstehen im Namen der kahlen Demokratie, findet keine gläubige Aufnahme in den führenden Kreisen der Entente. Erstens haben sie die Madame Demokratie, in den Umarmungen so vieler Koltschaks und Denikins, in den Rinnsteinen so vieler Straßen gesehen, daß sie nicht glauben können, diese zerzauste und beschmutzte Frauensperson könne mehr Anziehungskraft auf die russischen Volksmassen ausüben, als sie sie ausgeübt hat in jenem Moment, wo sie noch unberührt zum ersten Mal von den Matrosen im Taurischen Palais vergewaltigt wurde, ohne, daß sich auch nur eine Hand zu ihrer Verteidigung erhob. Die Rotamontaden der Sozialistenrevolutionäre prallen ab an dem Unglauben der Leiter der Entente desto mehr, daß generelle Auffassung der Entente über die russischen Volksmassen die ist, sie seien überhaupt zu einer demokratischen Selbstverwaltung noch nicht reif.

Was also tun? Warten. Aber ohne Rußland gibt es keine Wiederherstellung des Friedens in Europa. Ohne Rußland gibt es keine Wiederherstellung der Weltwirtschaft. Warten heißt, seiner eigenen Zersetzung zuzuschauen. Und darum ist die Entente vor die Frage gestellt, von neuem vor die Frage gestellt, unerbittlich vor die Frage gestellt: Krieg oder Frieden mit Sowjet-Rußland?

Der Churchill-Hoffmannsche Plan einer allgemeinen Offensive gegen Sowjet-Russland

Die englisch-französische Intervention gegen Sowjet-Rußland begann im Jahre 1918 als, ein Teil des allgemeinen Kampfes der Entente ‚gegen den deutschen Imperialismus. Natürlich glaubte die Entente keinen Augenblick an ihre Märchen darüber, daß Sowjet-Rußland sich an den deutschen Imperialismus verkauft hat. Niemand war es besser als der Entente bekannt, daß die sogenannten Sisson-Dokumente von ihren eigenen Agenten plump falsifiziert worden sind. Colonel Robins, dem diese Dokumente Monate vor ihrer Veröffentlichung vorgelegt waren, konnte selbst feststellen, daß sie alle ohne die geringste Ausnahme gefälscht sind. Und Herr Sisson, dem das offen gesagt und bewiesen worden ist, wagte sie nicht früher zu veröffentlichen, als bis die Entente sich zur Intervention gegen Sowjet-Rußland entschlossen hat, und sich dadurch zum Gebrauch giftiger Gase berechtigt hielt. Aber die Entente rechnete damit; daß Sowjet-Rußland zu schwach sein wird, dem deutschen Druck Widerstand zu leisten, daß es unter diesem Druck die russischen Lebensmittel und Rohstoffe in den Dienst des deutschen Imperialismus stellen, und so seinen Sieg herbeiführen wird. Dieser Gefahr konnte auf zwei Wegen vorgebeugt werden: durch eine Unterstützung Sowjet-Rußlands, oder durch Besetzung seiner Teile. SowjetRußland war bereit, diese Unterstützung anzunehmen. Durch die Zwangslage genötigt, sich in Brest-Litowsk dem deutschen Diktat zu unterwerfen, arbeitete sie fieberhaft-daran, sich widerstandsfähig gegen den deutschen Imperialismus zu machen. Wie ernst ihm dabei die Sache war, das konnte General Nissel, der französische Militärattache und seine Kollegen feststellen, als sie zu den ersten Beratungen, die Trotzki mit den russischen Militärfachleuten über den Ausbau der Roten Armee im April 1918 abhielt, zugezogen wurden. Aber das Entente-Kapital, das inmitten seines Entscheidungskampfes gegen den deutschen Imperialismus schon an den zukünftigen Kampf gegen die Weltrevolution dachte, konnte sich nicht entscheiden, den ersten proletarischen Staat zu unterstützen. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als durch die Organisation des tschechoslowakischen Aufstandes, durch den Ueberfall von Archangelsk, eine neue Front in Rußland bilden zu suchen. Diese Front sollte Deutschland nötigen, Kräfte von der Westfront nach Rußland zuwerfen, und so der Entente die Möglichkeit geben, eine Entscheidung im Westen herbeizuführen.

