18. Mai 1924 // Bücher
Joseph W. Stalin // Über die Grundlagen des Leninismus

Über die Grundlagen des Leninismus

18. Mai 1924

Vorlesungen an der Swerdlow-Universität


„Prawda“ Nr. 96, 97, 103,105, 107, 108, 111,
26. und 30. April, 9., 11., 14., 15. und 18. Mai 1924


Einleitung

Die Grundlagen des Leninismus sind ein großes Thema. Um es zu erschöpfen, wäre ein ganzes Buch notwendig. Mehr noch, es wäre eine ganze Reihe von Büchern notwendig. Es ist deshalb natürlich, dass meine Vorlesungen keine erschöpfende Darlegung des Leninismus sein können. Sie können im besten Fall nur ein gedrängter Konspekt der Grundlagen des Leninismus sein. Dennoch halte ich es für nützlich, diesen Konspekt darzulegen, um einige grundlegende Ausgangspunkte zu geben, die für ein erfolgreiches Studium des Leninismus nötig sind.

Die Grundlagen des Leninismus darlegen heißt noch nicht die Grundlagen der Weltanschauung Lenins darlegen. Die Weltanschauung Lenins und die Grundlagen des Leninismus sind dem Umfang nach nicht ein und dasselbe. Lenin ist Marxist, und die Grundlage seiner Weltanschauung ist selbstverständlich der Marxismus. Daraus folgt aber durchaus nicht, dass die Darlegung des Leninismus mit der Darlegung der Grundlagen des Marxismus begonnen werden muss. Den Leninismus darlegen bedeutet, das Besondere und Neue in den Werken Lenins darlegen, womit Lenin die allgemeine Schatzkammer des Marxismus bereichert hat und das natürlicherweise mit seinem Namen verknüpft ist. Nur in diesem Sinne werde ich in meinen Vorlesungen über die Grundlagen des Leninismus sprechen.

Was ist also der Leninismus?

Die einen sagen, dass der Leninismus die Anwendung des Marxismus auf die eigenartigen Verhältnisse in Rußland sei. In dieser Definition steckt ein Teil Wahrheit, aber sie erschöpft bei weitem nicht die ganze Wahrheit. Lenin wandte tatsächlich den Marxismus auf die russische Wirklichkeit an und wandte ihn meisterhaft an. Wäre aber der Leninismus weiter nichts als die Anwendung des Marxismus auf die eigenartigen Verhältnisse Rußlands, dann wäre der Leninismus eine rein nationale und ausschließlich nationale, eine rein russische und ausschließlich russische Erscheinung. Indes wissen wir, dass der Leninismus eine internationale, in der ganzen internationalen Entwicklung verwurzelte, und nicht ausschließlich russische Erscheinung ist. Deshalb meine ich, dass diese Definition an Einseitigkeit leidet.

Andere sagen, dass der Leninismus die Wiederbelebung der revolutionären Elemente des Marxismus der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts sei, zum Unterschied vom Marxismus der nachfolgenden Jahre, in denen er angeblich gemäßigt, nichtrevolutionär geworden sei. Wenn man von dieser dummen und banalen Teilung der Lehre von Marx in zwei Teile, in einen revolutionären und einen gemäßigten, absieht, so muss man zugeben, dass sogar in dieser völlig unzulänglichen und unbefriedigenden Definition ein Teil Wahrheit steckt. Dieser Teil Wahrheit besteht darin, dass Lenin tatsächlich den revolutionären Inhalt des Marxismus wiederbelebt hat, den die Opportunisten der II. Internationale hatten in Vergessenheit geraten lassen. Doch ist das nur ein Teil der Wahrheit. Die ganze Wahrheit über den Leninismus besteht darin, dass der Leninismus den Marxismus nicht nur wiederbelebt hat, sondern noch einen Schritt vorwärts getan und den Marxismus weiterentwickelt hat unter den neuen Bedingungen des Kapitalismus und des Klassenkampfes des Proletariats.

Was ist also schließlich der Leninismus?

Der Leninismus ist der Marxismus der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution. Genauer: Der Leninismus ist die Theorie und Taktik der proletarischen Revolution im Allgemeinen, die Theorie und Taktik der Diktatur des Proletariats im Besonderen. Marx und Engels wirkten in der vorrevolutionären Periode (wir meinen vor der proletarischen Revolution), als es noch keinen entwickelten Imperialismus gab, in der Periode der Vorbereitung der Proletarier zur Revolution, in jener Periode, als die proletarische Revolution praktisch noch keine unmittelbare Notwendigkeit war. Lenin dagegen, der Schüler von Marx und Engels, wirkte in der Periode des entwickelten Imperialismus, in der Periode der sich entfaltenden proletarischen Revolution, als die proletarische Revolution bereits in einem Lande gesiegt, die bürgerliche Demokratie zerschlagen und die Ära der proletarischen Demokratie, die Ära der Sowjets, eröffnet hatte.

Deshalb ist der Leninismus die Weiterentwicklung des Marxismus.

Man betont gewöhnlich den überaus kämpferischen und überaus revolutionären Charakter des Leninismus. Das ist völlig richtig. Aber diese Besonderheit des Leninismus erklärt sich aus zwei Gründen: erstens daraus, dass der Leninismus aus dem Schoße der proletarischen Revolution hervorging, deren Stempel er notwendigerweise tragen muss; zweitens daraus, dass er heranwuchs und erstarkte im Ringen mit dem Opportunismus der II. Internationale, dessen Bekämpfung die notwendige Vorbedingung für den erfolgreichen Kampf gegen den Kapitalismus war und ist. Man darf nicht vergessen, dass zwischen Marx und Engels einerseits und Lenin anderseits ein ganzer Zeitabschnitt der ungeteilten Herrschaft des Opportunismus der II. Internationale liegt, dessen rücksichtslose Bekämpfung eine der wichtigsten Aufgaben des Leninismus sein musste.

I. Die historischen Wurzeln des Leninismus

Der Leninismus erwuchs und gestaltete sich unter den Bedingungen des Imperialismus, als sich die Widersprüche des Kapitalismus bis zum äußersten zugespitzt hatten, als die proletarische Revolution zu einer Frage der unmittelbaren Praxis wurde, als die alte Periode der Vorbereitung der Arbeiterklasse zur Revolution an die neue Periode des direkten Sturms auf den Kapitalismus heranrückte und in sie hinüberwuchs.

Lenin bezeichnete den Imperialismus als „sterbenden Kapitalismus“. Weshalb? Weil der Imperialismus die Widersprüche des Kapitalismus bis zum höchsten Grad, bis zu den äußersten Grenzen steigert, jenseits deren die Revolution beginnt. Von diesen Widersprüchen sind drei Widersprüche als die wichtigsten zu betrachten.

Der erste Widerspruch ist der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital. Der Imperialismus ist die Allmacht der monopolistischen Truste und Syndikate, der Banken und der Finanzoligarchie in den Industrieländern. Im Kampf gegen diese Allmacht erwiesen sich die üblichen Methoden der Arbeiterklasse – Gewerkschaften und Genossenschaften, parlamentarische Parteien und parlamentarischer Kampf – als völlig unzureichend. Entweder du ergibst dich dem Kapital auf Gnade und Ungnade, vegetierst in alter Weise weiter und sinkst immer tiefer, oder du greifst zu einer neuen Waffe – so stellt der Imperialismus die Frage vor den Millionenmassen des Proletariats. Der Imperialismus führt die Arbeiterklasse an die Revolution heran.

Der zweite Widerspruch ist der Widerspruch zwischen den verschiedenen Finanzgruppen und imperialistischen Mächten in ihrem Kampf um Rohstoffquellen, um fremde Territorien. Der Imperialismus ist Kapitalexport nach den Rohstoffquellen, wütender Kampf um den Monopolbesitz dieser Rohstoffquellen, Kampf um die Neuaufteilung der bereits aufgeteilten Welt, ein Kampf, der mit besonderer Verbissenheit von den neuen Finanzgruppen und Mächten, die „einen Platz an der Sonne“ suchen, gegen die alten Gruppen und Mächte geführt wird, die an dem Eroberten zäh festhalten. Dieser wütende Kampf zwischen den verschiedenen Kapitalistengruppen ist deshalb bedeutsam, weil er als unausbleibliches Element imperialistische Kriege in sich schließt, Kriege zur Eroberung fremder Gebiete. Dieser Umstand ist seinerseits deshalb bedeutsam, weil er zur Folge hat, dass sich die Imperialisten gegenseitig schwächen, dass die Position des Kapitalismus überhaupt geschwächt wird, dass der Moment der proletarischen Revolution näher rückt und dass diese Revolution zur praktischen Notwendigkeit wird.

Der dritte Widerspruch ist der Widerspruch zwischen der Handvoll herrschender „zivilisierter“ Nationen und den Hunderten von Millionen der kolonialen und abhängigen Völker der Welt. Der Imperialismus ist die schamloseste Ausbeutung und unmenschlichste Unterdrückung der Hunderte von Millionen zählenden Bevölkerung riesiger Kolonien und abhängiger Länder. Extraprofit herauszupressen – das ist das Ziel dieser Ausbeutung und dieser Unterdrückung. Der Imperialismus ist aber gezwungen, in den Ländern, die er ausbeutet, Eisenbahnen, Fabriken und Werke zu bauen, Industrie- und Handelszentren anzulegen. Das Aufkommen der Klasse der Proletarier, das Entstehen einer einheimischen Intelligenz, das Erwachen des nationalen Selbstbewusstseins, das Erstarken der Befreiungsbewegung – das sind die unvermeidlichen Folgen dieser „Politik“. Das Erstarken der revolutionären Bewegung in allen Kolonien und abhängigen Ländern ohne Ausnahme beweist dies augenfällig. Dieser Umstand ist für das Proletariat deshalb wichtig, weil er die Positionen des Kapitalismus an der Wurzel unterhöhlt, indem er die Kolonien und abhängigen Länder aus Reserven des Imperialismus in Reserven der proletarischen Revolution verwandelt.

Das sind im Allgemeinen die wichtigsten Widersprüche des Imperialismus, die den alten, „blühenden“ Kapitalismus in den sterbenden Kapitalismus verwandelt haben.

Die Bedeutung des imperialistischen Krieges, der vor zehn Jahren ausbrach, besteht unter anderem darin, dass er alle diese Widersprüche zu einem Knoten schürzte und sie in die Waagschale warf, wodurch er die revolutionären Schlachten des Proletariats beschleunigte und erleichterte.

Mit anderen Worten: Der Imperialismus führte nicht nur dazu, dass die Revolution praktisch unvermeidlich wurde, sondern auch dazu, dass für den unmittelbaren Sturm auf die Festen des Kapitalismus günstige Bedingungen geschaffen wurden.

Das war die internationale Situation, die den Leninismus hervorbrachte.

Das ist ja alles ganz gut, wird man uns erwidern, aber was hat das mit Rußland zu tun, das doch kein klassisches Land des Imperialismus war und es auch nicht sein konnte? Was hat das mit Lenin zu tun, der vor allem in Rußland und für Rußland gewirkt hat? Weshalb ist gerade Rußland zur Heimstätte des Leninismus geworden, zum Geburtsland der Theorie und Taktik der proletarischen Revolution?

Weil Rußland der Knotenpunkt aller dieser Widersprüche des Imperialismus war.

Weil Rußland mehr als irgendein anderes Land mit der Revolution schwanger ging, und weil aus diesem Grunde nur Rußland imstande war, diese Widersprüche auf revolutionärem Wege zu lösen.

Beginnen wir damit, dass das zaristische Rußland ein Herd jeder Art von Unterdrückung war, sowohl der kapitalistischen als auch der kolonialen und militärischen, in ihrer unmenschlichsten und barbarischsten Form. Wem ist es nicht bekannt, dass in Rußland die Allmacht des Kapitals mit dem Despotismus des Zarismus verschmolz, die Aggressivität des russischen Nationalismus mit dem Henkertum des Zarismus gegenüber den nichtrussischen Völkern, die Ausbeutung ganzer Gebiete – der Türkei, Persiens, Chinas – mit der Eroberung dieser Gebiete durch den Zarismus, mit dem Eroberungskrieg? Lenin hatte Recht, als er sagte, dass der Zarismus ein „militärisch-feudaler Imperialismus“ sei. Der Zarismus war die Konzentration der ins Quadrat erhobenen negativsten Seiten des Imperialismus.

Ferner. Das zaristische Rußland war eine gewaltige Reserve des westlichen Imperialismus nicht nur in dem Sinne, dass es dem ausländischen Kapital, das so ausschlaggebende Zweige der Volkswirtschaft Rußlands wie die Brennstoff- und Hüttenindustrie in seinen Händen hielt, freien Zutritt gewährte, sondern auch in dem Sinne, dass es den westlichen Imperialisten Millionen Soldaten zur Verfügung stellen konnte. Erinnern Sie sich der russischen Vierzehnmillionenarmee, die an den imperialistischen Fronten ihr Blut vergoss, um die Riesenprofite der englischen und französischen Kapitalisten zu sichern.

Weiter. Der Zarismus war nicht nur der Wachhund des Imperialismus im Osten Europas, sondern auch eine Agentur des westlichen Imperialismus, dazu bestimmt, aus der Bevölkerung Hunderte von Millionen an Zinsen für die Anleihen herauszupressen, die ihm in Paris und London, in Berlin, in Brüssel gewährt worden waren.

Schließlich war der Zarismus der treueste Bundesgenosse des westlichen Imperialismus bei der Aufteilung der Türkei, Persiens, Chinas usw. Wem ist es nicht bekannt, dass der imperialistische Krieg vom Zarismus im Bündnis mit den Imperialisten der Entente geführt wurde, dass Rußland ein wesentliches Element dieses Krieges war?

Deshalb waren die Interessen des Zarismus und des westlichen Imperialismus miteinander verschlungen und verflochten sich schließlich zu einem einzigen Knäuel imperialistischer Interessen.

Konnte sich der westliche Imperialismus mit dem Verlust einer so mächtigen Stütze im Osten und eines so reichen Reservoirs an Kräften und Mitteln abfinden, wie es das alte, zaristische, bürgerliche Rußland war, ohne alle seine Kräfte zu einem Kampf auf Leben und Tod gegen die Revolution in Rußland eingesetzt zu haben, um den Zarismus zu verteidigen und zu erhalten? Natürlich konnte er das nicht!

Daraus folgt aber: Wer den Schlag gegen den Zarismus führen wollte, musste unvermeidlich gegen den Imperialismus ausholen, wer sich gegen den Zarismus erhob, musste sich auch gegen den Imperialismus erheben, denn wer den Zarismus zu stürzen suchte, der musste auch den Imperialismus stürzen, sofern er wirklich gedachte, den Zarismus nicht nur zu zerschlagen, sondern ihn auch restlos zu vernichten. Die Revolution gegen den Zarismus näherte sich somit der Revolution gegen den Imperialismus, der proletarischen Revolution und musste in sie hinüberwachsen.

Indessen wuchs in Rußland eine gewaltige Volksrevolution empor, an deren Spitze das revolutionärste Proletariat der Welt stand, das einen so ernst zu nehmenden Verbündeten besaß wie die revolutionäre Bauernschaft Rußlands. Bedarf es noch eines Beweises, dass eine solche Revolution nicht auf halbem Wege stehen bleiben konnte, dass sie im Falle ihres Erfolges weitergehen und das Banner der Erhebung gegen den Imperialismus aufpflanzen musste?

Deshalb musste Rußland zum Knotenpunkt der Widersprüche des Imperialismus werden, nicht nur in dem Sinne, dass diese Widersprüche wegen ihres besonders ungeheuerlichen und besonders unerträglichen Charakters gerade in Rußland am leichtesten aufbrachen; nicht nur, weil Rußland eine höchst wichtige Stütze des westlichen Imperialismus war, die das Finanzkapital des Westens mit den Kolonien des Ostens verband, sondern auch deshalb, weil nur in Rußland die reale Kraft vorhanden war, die die Widersprüche des Imperialismus auf revolutionärem Wege zu lösen vermochte.

Daraus folgt aber, dass die Revolution in Rußland unvermeidlich zu einer proletarischen Revolution werden musste, dass sie gleich in den ersten Tagen ihrer Entwicklung internationalen Charakter annehmen, dass sie folglich unvermeidlich den Weltimperialismus in seinen Grundfesten er-schüttern musste.

Konnten sich die russischen Kommunisten bei einer solchen Sachlage in ihrer Arbeit auf den eng nationalen Rahmen der russischen Revolution beschränken? Natürlich nicht! Im Gegenteil, die ganze Situation, sowohl die innere (die tiefgehende revolutionäre Krise) als auch die äußere (der Krieg), trieb sie dazu, in ihrer Arbeit über diesen Rahmen hinauszugehen, den Kampf in die internationale Arena zu tragen, die Eiterbeulen des Imperialismus aufzudecken, die Unvermeidlichkeit des Zusammenbruchs des Kapitalismus zu beweisen, den Sozialchauvinismus und Sozialpazifismus zu zerschmettern und schließlich im eigenen Lande den Kapitalismus zu stürzen und für das Proletariat eine neue Kampfwaffe, die Theorie und Taktik der proletarischen Revolution, zu schmieden, um den Proletariern aller Länder den Sturz des Kapitalismus zu er-leichtern. Die russischen Kommunisten konnten gar nicht anders handeln, denn nur auf diesem Wege konnte man auf gewisse Veränderungen in der internationalen Lage rechnen, die Rußland vor einer Restauration der bürgerlichen Zustände sicherzustellen vermochten.

Deshalb wurde Rußland zur Heimstätte des Leninismus und der Führer der russischen Kommunisten, Lenin, zu seinem Schöpfer.

Mit Rußland und Lenin „passierte“ hier ungefähr dasselbe wie mit Deutschland und Marx-Engels in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Deutschland ging damals ebenso wie Rußland zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der bürgerlichen Revolution schwanger. Marx schrieb damals im „Kommunistischen Manifest“:

„Auf Deutschland richten die Kommunisten ihre Hauptaufmerksamkeit, weil Deutschland am Vorabend einer bürgerlichen Revolution steht, und weil es diese Umwälzung unter fortgeschritteneren Bedingungen der europäischen Zivilisation überhaupt, und mit einem viel weiter entwickelten Proletariat vollbringt als England im siebenzehnten und Frankreich im achtzehnten Jahrhundert, die deutsche bürgerliche Revolution also nur das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen Revolution sein kann.“

K. Marx und F. Engels, „Manifest der Kommunistischen Partei“, 1939, S. 60 [deutsch in „Ausgewählte Schriften“ in zwei Bänden, Bd. I, S. 54].

Mit anderen Worten, das Zentrum der revolutionären Bewegung verschob sich nach Deutschland.

Es ist wohl kaum daran zu zweifeln, dass gerade dieser Umstand, der von Marx in dem angeführten Zitat hervorgehoben wird, die wahrscheinliche Ursache dafür bildete, dass gerade Deutschland das Geburtsland des wissenschaftlichen Sozialismus und die Führer des deutschen Proletariats, Marx und Engels, seine Schöpfer wurden.

Dasselbe gilt, jedoch in noch höherem Grade, von Rußland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Rußland befand sich in dieser Periode am Vorabend der bürgerlichen Revolution, es sollte diese Revolution unter fortgeschritteneren Bedingungen in Europa und mit einem entwickelteren Proletariat als Deutschland in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts (ganz zu schweigen von England und Frankreich) vollbringen, wobei alle Umstände dafür sprachen, dass diese Revolution zum Ferment und Vorspiel der proletarischen Revolution werden musste.

Es ist gewiss kein Zufall, dass Lenin schon im Jahre 1902, als die russische Revolution erst zu keimen begann, in seiner Schrift „Was tun?“ die folgenden prophetischen Worte schrieb:

„Die Geschichte hat uns (d. h. den russischen Marxisten. J. St.) jetzt die nächste Aufgabe gestellt, welche die revolutionärste von allen nächsten Aufgaben des Proletariats irgendeines anderen Landes ist.“

„Die Verwirklichung dieser Aufgabe, die Zerstörung des mächtigsten Bollwerks nicht nur der europäischen, sondern (wir können jetzt sagen) auch der asiatischen Reaktion, würde das russische Proletariat zur Avantgarde des internationalen revolutionären Proletariats machen.“

(Siehe 4. Ausgabe, Bd. 5, S. 345 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd.!, S. 197].)

Mit anderen Worten, das Zentrum der revolutionären Bewegung musste sich nach Rußland verschieben.

Bekanntlich hat der Verlauf der Revolution in Rußland diese Voraussage Lenins vollauf bestätigt.

Ist es nach alledem verwunderlich, dass das Land, das eine solche Revolution vollbracht hat und ein solches Proletariat besitzt, zum Geburtsland der Theorie und Taktik der proletarischen Revolution geworden ist?

Ist es da verwunderlich, dass der Führer des russischen Proletariats, Lenin, zugleich auch zum Schöpfer dieser Theorie und Taktik und zum Führer des internationalen Proletariats geworden ist?

II. Die Methode

Ich habe bereits gesagt, dass zwischen Marx und Engels einerseits und Lenin anderseits ein ganzer Zeitabschnitt der Herrschaft des Opportunismus der II. Internationale liegt. Im Interesse der Genauigkeit muss ich hinzufügen, dass es sich hier nicht um die formale, sondern lediglich um die faktische Herrschaft des Opportunismus handelt. Formal standen an der Spitze der II. Internationale „rechtgläubige“ Marxisten, die „Orthodoxen“ – Kautsky und andere. In Wirklichkeit aber verlief die Hauptarbeit der II. Internationale auf der Linie des Opportunismus. Die Opportunisten passten sich infolge ihrer anpassungssüchtigen, kleinbürgerlichen Natur der Bourgeoisie an, die „Orthodoxen“ aber passten sich ihrerseits den Opportunisten an, im Interesse der „Wahrung der Einheit“ mit den Opportunisten, im Interesse des „Friedens in der Partei“. Das Ergebnis war die Herrschaft des Opportunismus, denn die Kette zwischen der Politik der Bourgeoisie und der Politik der „Orthodoxen“ erwies sich als geschlossen.

Das war die Periode einer verhältnismäßig friedlichen Entwicklung des Kapitalismus, sozusagen die Vorkriegsperiode, als die katastrophalen Widersprüche des Imperialismus noch nicht mit voller Deutlichkeit zutage getreten waren, als die wirtschaftlichen Streiks der Arbeiter und die Gewerkschaften sich mehr oder weniger „normal“ entwickelten, als der Wahlkampf und die Parlamentsfraktionen „schwindelerregende“ Erfolge brachten, als die legalen Formen des Kampfes in den Himmel gehoben wurden und man glaubte, mit Legalität den Kapitalismus „erledigen“ zu können – mit einem Wort, als die Parteien der II. Internationale Fett ansetzten und nicht gewillt waren, an die Revolution, an die Diktatur des Proletariats und an die revolutionäre Erziehung der Massen ernsthaft zu denken.

Statt einer revolutionären Theorie aus einem Guss – einander widersprechende theoretische Sätze und Bruchstücke einer Theorie, die vom lebendigen revolutionären Kampf der Massen losgelöst waren und sich in morsche Dogmen verwandelt hatten. Zur Wahrung des Scheins gedachte man natürlich zuweilen der Theorie von Marx, aber nur, um aus ihr den lebendigen revolutionären Geist auszutreiben.

Statt einer revolutionären Politik – welkes Philistertum und „nüchterne“ Politikasterei, parlamentarische Diplomatie und parlamentarische Kombinationen. Zur Wahrung des Scheins wurden natürlich „revolutionäre“ Beschlüsse und Losungen angenommen, aber nur, um sie zu den Akten zu legen.