Als der deutsche Imperialismus schon im Sterben lag, suchte er die Entente für den Gedanken zu gewinnen, auf dem Rücken des russischen Volkes, auf seine Kosten einen Verständigüngsfrieden zu schließen. Damals erschienen in der Kreuzzeitung, die der Obersten Heeresleitung am nahesten stand, Artikel, in denen der Entente vorgeschlagen wurde, sich mit Deutschland zum Kampfe gegen den Weltbolschewismus zusammenzuschließen: Und General Hoffmann erzählte in seinem Rûl-Interview, wie alles vorbereitet war für eine Offensive gegen Petrograd, und wie die Vorbereitungen durch die deutsche Niederlage an der Westfront zu Wasser wurden. Da Deutschland sich genötigt sah, das belgische Faustpfand aus der Hand zu geben, wollte es Petrograd und Moskau zu einem Faustpfand machen. Der Leichnam der Sowjet-Republik sollte die. Mitgift für die deutsch-ententistische Vernunftsehe bilden. Natürlich war dieser Rettungsversuch des deutschen Imperialismus ein Produkt seiner bekannten psychologischen Plumpheit und Unfähigkeit, das reale Kräfteverhältnis abzumessen. Die Entente, die zu ihrem Siege alle Leidenschaften der Volksmasen gegen Deutschland mobilisieren mußte, konnte selbstverständlich nicht im Handumdrehen mit Deutschland kooperieren. Und im Moment, wo die Entente Deutschland an den Boden warf, konnte sie sich zutrauen, auch aus eigenen Kräften mit Sowjet-Rußland fertig zu werden.

Nicht auf Kooperation mit Deutschland, sondern umgekehrt gegen Deutschland, war die russische Politik, der Entente in der nunmehr folgenden Periode eingestellt. Die Tatsache, daß die Entente von dem geschlagenen deutschen Imperialismus forderte, er solle einstweilen seine Truppen im Baltikum und in der Ukraine, belassen, zeigte nicht den Willen zur Kooperation mit Deutschland, sondern zur vorübergehenden Ausnutzung der deutschen Soldaten, wie die Entente mit den Senegal-Negern nicht kooperierte, sondern sie als ihre Wachthunde benutzte. Die russische Politik der Entente mußte nicht nur eine antirussische, sondern auch eine antideutsche Politik sein. Deutschland war geschlagen. Es stand ihm bevor der Versailler Golgatha-Weg. Rußland war durch den Krieg ruiniert. Die Entente war nicht gewillt, auch einem weißgardistischen Rußland auch nur einen Franken und einen Schilling, seiner Schulden abzulassen. Es war nicht gewillt, das kraftlose Rußland zur Teilung der allgemeinen Beute zuzulassen. Somit mußte die Entente damit rechnen, daß ein von ihr wieder hergestelltes kapitalistisches Rußland sich an Deutschland anzulehnen versuchen würde, um möglichst unabhängig von der Entente zu werden, um von der Entente Erleichterungen abzupressen. Und die Entente mußte befürchten, daß ein bürgerliches Deutschland seine Kräfte zu restaurieren versuchen wird, indem es für die industrielle und organisatorische Hilfe, die es Rußland leisten würde, von ihm Rohstoffe und Lebensmittel bekommen würde. Sollte aber in Deutschland die Revolution siegen, so würde sie durch ihre Lebensinteressen zu einem Zusammenschluß mit Sowjet-Rußland, getrieben werden. Die Entente sah so eine russisch-deutsche Interessengemeinschaft heranreifen, wie auch die Entwicklung vor sich gehen würde: in revolutionären oder konterrevolutionären Bahnen. Die Randstaaten- und Polenpolitik der Entente entsprang zu einem Teile diesem Bestreben nach der Trennung Deutschlands von Rußland. Und es gehörte die ganze Stupidität der deutschen Generalität dazu, um sich in das Bermondt-Abenteuer zu stürzen.

Als aber im Sommer 1920 die Rote Armee vor Warschau stand, da trat, wie schon erwähnt, Churchill mit dem Artikel auf, indem er forderte, die Entente möge Deutschland einen Teil seiner Versailler Schulden ablassen, um es als Sturmbock gegen die Roten Heere zu gebrauchen. Dieser Artikel zeigte, daß in den führenden Kreisen der Entente sich eine neue Tendenz durchzusetzen sucht, die Tendenz, die besagt: der alte Krieg, zwischen den kapitalistischen Lagern ist vorüber; ein neuer Krieg von viel größerer Bedeutung, ein Krieg zwischen dem Lager des Proletariats und des Kapitals naht im Weltmaßstabe. Im ersten Krieg, im imperialistischen, ging es um die Einteilung des Weltprofits zwischen den beiden kapitalistischen Lagern. In dem neuen Krieg, dem Krieg des Kapitalismus gegen die soziale Revolution geht es um den Profit überhaupt. Lassen wir den alten Hader um die Aufteilung der Versailler Beute und denken wir an die Rettung unserer Existenz.

Dieser Gedanke ist der einzige Zukunftsgedanke des Kampfes der Entente gegen Sowjet-Rußland, wenn dieser Kampf überhaupt aufgenommen werden soll. Es ist klar, daß, nachdem die Randstaaten, nachdem die russischen Weißgardisten versagt haben, die Entente eine neue Intervention nur dann unternehmen kann, wenn Deutschland in das Spiel hineingezogen wird. Denn, wenn es auch keinem Zweifel unterliegt, daß bei der Welle der Arbeitslosigkeit, die sich jetzt über die Welt ergießt, die Entente imstande wäre, neue Söldnerheere aufzustellen, so müßten die ententistischen Militäroperationen Deutschland, zur Basis haben, wenn sie nicht zu spät kommen solle, wenn die Zufuhren an Lebensmitteln und Munition gesichert sein sollen. Deutschland kann als Aufmarschbasis der Entente entweder entgegen seinem Willen oder mit ihm gebraucht werden. Im ersten Falle müßte die Entente die für den Krieg gegen Rußland gebildeten Heere zu einem großen Teil zur Niederhaltung des deutschen Proletariats, zur Besetzung Deutschlands gebrauchen. Nur im Falle der Hilfe der deutschen Regierung und der deutschen Bourgeoisie würde diese die Niederwerfung und die Niederhaltung des deutschen Proletariats von der Entente auf sich nehmen.

Wenn wir den Gedanken an die Heranziehung Deutschlands zu einer Intervention gegen Sowjet-Rußland für die Vorbedingung einer neuen Intervention gegen Sowjet-Rußland nennen, so ist, damit nicht gesagt, weder, daß diese Vorbedingung erfüllbar, noch daß sie vollkommen phantastisch ist. Es ist sehr charakteristisch, daß die Idee von Churchill propagiert und von der französischen imperialistischen Presse mit dem Temps an der Spitze abgelehnt wurde. Denn dadurch, daß Deutschland zum Kriege gegen Sowjet-Rußland herangezogen würde, müßte der französische Imperialismus auf einen guten Teil der Versailler Rechnung verzichten. Die Teilnahme Deutschlands an dem Kriege gegen Sowjet-Rußland würde dem deutschen Militarismus erlauben, seine Kräfte von neuem zu restaurieren. Und wenn auch der General Hoffmann treuherzig erklärt: die Entente könnte doch technische Sicherheiten erlangen, daß das deutsche Kondottieriheer nicht am Rhein verwendet wird, so werden ihm die französischen Imperialisten trotz seiner biedern Miene erklären: Spiegelberg, ich kenne dich. Sie wissen ebenso gut wie der ehrliche Hoffmann, daß es sich nicht um Technik, sondern um eine vollkommene Aenderung der Machtposition Deutschlands handeln würde. Und dann: ein solcher gemeinsamer Feldzug des internationalen Kapitals gegen Sowjet-Rußland würde durch seinen zynischen Charakter einer Kolonial-Expedition gegen das russische Volk alle seine revolutionären Energien wachrufen. Und da er ein Krieg der Weltkonterrevolution wäre, so würde er die internationale Arbeiterklasse auf die Beine bringen. Der englische Imperialismus sah, wie sie unerwartet im Sommer 1920 ihr Haupt erhob, obwohl er damals unter der Maske der Verteidigung Polens sich zum Sprung gegen Sowjet-Rußland bereitete. Die englische Regierung kann nicht daran zweifeln, daß die englische Arbeiterklasse, die inzwischen durch die wachsende Arbeitslosigkeit weiter revolutioniert wurde, sich erheben würde zu einem entscheidenden Kampfe, falls die englische Regierung das Wagnis auf sich nehmen würde. Die Aussicht, einen Krieg zu führen, indem die Interessen der kapitalistischen Weltallianz keinesfalls einheitlich sind, ihn zu führen mit der Gefahr der Revolution in jedem der Länder, die sich an der Allianz beteiligen, ihn zu führen mit der Aussicht, sogar im Falle des Sieges das große Rußland besetzt halten zu müssen, ihn zu führen in der Aussicht darauf, das imperialistische Deutschland wieder auferstehen zu lassen, das alles stellt ein Abenteuer von solchen Dimensionen dar, daß an dieses Abenteuer die leitenden Kreise der Entente herangehen würden, nur, wenn ihre äußere und innere Lage sie zu einem Vabanque-Spiel verurteilen würde. Da dem einstweilen nicht so ist, da sie noch hoffen, aus der Weltkrise, in der sie sich befinden, mit einem blauen Auge hinwegzukommen, so ist damit zu rechnen; daß die Friedenstendenz in der Entente überhaupt, in England in erster Linie sich weiter durchzusetzen suchen wird. Diese Tendenz wird beschleunigt durch die Möglichkeiten, die Sowjet-Rußland im Falle, daß die Entente ihm keinen Frieden gewährt, offen stehen.