Statt die Partei an Hand ihrer eigenen Fehler zu erziehen und sie eine richtige revolutionäre Taktik zu lehren – geflissentliches Umgehen der brennenden Fragen, ihre Vertuschung und Verkleisterung. Zur Wahrung des Scheins war man natürlich nicht abgeneigt, über heikle Fragen auch mal zu reden, aber nur, um die Sache mit irgendeiner „Kautschuk“-Resolution abzutun.

Das war die Physiognomie der II. Internationale, ihre Arbeitsmethode, ihr Arsenal.

Indessen rückte eine neue Phase imperialistischer Kriege und revolutionärer Schlachten des Proletariats heran. Die alten Kampfmethoden erwiesen sich gegenüber der Allmacht des Finanzkapitals als offenkundig ungenügend und wirkungslos.

Es war notwendig, die gesamte Tätigkeit der II. Internationale, ihre ganze Arbeitsmethode einer Revision zu unterziehen und das Philistertum, die Engstirnigkeit, die Politikasterei und das Renegatentum, den Sozialchauvinismus und Sozialpazifismus auszumerzen. Es war notwendig, das gesamte Arsenal der II. Internationale zu überprüfen, alles, was verrostet und morsch war, über Bord zu werfen und neue Arten von Waffen zu schmieden. Ohne eine solche Vorarbeit war es zwecklos, in den Krieg gegen den Kapitalismus zu ziehen. Ohne diese Vorarbeit lief das Proletariat Gefahr, angesichts der neuen revolutionären Schlachten ungenügend gerüstet oder sogar ganz ungerüstet dazustehen.

Diese Ehre der Generalüberprüfung und der Generalsäuberung der Augiasställe der II. Internationale fiel dem Leninismus zu.

Das war die Lage, in der die Methode des Leninismus geboren und geschmiedet wurde.

Worin bestehen die Erfordernisse dieser Methode?

Erstens in der Überprüfung der theoretischen Dogmen der II. Internationale im Feuer des revolutionären Kampfes der Massen, im Feuer der lebendigen Praxis, das heißt in der Wiederherstellung der gestörten Einheit von Theorie und Praxis, in der Beseitigung der Kluft zwischen beiden, denn nur so ist es möglich, eine wirklich proletarische Partei zu schaffen, die mit der revolutionären Theorie gewappnet ist.

Zweitens in der Überprüfung der Politik der Parteien der II. Internationale nicht nach ihren Losungen und Resolutionen (denen man nicht glauben darf), sondern nach ihren Taten, nach ihren Handlungen, denn nur so ist es möglich, das Vertrauen der proletarischen Massen zu gewinnen und sich zu verdienen.

Drittens in der Umstellung der gesamten Parteiarbeit auf neue, auf revolutionäre Art, im Geiste der Erziehung und Vorbereitung der Massen zum revolutionären Kampf, denn nur so ist es möglich, die Massen zur proletarischen Revolution vorzubereiten.

Viertens in der Selbstkritik der proletarischen Parteien, in ihrer Schulung und Erziehung an Hand der eigenen Fehler, denn nur so ist es möglich, wirkliche Kader und wirkliche Führer der Partei zu erziehen.

Das ist die Grundlage und das Wesen der Methode des Leninismus.

Wie wurde diese Methode in der Praxis angewandt?

Bei den Opportunisten der II. Internationale gibt es eine Reihe theoretischer Dogmen, auf denen sie ständig herumreiten. Greifen wir einige von ihnen heraus.

Das erste Dogma betrifft die Bedingungen, unter denen das Proletariat die Macht ergreifen kann. Die Opportunisten versichern, das Proletariat könne und dürfe die Macht nicht ergreifen, wenn es nicht selbst die Mehrheit im Lande bildet. Von Beweisen keine Spur, denn diese unsinnige These lässt sich unmöglich theoretisch oder praktisch begründen. Nehmen wir an, dem wäre so, erwidert Lenin den Herrschaften aus der II. Internationale. Was aber, wenn eine historische Situation entstanden ist (Krieg, Agrarkrise usw.), die dem Proletariat, das die Minderheit der Bevölkerung ausmacht, die Möglichkeit bietet, die gewaltige Mehrheit der werktätigen Massen um sich zu scharen – warum sollte es dann nicht die Macht ergreifen? Warum sollte das Proletariat die günstige internationale und innere Situation nicht benutzen, um die Front des Kapitals zu durchbrechen und die allgemeine Entscheidung zu beschleunigen? Hat nicht Marx bereits in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gesagt, dass es um die proletarische Revolution in Deutschland „vorzüglich“ bestellt sein könnte, wenn man sie unterstützen könnte sozusagen „durch eine Art zweite Auflage des Bauernkrieges“1? Ist es nicht aller Welt bekannt, dass es damals in Deutschland verhältnismäßig weniger Proletarier gab als zum Beispiel im Jahre 1917 in Rußland? Hat nicht die Praxis der russischen proletarischen Revolution bewiesen, dass dieses Lieblingsdogma der Helden der II. Internationale für das Proletariat jeder lebenswichtigen Bedeutung entbehrt? Ist es nicht klar, dass die Praxis des revolutionären Kampfes der Massen dieses morsche Dogma widerlegt und zunichte macht?

Das zweite Dogma: Das Proletariat könne die Macht nicht behaupten, wenn es nicht über eine genügende Menge fertiger, kulturell hochstehender und in der Administration bewanderter Kader verfüge, die imstande sind, die Verwaltung des Landes zu organisieren; zuerst müsse man diese Kader unter den Verhältnissen des Kapitalismus heranbilden, und dann erst könne man die Macht übernehmen. Nehmen wir an, dem wäre so, erwidert Lenin. Aber warum sollte man die Sache nicht so bewerkstelligen können, dass zuerst die Macht übernommen wird, günstige Bedingungen für die Entwicklung des Proletariats geschaffen werden, und dass man dann mit Siebenmeilenschritten vorwärts schreitet zur Hebung des Kulturniveaus der werktätigen Massen, zur Heranbildung zahlreicher Kader von Leitern und Administratoren aus den Reihen der Arbeiter? Hat nicht die russische Praxis gezeigt, dass die Führerkader aus den Reihen der Arbeiter unter der proletarischen Macht hundertmal schneller und gründlicher wachsen als unter der Macht des Kapitals? Ist es nicht klar, dass die Praxis des revolutionären Kampfes der Massen auch dieses theoretische Dogma der Opportunisten schonungslos zunichte macht?

Das dritte Dogma: Die Methode des politischen Generalstreiks sei für das Proletariat unannehmbar, denn sie sei theoretisch unhaltbar (siehe die Kritik von Engels), praktisch gefährlich (sie könne den normalen Gang des Wirtschaftslebens des Landes zerrütten und auf die Gewerkschaftskassen verheerend wirken), und könne nicht die parlamentarischen Kampfformen ersetzen, die die Hauptform des Klassenkampfs des Proletariats seien. Schön, antworten die Leninisten, aber erstens kritisierte Engels nicht jeden Generalstreik, sondern nur eine bestimmte Art des Generalstreiks, und zwar den ökonomischen Generalstreik der Anarchisten2, den die Anarchisten als Ersatz für den politischen Kampf des Proletariats vorschlugen – was hat das mit der Methode des politischen Generalstreiks zu tun? Zweitens, wo und von wem wurde bewiesen, dass die parlamentarische Form des Kampfes die Hauptform des Kampfes des Proletariats ist? Zeigt nicht die Geschichte der revolutionären Bewegung, dass der parlamentarische Kampf nur Schule und Hilfsmittel für die Organisierung des außerparlamentarischen Kampfes des Proletariats ist, dass die Grundfragen der Arbeiterbewegung unter dem Kapitalismus durch die Gewalt, durch den unmittelbaren Kampf der proletarischen Massen, durch ihren Generalstreik, ihren Aufstand entschieden werden? Drittens, wie kommt man auf die Frage einer Ersetzung des parlamentarischen Kampfes durch die Methode des politischen Generalstreiks? Wo und wann haben die Anhänger des politischen Generalstreiks versucht, die parlamentarischen Kampfformen durch außerparlamentarische Kampfformen zu ersetzen? Viertens, hat etwa die Revolution in Rußland nicht gezeigt, dass der politische Generalstreik eine gewaltige Schule der proletarischen Revolution und ein unersetzliches Mittel zur Mobilisierung und Organisierung der breitesten Massen des Proletariats am Vorabend des Sturmes auf die Festen des Kapitalismus ist- wozu hier also die philisterhaften Klagen über die Zerrüttung des normalen Ganges des Wirtschaftslebens und über die Gewerkschaftskassen? Ist es nicht klar, dass die Praxis des revolutionären Kampfes auch dieses Dogma der Opportunisten zerschlägt?

Usw. usf.

Deshalb sagte Lenin, dass „die revolutionäre Theorie kein Dogma ist“, dass sie „nur in engem Zusammenhang mit der Praxis einer wirklichen Massenbewegung und einer wirklich revolutionären Bewegung endgültige Gestalt annimmt“ („Die Kinderkrankheit“3), denn die Theorie muss der Praxis dienen, denn „die Theorie soll auf die von der Praxis gestellten Fragen Antwort geben“ („Die Volksfreunde“4), denn sie muss an Hand der Praxis überprüft werden.

Was die politischen Losungen und die politischen Beschlüsse der Parteien der II. Internationale betrifft, so genügt es, sich der Geschichte der Losung „Krieg dem Kriege“ zu erinnern, um die ganze Falschheit und die ganze Fäulnis der politischen Praxis dieser Parteien zu erkennen, die ihre antirevolutionäre Tätigkeit mit pompösen revolutionären Losungen und Resolutionen bemänteln. Allen erinnerlich ist die pompöse Demonstration der II. Internationale auf dem Baseler Kongress5, wo den Imperialisten mit allen Schrecken des Aufstands gedroht wurde, falls die Imperialisten es wagen sollten, den Krieg zu beginnen, und wo die dräuende Losung „Krieg dem Kriege“ ausgegeben wurde. Aber wer erinnert sich nicht, dass nach einiger Zeit, unmittelbar vor Beginn des Krieges, die Baseler Resolution zu den Akten gelegt wurde und den Arbeitern eine neue Losung gegeben wurde – einander hinzumorden zum Ruhme des kapitalistischen Vaterlands? Ist es da nicht klar, dass revolutionäre Losungen und Resolutionen keinen Pfifferling wert sind, wenn sie nicht durch die Tat bekräftigt werden? Es genügt, die Leninsche Politik der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg und die verräterische Politik der II. Internationale während des Krieges einander gegenüberzustellen, um die ganze Plattheit der opportunistischen Politikaster, die ganze Größe der Methode des Leninismus zu erkennen.

Ich kann nicht umhin, hier eine Stelle aus Lenins Buch „Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky“ anzuführen, wo Lenin den opportunistischen Versuch des Führers der II. Internationale K. Kautsky, die Parteien nicht nach ihren Taten, sondern nach ihren papiernen Losungen und Dokumenten zu beurteilen, scharf geißelt:

„Kautsky treibt eine typisch spießbürgerliche, philisterhafte Politik, wenn er sich einbildet…, das Aufstellen einer Losung ändere etwas an der Sache. Die ganze Geschichte der bürgerlichen Demokratie entlarvt diese Illusion: um das Volk zu betrügen, gaben und geben die bürgerlichen Demokraten stets die beliebigsten ´Losungen´ aus. Es handelt sich darum, ihre Aufrichtigkeit zu prüfen, die Worte mit den Taten zu vergleichen, sich nicht mit idealistischen oder marktschreierischen Phrasen zufrieden zu geben, sondern zu suchen, der Klassenrealität auf den Grund zu kommen.“

(Siehe 4. Ausgabe, Bd. 28, S. 260 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. II, S. 461].)

Ich rede schon gar nicht von der Furcht der Parteien der II. Internationale vor Selbstkritik, von ihrer Manier, ihre Fehler zu verheimlichen, heikle Fragen zu vertuschen, ihre Mängel durch die Vorspiegelung zu bemänteln, als sei alles in bester Ordnung, wodurch jeder lebendige Gedanke abgestumpft und die revolutionäre Erziehung der Partei an Hand der eigenen Fehler gehemmt wird, einer Manier, die von Lenin verspottet und angeprangert wurde. In seiner Schrift „Die Kinderkrankheit“ schrieb Lenin über die Selbstkritik der proletarischen Parteien:

„Das Verhalten einer politischen Partei zu ihren Fehlern ist eines der wichtigsten und sichersten Kriterien für den Ernst einer Partei und für die tatsächliche Erfüllung ihrer Pflichten gegenüber ihrer Klasse und den werktätigen Massen. Einen Fehler offen zugeben, seine Ursachen aufdecken, die Umstände, die ihn hervorgerufen haben, analysieren, die Mittel zur Behebung des Fehlers sorgfältig prüfen – das ist das Merkmal einer ernsten Partei, das heißt Erfüllung ihrer Pflichten, das heißt Erziehung und Schulung der Klasse und dann auch der Masse.“

(Siehe 4. Ausgabe, Bd. 31, S. 39 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. II, S. 703].)

Manche sagen, es sei für die Partei gefährlich, die eigenen Fehler aufzudecken und Selbstkritik zu üben, da das vom Gegner gegen die Partei des Proletariats ausgenutzt werden könne. Lenin hielt solche Einwände für unernst und völlig falsch. Schon im Jahre 1904, als unsere Partei noch schwach und unbedeutend war, schrieb er darüber in seiner Schrift „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“:

„Sie (das heißt die Gegner der Marxisten. J. St.) feixen und sind schadenfroh über unsere Streitigkeiten; sie werden sich natürlich bemühen, einzelne Stellen aus meiner Broschüre, die den Mängeln und Unzulänglichkeiten unserer Partei gewidmet ist, für ihre Zwecke aus dem Zusammenhang zu reißen. Die russischen Sozialdemokraten haben bereits genügend im Kugelregen der Schlachten gestanden, um sich durch diese Nadelstiche nicht beirren zu lassen, um dessen ungeachtet ihre Arbeit – Selbstkritik und rücksichtslose Enthüllung der eigenen Mängel – fortzusetzen, die durch das Wachstum der Arbeiterbewegung unbedingt und unvermeidlich ihre Überwindung finden werden.“

(Siehe 4. Ausgabe, Bd. 7, S. 190 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. I, S. 327/328].)

Das sind im allgemeinen die charakteristischen Züge der Methode des Leninismus.

Was uns die Methode Lenins gibt, war in der Hauptsache bereits in der Marxschen Lehre enthalten, die nach den Worten von Marx „ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär“6 ist. Gerade dieser kritische und revolutionäre Geist durchdringt von Anfang bis zu Ende die Methode Lenins. Es wäre aber verfehlt anzunehmen, dass die Methode Lenins eine einfache Wiederherstellung dessen sei, was Marx gegeben hat. In Wirklichkeit bedeutet die Methode Lenins nicht nur die Wiederherstellung, sondern auch die Konkretisierung und Weiterentwicklung der kritischen und revolutionären Methode von Marx, seiner materialistischen Dialektik.

III. Die Theorie

Aus diesem Thema greife ich drei Fragen heraus:
a) die Bedeutung der Theorie für die proletarische Bewegung;
b) die Kritik der „Theorie“ der Spontaneität;
c) die Theorie der proletarischen Revolution.

1. Die Bedeutung der Theorie. Manche glauben, der Leninismus sei das Primat der Praxis über die Theorie in dem Sinne, dass das Wesentliche in ihm die Umsetzung der marxistischen Grundsätze in die Tat, die „Ausführung“ dieser Grundsätze sei, was dagegen die Theorie anbelangt, so sei der Leninismus in dieser Hinsicht ziemlich unbekümmert. Es ist bekannt, dass Plechanow sich mehr als einmal über die „Unbekümmertheit“ Lenins bezüglich der Theorie und besonders der Philosophie lustig machte. Es ist auch bekannt, dass viele unter den heutigen praktisch tätigen Leninisten der Theorie nicht sehr gewogen sind, besonders angesichts der Unmasse praktischer Arbeit, die die Umstände ihnen aufzwingen. Ich muss erklären, dass diese mehr als sonderbare Meinung über Lenin und den Leninismus ganz falsch ist und in keiner Weise der Wirklichkeit entspricht, dass das Bestreben der Praktiker, sich über die Theorie hinwegzusetzen, dem ganzen Geiste des Leninismus widerspricht und große Gefahren für unsere Sache in sich birgt.

Die Theorie ist die Erfahrung der Arbeiterbewegung aller Länder, in ihrer allgemeinen Form genommen. Natürlich wird die Theorie gegenstandslos, wenn sie nicht mit der revolutionären Praxis verknüpft wird, genauso wie die Praxis blind wird, wenn sie ihren Weg nicht durch die revolutionäre Theorie beleuchtet. Aber die Theorie kann zu einer gewaltigen Kraft der Arbeiterbewegung werden, wenn sie sich in untrennbarer Verbindung mit der revolutionären Praxis herausbildet, denn sie, und nur sie, kann der Bewegung Sicherheit, Orientierungsvermögen und Verständnis für den inneren Zusammenhang der sich rings um sie abspielenden Ereignisse verleihen, denn sie, und nur sie, kann der Praxis helfen zu erkennen, nicht nur wie und wohin sich die Klassen in der Gegenwart bewegen, sondern auch, wie und wohin sie sich in der nächsten Zukunft werden bewegen müssen. Kein anderer als Lenin prägte und wiederholte Dutzende Male den bekannten Leitsatz:

„Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben.“

(Siehe 4. Ausgabe, Bd. 5, S. 341 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. I, S.194].)

Lenin verstand besser als jeder andere die große Bedeutung der Theorie, besonders für eine Partei wie die unsrige, angesichts der ihr zugefallenen Rolle, Vorkämpfer des internationalen Proletariats zu sein, und angesichts der komplizierten inneren und internationalen Lage, in der sie sich befindet. Lenin sah diese besondere Rolle unserer Partei bereits im Jahre 1902 voraus und hielt es schon damals für notwendig, darauf hinzuweisen, dass

„die Rolle des Vorkämpfers nur eine Partei erfüllen kann, die von einer fortgeschrittenen Theorie geleitet wird“ (ebenda, S. 342, russ. [S. 195, deutsch]).

Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, dass jetzt, wo die Voraussage Lenins über die Rolle unserer Partei bereits zur Wirklichkeit geworden ist, dieser Leitsatz Lenins besondere Kraft und Bedeutung gewinnt.

Als den prägnantesten Ausdruck der hohen Bedeutung, die Lenin der Theorie beimaß, sollte man vielleicht die Tatsache betrachten, dass kein anderer als Lenin die Lösung der überaus ernsten Aufgabe in Angriff nahm, das Wichtigste von dem, was die Wissenschaft in der Periode von Engels bis Lenin gezeitigt hatte, auf dem Gebiet der materialistischen Philosophie zu verallgemeinern und die antimaterialistischen Strömungen unter den Marxisten einer allseitigen Kritik zu unterziehen. Engels sagte vom Materialismus: „Mit jeder epochemachenden Entdeckung… muss er seine Form ändern“7. Es ist bekannt, dass diese Aufgabe für seine Zeit kein anderer als Lenin in seinem vortrefflichen Buch „Materialismus und Empiriokritizismus“8 gelöst hat. Man weiß, dass Plechanow, der sich gern über die „Unbekümmertheit“ Lenins bezüglich der Philosophie lustig machte, es nicht einmal gewagt hat, ernsthaft an die Lösung einer solchen Aufgabe heranzugehen.

2. Die Kritik der „Theorie“ der Spontaneität oder die Rolle der Avantgarde in der Bewegung. Die „Theorie“ der Spontaneität ist die Theorie des Opportunismus, die Theorie der Anbetung der Spontaneität der Arbeiterbewegung, die Theorie der tatsächlichen Leugnung der führenden Rolle der Avantgarde der Arbeiterklasse, der Partei der Arbeiterklasse.

Die Theorie der Anbetung der Spontaneität richtet sich entschieden gegen den revolutionären Charakter der Arbeiterbewegung, sie ist dagegen, dass die Bewegung in die Bahnen des Kampfes gegen die Grundlagen des Kapitalismus gelenkt werde, sie ist dafür, dass die Bewegung ausschließlich auf der Linie „erfüllbarer“, für den Kapitalismus „annehmbarer“ Forderungen verlaufe, sie ist ganz und gar für „die Linie des geringsten Widerstandes“. Die Theorie der Spontaneität ist die Ideologie des Trade-Unionismus.

Die Theorie der Anbetung der Spontaneität wendet sich entschieden dagegen, dass der spontanen Bewegung ein bewusster, planmäßiger Charakter verliehen werde, sie ist dagegen, dass die Partei der Arbeiterklasse vorangehe, dass die Partei die Massen auf das Niveau der Bewusstheit erhebe, dass die Partei die Bewegung führe, sie ist dafür, dass die bewussten Elemente der Bewegung diese nicht hindern sollen, ihren eigenen Weg zu gehen, sie ist dafür, dass die Partei lediglich auf die spontane Bewegung höre und hinter ihr einhertrotte. Die Theorie der Spontaneität ist die Theorie der Herabminderung der Rolle des bewussten Elements in der Bewegung, die Ideologie der „Nachtrabpolitik“, die logische Grundlage jeder Art von Opportunismus.

Praktisch führte diese Theorie, die schon vor der ersten Revolution in Rußland auf den Plan trat, dazu, dass ihre Anhänger, die so genannten „Ökonomisten“, die Notwendigkeit einer selbständigen Arbeiterpartei in Rußland leugneten, sich dem revolutionären Kampf der Arbeiterklasse für den Sturz des Zarismus widersetzten, eine trade-unionistische Politik in der Bewegung predigten und überhaupt die Arbeiterbewegung der Hegemonie der liberalen Bourgeoisie auslieferten.

Durch den Kampf der alten „Iskra“ und die glänzende Kritik der Theorie der „Nachtrabpolitik“ in Lenins Schrift „Was tun?“ wurde nicht nur der so genannte „Ökonomismus“ geschlagen, sondern es wurden auch die theoretischen Grundlagen für eine wirklich revolutionäre Bewegung der russischen Arbeiterklasse geschaffen.

Ohne diesen Kampf wäre an die Schaffung einer selbständigen Arbeiterpartei in Rußland und an ihre führende Rolle in der Revolution nicht zu denken gewesen.

Aber die Theorie der Anbetung der Spontaneität ist nicht nur eine russische Erscheinung. Sie ist, allerdings in etwas anderer Form, in allen Parteien der II. Internationale ohne Ausnahme aufs weiteste verbreitet. Ich denke hier an die so genannte Theorie der „Produktivkräfte“, die, von den Führern der II. Internationale verflacht, alles rechtfertigt und alle versöhnt, die Tatsachen konstatiert und erklärt, wenn sie bereits allen zum Halse heraushängen, und sich mit dieser Konstatierung zufrieden gibt. Marx sagte, dass sich die materialistische Theorie nicht darauf beschränken darf, die Welt zu interpretieren, dass es vielmehr darauf ankommt, sie zu verändern.9 Aber Kautsky und Konsorten kümmert das nicht, sie ziehen es vor, bei dem ersten Teil der Marxschen Formel stehen zu bleiben.