Die Aussichten der Revolution in Mitteleuropa und im nahen Osten

Durch ein Wunder von der Zertrümmerung gerettet, befindet sich Polen in einem unaufhaltsamen Zersetzungsprozeß. Die Valuta dieses alliierten Siegerlandes steht zehnmal niedriger als die des besiegten Deutschland. Niedriger als die des sterbenden Oesterreich. Das agrarische Land ist in der Deckung seiner Lebensmittelbedürfnisse auf das Ausland angewiesen. Der Transport befindet sich in wachsender Deroute. Die Industrie liegt zu einem großen Teil aus Mangel an Rohstoffen und Maschinen danieder. Obwohl Tausende und‘ aber Tausende Kommunisten sich in den Gefängnissen und Konzentrationslagern befinden, folgt ein Streik auf den andern. Die Regierung, zersetzt durch den Kampf der bürgerlichen Cliquen, weiß nicht aus noch ein. In Lettland und Esthland war das vergangene Jahr kein Jahr der wirtschaftlichen Festigung, sondern eins der wachsenden wirtschaftlichen Desorganisation und der wachsenden Teuerung. In der Tschechoslowakei ist der nationalistische Rausch der Massen, wie es die Dezember-Ereignisse zeigten, verflogen. Ohne eine Kommunistische Partei, ohne einheitliche Leitung, stand zirka eine Million Arbeiter mit haßfunkelnden Augen der bürgerlichen Regierung gegenüber. In Ungarn hat die weiße Diktatur die Leiden der Massen zu einem Ausmaße gesteigert, das kaum zu übersteigen ist. Oesterreich stirbt vor Hunger und Kälte. In Deutschland kein Zeichen des eintretenden Gleichgewichtes, kein Zeichen irgend welcher wirtschaftlichen Konsolidierung. In allen mitteleuropäischen Ländern geht der Prozeß der Proletarisierung der Gesellschaft ununterbrochen vorwärts. Die Sozialdemokratie, die im Jahre 1919 überall das Ruder in der Hand hatte und als Wellenbrecher der Revolutionen dem Bürgertum diente, ist durch die Zuspitzung der Gegensätze aus den Regierungen hinausgedrängt und in die Opposition, wenn auch nur in die Schein-Opposition, gedrängt worden. Wenn sich auch die proletarische Angriffskraft in diesen Ländern nur allmählich sammelt, so sammelt sie sich doch und wird mit jedem Tag durch den wachsenden Druck von oben gesteigert. Die Weltrevolution bereitet ihr Uebergreifen auf Mitteleuropa vor. Ihr Sieg in Mitteleuropa, oder auch nur große Bürgerkriege zwischen dem Rhein, der Weichsel und der Donau, sie würden Sowjet-Rußland vor jedem Angriff vom Westen sichern. Sowjet-Rußland will sich nicht in fremde Verhältnisse mischen, nicht aus einem metaphysischen Verhältnis zum Selbstbestimmungsrecht der Völker, sondern aus dem realen Interesse heraus, das die Grundlage , dieser Formel bildet: aus dem Interesse heraus an der selbständigen Entwicklung der Revolution. Es unterliegt gar keinem. Zweifel, daß die Revolution in jedem Lande desto stärker sein wird, je selbständiger sie siegt. Aber in dem Moment, wo die Bourgeoisie sich gegen das russische Proletariat zusammenfindet, muß sie auch ihr eigenes Proletariat in Deutschland, in Oesterreich, in der Tchecho-Slowakei, in Polen, wie in den Entente-Ländern niederwerfen, um sich freie Bahn gegen das russische zu schaffen. Dann gibt es nicht nur theoretisch, sondern im praktischen Sinne dieses Wortes keine Staaten in Europa mehr, keine Nationen in Europa mehr, es gibt nur das Lager der Revolution und das Lager der Konterrevolution. Dann würde es die einfachste Kriegsregel sein: mit dem Bajonett in der Hand der Weltrevolution nach Mitteleuropa, nach dem Westen den Weg zu bahnen. Und die soziale Lage ist objektiv so, daß es sich dabei keinesfalls darum handeln würde, den Kommunismus an der Spitze der Bajonette nach Westeuropa zu tragen, sondern mit dem Bajonett, mit dem Kolben die kapitalistische dünne Kruste zu zerschlagen, die noch den proletarischen Kern umgibt und auf ihn drückt. Will die Entente, Will die Weltbourgeoisie durch einen Krieg gegen Sowjet-Rußland in dieser Weise die Weltrevolution beschleunigen, Sowjet-Rußland wird dabei nicht schlecht fahren, wie groß auch die Leiden sein könnten, die ihm ein neuer Krieg bringen würde, wie groß die Opfer, die es in diesem entscheidenden Krieg zusammen mit dem Weltproletariat bringen müßte.