Hier eins von vielen Beispielen dafür, wie diese „Theorie“ angewandt wird. Man sagt, die Parteien der II. Internationale hätten vor dem imperialistischen Krieg gedroht, „Krieg dem Kriege“ zu erklären, falls die Imperialisten den Krieg beginnen sollten. Man sagt, dass unmittelbar vor Beginn des Krieges diese Parteien die Losung „Krieg dem Kriege“ zu den Akten gelegt und die entgegengesetzte Losung „Krieg für das imperialistische Vaterland“ verwirklicht haben. Man sagt, dass infolge dieses Losungswechsels Millionen Arbeiter ihr Leben haben opfern müssen. Es wäre aber falsch zu glauben, dass es hier Schuldige gebe, dass irgendwer der Arbeiterklasse untreu geworden sei oder sie verraten habe. Weit gefehlt! Alles sei so gekommen, wie es kommen musste. Erstens, weil die Internationale, so erfährt man, „ein Instrument des Friedens“ und nicht des Krieges sei. Zweitens, weil bei dem damals vorhandenen „Entwicklungsstand der Produktivkräfte“ nichts anderes unternommen werden konnte. „Schuld“ seien die „Produktivkräfte“. Herrn Kautskys „Theorie der Produktivkräfte“ erklärt „uns“ das haargenau. Und wer an diese „Theorie“ nicht glaubt, sei kein Marxist. Die Rolle der Parteien? Ihre Bedeutung in der Bewegung? Aber was kann die Partei ausrichten gegen einen so entscheidenden Faktor wie den „Entwicklungsstand der Produktivkräfte“?…

Solcher Beispiele der Verfälschung des Marxismus könnte man eine ganze Menge anführen.

Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, dass dieser verfälschte „Marxismus“, der die Blöße des Opportunismus verdecken soll, nur eine europäisch umgemodelte Form der Theorie der „Nachtrabpolitik“ ist, gegen die Lenin schon vor der ersten russischen Revolution kämpfte.

Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, dass die Vorbedingung für die Schaffung wirklich revolutionärer Parteien im Westen darin besteht, diese theoretische Verfälschung zunichte zu machen.

3. Die Theorie der proletarischen Revolution. Die Leninsche Theorie der proletarischen Revolution geht von drei grundlegenden Leitsätzen aus:

Erster Leitsatz. Herrschaft des Finanzkapitals in den fortgeschrittenen Ländern des Kapitalismus; Emission von Wertpapieren als eine der wichtigsten Operationen des Finanzkapitals; Kapitalexport nach den Rohstoffquellen als eine der Grundlagen des Imperialismus; Allmacht der Finanzoligarchie als Resultat der Herrschaft des Finanzkapitals – all dies enthüllt den brutal-parasitären Charakter des Monopolkapitalismus, macht das Joch der kapitalistischen Truste und Syndikate hundertmal fühlbarer, lässt die Empörung der Arbeiterklasse gegen die Grundlagen des Kapitalismus noch stärker anwachsen und führt die Massen zur proletarischen Revolution als der einzigen Rettung (siehe „Imperialismus“10 von Lenin).

Daraus ergibt sich als erste Schlussfolgerung: die Verschärfung der revolutionären Krise innerhalb der kapitalistischen Länder, die Anhäufung von Zündstoff an der inneren, der proletarischen Front in den „Mutterländern“.

Zweiter Leitsatz. Verstärkter Kapitalexport in die kolonialen und abhängigen Länder; Ausbreitung der „Einflusssphären“ und des Kolonialbesitzes bis zur Erfassung des ganzen Erdballs; Umwandlung des Kapitalismus in ein Weltsystem der finanziellen Versklavung und kolonialen Unterdrückung der ungeheuren Mehrheit der Bevölkerung der Erde durch eine Handvoll „fortgeschrittener“ Länder – all dies hat einerseits die einzelnen nationalen Wirtschaften und nationalen Territorien in Glieder einer einheitlichen Kette, genannt Weltwirtschaft, verwandelt und anderseits die Bevölkerung des Erdballs in zwei Lager gespalten: in eine Handvoll „fortgeschrittener“ kapitalistischer Länder, die ausgedehnte koloniale und abhängige Länder ausbeuten und unterdrücken, und in eine übergroße Mehrheit von kolonialen und abhängigen Ländern, die gezwungen sind, für die Befreiung vom imperialistischen Joch zu kämpfen (siehe „Imperialismus“).

Daraus ergibt sich als zweite Schlussfolgerung: die Verschärfung der revolutionären Krise in den Kolonialländern, das Anwachsen der Elemente der Empörung gegen den Imperialismus an der äußeren, an der kolonialen Front.

Dritter Leitsatz. Monopolistische Herrschaft über die „Einflusssphären“ und die Kolonien; ungleichmäßige Entwicklung der kapitalistischen Länder, die zu einem wütenden Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen jenen Ländern führt, die bereits Territorien an sich gerissen haben, und jenen, die ebenfalls ihren „Anteil“ erhalten wollen; imperialistische Kriege als einziges Mittel, das gestörte „Gleichgewicht“ wiederherzustellen – all dies führt zur Verstärkung der dritten Front, der zwischenkapitalistischen Front, die den Imperialismus schwächt und die Vereinigung der beiden ersten Fronten, der revolutionär-proletarischen Front und der Front der kolonialen Befreiungsbewegung, gegen den Imperialismus erleichtert (siehe „Imperialismus“).

Daraus ergibt sich als dritte Schlussfolgerung: die Unabwendbarkeit von Kriegen unter dem Imperialismus und die Unausbleiblichkeit der Koalition zwischen der proletarischen Revolution in Europa und der kolonialen Revolution im Osten zu einer einheitlichen Weltfront der Revolution gegen die Weltfront des Imperialismus.

Alle diese Schlussfolgerungen vereinigt Lenin zu der allgemeinen Schlussfolgerung:

„Der Imperialismus ist der Vorabend der sozialistischen Revolution.“

(siehe 4. Ausgabe, Bd. 22, 5.175 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. I, S. 767])

Demgemäß ändert sich auch die Stellungnahme zur Frage der proletarischen Revolution, des Charakters der Revolution, ihres Umfangs, ihrer Tiefe, ändert sich das Schema der Revolution überhaupt.

Früher pflegte man an die Analyse der Voraussetzungen der proletarischen Revolution vom Standpunkt des ökonomischen Zustands dieses oder jenes einzelnen Landes heranzugehen. Jetzt ist diese Art des Herangehens bereits unzulänglich. Jetzt muss man an diese Frage vom Standpunkt des ökonomischen Zustands aller Länder oder ihrer Mehrheit, vom Standpunkt des Zustands der Weltwirtschaft herangehen, denn die einzelnen Länder und die einzelnen nationalen Wirtschaften haben aufgehört, sich selbst genügende Einheiten zu sein, sie haben sich in Glieder einer einheitlichen Kette, genannt Weltwirtschaft, verwandelt, denn der alte „zivilisierte“ Kapitalismus ist zum Imperialismus geworden, der Imperialismus aber ist ein Weltsystem finanzieller Versklavung und kolonialer Unterdrückung der gigantischen Mehrheit der Bevölkerung der Erde durch eine Handvoll „fortgeschrittener“ Länder.

Früher war es üblich, vom Vorhandensein oder Fehlen objektiver Bedingungen für die proletarische Revolution in den einzelnen Ländern oder, genauer gesagt, in diesem oder jenem entwickelten Lande zu sprechen. Jetzt ist dieser Standpunkt bereits unzulänglich. Jetzt muss man vom Vorhandensein objektiver Bedingungen für die Revolution im ganzen System der imperialistischen Weltwirtschaft als eines einheitlichen Ganzen sprechen, wobei der Umstand, dass diesem System einige industriell mangelhaft entwickelte Länder angehören, kein unüberwindliches Hindernis für die Revolution bilden kann, wenn das System als Ganzes oder, richtiger gesagt, da das System als Ganzes bereits für die Revolution reif geworden ist.

Früher war es üblich, von der proletarischen Revolution in diesem oder jenem entwickelten Lande als von einer einzelnen, sich selbst genügenden Größe zu sprechen, die der einzelnen, nationalen Front des Kapitals als ihrem Antipoden entgegengestellt wurde. Jetzt ist dieser Standpunkt bereits unzulänglich. Jetzt muss man von der proletarischen Weltrevolution sprechen, denn die einzelnen nationalen Fronten des Kapitals haben sich in Glieder einer einheitlichen Kette verwandelt, genannt die Weltfront des Imperialismus, der die allgemeine Front der revolutionären Bewegung aller Länder entgegengestellt werden muss.

Früher betrachtete man die proletarische Revolution ausschließlich als Ergebnis der inneren Entwicklung des betreffenden Landes. Jetzt ist dieser Standpunkt bereits unzulänglich. Jetzt muss man die proletarische Revolution vor allem als Ergebnis der Entwicklung der Widersprüche im Weltsystem des Imperialismus betrachten, als Ergebnis dessen, dass die Kette der imperialistischen Weltfront in diesem oder jenem Lande reißt.

Wo wird die Revolution beginnen, wo kann am ehesten die Front des Kapitals durchbrochen werden, in welchem Lande?

Dort, wo die Industrie am entwickeltsten ist, wo das Proletariat die Mehrheit bildet, wo es mehr Kultur, wo es mehr Demokratie gibt – pflegte man früher zu antworten.

Nein – entgegnet die Leninsche Theorie der Revolution -, nicht unbedingt dort, wo die Industrie am entwickeltsten ist usw. Die Front des Kapitals wird dort reißen, wo die Kette des Imperialismus am schwächsten ist, denn die proletarische Revolution ist das Ergebnis dessen, dass die Kette der imperialistischen Weltfront an ihrer schwächsten Stelle reißt, wobei es sich erweisen kann, dass das Land, das die Revolution begonnen hat, das Land, das die Front des Kapitals durchbrochen hat, kapitalistisch weniger entwickelt ist als andere, entwickeltere Länder, die jedoch im Rahmen des Kapitalismus verblieben sind.

Im Jahre 1917 erwies sich die Kette der imperialistischen Weltfront in Rußland als schwächer denn in anderen Ländern. Dort riss sie auch und gab der proletarischen Revolution den Weg frei. Warum? Weil sich in Rußland eine gewaltige Volksrevolution entfaltete, an deren Spitze ein revolutionäres Proletariat marschierte, das einen so ernst zu nehmenden Verbündeten hatte wie die Millionenmassen der von Gutsbesitzern unterdrückten und ausgebeuteten Bauernschaft. Weil dort der Revolution ein so widerlicher Vertreter des Imperialismus gegenüberstand wie der Zarismus, der jedes moralischen Gewichts entbehrte und sich den all-gemeinen Hass der Bevölkerung zugezogen hatte. In Rußland erwies sich die Kette als schwächer, obgleich Rußland kapitalistisch weniger entwickelt war als, sagen wir, Frankreich oder Deutschland, England oder Amerika.

Wo wird die Kette in nächster Zukunft reißen? Wiederum dort, wo sie am schwächsten ist. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Kette, sagen wir, in Indien reißen kann. Warum? Weil es dort ein junges, kämpferisches, revolutionäres Proletariat gibt, das einen Bundesgenossen hat wie die nationale Befreiungsbewegung, einen unzweifelhaft großen und unzweifelhaft ernst zu nehmenden Bundesgenossen. Weil der Revolution dort ein so allbekannter Gegner gegenübersteht wie der fremdländische Imperialismus, der jedes moralischen Kredits entbehrt und sich den allgemeinen Hass der unterdrückten und ausgebeuteten Massen Indiens zugezogen hat.

Es ist auch durchaus möglich, dass die Kette in Deutschland reißen kann. Warum? Weil die, sagen wir, in Indien wirkenden Faktoren auch in Deutschland zu wirken beginnen, wobei selbstverständlich der gewaltige Unterschied im Entwicklungsniveau, der zwischen Indien und Deutschland besteht, dem Gang und Ausgang der Revolution in Deutschland seinen Stempel aufdrücken muss.

Aus diesem Grunde sagt Lenin:

„Die westeuropäischen kapitalistischen Länder werden ihre Entwicklung zum Sozialismus … nicht dadurch vollenden, dass der Sozialismus in diesen Ländern gleichmäßig ,ausreift´, sondern auf dem Wege der Ausbeutung der einen Staaten durch die anderen, auf dem Wege der Ausbeutung des ersten während des imperialistischen Krieges besiegten Staates, verbunden mit der Ausbeutung des gesamten Ostens. Der Osten anderseits wurde eben infolge dieses ersten imperialistischen Krieges endgültig von einer revolutionären Bewegung erfasst und endgültig in den allgemeinen Strudel der revolutionären Weltbewegung hineingerissen.“

(Siehe 4. Ausgabe, Bd. 33, S. 457 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. II, S.10171.)

Kurzum: Die Kette der imperialistischen Front muss, als Regel, dort reißen, wo die Glieder der Kette am schwächsten sind, und keinesfalls unbedingt dort, wo der Kapitalismus am entwickeltsten ist und wo es soundso viel Prozent Proletarier, soundso viel Prozent Bauern gibt usw.

Deshalb kommt den statistischen Berechnungen über die prozentuale Stärke des Proletariats in den einzelnen Ländern bei der Lösung der Frage der proletarischen Revolution nicht jene hervorragende Bedeutung zu, die ihnen so gern von den Schriftgelehrten der II. Internationale beigemessen wurde, die den Imperialismus nicht begriffen haben und die Revolution wie die Pest fürchten.

Ferner. Die Helden der II. Internationale behaupteten (und behaupten auch weiter), dass zwischen der bürgerlich-demokratischen Revolution einerseits und der proletarischen anderseits ein Abgrund klaffe oder jedenfalls eine chinesische Mauer stehe, die die eine von der anderen durch ein mehr oder minder langes Intervall trennt, in dessen Verlauf die zur Macht gelangte Bourgeoisie den Kapitalismus entwickelt, während das Proletariat seine Kräfte sammelt und sich zum „entscheidenden Kampf“ gegen den Kapitalismus vorbereitet. Dieses Intervall wird in der Regel auf viele Jahrzehnte, wenn nicht auf noch längere Zeit veranschlagt. Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, dass diese „Theorie“ der chinesischen Mauer unter den Verhältnissen des Imperialismus jedes wissenschaftlichen Sinnes bar ist, dass sie nur eine Bemäntelung, eine Beschönigung der konterrevolutionären Gelüste der Bourgeoisie ist und nichts anderes sein kann. Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, dass unter den Verhältnissen des Imperialismus, der mit Zusammenstößen und Kriegen schwanger geht, unter den Verhältnissen des „Vorabends der sozialistischen Revolution“, wo der „blühende“ Kapitalismus sich in den „sterbenden“ Kapitalismus verwandelt (Lenin) und die revolutionäre Bewegung in allen Ländern der Welt anwächst, wo sich der Imperialismus mit allen reaktionären Kräften ohne Ausnahme, einschließlich des Zarismus und Feudalismus, verbündet und damit den Zusammenschluss aller revolutionären Kräfte, von der proletarischen Bewegung im Westen bis zur nationalen Befreiungsbewegung im Osten, notwendig macht, wo die Abschüttelung der Überreste der feudal-fronherrschaftlichen Zustände ohne den revolutionären Kampf gegen den Imperialismus unmöglich wird – es erübrigt sich wohl nachzuweisen, dass die bürgerlich-demokratische Revolution in einem mehr oder weniger entwickelten Lande unter solchen Verhältnissen an die proletarische Revolution herankommen muss, dass die erste in die zweite hinüberwachsen muss. Die Geschichte der Revolution in Rußland hat augenfällig die Richtigkeit und Unbestreitbarkeit dieser These bewiesen. Nicht umsonst hat Lenin bereits im Jahre 1905, am Vorabend der ersten russischen Revolution, in seiner Schrift „Zwei Taktiken“ die bürgerlich-demokratische Revolution und die sozialistische Umwälzung als zwei Glieder einer Kette dargestellt, als einheitliches und geschlossenes Bild vom Schwung der russischen Revolution.

„Das Proletariat muss die demokratische Umwälzung zu Ende führen, indem es die Masse der Bauernschaft an sich heranzieht, um den Widerstand des Absolutismus mit Gewalt zu brechen und die schwankende Haltung der Bourgeoisie zu paralysieren. Das Proletariat muss die sozialistische Umwälzung vollziehen, indem es die Masse der halbproletarischen Elemente der Bevölkerung an sich heranzieht, um den Widerstand der Bourgeoisie mit Gewalt zu brechen und die schwankende Haltung der Bauernschaft und der Kleinbourgeoisie zu paralysieren. Das sind die Aufgaben des Proletariats, die sich die Leute von der neuen ´Iskra´ in allen ihren Betrachtungen und Resolutionen über den Schwung der Revolution so beschränkt vorstellen.“

(Siehe Lenin, 4. Ausgabe, Bd.9, S. 81 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. I, S.49714981.)

Ich spreche schon gar nicht von den anderen, späteren Werken Lenins, wo die Idee des Hinüberwachsens der bürgerlichen Revolution in die proletarische als einer der Grundpfeiler der Leninschen Revolutionstheorie noch plastischer hervortritt als in den „Zwei Taktiken“.

Manche Genossen sind, wie sich herausstellt, der Ansicht, Lenin sei erst im Jahre 1916 zu dieser Idee gelangt, bis dahin habe er gemeint, dass sich die Revolution in Rußland im bürgerlichen Rahmen halten, dass also die Macht aus den Händen des Organs der Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft in die Hände der Bourgeoisie und nicht des Proletariats übergehen würde. Diese Behauptung soll sogar in unsere kommunistische Presse eingedrungen sein. Ich muss sagen, dass diese Behauptung völlig falsch ist, dass sie keineswegs der Wirklichkeit entspricht.

Ich könnte mich auf die bekannte Rede Lenins auf dem III. Parteitag (1905) berufen, wo er die Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft, das heißt den Sieg der demokratischen Revolution, nicht als „Organisation der ,Ordnung´“, sondern als „Organisation des Krieges“ qualifizierte (siehe 4. Ausgabe, Bd. 8, S. 353, russ.).

Ich könnte mich weiter auf die bekannten Artikel Lenins „Über die provisorische Regierung“ (1905)11 berufen, wo er die Perspektive der Entfaltung der russischen Revolution entwirft und der Partei die Aufgabe stellt, „zu erreichen, dass die russische Revolution nicht eine Bewegung von einigen Monaten, sondern eine Bewegung von vielen Jahren werde, dass sie nicht nur zu kleinen Zugeständnissen der Gewalthaber, sondern zu deren völligem Sturz führe“, und wo er, diese Perspektive weiterentwickelnd und sie mit der Revolution in Europa verbindend, fortfährt:

„Wenn dies aber gelingt, dann … dann wird der revolutionäre Brand Europa in Flammen setzen; der unter der bürgerlichen Reaktion schmachtende europäische Arbeiter wird sich seinerseits erheben und uns zeigen, ,wie man´s macht´; dann wird der revolutionäre Aufschwung Europas auf Rußland zurückwirken und aus der Epoche einiger Revolutionsjahre eine Epoche von mehreren Revolutionsjahrzehnten machen …“

(Ebenda, S. 259, russ.)

Ich könnte mich ferner auf einen bekannten, im November 1915 veröffentlichten Artikel Lenins berufen, wo er schreibt:

„Das Proletariat kämpft – und wird selbstlos weiterkämpfen – für die Eroberung der Macht, für die Republik, für die Konfiszierung der Ländereien, …für die Beteiligung der ´nichtproletarischen Volksmassen´ an der Befreiung des bürgerlichen Rußlands vom militärisch-feudalen ´Imperialismus´ (=Zarismus). Und diese Befreiung des bürgerlichen Rußlands vom Zarismus, von der Herrschaft der Gutsbesitzer über den Boden, wird das Proletariat unverzügliche ausnutzen, nicht um den wohlhabenden Bauern in ihrem Kampf gegen die Landarbeiter zu helfen, sondern um die sozialistische Revolution im Bunde mit den Proletariern Europas zu vollbringen.“

(Siehe 4. Ausgabe, Bd. 21, S. 382/383, russ.)

Ich könnte mich schließlich auf die bekannte Stelle in der Schrift Lenins „Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky“ berufen, wo er, unter Hinweis auf das oben angeführte Zitat aus „Zwei Taktiken“ über den Schwung der russischen Revolution, zu folgender Schlussfolgerung gelangt:

„Es kam denn auch so, wie wir gesagt hatten. Der Verlauf der Revolution hat die Richtigkeit unserer Argumentation bestätigt. Zuerst zusammen mit der ´gesamten´ Bauernschaft gegen die Monarchie, gegen die Gutsbesitzer, gegen das Mittelalter (und insoweit bleibt die Revolution eine bürgerliche, bürgerlich-demokratische Revolution). Dann zusammen mit der armen Bauernschaft, zusammen mit dem Halbproletariat, zusammen mit allen Ausgebeuteten gegen den Kapitalismus, einschließlich der Dorfreichen, der Kulaken, der Spekulanten, und insofern wird die Revolution zu einer sozialistischen Revolution. Der Versuch, künstlich eine chinesische Mauer zwischen dieser und jener aufzurichten, sie voneinander durch etwas anderes zu trennen als durch den Grad der Vorbereitung des Proletariats und den Grad seines Zusammenschlusses mit der Dorfarmut, ist die größte Entstellung und Vulgarisierung des Marxismus, seine Ersetzung durch den Liberalismus.“

(Siehe 4. Ausgabe, Bd. 28, S. 2761277 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. 11, S. 477/4781.)

Das genügt wohl.

Schön, wird man sagen, aber weshalb bekämpfte dann Lenin die Idee der „permanenten (ununterbrochenen) Revolution“?

Weil Lenin vorschlug, die revolutionären Fähigkeiten der Bauernschaft „auszuschöpfen“ und ihre revolutionäre Energie restlos zur völligen Beseitigung des Zarismus, zum Übergang zur proletarischen Revolution auszunutzen, während die Anhänger der „permanenten Revolution“ die große Rolle der Bauernschaft in der russischen Revolution nicht verstanden, die Kraft der revolutionären Energie der Bauernschaft ebenso wie die Kraft und die Fähigkeit des russischen Proletariats, die Bauernschaft zu führen, unterschätzten, und so die Befreiung der Bauernschaft vom Einfluss der Bourgeoisie, den Zusammenschluss der Bauernschaft um das Proletariat erschwerten.

Weil Lenin vorschlug, das Werk der Revolution durch den Übergang der Macht an das Proletariat zu krönen, während die Anhänger der „permanenten“ Revolution direkt mit der Macht des Proletariats beginnen wollten, ohne zu begreifen, dass sie damit eine solche „Kleinigkeit“ übersehen wie die Überreste des Feudalismus und eine so ernst zu nehmende Kraft außer acht lassen wie die russische Bauernschaft, ohne zu begreifen, dass eine solche Politik die Gewinnung der Bauernschaft für das Proletariat nur hemmen kann.

Lenin kämpfte also gegen die Anhänger der „permanenten“ Revolution nicht wegen der Frage der Permanenz, denn Lenin selbst stand auf dem Standpunkt der ununterbrochenen Revolution, sondern weil sie die Rolle der Bauernschaft unterschätzten, die eine gewaltige Reserve des Proletariats bildet, weil sie die Idee der Hegemonie des Proletariats nicht begriffen.

Die Idee der „permanenten“ Revolution darf nicht als eine neue Idee betrachtet werden. Sie wurde zum erstenmal von Marx Ende der vierziger Jahre in seiner bekannten „Ansprache“ an den „Bund der Kommunisten“ (1850) entwickelt. Diesem Dokument haben denn auch unsere „Permanenzler“ die Idee der ununterbrochenen Revolution entnommen. Zu bemerken ist, dass unsere „Permanenzler“ diese von Marx entlehnte Idee etwas abgeändert und durch diese Abänderung „verballhornt“ und für den praktischen Gebrauch untauglich gemacht haben. Es bedurfte der erfahrenen Hand Lenins, damit dieser Fehler korrigiert, die Marxsche Idee der ununterbrochenen Revolution in ihrer reinen Gestalt aufgenommen und zu einem der Grundpfeiler seiner Theorie der Revolution gemacht wurde.