Und wie sieht die Lage im nahen Osten aus, dem Ausgangspunkt in dem Objekt des imperialistischen Weltkrieges? Die Entente hat den Frieden von Sevres zusammengeschmiert. Um ihn durchzuführen, hält England 80.000 Soldaten in Mesopotamien, Frankreich 70.000 Soldaten in Cilizien und Syrien. England einen Teil der Flotte und eine stattliche Heereszahl in Konstantinopel. Der Vasall der Entente, das kleine Griechenland, 100.000 Soldaten in Kleinasien. Und während in Frankreich, in England der Schrei nach Sparsamkeit gegen koloniale Abenteuer nicht nur aus den Volksmassen, sondern sogar aus den Reihen der Bourgeoisie ertönt, während Frankreich die Revision des Friedens von Sevres fordert, während das griechische Volk den imperialistischen Diktator Venezilos stürzt, sammelt Kemal Pascha um sich die besten Elemente des Türkentums, findet im türkischen Bauerntum genügend Kräfte, um der Entente, Widerstand zu leisten. Nachdem Sowjet-Rußland den Weg über Sowjet-Armenien zur Türkei gefunden hat, kann es seine starke Stütze bilden. Die Munition, an der es in erster Linie Kemal Pascha fehlte, kann ihren Weg nach Anatolien finden. Ist Griechenland erledigt, so kommt die Reihe an die englischen Heere in Mesopotamien, die sich schon dem unorganisierten, schlecht bewaffneten Arabertum gegenüber in sehr schwieriger Lage befanden. In Persien gelang es den Engländern bisher nicht, vom Medschilis die Anerkennung des anglo-persischen Vertrages vom August 1919 durchzudrücken, in welchem die völkerbundfreundliche englische Regierung im letzten Augenblick vor der Gründung des Völkerbundes Persien für zwei Millionen engl. Pfund in Gold einzusacken suchte. Die Sowjet-Regierung braucht gar nicht künstliche Sowjet-Republiken in Persien ins Leben zu rufen. Ihr aktuelles Interesse in Persien besteht darin, daß Persien nicht zum Aufmarschgebiet gegen Baku werde. Verpflichtet sich die persische Regierung, die Entfernung der englischen Heere zu fordern und lehnt England entgegen dem Versprechen Lloyd Georges diese Forderung ab, so erscheinen die Roten Truppen in Persien nicht als Eindringlinge, sondern als Verbündete. Nimmt die persische Regierung diese ihr von ihrem eigenen Interesse diktierte Haltung ein, dann sind die Formen der Herrschaft in Persien, dann ist die Lösung der Agrarfrage in Persien – eine Arbeiterfrage gibt es dort kaum – die Sache ausschließlich des persischen Volkes, des geistigen Einflusses der persischen Kommunisten, deren am meisten verantwortliche Führer es ausgezeichnet verstehen, daß der Kommunismus in Persien nur die Form der Bauernbewegung auf absehbare Zeit ist, und daß in dieser Zeit der Kommunismus eine Spanne Weges gemeinsam mit der demokratischen Intelligenz gehen kann. In Indien gehen die Wellen der revolutionären Bewegung hoch. Es handelt sich nicht mehr um eine rein nationalistische intellektuelle Bewegung, sondern gleichzeitig um das Erwachen von Millionen Proletarier, die vom englischen wie vom indischen Kapitalismus über alle Maßen ausgebeutet werden. Von dem Stand der russisch-englischen Beziehungen wird es abhängen, ob die Sowjet-Regierung mit allen ihr zur Verfügung stehenden Kräften die Entwicklung der indischen Angelegenheiten beschleunigt.

Die Entente hat gewiß jede Ursache, nicht der Meinung zu sein, als sei das Friedensbedürfnis Sowjet-Rußlands größer als das der Entente und Englands in erster Linie.