Folgendes sagt Marx in seiner „Ansprache“ nach Aufzählung einer Reihe revolutionär-demokratischer Forderungen, zu deren Durchsetzung er die Kommunisten auffordert, über die ununterbrochene (permanente) Revolution:

„Während die demokratischen Kleinbürger die Revolution möglichst rasch und unter Durchführung höchstens der obigen Ansprüche zum Abschlusse bringen wollen, ist es unser Interesse und unsere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit vorgeschritten ist, dass die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat, und dass wenigstens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind.“

K. Marx und F. Engels, „Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850“ (siehe K. Marx und F. Engels, „Werke“, Bd. VIII, 1931, S. 483 [deutsch in „Ausgewählte Schriften“ in zwei Bänden, Bd. I, S.97]).

Mit anderen Worten:

a) Marx hat keineswegs vorgeschlagen, das Werk der Revolution im Deutschland der fünfziger Jahre direkt mit der proletarischen Macht zu beginnen, im Gegensatz zu den Plänen unserer russischen „Permanenzler“;

b) Marx hat lediglich vorgeschlagen, das Werk der Revolution mit der proletarischen Staatsmacht zu krönen, indem Schritt für Schritt eine Fraktion der Bourgeoisie nach der anderen von der Höhe der Macht verdrängt wird, um dann, nach Erringung der Macht des Proletariats, die Revolution in allen Ländern zu entfachen – in vollem Einklang mit alledem, was Lenin lehrte und im Laufe unserer Revolution verwirklichte, indem er seiner Theorie der proletarischen Revolution unter den Verhältnissen des Imperialismus folgte.

Demnach haben unsere russischen „Permanenzler“ nicht nur die Rolle der Bauernschaft in der russischen Revolution und die Bedeutung der Idee der Hegemonie des Proletariats unterschätzt, sondern auch die Marxsche Idee von der „permanenten“ Revolution (zum Schlechteren) abgeändert und für die Praxis untauglich gemacht.

Deshalb machte sich Lenin über die Theorie unserer „Permanenzler“ lustig, nannte sie „originell“ und „wunderbar“ und warf ihnen vor, dass sie sich „keine Gedanken darüber machen wollen, aus welchen Gründen das Leben volle zehn Jahre an dieser wunderbaren Theorie vorbeigegangen ist“. (Lenins Artikel wurde 1915 geschrieben, 10 Jahre nach dem Aufkommen der Theorie der „Permanenzler“ in Rußland – siehe 4. Ausgabe, Bd. 21, S. 381, russ.)

Deshalb hielt Lenin diese Theorie für halbmenschewistisch und sagte, dass sie „von den Bolschewiki den Appell zum entschlossenen revolutionären Kampf des Proletariats und zur Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat, von den Menschewiki aber die ,Negierung´ der Rolle der Bauernschaft übernimmt“ (siehe Lenins Artikel „Über die zwei Linien der Revolution“, ebenda, S. 381/382, russ.).

So verhält es sich mit der Idee Lenins vom Hinüberwachsen der bürgerlich-demokratischen Revolution in die proletarische, von der Ausnutzung der bürgerlichen Revolution für den „sofortigen“ Übergang zur proletarischen Revolution.

Weiter. Früher hielt man den Sieg der Revolution in einem Lande für unmöglich, da man annahm, dass zum Siege über die Bourgeoisie eine gemeinsame Aktion der Proletarier aller fortgeschrittenen Länder oder jedenfalls der Mehrzahl dieser Länder erforderlich sei. Jetzt entspricht diese Ansicht nicht mehr der Wirklichkeit. Jetzt muss man von der Möglichkeit eines solchen Sieges ausgehen, denn der ungleichmäßige und sprunghafte Charakter der Entwicklung der verschiedenen kapitalistischen Länder unter den Verhältnissen des Imperialismus, die Entwicklung der katastrophalen Widersprüche innerhalb des Imperialismus, die unausweichlich zu Kriegen führen, das Anwachsen der revolutionären Bewegung in allen Ländern der Welt – all das macht den Sieg des Proletariats in einzelnen Ländern nicht nur möglich, sondern auch notwendig. Die Geschichte der Revolution in Rußland ist ein direkter Beweis dafür. Nur muss man dabei im Auge behalten, dass die Bourgeoisie nur dann erfolgreich gestürzt werden kann, wenn gewisse, absolut notwendige Bedingungen vorhanden sind, ohne die an eine Machtergreifung durch das Proletariat nicht zu denken ist.

Über diese Bedingungen sagt Lenin in seiner Schrift „Die Kinderkrankheit“:

„Das Grundgesetz der Revolution, das durch alle Revolutionen und insbesondere durch alle drei russischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts bestätigt worden ist, besteht in folgendem: Zur Revolution genügt es nicht, dass sich die ausgebeuteten und geknechteten Massen der Unmöglichkeit, in der alten Weise weiterzuleben, bewusst werden und eine Änderung fordern; zur Revolution ist es notwendig, dass die Ausbeuter nicht mehr in der alten Weise leben und regieren können. Erst dann, wenn die ,unteren Schichten´ die alte Ordnung nicht mehr wollen und die ,Oberschichten´ nicht mehr in der alten Weise leben können, erst dann kann die Revolution siegen. Mit anderen Worten kann man diese Wahrheit so ausdrücken: Die Revolution ist unmöglich ohne eine gesamtnationale (Ausgebeutete wie Ausbeuter erfassende) Krise. Folglich ist zur Revolution notwendig: erstens, dass die Mehrheit der Arbeiter (oder jedenfalls die Mehrheit der klassenbewussten, denkenden, politisch aktiven Arbeiter) die Notwendigkeit des Umsturzes völlig begreift und bereit ist, seinetwegen in den Tod zu gehen; zweitens, dass die herrschenden Klassen eine Regierungskrise durchmachen, die sogar die rückständigsten Massen in die Politik hineinzieht…, die Regierung kraftlos macht und den Revolutionären den schnellen Sturz dieser Regierung ermöglicht.“

(Siehe 4. Ausgabe, Bd. 31, S. 65/66 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. II, S.729/730].)

Aber die Macht der Bourgeoisie stürzen und die Macht des Proletariats in einem Lande errichten heißt noch nicht, den vollen Sieg des Sozialismus sichern. Das Proletariat des siegreichen Landes, das seine Macht gefestigt hat und die Führung über die Bauernschaft ausübt, kann und muss die sozialistische Gesellschaft aufbauen. Bedeutet das aber, dass es damit schon den vollständigen, endgültigen Sieg des Sozialismus erreichen wird, das heißt, bedeutet es, dass das Proletariat mit den Kräften eines Landes allein endgültig den Sozialismus verankern und das Land gegen die Intervention und folglich auch gegen eine Restauration völlig sichern kann? Nein, das bedeutet es nicht. Dazu ist der Sieg der Revolution wenigstens in einigen Ländern notwendig. Deshalb ist die Entwicklung und Unterstützung der Revolution in den anderen Ländern eine wesentliche Aufgabe der siegreichen Revolution. Deshalb soll sich die Revolution des siegreichen Landes nicht als eine sich selbst genügende Größe betrachten, sondern als Stütze, als Mittel zur Beschleunigung des Sieges des Proletariats in den anderen Ländern.

Lenin drückte diesen Gedanken in wenigen Worten aus, indem er sagte, die Aufgabe der siegreichen Revolution bestehe in der Durchführung „des Höchstmaßes dessen, was in einem Lande für die Entwicklung, Unterstützung, Entfachung der Revolution in allen Ländern durchführbar ist“ (siehe 4. Ausgabe, Bd. 28, S. 269 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. II, S. 470]).

Das sind in allgemeinen Zügen die charakteristischen Merkmale der Leninschen Theorie der proletarischen Revolution.

IV. Die Diktatur des Proletariats

Aus diesem Thema greife ich drei Grundfragen heraus:
a) die Diktatur des Proletariats als Instrument der proletarischen Revolution;
b) die Diktatur des Proletariats als Herrschaft des Proletariats über die Bourgeoisie;
c) die Sowjetmacht als Staatsform der Diktatur des Proletariats.

1. Die Diktatur des Proletariats als Instrument der proletarischen Revolution. Die Frage der proletarischen Diktatur ist vor allem die Frage nach dem Grundgehalt der proletarischen Revolution. Die proletarische Revolution, ihre Bewegung, ihr Schwung, ihre Errungenschaften erhalten erst durch die Diktatur des Proletariats Form und Gestalt. Die Diktatur des Proletariats ist das Instrument der proletarischen Revolution, ihr Organ, ihr wichtigster Stützpunkt, ins Leben gerufen erstens, um den Widerstand der gestürzten Ausbeuter zu unterdrücken und die eigenen Errungenschaften zu verankern, zweitens, um die proletarische Revolution zu Ende zu führen, die Revolution bis zum vollständigen Sieg des Sozialismus zu führen. Die Bourgeoisie besiegen und ihre Macht niederwerfen, das vermag die Revolution auch ohne die Diktatur des Proletariats. Aber den Widerstand der Bourgeoisie unterdrücken, den Sieg behaupten und weiterschreiten zum endgültigen Sieg des Sozialismus kann die Revolution nicht mehr, wenn sie nicht auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung ein spezielles Organ in Form der Diktatur des Proletariats als ihre wichtigste Stütze schafft.

„Die Frage der Macht ist die Grundfrage jeder Revolution“ (Lenin). Bedeutet das, die Sache sei damit abgetan, dass man die Macht ergreift, sie an sich reißt? Nein, keineswegs. Die Machtergreifung ist nur der Anfang. Die in dem einen Lande gestürzte Bourgeoisie bleibt, aus vielen Gründen, noch lange Zeit stärker als das Proletariat, von dem sie gestürzt wurde. Deshalb kommt alles darauf an, die Macht zu behaupten, sie zu festigen, sie unbesiegbar zu machen. Was ist notwendig, um dieses Ziel zu erreichen? Dazu ist notwendig, zum mindesten drei Hauptaufgaben zu erfüllen, vor die sich die Diktatur des Proletariats „am Tage nach dem Siege“ gestellt sieht:

a) den Widerstand der durch die Revolution gestürzten und expropriierten Gutsbesitzer und Kapitalisten zu brechen, alle ihre Versuche zur Wiederherstellung der Macht des Kapitals zunichte zu machen;

b) den Aufbau im Geiste des Zusammenschlusses aller Werktätigen um das Proletariat zu organisieren und diese Arbeit in einer Richtung durchzuführen, die die Liquidierung, die Aufhebung der Klassen vorbereitet;

c) die Revolution zu bewaffnen, die Armee der Revolution zum Kampf gegen die äußeren Feinde, zum Kampf gegen den Imperialismus zu organisieren.

Die Diktatur des Proletariats ist notwendig, um diese Aufgaben durchzuführen, zu bewältigen.

„Der Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus“, sagt Lenin, „umfasst eine ganze geschichtliche Epoche. Solange sie nicht abgeschlossen ist, behalten die Ausbeuter unvermeidlich die Hoffnung auf eine Restauration, und diese Hoffnung verwandelt sich in Versuche der Restauration. Und nach der ersten ernsten Niederlage werfen sich die gestürzten Ausbeuter, die ihren Sturz nicht erwartet, an ihn nicht geglaubt, keinen Gedanken an ihn zugelassen haben, mit verzehnfachter Energie, mit rasender Leidenschaft, mit hundertfachem Hass in den Kampf für die Wiedererlangung des ihnen weggenommenen ,Paradieses´, für ihre Familien, die ein so schönes Leben geführt haben und die jetzt von dem ,gemeinen Pack´ zu Ruin und Elend (oder zu ,einfacher´ Arbeit…) verurteilt werden. Und hinter den kapitalistischen Ausbeutern trottet die breite Masse des Kleinbürgertums einher, von dem Jahrzehnte geschichtlicher Erfahrungen in allen Ländern bezeugen, dass es schwankt und wankt, dass es heute dem Proletariat folgt, morgen vor den Schwierigkeiten der Umwälzung zurückschreckt, bei der ersten Niederlage oder halben Niederlage der Arbeiter in Panik gerät, die Nerven verliert, sich hin und her wirft, flennt, aus einem Lager in das andere überläuft“ (siehe 4. Ausgabe, Bd. 28, S. 233 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. II, S. 434/435]).

Die Bourgeoisie hat ihre Gründe, Restaurationsversuche zu unternehmen, denn sie bleibt nach ihrem Sturz noch lange Zeit stärker als das Proletariat, von dem sie gestürzt wurde.

„Wenn die Ausbeuter nur in einem Lande geschlagen sind“, sagt Lenin, „- und das ist natürlich der typische Fall, denn eine gleichzeitige Revolution in einer Reihe von Ländern ist eine seltene Ausnahme -, so bleiben sie doch stärker als die Ausgebeuteten“ (ebenda, S.232, russ. [S.434, deutsch]).

Worin besteht die Stärke der gestürzten Bourgeoisie?

Erstens „in der Stärke des internationalen Kapitals, in der Stärke und Festigkeit der internationalen Verbindungen der Bourgeoisie“ (siehe 4. Ausgabe, Bd.31, S.7 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. II, S.672]).

Zweitens darin, dass „die Ausbeuter noch lange Zeit nach dem Umsturz unvermeidlich eine Reihe gewaltiger tatsächlicher Vorteile behalten: Es bleibt ihnen das Geld (die sofortige Abschaffung des Geldes ist unmöglich), es bleiben ihnen gewisse, oft bedeutende Mobilien, die Beziehungen, die Routine der Organisation und Verwaltung, die Kenntnis aller ,Geheimnisse´ (Gebräuche, Methoden, Mittel, Möglichkeiten) der Verwaltung, es bleibt ihnen die höhere Bildung, die nahe Fühlung mit dem (bürgerlich lebenden und denkenden) höheren technischen Personal, es bleibt ihnen die unvergleichlich größere Routine im Militärwesen (das ist sehr wichtig) und so weiter, und so weiter.“ (Siehe 4. Ausgabe, Bd. 28, S. 232 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. II, S.433/434].)

Drittens „in der Macht der Gewohnheit, in der Stärke der Kleinproduktion. Denn Kleinproduktion gibt es auf der Welt leider noch sehr, sehr viel; die Kleinproduktion aber erzeugt Kapitalismus und Bourgeoisie unausgesetzt, täglich, stündlich, elementar und im Massenumfang“…, denn „die Klassen aufheben heißt nicht nur die Gutsbesitzer und Kapitalisten vertreiben – das haben wir verhältnismäßig leicht getan -, das heißt auch die kleinen Warenproduzenten beseitigen, diese aber kann man nicht vertreiben, man kann sie nicht unterdrücken, mit ihnen muss man zurechtkommen, sie kann (und muss) man nur durch eine sehr langwierige, langsame, vorsichtige organisatorische Arbeit ummodeln und umerziehen.“ (Siehe 4. Ausgabe, Bd. 31, S. 718 und 26127 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. II, S. 672 und 691].)

Deshalb sagt Lenin:

„Die Diktatur des Proletariats ist der aufopferungsvollste und schonungsloseste Krieg der neuen Klasse gegen den mächtigeren Feind, gegen die Bourgeoisie, deren Widerstand sich durch ihren Sturz verzehnfacht.“

„Die Diktatur des Proletariats ist ein zäher Kampf, ein blutiger und unblutiger, gewaltsamer und friedlicher, militärischer und wirtschaftlicher, pädagogischer und administrativer Kampf gegen die Mächte und Traditionen der alten Gesellschaft.“

(Ebenda, S. 7 und 27, russ. [S. 672 und 691, deutsch].)

Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, dass die Erfüllung dieser Aufgaben in kurzer Zeit, die Durchführung alles dessen in ein paar Jahren ein Ding der Unmöglichkeit ist. Deshalb darf man die Diktatur des Proletariats, den Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus nicht als eine schnell vorübergehende Periode mit einer Reihe von „hochrevolutionären“ Akten und Dekreten betrachten, sondern man muss sie als eine ganze historische Epoche betrachten, die ausgefüllt ist mit Bürgerkriegen und äußeren Zusammenstößen, hartnäckiger organisatorischer Arbeit und wirtschaftlichem Aufbau, Angriffen und Rückzügen, Siegen und Niederlagen. Diese historische Epoche ist notwendig, nicht nur um die wirtschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen für den vollständigen Sieg des Sozialismus zu schaffen, sondern auch, um dem Proletariat die Möglichkeit zu geben, erstens sich selbst zu erziehen und zu stählen als diejenige Kraft, die fähig ist, das Land zu verwalten, und zweitens, die kleinbürgerlichen Schichten umzuerziehen und umzumodeln in einer Richtung, die die Organisierung der sozialistischen Produktion sicherstellt.

„Ihr habt“, sagte Marx den Arbeitern, „15, 20, 50 Jahre Bürgerkriege und Völkerkämpfe durchzumachen, nicht nur um die Verhältnisse zu ändern, sondern um euch selbst zu ändern und zur politischen Herrschaft zu befähigen“ (siehe Bd. VIII der „Werke“ von K. :Marx und T. Engels, S. 506 [deutsch in Karl Marx, Enthüllungen über den Kommunistenprozess zu Köln, Moskau 1940, S. 32133]).

Den Gedanken von Marx fortsetzend und weiterentwickelnd, schreibt Lenin:

„Unter der Diktatur des Proletariats wird man Millionen Bauern und Kleinproduzenten, Hunderttausende Angestellte, Beamte, bürgerliche Intellektuelle umerziehen und sie alle dem proletarischen Staat und der proletarischen Führung unterstellen, in ihnen die bürgerlichen Gewohnheiten und Traditionen besiegen müssen“, ebenso wie es notwendig sein wird, „in langwierigen Kämpfen, auf dem Boden der Diktatur des Proletariats, auch die Proletarier selbst umzuerziehen, die sich von ihren eigenen kleinbürgerlichen Vorurteilen nicht auf einmal, nicht durch ein Wunder, nicht auf Geheiß der Mutter Gottes, nicht auf Geheiß einer Losung, einer Resolution, eines Dekrets befreien, sondern nur in langwierigen und schweren Massenkämpfen gegen den Masseneinfluss des Kleinbürgertums.“

(siehe 4. Ausgabe, Bd. 31, S. 95/96 und 94 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. II, S. 756 und 755])

2. Die Diktatur des Proletariats als Herrschaft des Proletariats über die Bourgeoisie. Bereits aus dem Gesagten ist ersichtlich, dass die Diktatur des Proletariats nicht ein einfacher Personenwechsel in der Regierung, nicht ein Wechsel des „Kabinetts“ usw. ist, bei dem die alten ökonomischen und politischen Zustände unangetastet bleiben. Für die Menschewiki und Opportunisten aller Länder, die die Diktatur wie das Feuer fürchten und vor Schreck den Begriff Diktatur mit dem Begriff „Machteroberung“ vertauschen, besteht die „Machteroberung“ gewöhnlich in einem Wechsel des „Kabinetts“, darin, dass eine neue Regierung aus Leuten vom Schlage Scheidemanns und Noskes, MacDonalds und Hendersons zur Macht gelangt. Es braucht wohl kaum erklärt zu werden, dass solche und ähnliche Kabinettswechsel mit der Diktatur des Proletariats, mit der Eroberung der wirklichen Macht durch das wirkliche Proletariat nichts gemein haben. Wo die MacDonalds und Scheidemänner an der Macht stehen, die alten bürgerlichen Zustände bestehen bleiben, da können ihre, mit Verlaub zu sagen, Regierungen nichts anderes sein als ein Hilfsapparat in den Händen der Bourgeoisie, als eine Hülle für die Eiterbeulen des Imperialismus, als ein Werkzeug in den Händen der Bourgeoisie gegen die revolutionäre Bewegung der unterdrückten und ausgebeuteten Massen. Das Kapital braucht sie, diese Regierungen, als Kulisse, wenn es ihm unbequem und unvorteilhaft ist, wenn es ihm schwer fällt, die Massen ohne Kulisse zu unterdrücken und auszubeuten. Freilich ist das Aufkommen solcher Regierungen ein Anzeichen dafür, dass es „dort, bei ihnen“ (das heißt bei den Kapitalisten), „am Schipkapass“ (Am Schipkapass alles ruhig“ – russische Redensart, die aus dem Russisch-Türkischen Krieg 1877/78 stammt. In den Kämpfen am Schipkapass erlitten die russischen Truppen große Verluste, doch meldete der russische Generalstab in seinen Heeresberichten: „Am Schipkapass alles ruhig.“ Der Übers.) nicht ruhig ist, aber trotzdem bleiben Regierungen solcher Art unvermeidlich übertünchte Regierungen des Kapitals. Zwischen einer Regierung MacDonalds oder Scheidemanns und der Machteroberung durch das Proletariat besteht ein himmelweiter Unterschied. Die Diktatur des Proletariats ist kein Regierungswechsel, sondern ein neuer Staat, mit neuen Machtorganen in der Hauptstadt und im Lande, ein Staat des Proletariats, der auf den Trümmern des alten Staates, des Staates der Bourgeoisie, entstanden ist.

Die Diktatur des Proletariats entsteht nicht auf der Grundlage der bürgerlichen Zustände, sondern im Verlauf ihrer Zertrümmerung, nach dem Sturz der Bourgeoisie, im Verlauf der Expropriierung der Gutsbesitzer und Kapitalisten, im Verlauf der Sozialisierung der wichtigsten Produktionsinstrumente und -mittel, im Verlauf der gewaltsamen Revolution des Proletariats. Die Diktatur des Proletariats ist eine revolutionäre Macht, die sich auf die Gewaltanwendung gegen die Bourgeoisie stützt.

Der Staat ist eine Maschine in den Händen der herrschenden Klasse zur Unterdrückung des Widerstands ihrer Klassengegner. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Diktatur des Proletariats im Grunde genommen durch nichts von der Diktatur jeder anderen Klasse, denn der proletarische Staat ist eine Maschine zur Niederhaltung der Bourgeoisie. Aber es gibt hier einen wesentlichen Unterschied. Er besteht darin, dass alle Klassenstaaten, die bisher existierten, eine Diktatur der ausbeutenden Minderheit über die ausgebeutete Mehrheit waren, während die Diktatur des Proletariats die Diktatur der ausgebeuteten Mehrheit über die ausbeutende Minderheit ist.

Kurzum: Die Diktatur des Proletariats ist die durch kein Gesetz beschränkte und sich auf Gewalt stützende Herrschaft des Proletariats über die Bourgeoisie – eine Herrschaft, die die Sympathien und die Unterstützung der werktätigen und ausgebeuteten Massen besitzt (Lenin „Staat und Revolution“).