Die Friedensverhandlungen in London

Dies scheinen die Herren in der Downingstreet nicht vollkommen zu kapieren. Eine Clique alter Bürokraten, von einem unsichtbaren Zopf behaftet, ohne Einsicht in die treibenden Kräfte der Weltentwicklung, einmal von einer mystischen Furcht vor der Revolution geplagt, das andere Mal sie hochnäsig von oben behandelnd, hat die Diplomatie Englands nach der Niederlage der Sowjet-Truppen im Kriege gegen Polen die politische Sowjets Delegation aus England ausgewiesen und die Verhandlungen über die Handelsbeziehungen ins unendliche verschleppt. Nur dank dem ehrlichen, ungeschwächten Friedenswillen der Sowjet-Regierung, die, weil sie fest auf den endgiltigen Sieg, der Weltrevolution hofft, es gar nicht benötigt, künstlich diese Revolution durch eine Kriegspolitik zu beschleunigen, ist es bisher zum Abbruch der russisch-englischen Verhandlungen über den Handel nicht gekommen. Lord Curzon ist dadurch auf den Gedanken gebracht worden, er könne der russischen Sowjet-Regierung Dinge bieten, die von keiner Regierung akzeptiert werden könnten. Der Leiter der englischen auswärtigen Politik schien zu glauben, er könne Sowjet-Rußland im Orient binden, ohne England Sowjet-Rußland gegenüber zu binden. Er scheint nicht zu verstehen, daß, wenn Sowjet-Rußland bereit ist, in friedliche Beziehungen zu England zu treten, so doch nicht deshalb, um Herrn Curzon einen friedlichen Schlaf zu sichern, sondern um sich Frieden zu sichern, der seinerseits als Gegenleistung friedliche Beziehungen für England garantiert. Lord Curzon glaubte Sowjet-Rußland bieten zu können, daß seine Vertreter in London den Eingriffen des sehr ehrenwerten Thomas Basil und der Agenten von Scotland Yard ausgesetzt sein könnten. Dadurch hat der Vertreter der englischen Oligarchie bewiesen, daß er vor der revolutionären Propaganda eine größere Angst hat, als Sowjet-Rußland vor der englischen konterrevolutionären Propaganda. Denn wenn in den Wallisen der Sowjet-Kuriere die Revolution nach England transportiert werden könnte, so nicht minder könnte die Konterrevolution in dem englischen Kuriergepäck nach Moskau transportiert werden. Und trotzdem war die Sowjet-Regierung bereit, die Immunität der englischen Vertreter und ihres Gepäcks zu gewährleisten, während die englische Regierung wochenlang wegen dieser Lappalie die Verhandlungen aufhielt. Daß ohne Garantien, daß das russische Sowjet-Gold, das für die Warenbestellungen nach London transportiert wird, durch die Gerichte nicht konfisziert wird für die alten englischen Gläubiger Rußlands, keine Handelsbeziehungen möglich sind, müßten sogar weniger in Handelssachen geübte Leute einsehen, als es die englischen Diplomaten sind. Und trotzdem hat die englische Regierung für diese Fragen einstweilen nur Redensarten gefunden, keine klare Formel. Und zum Schluß. Es ist doch klar, daß Handelsbeziehungen nur ein Surrogat regelmäßiger, geregelter diplomatischer Beziehungen sind. Da die englische Regierung als Vorbedingung der Handelsbeziehungen den Verzicht der Sowjet-Regierung auf eine englandfeindliche Politik in Mittelasien ansieht, so werden sich aus den Handelsbeziehungen politische Beziehungen ergeben müssen. Denn wie kann man ohne politische Verhandlungen, ohne dauernde Organe der politischen Beziehungen feststellen, was eine englandfeindliche oder rußlandfeindliche Politik ist. Wenn England ein gutes oder ein schlechtes Handelsabkommen mit Sowjet-Rußland schließt, so ist es genötigt, in politische Beziehungen zu Sowjet-Rußland zu treten. Wenn es trotzdem diese Notwendigkeit nicht offen anerkennen will, und nicht Konsequenzen daraus ziehen will, sondern eine Politik der Maskierungen vorzieht, so wird diese Politik die englische Regierung vor keiner der Folgen der klaren politischen Verhältnisse schützen. Sie wird nur das Ansehen der englischen Regierung mindern. Tür und Tor für allerhand Zweideutigkeiten eröffnen, für das Spiel der Cliquen in London und der Cliquen in Paris, dem Spiel, das, wenn es auch Nachteile für Sowjet-Rußland enthält, in letzter Linie zu Ungunsten Englands ausschlagen muß. Sollte auf der Basis der bisherigen Verhandlungen ein solches unvollkommenes Abkommen getroffen werden, so wird England eben, einen solchen Frieden haben, wie es ihn verdient.