Daraus ergeben sich zwei grundlegende Schlussfolgerungen:

Erste Schlussfolgerung. Die Diktatur des Proletariats kann keine „vollständige“ Demokratie, keine Demokratie für alle, sowohl für die Reichen als auch für die Armen, sein – die Diktatur des Proletariats „muss ein Staat sein, auf neue Art demokratisch (fürs die Proletarier und überhaupt für die Besitzlosen) und auf neue Art diktatorisch (gegen die Bourgeoisie)“ (siehe 4. Ausgabe, Bd. 25, S. 384 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. II, 5.183]). Das Gerede der Kautsky und Konsorten über allgemeine Gleichheit, über „reine“ Demokratie, über „vollkommene“ Demokratie usw. ist eine bürgerliche Verschleierung der unzweifelhaften Tatsache, dass eine Gleichheit zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern unmöglich ist. Die Theorie der „reinen“ Demokratie ist die Theorie der Oberschicht der Arbeiterklasse, die von den imperialistischen Räubern gezähmt wurde und gefüttert wird. Sie wurde geschaffen, um die Eiterbeulen des Kapitalismus zu verdecken, den Imperialismus zu übertünchen und ihm moralische Kraft im Kampf gegen die ausgebeuteten Massen zu verleihen. Unter dem Kapitalismus gibt es und kann es keine wirklichen „Freiheiten“ für die Ausgebeuteten geben, schon aus dem Grunde, weil die Räumlichkeiten, Druckereien, Papierlager usw., die notwendig sind, um von den „Freiheiten“ Gebrauch machen zu können, ein Privileg der Ausbeuter bilden. Unter dem Kapitalismus gibt es und kann es keine wirkliche Beteiligung der ausgebeuteten Massen an der Verwaltung des Landes geben, schon aus dem Grunde, weil selbst bei demokratischsten Zuständen unter den Verhältnissen des Kapitalismus die Regierungen nicht vom Volk, sondern von den Rothschild und Stinnes, den Rockefeller und Morgan eingesetzt werden. Die Demokratie unter dem Kapitalismus ist eine kapitalistische Demokratie, eine Demokratie der ausbeutenden Minderheit, die auf Beschränkung der Rechte der ausgebeuteten Mehrheit beruht und gegen diese Mehrheit gerichtet ist. Nur unter der proletarischen Diktatur sind wirkliche Freiheiten für die Ausgebeuteten und eine wirkliche Beteiligung der Proletarier und der Bauern an der Verwaltung des Landes möglich. Die Demokratie unter der Diktatur des Proletariats ist eine proletarische Demokratie, eine Demokratie der ausgebeuteten Mehrheit, die auf Beschränkung der Rechte der ausbeutenden Minderheit beruht und gegen diese Minderheit gerichtet ist.

Zweite Schlussfolgerung. Die Diktatur des Proletariats kann nicht entstehen als Resultat der friedlichen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und der bürgerlichen Demokratie, sie kann nur entstehen im Gefolge der Zertrümmerung der bürgerlichen Staatsmaschine, der bürgerlichen Armee, des bürgerlichen Beamtenapparats, der bürgerlichen Polizei.

„Die Arbeiterklasse kann nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen“, sagen Marx und Engels im Vorwort zum „Kommunistischen Manifest“. Die Aufgabe der proletarischen Revolution ist es, „…nicht mehr wie bisher die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andre zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen, und dies ist die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution auf dem Kontinent“, sagt Marx in einem Brief an Kugelmama vom Jahre 1871.12

Marx´ einschränkende Worte vom Kontinent gaben den Opportunisten und Menschewiki aller Länder Anlass, mit Geschrei zu behaupten, Marx habe also die Möglichkeit einer friedlichen Entwicklung der bürgerlichen Demokratie zur proletarischen Demokratie eingeräumt, zum mindesten für einige Länder, die nicht zum europäischen Kontinent gehören (England, Amerika). Marx hatte wirklich eine solche Möglichkeit eingeräumt, und er hatte Grund dazu, dies für das England und Amerika der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zu tun, als es noch keinen Monopolkapitalismus, keinen Imperialismus gab und in diesen Ländern infolge ihrer besonderen Entwicklungsbedingungen noch kein entwickelter Militarismus und Bürokratismus bestand. So war die Lage vor dem Aufkommen des entwickelten Imperialismus. Später aber, nach 30 bis 40 Jahren, als sich die Lage der Dinge in diesen Ländern von Grund aus geändert, als der Imperialismus sich entwickelt und alle kapitalistischen Länder ohne Ausnahme erfasst hatte, als der Militarismus und Bürokratismus auch in England und Amerika aufgekommen, als die besonderen Bedingungen einer friedlichen Entwicklung Englands und Amerikas verschwunden waren – da musste die Einschränkung für diese Länder von selbst fortfallen.

„Jetzt“, sagt Lenin, „im Jahre 1917, in der Epoche des ersten großen imperialistischen Krieges, fällt diese Einschränkung von Marx fort. Sowohl England als auch Amerika, die größten und letzten Vertreter angelsächsischer ,Freiheit´ in der Welt, im Sinne des Fehlens von Militarismus und Bürokratismus, sind vollständig in den allgemeinen europäischen, schmutzigen, blutigen Sumpf der bürokratisch-militärischen Institutionen hinab gesunken, die sich alles unterordnen, die alles erdrücken. Jetzt bildet sowohl für England als auch für Amerika die Zerbrechung, die Zerstörung der ´fertigen Staatsmaschine´ (die dort in den Jahren 1914 bis 1917 die ´europäische´ allgemein-imperialistische Vollkommenheit erreicht hat) die ´Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution´.“ (Siehe 4. Ausgabe, Bd. 25, S. 387 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. II, S.1861.)

Mit anderen Worten, das Gesetz von der gewaltsamen Revolution des Proletariats, das Gesetz von der Zertrümmerung der bürgerlichen Staatsmaschine als Vorbedingung dieser Revolution ist ein unumgängliches Gesetz der revolutionären Bewegung der imperialistischen Länder der Welt.

In ferner Zukunft, wenn das Proletariat in den wichtigsten kapitalistischen Ländern gesiegt und die gegenwärtige kapitalistische Umwelt einer sozialistischen Umwelt Platz gemacht haben wird, ist natürlich ein „friedlicher“ Entwicklungsweg für manche kapitalistischen Länder durchaus möglich, deren Kapitalisten infolge der „ungünstigen“ internationalen Lage es für zweckmäßig halten werden, „freiwillig“ dem Proletariat ernsthafte Zugeständnisse zu machen. Aber diese Annahme betrifft nur eine ferne und mögliche Zukunft. Für die nächste Zukunft gibt es für diese Annahme keinen, rein gar keinen Grund.

Deshalb hat Lenin Recht, wenn er sagt:

„Die proletarische Revolution ist unmöglich ohne gewaltsame Zerstörung der bürgerlichen Staatsmaschinerie und ohne ihre Ersetzung durch eine neue.“

(siehe 4. Ausgabe, Bd. 28, S. 217 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. II, S.419])

3. Die Sowjetmacht als Staatsform der Diktatur des Proletariats. Der Sieg der Diktatur des Proletariats bedeutet die Unterdrückung der Bourgeoisie, die Zertrümmerung der bürgerlichen Staatsmaschine, die Ersetzung der bürgerlichen Demokratie durch die proletarische Demokratie. Das ist klar. Aber welcher Art sind die Organisationen, mit deren Hilfe diese kolossale Arbeit geleistet werden kann? dass die alten Formen der Organisation des Proletariats, die auf dem Boden des bürgerlichen Parlamentarismus entstanden sind, für diese Arbeit unzureichend sind, unterliegt wohl keinem Zweifel. Welcher Art sind aber die neuen Formen der Organisation des Proletariats, die imstande sind, die Rolle des Totengräbers der bürgerlichen Staatsmaschine zu spielen, die imstande sind, nicht nur diese Maschine zu zerbrechen und nicht nur die bürgerliche Demokratie durch die proletarische Demokratie zu ersetzen, sondern auch zur Grundlage der proletarischen Staatsmacht zu werden?

Diese neue Form der Organisation des Proletariats sind die Sowjets. Worin besteht die Stärke der Sowjets im Vergleich mit den alten Organisationsformen?

Darin, dass die Sowjets die umfassendsten, die alles umfassenden Massenorganisationen des Proletariats sind, denn sie und nur sie allein erfassen alle Arbeiter ohne Ausnahme.

Darin, dass die Sowjets die einzigen Massenorganisationen sind, die alle Unterdrückten und Ausgebeuteten, Arbeiter und Bauern, Soldaten und Matrosen, zusammenschließen und wo infolgedessen die politische Führung des Kampfes der Massen durch die Avantgarde der Massen, durch das Proletariat, am leichtesten und am vollständigsten verwirklicht werden kann.

Darin, dass die Sowjets die mächtigsten Organe des revolutionären Kampfes der Massen, der politischen Aktionen der Massen, des Aufstands der Massen sind, Organe, die fähig sind, die Allmacht des Finanzkapitals und seiner politischen Anhängsel zu brechen.

Darin, dass die Sowjets die unmittelbaren Organisationen der Massen selbst sind, das heißt die demokratischsten und deshalb auch autoritativsten Organisationen der Massen, die ihnen die Beteiligung an der Einrichtung des neuen Staates und an seiner Verwaltung maximal erleichtern und die revolutionäre Energie, die Initiative, die schöpferischen Fähigkeiten der Massen im Kampf für die Zerstörung der alten Ordnung, im Kampf für die neue, proletarische Ordnung maximal zur Entfaltung bringen.

Die Sowjetmacht ist die Vereinigung und Konstituierung der örtlichen Sowjets zu einer gesamtstaatlichen Organisation, zur Staatsorganisation des Proletariats als der Avantgarde der unterdrückten und ausgebeuteten Massen und als der herrschenden Klasse – die Vereinigung zur Republik der Sowjets.

Das Wesen der Sowjetmacht besteht darin, dass die die breitesten Massen erfassenden und revolutionärsten Organisationen gerade derjenigen Klassen, die von den Kapitalisten und Gutsbesitzern unterdrückt wurden, jetzt „die ständige und einzige Grundlage der gesamten Staatsmacht, des gesamten Staatsapparats“ sind, dass „gerade diejenigen Massen, die selbst in den demokratischsten bürgerlichen Republiken“ dem Gesetz nach zwar gleichberechtigt, aber „in der Tat durch tausenderlei Mittel und Kniffe von der Beteiligung am politischen Leben und vom Gebrauch der demokratischen Rechte und Freiheiten ferngehalten wurden, jetzt zur ständigen, unbedingten und dabei entscheidenden Beteiligung an der demokratischen Verwaltung des Staates herangezogen werden“ (siehe Lenin, 4. Ausgabe, Bd. 28, S. 443, russ.).

Deshalb ist die Sowjetmacht eine neue Form der Staatsorganisation, die sich von der alten, bürgerlich-demokratischen und parlamentarischen Form grundsätzlich unterscheidet, ein neuer Typus des Staates, der nicht den Aufgaben der Ausbeutung und Unterdrückung der werktätigen Massen angepasst ist, sondern den Aufgaben ihrer völligen Befreiung von jeder Unterdrückung und Ausbeutung, den Aufgaben der Diktatur des Proletariats.

Lenin hat recht, wenn er sagt, dass mit dem Aufkommen der Sowjetmacht „die Epoche des bürgerlich-demokratischen Parlamentarismus beendet ist und ein neues Kapitel der Weltgeschichte begonnen hat: die Epoche der proletarischen Diktatur“.

Worin bestehen die charakteristischen Züge der Sowjetmacht?

Darin, dass die Sowjetmacht, solange es Klassen gibt, den ausgeprägtesten Massencharakter trägt und die demokratischste Staatsorganisation von allen erdenklichen Staatsorganisationen darstellt, denn dadurch, dass sie die Arena für den Zusammenschluss und die Zusammenarbeit der Arbeiter mit den ausgebeuteten Bauern im Kampf gegen die Ausbeuter abgibt und dass sie sich in ihrem Wirken auf diesen Zusammenschluss und diese Zusammenarbeit stützt, ist sie die Macht der Mehrheit der Bevölkerung über die Minderheit, der Staat dieser Mehrheit, der Ausdruck ihrer Diktatur.

Darin, dass die Sowjetmacht die internationalistischste aller Staatsorganisationen der Klassengesellschaft ist, denn dadurch, dass sie jede nationale Unterdrückung beseitigt und dass sie sich auf die Zusammenarbeit der werktätigen Massen der verschiedenen Nationalitäten stützt, erleichtert sie die Vereinigung dieser Massen in einem einheitlichen Staatsverband.

Darin, dass die Sowjetmacht infolge ihrer ganzen Struktur es der Avantgarde dieser Massen, dem Proletariat, als dem geschlossensten und klassenbewusstesten Kern der Sowjets, erleichtert, die unterdrückten und ausgebeuteten Massen zu führen.

„Die Erfahrungen aller Revolutionen und aller Bewegungen der unterdrückten Klassen, die Erfahrungen der sozialistischen Bewegung in der ganzen Welt lehren uns“, sagt Lenin, „dass nur das Proletariat imstande ist, die zersplitterten und rückständigen Schichten der werktätigen und ausgebeuteten Bevölkerung zu vereinigen und zu führen.“ (Siehe 4. Ausgabe, Bd.28, S.444, russ.) Es handelt sich darum, dass die Struktur der Sowjetmacht es erleichtert, die aus diesen Erfahrungen hervorgehenden Lehren zu verwirklichen.

Darin, dass die Sowjetmacht, indem sie die gesetzgebende und vollziehende Gewalt in einer einheitlichen Staatsorganisation vereinigt und die territorialen Wahlkreise durch Produktionseinheiten, durch Werke und Fabriken, ersetzt, die Arbeiter und die werktätigen Massen überhaupt unmittelbar mit dem staatlichen Verwaltungsapparat verknüpft und sie das Land verwalten lehrt.

Darin, dass nur die Sowjetmacht imstande ist, die Armee von der Unterordnung unter die bürgerliche Kommandogewalt zu befreien und sie aus einem Werkzeug der Unterdrückung des Volkes, das sie in der bürgerlichen Ordnung ist, in ein Werkzeug der Befreiung des Volkes vom Joch der Bourgeoisie, der eigenen und der fremden, zu verwandeln.

Darin, dass „nur die Sowjetorganisation des Staates imstande ist, den alten, das heißt den bürgerlichen, Beamten- und Justizapparat wirklich mit einem Schlag zu zerbrechen und endgültig zu zerstören“ (ebenda).

Darin, dass nur die Sowjetform des Staates, die die Massenorganisationen der Werktätigen und Ausgebeuteten zur ständigen und unbedingten Teilnahme an der Verwaltung des Staates heranzieht, imstande ist, das Absterben des Staates vorzubereiten, das eins der grundlegenden Elemente der zukünftigen staatslosen, kommunistischen Gesellschaft ist.

Die Republik der Sowjets ist also jene gesuchte und endlich gefundene politische Form, in deren Rahmen die ökonomische Befreiung des Proletariats, der vollständige Sieg des Sozialismus erreicht werden muss.

Die Pariser Kommune war die Keimzelle dieser Form. Die Sowjetmacht ist ihre Entwicklung und Vollendung.

Deshalb sagt Lenin:

„Die Republik der Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten ist nicht nur eine Form demokratischer Einrichtungen von höherem Typus …, sondern sie ist auch die einzige´ Form, die imstande ist, den schmerzlosesten Übergang zum Sozialismus zu sichern.“

(Siehe 4. Ausgabe, Bd. 26, S. 340 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. II, S. 279].)

V. Die Bauernfrage

Aus diesem Thema greife ich vier Fragen heraus:
a) die Fragestellung;
b) die Bauernschaft während der bürgerlich-demokratischen Revolution,
c) die Bauernschaft während der proletarischen Revolution;
d) die Bauernschaft nach der Festigung der Sowjetmacht.

1. Die Fragestellung. Manche glauben, dass das Grundlegende im Leninismus die Bauernfrage sei, dass die Frage der Bauernschaft, ihrer Rolle, ihrer Bedeutung den Ausgangspunkt des Leninismus bilde. Das ist völlig falsch. Die Hauptfrage im Leninismus, sein Ausgangspunkt ist nicht die Bauernfrage, sondern die Frage der Diktatur des Proletariats, der Bedingungen ihrer Eroberung, der Bedingungen ihrer Festigung. Die Bauernfrage als die Frage nach dem Verbündeten des Proletariats in seinem Kampf um die Macht ist eine abgeleitete Frage.

Dieser Umstand nimmt ihr jedoch nicht im Geringsten die ernste, lebenswichtige Bedeutung, die ihr für die proletarische Revolution zweifellos zukommt. Es ist bekannt, dass eine ernste Bearbeitung der Bauernfrage in den Reihen der russischen Marxisten gerade am Vorabend der ersten Revolution (1905) begann, als die Frage des Sturzes des Zarismus und der Verwirklichung der Hegemonie des Proletariats sich in ihrer ganzen Größe vor der Partei erhob und die Frage nach dem Verbündeten des Proletariats in der bevorstehenden bürgerlichen Revolution zu einer lebenswichtigen Frage wurde. Bekannt ist auch, dass die Bauernfrage in Rußland noch aktueller wurde zur Zeit der proletarischen Revolution, als die Frage der Diktatur des Proletariats, ihrer Eroberung und Behauptung zur Frage nach den Verbündeten des Proletariats in der bevorstehenden proletarischen Revolution geführt hatte. Das ist auch verständlich: Wer zur Machtergreifung schreitet und sich auf sie vorbereitet, der muss sich für die Frage interessieren, wer seine wirklichen Verbündeten sind.

In diesem Sinne ist die Bauernfrage ein Teil der allgemeinen Frage der Diktatur des Proletariats und als solche eine der lebenswichtigsten Fragen des Leninismus.

Das gleichgültige, zuweilen geradezu ablehnende Verhalten der Parteien der II. Internationale gegenüber der Bauernfrage erklärt sich nicht nur aus den besonderen Entwicklungsbedingungen im Westen. Es erklärt sich vor allem daraus, dass diese Parteien nicht an die proletarische Diktatur glauben, die Revolution fürchten und nicht daran denken, das Proletariat zur Macht zu führen. Wer aber die Revolution fürchtet, wer nicht daran denkt, die Proletarier zur Macht zu führen, der kann sich auch nicht für die Frage nach den Verbündeten des Proletariats in der Revolution interessieren – für ihn ist die Frage nach den Verbündeten eine gleichgültige, nicht aktuelle Frage. Die Ironie, mit der sich die Helden der II. Internationale zur Bauernfrage verhalten, gehört bei ihnen zum guten Ton, gilt als Zeichen des „echten“ Marxismus. In Wirklichkeit gibt es hier auch nicht ein Gran Marxismus, denn die Gleichgültigkeit gegenüber einer so wichtigen Frage wie der Bauernfrage am Vorabend der proletarischen Revolution ist die Kehrseite der Ablehnung der Diktatur des Proletariats, ist ein unzweifelhaftes Merkmal des direkten Verrats am Marxismus.

Die Frage ist die: Sind die revolutionären Möglichkeiten, die in der Bauernschaft infolge bestimmter Bedingungen ihrer Existenz schlummern, bereits erschöpft oder nicht, und falls sie nicht erschöpft sind, besteht begründete Hoffnung darauf, diese Möglichkeiten für die proletarische Revolution nutzbar machen, die Bauernschaft, ihre ausgebeutete Mehrheit, aus einer Reserve der Bourgeoisie, die sie in den bürgerlichen Revolutionen des Westens war und heute noch ist, zu einer Reserve des Proletariats, zu seinem Bundesgenossen machen zu können?

Der Leninismus bejaht diese Frage, das heißt, er vertritt die Ansicht, dass in den Reihen der Mehrheit der Bauernschaft revolutionäre Potenzen vorhanden sind, und hält es für möglich, diese im Interesse der proletarischen Diktatur nutzbar zu machen.

Die Geschichte der drei Revolutionen in Rußland bestätigt die diesbezüglichen Schlussfolgerungen des Leninismus in vollem Umfang.

Daraus ergibt sich die praktische Folgerung, dass die werktätigen Massen der Bauernschaft in ihrem Kampf gegen Knechtung und Ausbeutung, in ihrem Kampf für die Befreiung von Unterdrückung und Elend unterstützt werden müssen. Das bedeutet natürlich nicht, dass das Proletariat jede Bauernbewegung unterstützen muss. Es handelt sich hier um die Unterstützung solcher Bewegungen und Kämpfe der Bauernschaft, die direkt oder indirekt die Befreiungsbewegung des Proletariats fördern, die so oder so Wasser auf die Mühle der proletarischen Revolution leiten und dazu beitragen, die Bauernschaft in eine Reserve und einen Verbündeten der Arbeiterklasse zu verwandeln.

2. Die Bauernschaft während der bürgerlich-demokratischen Revolution. Diese Periode umfasst den Zeitraum von der ersten russischen Revolution (1905) bis zur zweiten (Februar 1917) einschließlich. Das charakteristische Merkmal dieser Periode ist die Loslösung der Bauernschaft vom Einfluss der liberalen Bourgeoisie, die Abkehr der Bauernschaft von den Kadetten, die Hinwendung der Bauernschaft zum Proletariat, zur Partei der Bolschewiki. Die Geschichte dieser Periode ist die Geschichte des Kampfes zwischen den Kadetten (liberale Bourgeoisie) und den Bolschewiki (Proletariat) um die Bauernschaft. Der Ausgang dieses Kampfes wurde durch die Dumaperiode entschieden, denn die Periode der vier Dumas war für die Bauernschaft ein Anschauungsunterricht, der den Bauern augenfällig zeigte, dass sie aus den Händen der Kadetten weder Land noch Freiheit erhalten würden, dass der Zar ganz und gar für die Gutsbesitzer ist, die Kadetten aber den Zaren unterstützen, dass die einzige Kraft, auf deren Hilfe man rechnen kann, die städtische Arbeiterschaft, das Proletariat ist. Der imperialistische Krieg hat die Lehre der Dumaperiode nur bestätigt, indem er die Abkehr der Bauernschaft von der Bourgeoisie, die Isolierung der liberalen Bourgeoisie vollendete, denn die Jahre des Krieges hatten gezeigt, wie vergeblich, wie trügerisch die Hoffnungen waren, vom Zaren und seinen bürgerlichen Bundesgenossen den Frieden zu erlangen. Ohne die anschaulichen Lehren der Dumaperiode wäre die Hegemonie des Proletariats unmöglich gewesen.

So bildete sich das Bündnis der Arbeiter und Bauern in der bürgerlich-demokratischen Revolution. So bildete sich die Hegemonie (Führerrolle) des Proletariats in dem gemeinsamen Kampf für den Sturz des Zarismus, die Hegemonie, die zur Februarrevolution des Jahres 1917 führte.

Die bürgerlichen Revolutionen des Westens (England, Frankreich, Deutschland, Österreich) gingen, wie bekannt, einen anderen Weg. Dort hatte die Hegemonie in der Revolution nicht das Proletariat inne, das wegen seiner Schwäche keine selbständige politische Kraft darstellte und auch nicht darstellen konnte, sondern die liberale Bourgeoisie. Dort erhielt die Bauernschaft die Befreiung von den feudalen Zuständen nicht aus den Händen des Proletariats, das zahlenmäßig schwach und unorganisiert war, sondern aus den Händen der Bourgeoisie. Dort marschierte die Bauernschaft gemeinsam mit der liberalen Bourgeoisie gegen die alte Ordnung. Dort bildete die Bauernschaft eine Reserve der Bourgeoisie. Dort führte infolgedessen die Revolution zu einer gewaltigen Verstärkung des politischen Gewichts der Bourgeoisie.

In Rußland dagegen zeitigte die bürgerliche Revolution ganz entgegengesetzte Resultate. Die Revolution in Rußland führte nicht zur Stärkung, sondern zur Schwächung der Bourgeoisie als einer politischen Kraft, nicht zur Vermehrung ihrer politischen Reserven, sondern zum Verlust ihrer grundlegenden Reserve, zum Verlust der Bauernschaft. Die bürgerliche Revolution in Rußland rückte nicht die liberale Bourgeoisie in den Vordergrund, sondern das revolutionäre Proletariat, um das sie die Millionenmassen der Bauernschaft zusammenschloss.