Entweder – oder

In unserer Auseinandersetzung über die Frage der auswärtigen Politik der proletarischen Revolution, die wir im Oktober 1919 mit den deutschen National-Kommunisten Lauffenberg und Wolffheim pflegten, wie in unserem Artikel über die äußere und innere Lage Sowjet-Rußlands, den wir im Januar 1920 veröffentlicht haben, schrieben wir, daß von dem Moment an, wo der Weltkrieg zu. Ende war, es auch klar wurde, daß die äußere Politik des einstweilen allein dastehenden proletarischen Staates keinesfalls ausschließlich auf den Krieg mit allen andern kapitalistischen eingestellt sein kann, sondern daß sie umgekehrt auf den Versuch der Schaffung eine modus vivendi zwischen dem proletarischen Staat und dem kapitalistischen Staatensystem eingestellt sein muß. Das Jahr 1920 hat eine sonderbare Art des modus vivendi gezeitigt. Während Frankreich offen den Krieg Polens und Wrangels gegen Sowjet-Rußland unterstützte, verhandelte England mit Sowjet-Rußland über Handelsbeziehungen, verkaufte an Sowjet-Rußland Waren durch die Vermittlung verschiedener neutraler Länder, die ihrerseits mit Sowjet-Rußland auch in Handelsbeziehungen traten. Deutschland und eine Reihe von Vasallen-Staaten der Entente nahmen an dem Handel teil. Sowjet-Rußland wurde sogar durch dieses modus vivendi gestärkt. Die einfache Tatsache, daß es für das Jahr 1921 seinen Bedarf an Sensen vollkommen im Auslande zu decken verstand, bildet einen kleinen Strich in dem Bild dieser Beziehungen. Wir sind überzeugt, daß die Unmöglichkeit der Niederwerfung des proletarischen Rußlands und die wachsende Zersetzung der kapitalistischen Welt die widerspruchsvolle Tatsache friedlicher Beziehungen zwischen dem ersten proletarischen Staat und der sterbenden kapitalistischen Welt mir starkem wird. Diese Sachlage ist natürlich sehr widerspruchsvoll. Die kapitalistischen Staaten, die den proletarischen eher heute als morgen begraben stehen möchten, können ihm nicht den Dolchstoß versetzen. Was bleibt ihnen übrig, als mit ihm in Handelsbeziehungen zu treten. Nachdem sie die halbe Welt ruiniert haben, erkennen sie am eigenen Leibe, daß sie dadurch natürlich ärmer geworden sind, daß die Ausschließung Rußlands aus dem Handel in erster Linie sie der Möglichkeit beraubt, ihre Waren nach Rußland zu verkaufen, und so ihre wirtschaftliche Deroute steigert. Aber auch der Ausfall der russischen Rohstoffe und Lebensmittel bedeutet für einzelne von ihnen die Unterwerfung unter das amerikanische Monopol. Auch wenn es klar ist, daß das ruinierte Sowjet-Rußland heute nur eine geringe Menge von Rohstoffen und keine Lebensmittel liefern kann, so ist es auf der andern Seite klar, daß, wenn der wirtschaftliche Ruin der Welt nicht zunehmen, sondern abnehmen soll, dann muß eben Rußland durch die seinem Transport und seiner Industrie und seiner Landwirtschaft geleistete Hilfe in die Lage versetzt werden, wieder auf den Weltmarkt zu erscheinen. Aber Rußland, das ist Sowjet-Rußland, alles andere, was im Namen Rußlands spricht, ist ein Gespenst und eine Phantasie. Mag Wells noch so sehr in vielen seinen Urteilen über Rußland daneben hauen, mögen die Bolschewiki noch weniger dem Ideal einer Regierung entsprechen, das sich die ehrenwerte City gebildet hat, Wells hat tausendmal recht, wenn er behauptet, eine andere als die bestehende Sowjet-Regierung sei auf absehbare Zeit unmöglich. Und sogar die philosophisch veranlagten Politiker, wie es Herr Balfour ist, können nicht mit einer andern Zeit rechnen als der, die eben absehbar ist. Und wo hilft Herrn Curzon seine Sehnsucht nach einer guten konservativen Regierung, deren Mitglieder in Pagenkorps ihre Bildung genossen hätten, wenn, eine solche Regierung unmöglich ist. Daß die Handelsbeziehungen mit Sowjet-Rußland es stärken werden, unterliegt keinem Zweifel. Wenn Herr Lloyd George sich beruhigt mit der Hoffnung, die Manchester-Hosen und die Baumwoll-Hemden werden die Bolschewiki besänftigen, wenn er sogar vielleicht die Hoffnung hat, er könne uns vermittels der Sheffielder Rasiermesser, wenn nicht die Gurgel abschneiden, so wenigstens zu Gentlemans machen, so haben wir natürlich darüber unsere eigene Meinung. Politisch ausschlaggebend ist, daß, wenn die kapitalistische Welt mit Sowjet-Rußland keinen ununterbrochenen Krieg führen will und kann, so muß sie eben den Krieg durch den Frieden unterbrechen.