Daraus erklärt sich unter anderem auch die Tatsache, dass die bürgerliche Revolution in Rußland in verhältnismäßig kurzer Zeit in die proletarische Revolution hinüberwuchs. Die Hegemonie des Proletariats war der Keim der Diktatur des Proletariats und die Übergangsstufe zu ihr.

Wie erklärt sich diese eigenartige Erscheinung in der russischen Revolution, die ohne Präzedenzfälle in der Geschichte der bürgerlichen Revolutionen im Westen ist? Woher kam diese Eigenart?

Sie erklärt sich daraus, dass sich die bürgerliche Revolution in Rußland unter entwickelteren Bedingungen des Klassenkampfs entfaltete als im Westen, dass sich das russische Proletariat zu dieser Zeit bereits in eine selbständige politische Kraft verwandelt hatte, während die liberale Bourgeoisie, durch den revolutionären Geist des Proletariats erschreckt, jeden Schimmer revolutionären Geistes verloren hatte (besonders nach den Lehren des Jahres 1905) und nun Kurs nahm auf ein Bündnis mit dem Zaren und den Gutsbesitzern gegen die Revolution, gegen die Arbeiter und Bauern.

Es sind folgende Umstände zu berücksichtigen, die die Eigenart der russischen bürgerlichen Revolution bestimmten:

a) Die beispiellose Konzentration der russischen Industrie am Vorabend der Revolution. Es ist zum Beispiel bekannt, dass in Rußland 54 Prozent aller Arbeiter in Betrieben mit mehr als 500 Arbeitern beschäftigt waren, während in einem so entwickelten Land wie Nordamerika in gleichartigen Betrieben nur 33 Prozent aller Arbeiter beschäftigt waren. Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, dass schon dieser Umstand allein beim Bestehen einer so revolutionären Partei wie der Partei der Bolschewiki die Arbeiterklasse Rußlands zu einer gewaltigen Kraft des politischen Lebens des Landes werden ließ.

b) Die ungeheuerlichen Formen der Ausbeutung in den Betrieben, verbunden mit dem unerträglichen Polizeiregime der Zarenschergen, ein Umstand, der jeden ernsthaften Streik der Arbeiter in einen überaus bedeutsamen politischen Akt verwandelte und die Arbeiterklasse stählte, bis sie eine bis zum letzten revolutionäre Kraft wurde.

c) Die politische Schlappheit der russischen Bourgeoisie, die sich nach der Revolution von 1905 in Liebedienerei vor dem Zarismus und in direkte Konterrevolution verwandelte, was sich nicht nur aus dem revolutionären Geist des russischen Proletariats erklärt, das die russische Bourgeoisie in die Arme des Zarismus trieb, sondern auch aus der direkten Abhängigkeit dieser Bourgeoisie von Regierungsaufträgen.

d) Das Vorhandensein ungeheuerlichster und unerträglichster Überreste der Leibeigenschaft im Dorfe, ergänzt durch die Allgewalt des Gutsbesitzers, ein Umstand, der die Bauernschaft in die Arme der Revolution trieb.

e) Der Zarismus, der alles Lebendige drosselte und mit seiner Willkür die Unterdrückung durch den Kapitalisten und Gutsbesitzer noch schlimmer machte, ein Umstand, der den Kampf der Arbeiter und Bauern zu einem einheitlichen revolutionären Strom vereinigte.

f) Der imperialistische Krieg, der alle diese Gegensätze des politischen Lebens Rußlands zu einer tiefen revolutionären Krise zusammenfließen ließ und der Revolution ungeheure Stoßkraft verlieh.

Wo sollte die Bauernschaft unter solchen Verhältnissen hin? Bei wem sollte sie Unterstützung suchen gegen die Allgewalt des Gutsbesitzers, gegen die Willkür des Zaren, gegen den verheerenden Krieg, der ihre Wirtschaft ruinierte? Bei der liberalen Bourgeoisie? Aber sie ist ein Feind – davon zeugte die langjährige Erfahrung aller vier Dumas. Bei den Sozialrevolutionären? Die Sozialrevolutionäre sind allerdings „besser“ als die Kadetten, und ihr Programm ist „etwas Passendes“, beinahe bäuerlich; aber was können die Sozialrevolutionäre bieten, wenn sie sich auf die Bauern allein zu stützen gedenken und in der Stadt schwach sind, dem Ort, woher der Gegner seine Kräfte in erster Linie nimmt? Wo ist die neue Kraft, die vor nichts haltmachen wird, weder auf dem Lande noch in der Stadt, die kühn in den vordersten Reihen gegen den Zaren und den Gutsbesitzer kämpfen und der Bauernschaft helfen wird, sich von Unterjochung, Landnot, Unterdrückung, Krieg frei zu machen? Gab es überhaupt eine solche Kraft in Rußland? Ja, es gab sie. Das war das russische Proletariat, das bereits im Jahre 1905 seine Kraft, seine Fähigkeit, bis zum letzten zu kämpfen, seinen Mut und seinen revolutionären Geist gezeigt hatte.

Jedenfalls gab es keine andere solche Kraft, und man hätte sie nirgends finden können.

Deshalb gelangte die Bauernschaft, die sich von den Kadetten abwandte und den Sozialrevolutionären zuwandte, zugleich zur Erkenntnis der Notwendigkeit, sich der Führung eines so mutigen Führers der Revolution unterzuordnen, wie es das russische Proletariat ist.

Das sind die Umstände, die die Eigenart der russischen bürgerlichen Revolution bestimmten.

3. Die Bauernschaft während der proletarischen Revolution. Diese Periode umfasst den Zeitraum von der Februarrevolution (1917) bis zur Oktoberrevolution (1917). Es ist dies eine verhältnismäßig kurze Periode, im ganzen acht Monate – aber diese acht Monate können, vom Standpunkt der politischen Aufklärung und der revolutionären Erziehung der Massen, getrost ganzen Jahrzehnten gewöhnlicher verfassungsmäßiger Entwicklung gleichgestellt werden, denn es waren acht Monate Revolution. Der charakteristische Zug dieser Periode ist die weitere Revolutionierung der Bauernschaft, ihre Enttäuschung über die Sozialrevolutionäre, die Abkehr der Bauernschaft von den Sozialrevolutionären, eine neue Wendung der Bauernschaft zum direkten Zusammenschluss um das Proletariat als die einzige, bis zum letzten revolutionäre Kraft, die das Land zum Frieden führen konnte. Die Geschichte dieser Periode ist die Geschichte des Kampfes der Sozialrevolutionäre (der kleinbürgerlichen Demokratie) und der Bolschewiki (der proletarischen Demokratie) um die Bauernschaft, um die Gewinnung der Mehrheit der Bauernschaft. Das Schicksal dieses Kampfes wurde entschieden durch die Koalitionsperiode, durch die Kerenskiperiode, durch die Weigerung der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, das Land der Gutsbesitzer zu konfiszieren, durch den Kampf der Sozialrevolutionäre und Menschewiki für die Fortführung des Krieges, durch die Junioffensive an der Front, durch die Todesstrafe für die Soldaten, durch den Kornilowaufstand.

War früher, in der vorhergehenden Periode, der Sturz des Zaren und der gutsherrlichen Macht die Hauptfrage der Revolution, so wurde jetzt, in der Periode nach der Februarrevolution, wo es keinen Zaren mehr gab und wo der nicht enden wollende Krieg die Wirtschaft des Landes restlos zerrüttete und die Bauernschaft völlig zugrunde richtete, die Frage der Liquidierung des Krieges zur Hauptfrage der Revolution. Das Schwergewicht verschob sich offenkundig von den Fragen rein innerer Natur auf die Hauptfrage, den Krieg. „Schluss mit dem Krieg!“, „Heraus aus dem Krieg!“ – das war der allgemeine Schrei des erschöpften Landes und vor allem der Bauernschaft.

Um sich aber aus dem Kriege herauszureißen, musste man die Provisorische Regierung stürzen, musste man die Macht der Bourgeoisie stürzen, musste man die Macht der Sozialrevolutionäre und Menschewiki stürzen, denn sie, und nur sie, verschleppten den Krieg bis zum „siegreichen Ende“. Einen anderen Ausweg aus dem Kriege als den Sturz der Bourgeoisie gab es praktisch nicht.

Das war eine neue Revolution, eine proletarische Revolution, denn sie fegte die letzte, die äußerste linke Fraktion der imperialistischen Bourgeoisie, die Partei der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, von der Macht hinweg, uni eine neue, die proletarische Macht, die Macht der Sowjets, zu schaffen, um die Partei des revolutionären Proletariats, die Partei der Bolschewiki, an die Macht zu bringen, die Partei des revolutionären Kampfes gegen den imperialistischen Krieg und für einen demokratischen Frieden. Die Mehrheit der Bauernschaft unterstützte den Kampf der Arbeiter für den Frieden, für die Macht der Sowjets.

Einen anderen Ausweg gab es für die Bauernschaft nicht. Einen anderen Ausweg konnte es auch nicht geben.

Die Kerenskiperiode war somit für die werktätigen Massen der Bauernschaft eine gewaltige praktische Lehre, denn sie zeigte anschaulich, dass sich das Land unter der Herrschaft der Sozialrevolutionäre und Menschewiki nicht aus dem Kriege herausreißen wird, die Bauern weder Land noch Freiheit zu sehen bekommen werden, dass sich die Menschewiki und Sozialrevolutionäre von den Kadetten nur durch ihre süßen Reden und verlogenen Versprechungen unterscheiden, in Wirklichkeit aber dieselbe imperialistische, kadettische Politik treiben, dass die einzige Macht, die imstande ist, das Land aus der Sackgasse zu führen, nur die Macht der Sowjets sein kann. Die weitere Verschleppung des Krieges bestätigte nur die Richtigkeit dieser Lehre, trieb die Revolution voran und drängte die Millionenmassen der Bauern und Soldaten auf den Weg des direkten Zusammenschlusses um die proletarische Revolution. Die Isolierung der Sozialrevolutionäre und Menschewiki wurde zur unumstößlichen Tatsache. Ohne den Anschauungsunterricht der Koalitionsperiode wäre die Diktatur des Proletariats unmöglich gewesen.

Das sind die Umstände, die den Prozess des Hinüberwachsens der bürgerlichen Revolution in die proletarische Revolution erleichterten. So entstand die Diktatur des Proletariats in Rußland.

4. Die Bauernschaft nach der Festigung der Sowjetmacht. Handelte es sich früher, in der ersten Periode der Revolution, hauptsächlich um den Sturz des Zarismus und dann, nach der Februarrevolution, vor allem um das Ausscheiden aus dem imperialistischen Kriege durch den Sturz der Bourgeoisie, so traten jetzt, nach der Liquidierung des Bürgerkriegs und der Festigung der Sowjetmacht, die Fragen des wirtschaftlichen Aufbaus in den Vordergrund. Die nationalisierte Industrie stärken und entwickeln; zu diesem Zweck die Industrie mit der Bauernwirtschaft durch den vom Staat regulierten Handel verknüpfen; die Ablieferungspflicht durch die Naturalsteuer ersetzen, um dann durch allmähliche Herabsetzung der Naturalsteuer den Austausch von Industrieerzeugnissen gegen die Produkte der Bauernwirtschaft herbeizuführen; den Handel beleben und die Genossenschaften entwickeln, in die die Millionenmassen der Bauernschaft einbezogen werden – so umriss Lenin die nächsten Aufgaben des wirtschaftlichen Aufbaus auf dem Wege zur Errichtung des Fundaments der sozialistischen Wirtschaft.

Man sagt, diese Aufgabe könne die Kraft eines Bauernlandes wie Rußland übersteigen. Manche Skeptiker sagen sogar, dass sie einfach utopisch, unausführbar sei, denn die Bauernschaft sei eben Bauernschaft – sie bestehe aus Kleinproduzenten und könne deshalb nicht zur Organisierung des Fundaments der sozialistischen Produktion herangezogen werden.

Aber die Skeptiker irren, denn sie berücksichtigen nicht gewisse Umstände, die im gegebenen Fall von entscheidender Bedeutung sind. Untersuchen wir die wichtigsten dieser Umstände.

Erstens. Man darf die Bauernschaft der Sowjetunion nicht mit der Bauernschaft des Westens verwechseln. Eine Bauernschaft, die durch die Schule dreier Revolutionen gegangen ist, die zusammen mit dem Proletariat und mit dem Proletariat an der Spitze gegen den Zaren und die bürgerliche Macht gekämpft hat, eine Bauernschaft, die Boden und Frieden aus der Hand der proletarischen Revolution erhalten hat und infolgedessen zur Reserve des Proletariats geworden ist – eine solche Bauernschaft muss sich zwangsläufig von einer Bauernschaft unterscheiden, die während der bürgerlichen Revolution unter der Führung der liberalen Bourgeoisie gekämpft hat, die den Grund und Boden aus der Hand dieser Bourgeoisie erhalten hat und infolgedessen zur Reserve der Bourgeoisie geworden ist. Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, dass die Sowjetbauernschaft, die die politische Freundschaft und die politische Zusammenarbeit mit dem Proletariat schätzen gelernt hat und die dieser Freundschaft und dieser Zusammenarbeit ihre Freiheit verdankt, für die ökonomische Zusammenarbeit mit dem Proletariat ganz besonders geeignet sein muss.

Engels sagte: „Die Eroberung der politischen Macht durch die sozialistische Partei ist in absehbare Nähe gerückt. Um aber die politische Macht zu erobern, muss diese Partei vorher von der Stadt aufs Land gehen, muss eine Macht werden auf dem Land.“ (Siehe Engels, „Bauernfrage“, Ausgabe 192213.) Das schrieb er in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im Hinblick auf die Bauernschaft des Westens. Braucht erst noch nachgewiesen zu werden, dass es den russischen Kommunisten, die in dieser Beziehung im Verlauf dreier Revolutionen eine kolossale Arbeit geleistet haben, bereits gelungen ist, sich auf dem Lande einen Einfluss und eine Stütze zu schaffen, von denen unsere Genossen im Westen nicht einmal zu träumen wagen? Wie kann man leugnen, dass dieser Umstand es von Grund aus erleichtern muss, die ökonomische Zusammenarbeit zwischen der Arbeiterklasse und der Bauernschaft Rußlands in die Wege zu leiten?

Die Skeptiker reden immer wieder von den Kleinbauern als einem Faktor, der mit dem sozialistischen Aufbau unvereinbar sei. Hören wir jedoch, was Engels über die Kleinbauern des Westens sagt:

„Und wir stehe ja entschieden auf Seite des Kleinbauern; wir werden alles nur irgend Zulässige tun, um sein Los erträglicher zu machen, um ihm den Übergang zur Genossenschaft zu erleichtern, falls er sich dazu entschließt, ja sogar um ihm, falls er diesen Entschluss noch nicht fassen kann, eine verlängerte Bedenkzeit auf seiner Parzelle zu ermöglichen. Wir tun dies nicht nur, weil wir den selbst arbeitenden Kleinbauern als virtuell zu uns gehörend betrachten, sondern auch aus direktem Parteiinteresse. Je größer die Anzahl der Bauern ist, denen wir den wirklichen Absturz ins Proletariat ersparen, die wir schon als Bauern für uns gewinnen können, desto rascher und leichter vollzieht sich die gesellschaftliche Umgestaltung. Es kann uns nicht dienen, wenn wir mit dieser Umgestaltung warten müssten, bis die kapitalistische Produktion sich überall bis auf ihre letzten Konsequenzen entwickelt hat, bis auch der letzte Kleinhandwerker und der letzte Kleinbauer dem kapitalistischen Großbetrieb zum Opfer gefallen sind. Die materiellen Opfer, die in diesem Sinn im Interesse der Bauern aus öffentlichen Mitteln zu bringen sind, können vom Standpunkt der kapitalistischen Ökonomie aus nur als weggeworfenes Geld erscheinen, aber sie sind trotzdem eine vortreffliche Anlage, denn sie ersparen vielleicht den zehnfachen Betrag bei den Kosten der gesellschaftlichen Reorganisation überhaupt. In diesem Sinn können wir also sehr liberal mit den Bauern verfahren.“

(Ebenda.)

Das sagte Engels im Hinblick auf die Bauernschaft des Westens. Ist es aber nicht klar, dass das von Engels Gesagte nirgends so leicht und so vollständig verwirklicht werden kann wie im Lande der Diktatur des Proletariats? Ist es nicht klar, dass man nur in Sowjetrußland sofort und vollständig den Übergang des „virtuell zu uns gehörenden selbst arbeitenden Kleinbauern“ auf unsere Seite durchsetzen, die dazu erforderlichen „materiellen Opfer“ bringen und das dazu nötige „sehr liberale Verfahren mit den Bauern“ praktizieren kann, dass diese und ähnliche Maßnahmen zugunsten der Bauern in Rußland bereits durchgeführt werden? Wie kann man leugnen, dass dieser Umstand seinerseits den wirtschaftlichen Aufbau des Sowjetlandes erleichtern und vorantreiben muss?

Zweitens. Man darf die Landwirtschaft Rußlands nicht mit der Landwirtschaft des Westens verwechseln. Dort vollzieht sich die Entwicklung der Landwirtschaft in den gewöhnlichen Bahnen des Kapitalismus, unter den Verhältnissen einer tiefgehenden Differenzierung der Bauernschaft, mit großen Gütern und privatkapitalistischen Latifundien auf dem einen Pol und mit Pauperismus, Elend und Lohnsklaverei auf dem andern. Dort sind infolgedessen Zerfall und Zersetzung ganz natürlich. Anders in Rußland. Bei uns kann die Entwicklung der Landwirtschaft schon deswegen nicht diesen Weg gehen, weil das Bestehen der Sowjetmacht und die Nationalisierung der wichtigsten Produktionsinstrumente und -mittel eine solche Entwicklung nicht zulassen. In Rußland muss die Entwicklung der Landwirtschaft einen anderen Weg gehen, den Weg des genossenschaftlichen Zusammenschlusses von Millionen Klein- und Mittelbauern, den Weg der Entwicklung von Massengenossenschaften auf dem Lande, die vom Staat durch Gewährung von Vorzugskrediten unterstützt werden. Lenin hat in seinen Artikeln über das Genossenschaftswesen treffend darauf hingewiesen, dass die Entwicklung der Landwirtschaft bei uns einen neuen Weg gehen muss, den Weg der Einbeziehung der Mehrheit der Bauern in den sozialistischen Aufbau durch die Genossenschaften, den Weg der allmählichen Durchdringung der Landwirtschaft mit den Prinzipien des Kollektivismus, zuerst auf dem Gebiet des Absatzes und dann auch auf dem Gebiet der Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse.

Höchst interessant sind in dieser Beziehung einige neue Erscheinungen auf dem Lande im Zusammenhang mit der Tätigkeit der landwirtschaftlichen Genossenschaften. Es ist bekannt, dass innerhalb des Allrussischen Verbands landwirtschaftlicher Genossenschaften14 neue große Organisationen für einzelne Zweige der Landwirtschaft, für Flachs, Kartoffeln, Öl usw., entstanden sind, die eine große Zukunft haben. Unter diesen umfasst zum Beispiel die Flachszentrale ein ganzes Netz von Produktivgenossenschaften der Flachsbauern. Die Flachszentrale beliefert die Bauern mit Saatgut und Produktionsinstrumenten, kauft dann von denselben Bauern den gesamten erzeugten Flachs auf und setzt ihn im großen auf dem Markt ab; sie sichert den Bauern Beteiligung am Gewinn und verknüpft so die Bauernwirtschaft durch den Allrussischen Verband landwirtschaftlicher Genossenschaften mit der staatlichen Industrie. Wie soll man eine solche Organisationsform der Produktion nennen? Meiner Ansicht nach ist es ein Heimgewerbesystem staatssozialistischer Großproduktion in der Landwirtschaft. Ich spreche hier vom Heimgewerbesystem staatssozialistischer Produktion in Anlehnung an das Heimgewerbesystem des Kapitalismus, zum Beispiel in der Textilproduktion, wo die Heimarbeiter, die vom Kapitalisten die Rohstoffe und Werkzeuge erhielten und ihm ihre gesamten Erzeugnisse ablieferten, faktisch halbe Lohnarbeiter waren, die zu Hause arbeiteten. Das ist eins der vielen Kennzeichen dafür, welchen Weg die Entwicklung der Landwirtschaft bei uns gehen muss. Von anderen Kennzeichen der gleichen Art in anderen Zweigen der Landwirtschaft will ich hier absehen.

Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, dass die gewaltige Mehrheit der Bauernschaft gern diesen neuen Entwicklungsweg beschreiten und den Weg der privatkapitalistischen Latifundien und der Lohnsklaverei, den Weg des Elends und des Ruins verschmähen wird.

Über die Entwicklungswege unserer Landwirtschaft sagt Lenin:

„Die Verfügungsgewalt des Staates über alle großen Produktionsmittel, die Staatsmacht in den Händen des Proletariats, das Bündnis dieses Proletariats mit den vielen Millionen Klein- und Zwergbauern, die Sicherung der Führerstellung dieses Proletariats gegenüber der Bauernschaft usw. – ist das nicht alles, was notwendig ist, um aus den Genossenschaften, allein aus den Genossenschaften, die wir früher geringschätzig als Krämerei behandelt haben und die wir in gewisser Hinsicht jetzt, unter der NÖP, ebenso zu behandeln berechtigt sind, ist das nicht alles, was notwendig ist, um die vollendete sozialistische Gesellschaft zu errichten? Das ist noch nicht die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft, aber es ist alles, was zu dieser Errichtung notwendig und hinreichend ist.“

(Siehe 4. Ausgabe, Bd. 33, S. 428 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. II, S. 989].)

Lenin spricht weiter von der Notwendigkeit der finanziellen und sonstigen Unterstützung der Genossenschaften als des „neuen Prinzips der Organisierung der Bevölkerung“ und der neuen „Gesellschaftsordnung“ unter der Diktatur des Proletariats wie folgt:

„Jede Gesellschaftsordnung entsteht nur, wenn sie durch eine bestimmte Klasse finanziell unterstützt wird. Man braucht nicht an jene Hunderte und aber Hunderte Millionen Rubel zu erinnern, die die Geburt des ´freien´ Kapitalismus kostete. Jetzt müssen wir erkennen, dass gegenwärtig diejenige Gesellschaftsordnung, die wir über das gewöhnliche Maß hinaus unterstützen müssen, die genossenschaftliche Ordnung ist, und diese Erkenntnis in die Tat umsetzen. Aber unterstützen müssen wir sie im wahren Sinne dieses Wortes, das heißt, es genügt nicht, unter dieser Unterstützung die Förderung eines beliebigen genossenschaftlichen Umsatzes zu verstehen, unter dieser Unterstützung muss man die Unterstützung eines genossenschaftlichen Umsatzes verstehen, an dem wirkliche Massen der Bevölkerung wirklich teilnehmen.“

(Ebenda, 5.429, russ. [S.990, deutsch].)

Wovon zeugen alle diese Umstände?

Davon, dass die Skeptiker unrecht haben.

Davon, dass der Leninismus recht hat, der die werktätigen Massen der Bauernschaft als Reserve des Proletariats betrachtet.

Davon, dass das an der Macht stehende Proletariat diese Reserve heranziehen kann und muss, um die Industrie mit der Landwirtschaft zusammenzuschließen, den sozialistischen Aufbau zu entfalten und für die Diktatur des Proletariats jenes unerlässliche Fundament zu schaffen, ohne das der Übergang zur sozialistischen Wirtschaft unmöglich ist.

VI. Die nationale Frage

Aus diesem Thema greife ich zwei Hauptfragen heraus:
a) die Fragestellung;
b) die Befreiungsbewegung der unterdrückten Völker und die proletarische Revolution.

1. Die Fragestellung. In den letzten zwei Jahrzehnten hat die nationale Frage eine Reihe höchst bedeutsamer Wandlungen erfahren. Die nationale Frage in der Periode der II. Internationale und die nationale Frage in der Periode des Leninismus sind bei weitem nicht ein und dasselbe. Sie unterscheiden sich gründlich voneinander nicht nur dem Umfang, sondern auch ihrem inneren Charakter nach.

Früher beschränkte sich die nationale Frage gewöhnlich auf einen engen Kreis von Fragen, die hauptsächlich die „zivilisierten“ Nationalitäten betrafen. Irländer, Ungarn, Polen, Finnen, Serben und einige andere Nationalitäten Europas – das war der Kreis der nicht vollberechtigten Völker, für deren Schicksal sich die Führer der II. Internationale interessierten. Die Millionen und aber Millionen der Völker Asiens und Afrikas, die unter der nationalen Bedrückung in ihrer rohesten und grausamsten Form litten, blieben gewöhnlich außerhalb ihres Gesichtsfeldes. Man konnte sich nicht entschließen, Weiße und Farbige, „Zivilisierte“ und „Unzivilisierte“ auf eine Stufe zu stellen. Zwei, drei nichts sagende und süßsaure Resolutionen, die die Frage der Befreiung der Kolonien geflissentlich umgingen – das war alles, womit die Führer der II. Internationale paradieren konnten. Jetzt muss diese Zwiespältigkeit und Halbheit in der nationalen Frage als beseitigt angesehen werden. Der Leninismus hat dieses schreiende Missverhältnis aufgedeckt, die Scheidewand zwischen Weißen und Farbigen, zwischen Europäern und Asiaten, zwischen „zivilisierten“ und „unzivilisierten“ Sklaven des Imperialismus niedergerissen und auf diese Weise die nationale Frage mit der Frage der Kolonien verknüpft. Dadurch wurde die nationale Frage aus einer Einzelfrage und innerstaatlichen Frage zu einer allgemeinen und internationalen, zur Weltfrage der Befreiung der unterdrückten Völker der abhängigen Länder und der Kolonien vom Joche des Imperialismus.

Früher wurde das Prinzip der Selbstbestimmung der Nationen gewöhnlich falsch ausgelegt und nicht selten zu dem Recht der Nationen auf Autonomie eingeengt. Manche Führer der II. Internationale gingen sogar so weit, dass sie aus dem Selbstbestimmungsrecht ein Recht auf kulturelle Autonomie machten, das heißt das Recht der unterdrückten Nationen, ihre eigenen Kultureinrichtungen zu besitzen, während die gesamte politische Macht in den Händen der herrschenden Nation belassen werden sollte. Dieser Umstand führte dazu, dass die Idee der Selbstbestimmung Gefahr lief, sich aus einem Mittel des Kampfes gegen Annexionen in ein Mittel zur Rechtfertigung der Annexionen zu verwandeln. Jetzt muss diese Konfusion als überwunden angesehen werden. Der Leninismus hat den Begriff der Selbstbestimmung erweitert, indem er ihn auslegte als das Recht der unterdrückten Völker der abhängigen Länder und der Kolonien auf voll-ständige Lostrennung, als das Recht der Nationen auf selbständige staatliche Existenz. Damit wurde die Möglichkeit ausgeschlossen, Annexionen zu rechtfertigen durch die Auslegung des Selbstbestimmungsrechts als des Rechtes auf Autonomie. Das Prinzip der Selbstbestimmung selbst wurde somit aus einem Mittel zur Täuschung der Massen, das es in den Händen der Sozialchauvinisten während des imperialistischen Krieges zweifellos war, zu einem Mittel der Entlarvung aller und jeglicher imperialistischer Gelüste und chauvinistischer Machinationen, zu einem Mittel der politischen Aufklärung der Massen im Geiste des Internationalismus.

Früher pflegte man die Frage der unterdrückten Nationen als rein rechtliche Frage zu behandeln. Feierliche Proklamierung der „nationalen Gleichberechtigung“, unzählige Deklarationen über „Gleichheit der Nationen“ – damit begnügten sich die Parteien der II. Internationale, die die Tatsache zu vertuschen suchten, dass „Gleichheit der Nationen“ unter dem Imperialismus, wo eine Gruppe von Nationen (die Minderheit) von der Ausbeutung der anderen Gruppe von Nationen lebt, eine Verhöhnung der unterdrückten Völker ist. Jetzt muss diese bürgerlich-rechtliche Auffassung in der nationalen Frage als entlarvt angesehen werden. Der Leninismus hat die nationale Frage von den Himmelshöhen hochtrabender Deklarationen auf die Erde heruntergeholt, indem er erklärte, dass Deklarationen über „Gleichheit der Nationen“, die nicht von den proletarischen Parteien durch direkte Unterstützung des Befreiungskampfes der unterdrückten Völker bekräftigt werden, hohle und verlogene Deklarationen sind. Damit wurde die Frage der unterdrückten Nationen zur Frage der Unterstützung, der Hilfe, der wirklichen und ständigen Hilfe für die unterdrückten Nationen in ihrem Kampf gegen den Imperialismus, für die wirkliche Gleichheit der Nationen, für ihre selbständige staatliche Existenz.

Früher pflegte man die nationale Frage reformistisch zu behandeln, als eine gesonderte, selbständige Frage, ohne Zusammenhang mit der allgemeinen Frage der Herrschaft des Kapitals, des Sturzes des Imperialismus, der proletarischen Revolution. Stillschweigend wurde vorausgesetzt, dass der Sieg des Proletariats in Europa möglich sei ohne direktes Bündnis mit der Befreiungsbewegung in den Kolonien, dass die nationale und koloniale Frage im stillen, „ganz von selbst“, gelöst werden könne, abseits von der breiten Heerstraße der proletarischen Revolution, ohne revolutionären Kampf gegen den Imperialismus. Jetzt muss dieser antirevolutionäre Standpunkt als entlarvt angesehen werden. Der Leninismus hat den Beweis erbracht, und der imperialistische Krieg und die Revolution in Rußland haben bestätigt, dass die nationale Frage nur im Zusammenhang mit der proletarischen Revolution und auf dem Boden der proletarischen Revolution gelöst werden kann, dass der Weg zum Siege der Revolution im Westen über das revolutionäre Bündnis mit der Befreiungsbewegung der Kolonien und der abhängigen Länder gegen den Imperialismus führt. Die nationale Frage ist ein Teil der allgemeinen Frage der proletarischen Revolution, ein Teil der Frage der Diktatur des Proletariats.

Die Frage ist die: Sind die im Schoße der revolutionären Befreiungsbewegung der unterdrückten Länder vorhandenen revolutionären Möglichkeiten bereits erschöpft oder nicht, und falls sie nicht erschöpft sind, besteht begründete Hoffnung darauf, diese Möglichkeiten für die proletarische Revolution nutzbar machen, die abhängigen und kolonialen Länder aus einer Reserve der imperialistischen Bourgeoisie zu einer Reserve des revolutionären Proletariats, zu seinem Bundesgenossen machen zu können?

Der Leninismus bejaht diese Frage, das heißt, er vertritt die Ansicht, dass im Schoße der nationalen Befreiungsbewegung der unterdrückten Länder revolutionäre Potenzen vorhanden sind, und hält es für möglich, diese für den Sturz des gemeinsamen Feindes, für den Sturz des Imperialismus nutzbar zu machen. Die Mechanik der Entwicklung des Imperialismus, der imperialistische Krieg und die Revolution in Rußland bestätigen völlig die Schlussfolgerungen des Leninismus in dieser Hinsicht.

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, dass das Proletariat der „herrschenden“ Nationen die nationale Befreiungsbewegung der unterdrückten und abhängigen Völker unterstützen, entschieden und aktiv unterstützen muss.

Das bedeutet natürlich nicht, dass das Proletariat jede nationale Bewegung, immer und überall, in allen einzelnen konkreten Fällen unterstützen muss. Es handelt sich um die Unterstützung der nationalen Bewegungen, die auf die Schwächung, auf den Sturz des Imperialismus und nicht auf seine Festigung und Erhaltung gerichtet sind. Es gibt Fälle, wo die nationalen Bewegungen einzelner unterdrückter Länder mit den Interessen der Entwicklung der proletarischen Bewegung in Konflikt geraten. Es ist selbstverständlich, dass in solchen Fällen von einer Unterstützung keine Rede sein kann. Die Frage nach den Rechten der Nationen ist keine isolierte, in sich abgeschlossene Frage, sondern ein Teil der allgemeinen Frage der proletarischen Revolution, der dem Ganzen untergeordnet ist und vom Standpunkt des Ganzen aus betrachtet werden muss. In den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war Marx für die nationale Bewegung der Polen und Ungarn und gegen die nationale Bewegung der Tschechen und Südslawen. Warum? Weil die Tschechen und Südslawen damals „reaktionäre Völker“, „russische Vorposten“ in Europa, Vorposten des Absolutismus waren, während die Polen und Ungarn „revolutionäre Völker“ waren, die gegen den Absolutismus kämpften. Weil die Unterstützung der nationalen Bewegung der Tschechen und Südslawen damals eine indirekte Unterstützung des Zarismus, des gefährlichsten Feindes der revolutionären Bewegung in Europa, bedeutete.

„Die einzelnen Forderungen der Demokratie“, sagt Lenin, „darunter das Selbstbestimmungsrecht, sind nichts Absolutes, sondern ein kleiner Teil der allgemein-demokratischen (jetzt: allgemein-sozialistischen) Weltbewegung. Es ist möglich, dass in einzelnen konkreten Fällen der Teil dem Ganzen widerspricht, dann muss man den Teil verwerfen.“

(Siehe 4. Ausgabe, Bd. 22, S. 326, russ.)

So verhält es sich mit der Frage der einzelnen nationalen Bewegungen, des möglichen reaktionären Charakters dieser Bewegungen, natürlich nur, wenn man sie nicht vom formalen Standpunkt, nicht vom Standpunkt abstrakter Rechte, sondern konkret, vom Standpunkt der Interessen der revolutionären Bewegung betrachtet.

Das gleiche gilt auch für den revolutionären Charakter der nationalen Bewegungen überhaupt. Die zweifellos revolutionäre Natur der gewaltigen Mehrzahl der nationalen Bewegungen ist ebenso relativ und eigenartig, wie die mögliche reaktionäre Natur mancher einzelner nationaler Bewegungen relativ und eigenartig ist. Der revolutionäre Charakter einer nationalen Bewegung unter den Verhältnissen der imperialistischen Unterdrückung setzt keinesfalls voraus, dass an der Bewegung unbedingt proletarische Elemente teilnehmen müssen, dass die Bewegung ein revolutionäres beziehungsweise republikanisches Programm, eine demokratische Grundlage haben muss. Der Kampf des Emirs von Afghanistan für die Unabhängigkeit Afghanistans ist objektiv ein revolutionärer Kampf, trotz der monarchistischen Anschauungen des Emirs und seiner Kampfgefährten, denn dieser Kampf schwächt, zersetzt, unterhöhlt den Imperialismus, während der Kampf solcher „verbissenen“ Demokraten und „Sozialisten“, „Revolutionäre,´ und Republikaner wie, sagen wir, Kerenski und Zereteli, Renaudel und Scheidemann, Tschernow und Dan, Henderson und Clynes während des imperialistischen Krieges ein reaktionärer Kampf war, denn er hatte die Beschönigung, die Festigung und den Sieg des Imperialismus zur Folge. Der Kampf der ägyptischen Kaufleute und bürgerlichen Intellektuellen für die Unabhängigkeit Ägyptens ist aus denselben Gründen objektiv ein revolutionärer Kampf, obgleich die Führer der ägyptischen nationalen Bewegung bürgerlicher Herkunft und bürgerlichen Standes sind, obgleich sie gegen den Sozialismus sind, wohingegen der Kampf der englischen „Arbeiter“regierung für die Aufrechterhaltung der abhängigen Stellung Ägyptens aus denselben Gründen ein reaktionärer Kampf ist, obgleich die Mitglieder dieser Regierung proletarischer Herkunft und proletarischen Standes sind, obgleich sie „für“ den Sozialismus sind. Schon gar nicht zu reden von der nationalen Bewegung anderer, größerer kolonialer und abhängiger Länder, wie Indien und China, bei denen jeder Schritt auf dem Wege zur Befreiung, auch wenn er gegen die Forderungen der formalen Demokratie verstößt, ein wuchtiger Hammerschlag gegen den Imperialismus, das heißt zweifellos ein revolutionärer Schritt ist.

Lenin hat recht, wenn er sagt, dass man die nationale Bewegung der unterdrückten Länder nicht vom Standpunkt der formalen Demokratie, sondern vom Standpunkt der wirklichen Resultate in der Gesamtbilanz des Kampfes gegen den Imperialismus einschätzen muss, das heißt „nicht isoliert, sondern im Weltausmaß“ (siehe 4. Ausgabe, Bd. 22, S. 326, russ.).

2. Die Befreiungsbewegung der unterdrückten Völker und die proletarische Revolution. Bei der Lösung der nationalen Frage geht der Leninismus von folgenden Sätzen aus:

a) Die Welt ist in zwei Lager geteilt: in das Lager einer Handvoll zivilisierter Nationen, die über das Finanzkapital verfügen und die die gewaltige Mehrheit der Bevölkerung des Erdballs ausbeuten, und in das Lager der unterdrückten und ausgebeuteten Völker der Kolonien und der abhängigen Länder, die diese Mehrheit bilden;

b) die Kolonien und die abhängigen Länder, die vom Finanzkapital unterdrückt und ausgebeutet werden, bilden eine gewaltige Reserve und eine überaus wichtige Kraftquelle des Imperialismus;

c) der revolutionäre Kampf der unterdrückten Völker in den abhängigen und kolonialen Ländern gegen den Imperialismus ist der einzige Weg zu ihrer Befreiung von Unterdrückung und Ausbeutung;

d) die wichtigsten kolonialen und abhängigen Länder haben bereits den Weg der nationalen Befreiungsbewegung beschritten, die zur Krise des Weltkapitalismus führen muss;

e) die Interessen der proletarischen Bewegung in den entwickelten Ländern und der nationalen Befreiungsbewegung in den Kolonien erheischen die Vereinigung dieser beiden Arten der revolutionären Bewegung zu einer gemeinsamen Front gegen den gemeinsamen Feind, gegen den Imperialismus;

f) der Sieg der Arbeiterklasse in den entwickelten Ländern und die Befreiung der unterdrückten Völker vom Joch des Imperialismus sind unmöglich ohne die Bildung und Festigung einer gemeinsamen revolutionären Front;

g) die Bildung einer gemeinsamen revolutionären Front ist unmöglich ohne direkte und entschiedene Unterstützung der Befreiungsbewegung der unterdrückten Völker durch das Proletariat der unterdrückenden Nationen gegen den „vaterländischen“ Imperialismus, denn „ein Volk, das andere Völker unterdrückt, kann nicht frei sein“ (Engels);

h) diese Unterstützung bedeutet die Verfechtung, Verteidigung und Verwirklichung der Losung: Recht der Nationen auf Lostrennung, auf selbständige staatliche Existenz;

i) ohne Verwirklichung dieser Losung ist es unmöglich, die Vereinigung und das Zusammenwirken der Nationen in einer einheitlichen Weltwirtschaft in die Wege zu leiten, die die materielle Basis für den Sieg des Sozialismus in der ganzen Welt bildet;

j) diese Vereinigung kann nur eine freiwillige Vereinigung sein, die auf der Grundlage des gegenseitigen Vertrauens und der brüderlichen Beziehungen der Völker zustande kommt.

Hieraus ergeben sich zwei Seiten, zwei Tendenzen in der nationalen Frage: die Tendenz zur politischen Befreiung von den imperialistischen Fesseln und zur Bildung eines selbständigen Nationalstaates, eine Tendenz, die auf der Grundlage der imperialistischen Unterdrückung und kolonialen Ausbeutung entstanden ist, und die Tendenz zur wirtschaftlichen Annäherung der Nationen, die sich aus der Bildung des Weltmarkts und der Weltwirtschaft ergeben hat.

„Der in Entwicklung begriffene Kapitalismus“, sagt Lenin, „kennt in der nationalen Frage zwei historische Tendenzen. Die erste Tendenz: Erwachen des nationalen Lebens und der nationalen Bewegungen, Kampf gegen jede nationale Unterdrückung, Schaffung von Nationalstaaten. Die zweite Tendenz: Entwicklung und Vervielfachung der verschiedenartigen Beziehungen zwischen den Nationen, Niederreißung der nationalen Schranken, Schaffung der internationalen Einheit des Kapitals, des Wirtschaftslebens überhaupt, der Politik, der Wissenschaft usw.

Beide Tendenzen sind ein Weltgesetz des Kapitalismus. Die erste überwiegt im Anfangsstadium seiner Entwicklung, die zweite kennzeichnet den reifen, seiner Umwandlung in die sozialistische Gesellschaft entgegengehenden Kapitalismus.“

(Siehe 4. Ausgabe, Bd. 20, S. 11, russ.)

Für den Imperialismus sind diese beiden Tendenzen unversöhnliche Widersprüche, denn der Imperialismus kann nicht leben, ohne Kolonien auszubeuten und sie gewaltsam im Rahmen des „einheitlichen Ganzen“ festzuhalten, denn der Imperialismus kann nur durch Annexionen und koloniale Eroberungen, ohne die er, allgemein gesprochen, undenkbar ist, die Nationen einander näher bringen.

Für den Kommunismus dagegen sind diese Tendenzen nur zwei Seiten ein und derselben Sache, der Sache der Befreiung der unterdrückten Völker vom Joch des Imperialismus, denn der Kommunismus weiß, dass die Vereinigung der Völker in einer einheitlichen Weltwirtschaft nur auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens und freiwilligen Übereinkommens möglich ist, er weiß, dass der Weg zur Bildung einer freiwilligen Vereinigung der Völker über die Lostrennung der Kolonien von dem „einheitlichen“ imperialistischen „Ganzen“, über ihre Umwandlung in selbständige Staaten führt.

Daher die Notwendigkeit eines hartnäckigen, ununterbrochenen, entschlossenen Kampfes gegen den Großmachtchauvinismus der „Sozialisten“ der herrschenden Nationen (England, Frankreich, Amerika, Italien, Japan usw.), die nicht gewillt sind, gegen ihre eigenen imperialistischen Regierungen zu kämpfen, nicht gewillt sind, den Kampf der unterdrückten Völker „ihrer“ Kolonien für die Befreiung von der Unterdrückung und für die staatliche Lostrennung zu unterstützen.

Ohne diesen Kampf wäre es undenkbar, die Arbeiterklasse der herrschenden Nationen im Geiste des wahren Internationalismus, im Geiste der Annäherung an die werktätigen Massen der abhängigen Länder und der Kolonien, im Geiste der wirklichen Vorbereitung der proletarischen Revolution zu erziehen. Die Revolution in Rußland hätte nicht gesiegt und Koltschak und Denikin wären nicht geschlagen worden, wenn das russische Proletariat nicht die Sympathien und die Unterstützung der unterdrückten Völker des ehemaligen Russischen Reiches genossen hätte. Um aber die Sympathien und die Unterstützung dieser Völker zu erwerben, musste es vor allem die Ketten des russischen Imperialismus sprengen und diese Völker von der nationalen Unterdrückung befreien.

Sonst wäre es unmöglich gewesen, die Sowjetmacht zu festigen, den wirklichen Internationalismus durchzusetzen und jene großartige Organisation der Völkergemeinschaft zu schaffen, die den Namen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken trägt und das lebendige Vorbild der künftigen Vereinigung der Völker in einer einheitlichen Weltwirtschaft ist.

Daher die Notwendigkeit des Kampfes gegen die nationale Abgeschlossenheit, Beschränktheit und Isoliertheit der Sozialisten der unterdrückten Länder, die nicht über ihren nationalen Kirchturm hinaussehen wollen und den Zusammenhang zwischen der Befreiungsbewegung ihres Landes und der proletarischen Bewegung der herrschenden Länder nicht begreifen.

Ohne diesen Kampf wäre es undenkbar, eine selbständige Politik des Proletariats der unterdrückten Nationen und seine Klassensolidarität mit dem Proletariat der herrschenden Länder im Kampf für den Sturz des gemeinsamen Feindes, im Kampf für den Sturz des Imperialismus durchzusetzen.

Ohne diesen Kampf wäre der Internationalismus unmöglich.

Das ist der Weg zur Erziehung der werktätigen Massen der herrschenden und der unterdrückten Nationen im Geiste des revolutionären Internationalismus.

Über diese zweifache Arbeit des Kommunismus zur Erziehung der Arbeiter im Geiste des Internationalismus sagt Lenin:

„Kann diese Erziehung … konkret die gleiche sein für die großen, unterdrückenden und für die kleinen, unterdrückten Nationen, für die annektierenden und für die annektierten Nationen?

Offenbar nicht. Der Vormarsch zum gemeinsamen Ziel: zur vollen Gleichberechtigung, zur engsten Annäherung und weiteren Verschmelzung aller Nationen erfolgt hier offenbar auf verschiedenen konkreten Wegen, ebenso wie, sagen wir, der Weg zu einem Punkt, der sich in der Mitte der vorliegenden Buchseite befindet, von einem Rande aus nach links, vom gegenüberliegenden Rande aus nach rechts führt. Wenn der Sozialdemokrat einer großen, unterdrückenden und annektierenden Nation, der sich im allgemeinen zur Verschmelzung der Nationen bekennt, auch nur eine Minute lang vergisst, dass ,sein´ Nikolaus II., ,sein´ Wilhelm, Georg, Poincaré usw. ebenfalls für die Verschmelzung mit den kleinen Nationen ist (mittels Annexionen) – Nikolaus II. für die ,Verschmelzung´ mit Galizien, Wilhelm II. für die ,Verschmelzung´ mit Belgien usw. -, so ist ein solcher Sozialdemokrat ein lächerlicher Doktrinär in der Theorie, ein Helfershelfer des Imperialismus in der Praxis.

Der Schwerpunkt der internationalistischen Erziehung der Arbeiter in den unterdrückenden Ländern muss unbedingt darin liegen, dass sie die Freiheit der Lostrennung der unterdrückten Länder propagieren und verfechten. Ohne das gibt es keinen Internationalismus. Wir haben das Recht und die Pflicht, jeden Sozialdemokraten einer unterdrückenden Nation, der diese Propaganda nicht betreibt, als Imperialisten und Schurken zu behandeln. Das ist eine unbedingte Forderung, selbst wenn der all der Lostrennung vor der Errichtung des Sozialismus auch nur in einem von tausend Fällen möglich und ´durchführbar´ wäre…

Umgekehrt muss der Sozialdemokrat einer kleinen Nation den Schwerpunkt seiner Agitation auf das zweite Wort unserer allgemeinen Formel legen: ´freiwillige Vereinigung´ der Nationen. Er kann, ohne seine Verpflichtungen als Internationalist zu verletzen, sowohl für die politische Unabhängigkeit seiner Nation als auch für ihren Anschluss an den Nachbarstaat X, Y, Z usw. sein. In allen Fällen aber muss er gegen die engnationale Beschränktheit, Abgeschlossenheit und Isoliertheit kämpfen, für die Berücksichtigung des Ganzen und Allgemeinen, für die Unterordnung der Interessen des Teils unter die Interessen der Gesamtheit.