Es ist natürlich sehr widerspruchsvoll, wenn das kommunistische Rußland genötigt wird, sein Gold in die Taschen der europäischen Kapitalisten zu überführen, wenn es genötigt ist, den Kapitalisten Konzessionen auf russischem Territorium zu machen. Es wäre lächerlich, zu leugnen, daß dies die Kapitalisten stärken wird. Wir haben zu wenig Bedürfnis nach Illusionen, um das zu leugnen. Aber erstens stärker als alle Bedenken ist die Notwendigkeit, den Volksmassen Sowjet-Rußlands, den Volksmassen der Welt immer wieder zu zeigen, daß die Sowjet-Regierung den Frieden will. Dieser Friedenswille der Sowjet-Regierung war der stärkste Faktor ihrer Siege, war der stärkste Faktor der Mobilisierung des Weltproletariats zur Verteidigung Sowjet-Rußlands. Und er konnte diese Rolle spielen, nur weil Sowjet-Rußland ehrlich den Frieden wollte, nur weil es nicht Friedens-Demonstrationen, sondern den Kampf um den Frieden mit allen Mitteln führte. Und es konnte ehrlich, den Frieden erstreben, weil in letzter Linie der Frieden die Kräfte der Volksmassen entfesselt, weil er die Volksmassen auf die Fragen der innern Umwälzung konzentriert. Es ist die Tragödie des Weltkapitals, daß es den Weltkrieg nicht vermeiden konnte und den Weltfrieden nicht herbeiführen kann. Es beweist, daß die Zukunft dem Kommunismus gehört, daß er aus dem Krieg geboren und im Kriege sein Schiff trotz Sturmes und trotz der. Klippen glücklich zum Ziele fahrend, gleichzeitig seine Geschicke dem Frieden anvertrauen kann.

Der Kapitalismus ist dem Tode geweiht. Zwei Jahre sind seit dem Ende des Weltkrieges vorüber. Und der einzige rettende Gedanke, den er, wenn auch nicht geboren, so doch der alten cobdenianischen Bibel, entnommen hat, der Gedanke der Notwendigkeit der Behandlung der Weltwirtschaft als ein Ganzes, dieser Gedanke, der uns entgegentönt aus dem tragikomischen Buche von Keynes, dieser Bibel der Plattheiten, aus den Reden von Robert Cecil, von General Smuts, der durchklingt durch die Reden von Lloyd-George als ein Gedanke, mit dem dieser größte Staatsmann der sterbenden kapitalistischea Welt nur im Stillen wie mit einer Maitresse leben kann, – dieser Gedanke eine Utopie ist. Der Kapitalismus ist zu sehr zerrissen, als daß er diesen Gedanken seiner Kindheit verwirklichen könnte. Und darum kann auch Sowjet-Rußland auf keinen dauernden Frieden rechnen, nur auf den Frieden, der den Krieg unterbricht und mit dem Krieg, der auf den Frieden folgt. Nun, Sowjet-Rußland wird immer wieder um den Frieden kämpfen, und es wird immer wieder durch die friedliche Arbeit sich zur Abwehr der ihm drohenden Gefahren wappnen.

Wieder winkt den russischen Volksmassen die Hoffnung auf den Frieden, die Hoffnung auf friedliche Arbeit Und wieder wie im Frühjahr 1920 gerät der russische Ameisenhaufen in Bewegung. Wieder schleppen die redlichen Arbeiter Holzblöcke zum Bau der Brücken, Häuser und Schulen, wieder bereitet man den Kampf gegen den Hunger, den Kampf gegen Not und wieder steigt zum Himmel das Lied von der Arbeit empor. Und wieder weicht der Gedanke der Zerstörung dem Gedanken der schaffenden Arbeit. Und wieder ziehen Apostel in das Land, die die Schlafenden aufzurütteln, in Arbeitskolonnen zu ordnen suchen. Und niemals und nirgends hat es so viele hunderttausende gegeben, die mit tiefer Inbrunst die Religion der gemeinsamen Arbeit verkünden, der Arbeit aller für alle. Aber wie im Jahre 1920, so ruft auch jetzt die Führerin dieses Volkes, die Führerin dieser Pioniere, die Sowjetregierung, dieser Verkünder einer neuen Weltordnung dem Ameisenhaufen zu: Stellt Wachen auf, in einer Hand die Kelle, in der andern die Waffe, die Gefahr ist nicht vorüber! Und es wird von der kapitalistischen Welt abhängen, ob die Arbeitsarmeen Rußlands Wälder roden, Rußlands Wege verbessern, Rußlands Ruinen abräumen; oder ob sie hungrig und zerlumpt, mit leerem Magen, aber mit heißen Herzen, sich dem Westen zu wälzen, um gegen die zu kämpfen, die sie nicht in Frieden arbeiten lassen, und denen zu helfen, die wie sie, die Welt aus den Ruinen neu aufbauen wollen. Die Wahl liegt bei der kapitalistischen Welt, bei Sowjet-Rußland liegt nur die Entscheidung, niemals zu verzagen, in jeden Umständen zu kämpfen und unter allen Umständen zu siegen. Diese Entscheidung ist gefallen. Und es gibt kein Mittel in der Welt, das sie aus den Herzen des russischen Proletariats und der Vorderreihen des russischen Bauerntums herausreißen könnte.