Leute, die sich nicht in diese Frage hineingedacht haben, finden, dass es ´widerspruchsvoll´ sei, wenn die Sozialdemokraten der unterdrückenden Nationen auf der ´Freiheit der Lostrennung´ beharren, die Sozialdemokraten der unterdrückten Nationen dagegen auf der ´Freiheit der Vereinigung´. Einige Überlegung zeigt jedoch, dass es einen anderen Weg zum Internationalismus und zur Verschmelzung der Nationen, dass es einen anderen Weg zu diesem Ziel aus der gegebenen Lage nicht gibt und nicht geben kann.“

(Siehe 4. Ausgabe, Bd. 22, S. 330-332, russ.)

VII. Strategie und Taktik

Aus diesem Thema greife ich sechs Fragen heraus:
a) Strategie und Taktik als Wissenschaft von der Führung des Klassenkampfs des Proletariats;
b) die Etappen der Revolution und die Strategie;
c) Flut und Ebbe der Bewegung und die Taktik;
d) die strategische Führung;
e) die taktische Führung;
f) Reformismus und Revolutionismus.

1. Strategie und Taktik als Wissenschaft von der Führung des Klassenkampfs des Proletariats. Die Periode der Herrschaft der II. Internationale war vorwiegend die Periode der Formierung und Schulung der proletarischen politischen Armeen angesichts einer mehr oder weniger friedlichen Entwicklung. Das war die Periode des Parlamentarismus als der vorwiegenden Form des Klassenkampfs. Die Fragen der großen Zusammenstöße der Klassen, der Vorbereitung des Proletariats zu revolutionären Schlachten, der Wege zur Eroberung der Diktatur des Proletariats standen damals, wie es schien, nicht auf der Tagesordnung. Man beschränkte die Aufgabe darauf, alle Wege der legalen Entwicklung zur Formierung und Schulung der proletarischen Armeen auszunutzen, den Parlamentarismus entsprechend den Bedingungen auszunutzen, bei denen das Proletariat in der Lage der Opposition blieb und, wie es schien, auch bleiben musste. Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, dass es in einer solchen Periode und bei einer solchen Auffassung von den Aufgaben des Proletariats weder eine fest umrissene Strategie noch eine ausgearbeitete Taktik geben konnte.

Wohl gab es Bruchstücke, einzelne Gedanken über Taktik und Strategie, aber eine Taktik und Strategie gab es nicht.

Die Todsünde der II. Internationale besteht nicht darin, dass sie seinerzeit die Taktik der Ausnutzung der parlamentarischen Kampfformen anwandte, sondern darin, dass sie die Bedeutung dieser Formen überschätzte, sie als die nahezu einzigen Kampfformen betrachtete und dass die Parteien der II. Internationale, als die Periode der offenen revolutionären Schlachten anbrach und die Frage der außerparlamentarischen Kampfformen in den Vordergrund rückte, sich von den neuen Aufgaben abwandten, sie ablehnten.

Erst in der nachfolgenden Periode, in der Periode der offenen Aktionen des Proletariats, in der Periode der proletarischen Revolution, als die Frage des Sturzes der Bourgeoisie zu einer Frage der unmittelbaren Praxis wurde, als die Frage nach den Reserven des Proletariats (Strategie) zu einer der brennendsten Fragen wurde, als alle Formen des Kampfes und der Organisation – die parlamentarischen wie die außerparlamentarischen (Taktik) – mit voller Bestimmtheit hervortraten, erst in dieser Periode konnten eine fest umrissene Strategie und eine ausgearbeitete Taktik des Kampfes des Proletariats geschaffen werden. Die genialen Gedanken von Marx und Engels über Taktik und Strategie, die die Opportunisten der II. Internationale hatten in Vergessenheit geraten lassen, wurden gerade in dieser Periode von Lenin ans Licht gezogen. Aber Lenin beschränkte sich nicht auf die Wiederherstellung der einzelnen taktischen Leitsätze von Marx und Engels. Er entwickelte sie weiter und ergänzte sie durch neue Gedanken und Leitsätze, wobei er all dies zu einem System von Regeln und leitenden Grundsätzen für die Führung des Klassenkampfs des Proletariats vereinigte. Lenins Schriften wie „Was tun?“, „Zwei Taktiken“, „Der Imperialismus“, „Staat und Revolution“, „Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky“, „Die Kinderkrankheit“ werden zweifellos als wertvollster Beitrag in die allgemeine Schatzkammer des Marxismus, in sein revolutionäres Arsenal eingehen. Die Strategie und Taktik des Leninismus ist die Wissenschaft von der Führung des revolutionären Kampfes des Proletariats.

2. Die Etappen der Revolution und die Strategie. Die Strategie ist die Festlegung der Richtung des Hauptschlags des Proletariats auf der Grundlage der gegebenen Etappe der Revolution, die Ausarbeitung eines entsprechenden Planes für die Aufstellung der revolutionären Kräfte (der Haupt- und Nebenreserven), der Kampf für die Durchführung dieses Planes während des ganzen Verlaufs der gegebenen Etappe der Revolution.

Unsere Revolution hat bereits zwei Etappen durchgemacht und ist nach dem Oktoberumsturz in die dritte Etappe eingetreten. Dementsprechend änderte sich auch die Strategie.

Erste Etappe. 1903 bis Februar 1917. Ziel – Niederwerfung des Zarismus, vollständige Liquidierung der Überreste des Mittelalters. Hauptkraft der Revolution – das Proletariat. Nächste Reserve – die Bauernschaft. Richtung des Hauptschlags: Isolierung der liberal-monarchistischen Bourgeoisie, die bestrebt ist, die Bauernschaft unter ihren Einfluss zu bringen und die Revolution durch eine Verständigung mit dem Zarismus zu liquidieren. Plan der Aufstellung der Kräfte: Bündnis der Arbeiterklasse mit der Bauernschaft. „Das Proletariat muss die demokratische Umwälzung zu Ende führen, indem es die Masse der Bauernschaft an sich heranzieht, um den Widerstand des Absolutismus mit Gewalt zu brechen und die schwankende Haltung der Bourgeoisie zu paralysieren.“ (Siehe Lenin, 4. Ausgabe, Bd. 9, S. 81 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. I, S. 497].)

Zweite Etappe. März 1917 bis Oktober 1917. Ziel – Niederwerfung des Imperialismus in Rußland und Ausscheiden aus dem imperialistischen Krieg. Hauptkraft der Revolution – das Proletariat. Nächste Reserve – die arme Bauernschaft. Das Proletariat der Nachbarländer als wahrscheinliche Reserve. Der sich in die Länge ziehende Krieg und die Krise des Imperialismus als günstiges Moment. Richtung des Hauptschlags: Isolierung der kleinbürgerlichen Demokratie (Menschewiki, Sozialrevolutionäre), die bestrebt ist, die werktätigen Bauernmassen unter ihren Einfluss zu bringen und die Revolution durch eine Verständigung mit dem Imperialismus zu beenden. Plan der Aufstellung der Kräfte: Bündnis des Proletariats mit der armen Bauernschaft. „Das Proletariat muss die sozialistische Umwälzung vollziehen, indem es die Masse der halbproletarischen Elemente der Bevölkerung an sich heranzieht, um den Widerstand der Bourgeoisie mit Gewalt zu brechen und die schwankende Haltung der Bauernschaft und der Kleinbourgeoisie zu paralysieren.“ (Ebenda.)

Dritte Etappe. Sie begann nach dem Oktoberumsturz. Ziel – Festigung der Diktatur des Proletariats in einem Lande, die zugleich als Stützpunkt zur Überwindung des Imperialismus in allen Ländern benutzt wird. Die Revolution geht über den Rahmen eines einzelnen Landes hinaus, die Epoche der Weltrevolution hat begonnen. Hauptkräfte der Revolution: die Diktatur des Proletariats in einem Lande, die revolutionäre Bewegung des Proletariats in allen Ländern. Hauptreserven: die halbproletarischen und kleinbäuerlichen Massen in den entwickelten Ländern, die Befreiungsbewegung in den Kolonien und abhängigen Ländern. Richtung des Hauptschlags: Isolierung der kleinbürgerlichen Demokratie, Isolierung der Parteien der II. Internationale, die die Hauptstütze der Politik der ‘Verständigung mit dem Imperialismus bilden. Plan der Aufstellung der Kräfte: Bündnis der proletarischen Revolution mit der Befreiungsbewegung in den Kolonien und abhängigen Ländern.

Die Strategie befasst sich mit den Hauptkräften der Revolution und ihren Reserven. Sie ändert sich mit dem Übergang der Revolution von einer Etappe zur andern, bleibt jedoch während der ganzen Zeitdauer der gegebenen Etappe im Wesentlichen unverändert.

3. Flut und Ebbe der Bewegung und die Taktik. Die Taktik ist die Festlegung der Linie des Handelns des Proletariats für die verhältnismäßig kurze Periode der Flut oder Ebbe der Bewegung, des Aufstiegs oder Abstiegs der Revolution, sie ist der Kampf für die Durchführung dieser Linie mittels Ersetzung der alten Kampf- und Organisationsformen durch neue, der alten Losungen durch neue, mittels Kombinierung dieser Formen usw. Verfolgt die Strategie das Ziel, den Krieg, sagen wir, gegen den Zarismus oder gegen die Bourgeoisie zu gewinnen, den Kampf gegen den Zarismus oder gegen die Bourgeoisie zu Ende zu führen, so setzt sich die Taktik weniger wesentliche Ziele, denn sie zielt nicht darauf ab, den Krieg als Ganzes, sondern diese oder jene Schlacht, dieses oder jenes Gefecht zu gewinnen, diese oder jene Kampagne, diese oder jene Aktion erfolgreich durchzuführen, die der konkreten Lage in der Periode des gegebenen Aufstiegs oder Abstiegs der Revolution entsprechen. Die Taktik ist ein Teil der Strategie, der ihr untergeordnet ist und ihr dient.

Die Taktik ändert sich, je nachdem, ob wir Flut oder Ebbe haben. Während in der Zeit der ersten Etappe der Revolution (1903 bis Februar 1917) der strategische Plan keine Änderung erfuhr, änderte sich die Taktik in dieser Zeit mehrere Male. In der Periode 1903-1905 war die Taktik der Partei offensiv, denn wir hatten eine Flut der Revolution, die Bewegung war im Aufstieg, und die Taktik musste von dieser Tatsache ausgehen. Dementsprechend waren auch die Kampfformen revolutionär und entsprachen den Anforderungen der Flut der Revolution. Örtliche politische Streiks, politische Demonstrationen, politischer Generalstreik, Boykott der Duma, Aufstand, revolutionäre Kampflosungen – das waren die einander ablösenden Kampfformen in dieser Periode. Mit den Kampfformen änderten sich damals auch die Organisationsformen. Fabrikkomitees, revolutionäre Bauernkomitees, Streikkomitees, Sowjets der Arbeiterdeputierten, eine mehr oder weniger offen auftretende Arbeiterpartei – das waren die Organisationsformen in dieser Periode.

In der Periode 1907-1912 war die Partei gezwungen, zur Taktik des Rückzugs überzugehen, denn wir hatten damals einen Niedergang der revolutionären Bewegung, eine Ebbe der Revolution, und die Taktik musste dieser Tatsache Rechnung tragen. Dementsprechend änderten sich sowohl die Kampfformen als auch die Organisationsformen. Anstatt des Boykotts der Duma – Teilnahme an der Duma, anstatt offener revolutionärer Aktionen außerhalb der Duma – Aktionen und Arbeit in der Duma, anstatt politischer Generalstreiks – wirtschaftliche Teilstreiks oder einfach Windstille. Es versteht sich von selbst, dass die Partei in dieser Periode in die Illegalität gehen musste, die revolutionären Massenorganisationen aber wurden durch Kultur- und Bildungsorganisationen, Genossenschaften, Versicherungskassen und andere legale Organisationen ersetzt.

Dasselbe ist von der zweiten und dritten Etappe der Revolution zu sagen, in deren Verlauf sich die Taktik Dutzende Male änderte, während die strategischen Pläne unverändert blieben.

Die Taktik befasst sich mit den Kampf- und Organisationsformen des Proletariats, mit ihrem Wechsel, ihrer Kombinierung. Auf der Grundlage der gegebenen Etappe der Revolution kann sich die Taktik mehrere Male ändern, je nach Flut oder Ebbe, Aufstieg oder Abstieg der Revolution.

4. Die strategische Führung. Reserven der Revolution gibt es:

direkte: a) die Bauernschaft und überhaupt die Zwischenschichten des eigenen Landes; b) das Proletariat der benachbarten Länder; c) die revolutionäre Bewegung in den Kolonien und abhängigen Ländern; d) die Eroberungen und Errungenschaften der Diktatur des Proletariats – wobei das Proletariat, nachdem es sich das Kräfteübergewicht gesichert hat, auf einen Teil derselben vorübergehend verzichten kann, um durch Zugeständnisse an den starken Gegner eine Atempause zu erkaufen, und

indirekte: a) die Gegensätze und Konflikte zwischen den nichtproletarischen Klassen des eigenen Landes, die vom Proletariat ausgenutzt werden können, um den Gegner zu schwächen und die eigenen Reserven zu stärken; b) die Gegensätze, Konflikte und Kriege (z. B. der imperialistische Krieg) zwischen den dem proletarischen Staat feindlichen bürgerlichen Staaten, die vom Proletariat ausgenutzt werden können bei seiner Offensive oder beim Manövrieren im Falle eines erzwungenen Rückzugs.

Über die Reserven der ersten Art braucht man sich nicht zu verbreiten, da ihre Bedeutung jedermann klar ist. Was die Reserven der zweiten Art betrifft, deren Bedeutung nicht immer klar ist, so muss gesagt werden, dass sie zuweilen von hervorragender Bedeutung für den Gang der Revolution sind. Kaum zu leugnen ist wohl die gewaltige Bedeutung zum Beispiel des Konflikts zwischen der kleinbürgerlichen Demokratie (Sozialrevolutionäre) und der liberal-monarchistischen Bourgeoisie (Kadetten) während und nach der ersten Revolution, der zweifellos dazu beitrug, dass die Bauernschaft dem Einfluss der Bourgeoisie entzogen wurde. Man hat noch weniger Grund, die kolossale Bedeutung der Tatsache zu leugnen, dass die Hauptgruppen der Imperialisten während der Periode des Oktoberumsturzes einen Krieg auf Leben und Tod gegeneinander führten, als die Imperialisten, durch den Krieg gegeneinander in Anspruch genommen, nicht die Möglichkeit hatten, ihre Kräfte gegen die junge Sowjetmacht zu konzentrieren, und das Proletariat gerade deshalb die Möglichkeit erhielt, die Organisierung der eigenen Kräfte unmittelbar in Angriff zu nehmen, seine Macht zu festigen und die Zerschmetterung Koltschaks und Denikins vorzubereiten. Es ist anzunehmen, dass jetzt, wo sich die Gegensätze zwischen den imperialistischen Gruppen immer mehr vertiefen und ein neuer Krieg zwischen ihnen unvermeidlich wird, die Reserven dieser Art für das Proletariat immer größere Bedeutung haben werden.

Die Aufgabe der strategischen Führung besteht darin, alle diese Reserven richtig auszunutzen, um das Hauptziel der Revolution in der gegebenen Etappe ihrer Entwicklung zu erreichen.

Worin besteht die richtige Ausnutzung der Reserven?

In der Erfüllung einiger notwendiger Bedingungen, von denen die folgenden als die Hauptbedingungen zu betrachten sind.

Erstens. Die Hauptkräfte der Revolution sind im entscheidenden Augenblick an dem verwundbarsten Punkt des Gegners zu konzentrieren, wenn die Revolution bereits herangereift ist, wenn die Offensive mit Volldampf eingesetzt hat, wenn der Aufstand an die Tore pocht und die Heranziehung der Reserven an die Avantgarde die entscheidende Bedingung für den Erfolg ist. Als Beispiel, das eine derartige Ausnutzung der Reserven veranschaulicht, kann die Strategie der Partei in der Periode April bis Oktober 1917 gelten. Unzweifelhaft war der verwundbarste Punkt des Gegners in dieser Periode der Krieg. Unzweifelhaft hat die Partei gerade durch Aufwerfung dieser Frage, als der Grundfrage, die breitesten Massen der Bevölkerung um die proletarische Avantgarde gesammelt. Die Strategie der Partei in dieser Periode lief darauf hinaus, die Avantgarde durch Kundgebungen und Demonstrationen in Straßenaktionen zu schulen und gleichzeitig durch die Sowjets im Hinterland und durch die Soldatenkomitees an der Front die Reserven an die Avantgarde heranzuziehen. Der Ausgang der Revolution hat gezeigt, dass die Ausnutzung der Reserven die richtige war. Über diese Bedingung der strategischen Ausnutzung der Kräfte der Revolution sagt Lenin, die bekannten Sätze von Marx und Engels über den Aufstand erläuternd:

„1. Wie mit dem Aufstand spielen, hat man ihn aber einmal begonnen, so muss man genau wissen, dass man bis zu Ende gehen muss.

2. Am entscheidenden Ort und im entscheidenden Augenblick muss ein großes Übergewicht an Kräften konzentriert werden, denn sonst wird der Feind, der besser ausgebildet und organisiert ist, die Aufständischen vernichten.

3. Sobald der Aufstand begonnen hat, gilt es, mit der größten Entschiedenheit zu handeln und unter allen Umständen und unbedingt die Offensive zu ergreifen. ´Die Defensive ist der Tod der bewaffneten Erhebung.´

4. Man muss bestrebt sein, den Feind zu überrumpeln und den Augenblick abzupassen, wo seine Truppen zerstreut sind.

5. Es gilt, täglich (handelt es sich um eine Stadt, so können wir sagen stündlich) wenn auch kleine Erfolge zu erreichen und dadurch um jeden Preis das ´moralische Übergewicht´ festzuhalten.“

(Siehe 4. Ausgabe, Bd. 26, S. 152 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. II, S. 149].)

Zweitens. Die Wahl des Zeitpunkts für den entscheidenden Schlag, des Zeitpunkts für den Beginn des Aufstands, muss so berechnet sein, dass die Krise ihren Höhepunkt erreicht hat, dass die Bereitschaft der Avantgarde, sich bis zu Ende zu schlagen, die Bereitschaft der Reserve, die Avantgarde zu unterstützen, und die maximale Verwirrung in den Reihen des Gegners schon gegeben sind.

Die entscheidende Schlacht, sagt Lenin, kann als völlig herangereift betrachtet werden, wenn „1. alle uns feindlichen Klassenkräfte genügend in Verwirrung geraten sind, genügend miteinander in Fehde liegen, sich durch den Kampf, der ihre Kräfte übersteigt, genügend geschwächt haben“; wenn „2. alle schwankenden, unsicheren, unbeständigen Zwischenelemente, das heißt das Kleinbürgertum, die kleinbürgerliche Demokratie zum Unterschied von der Bourgeoisie, sich vor dem Volk genügend entlarvt haben, durch ihren Bankrott in der Praxis genügend bloßgestellt sind“; wenn „3. im Proletariat die Massenstimmung zugunsten der Unterstützung der entschiedensten, grenzenlos kühnen, revolutionären Aktionen gegen die Bourgeoisie begonnen hat und machtvoll ansteigt. Ist das der Fall, dann ist die Zeit für die Revolution reif, dann ist unser Sieg, wenn wir alle oben erwähnten… Bedingungen richtig eingeschätzt und den Augenblick richtig gewählt haben, dann ist unser Sieg sicher.“ (Siehe 4. Ausgabe, Bd. 31, S. 74 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. II, S. 7381.)

Als Muster einer solchen Strategie kann die Durchführung des Oktoberaufstands gelten.

Verstöße gegen diese Bedingung führen zu dem gefährlichen Fehler, den man „Tempoverlust“ nennt: wenn die Partei hinter dem Gang der Bewegung zurückbleibt oder weit vorauseilt und dadurch die Gefahr der Niederlage heraufbeschwört. Als Beispiel eines solchen „Tempoverlusts“, als Beispiel dafür, wie der Zeitpunkt für einen Aufstand nicht gewählt werden darf, ist der Versuch eines Teils der Genossen anzusehen, den Aufstand mit der Verhaftung der Demokratischen Beratung im September 1917 zu beginnen, als in den Sowjets noch ein Schwanken zu verspüren war, die Frontsoldaten noch am Scheideweg standen und die Reserven noch nicht an die Avantgarde herangezogen waren.

Drittens. Der einmal eingeschlagene Kurs muss unbeirrt durchgeführt werden, ungeachtet aller und jeglicher Schwierigkeiten und Komplikationen auf dem Wege zum Ziel; dies ist notwendig, damit die Avantgarde das Hauptziel des Kampfes nicht aus dem Auge verliert und damit die Massen, die diesem Ziel zustreben und bemüht sind, sich um die Avantgarde zusammenzuschließen, nicht vom Wege abirren. Verstöße gegen diese Bedingung führen zu einem gewaltigen Fehler, der den Seeleuten unter der Bezeichnung „Kurs verlieren“ wohlbekannt ist. Als Beispiel eines solchen „Kursverlierens“ ist die verfehlte Haltung unserer Partei unmittelbar nach der Demokratischen Beratung anzusehen, als die Partei den Beschluss fasste, sich am Vorparlament zu beteiligen. Die Partei vergaß in diesem Augenblick gleichsam, dass das Vorparlament ein Versuch der Bourgeoisie ist, das Land vom Wege der Sowjets auf den Weg des bürgerlichen Parlamentarismus hinüberzuführen, dass die Teilnahme der Partei an einer solchen Institution geeignet ist, alle Karten durcheinander zu bringen und die Arbeiter und Bauern, die den revolutionären Kampf unter der Losung „Alle Macht den Sowjets!“ führen, von ihrem Wege abzubringen. Dieser Fehler wurde dadurch wieder gutgemacht, dass die Bolschewiki aus dem Vorparlament austraten.

Viertens. Mit den Reserven muss man so manövrieren, dass man einen geordneten Rückzug antreten kann, wenn der Feind stark ist, wenn der Rückzug unvermeidlich ist, wenn es offenkundig unvorteilhaft ist, den Kampf, den uns der Feind aufzwingen will, anzunehmen, wenn der Rückzug bei dem gegebenen Kräfteverhältnis das einzige Mittel ist, die Avantgarde den Schlägen des Gegners zu entziehen und ihr die Reserven zu erhalten.

„Revolutionäre Parteien“, sagt Lenin, „müssen zulernen. Sie haben gelernt anzugreifen. Jetzt muss man begreifen, dass man diese Wissenschaft durch die Wissenschaft ergänzen muss, wie man sich richtiger zurückzieht. Man muss begreifen – und die revolutionäre Klasse lernt aus eigener bitterer Erfahrung zu begreifen -, dass man nicht siegen kann, ohne gelernt zu haben, richtig anzugreifen und sich richtig zurückzuziehen.“

(Siehe 4. Ausgabe, Bd. 31, S.11112 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. II, S. 676].)

Das Ziel einer solchen Strategie ist, Zeit zu gewinnen, den Gegner zu zersetzen und Kräfte anzusammeln, um dann zum Angriff überzugehen.

Als das Muster einer solchen Strategie kann der Abschluss des Brester Friedens betrachtet werden, der der Partei die Möglichkeit gab, Zeit zu gewinnen, die Zusammenstöße im Lager des Imperialismus auszunutzen, die Kräfte des Gegners zu zersetzen, die Bauernschaft an ihrer Seite zu behalten und Kräfte zu sammeln, um die Offensive gegen Koltschak und Denikin vorzubereiten.

„Indem wir einen Separatfrieden schließen“, sagte Lenin damals, „befreien wir uns im höchsten für den gegebenen Augenblick möglichen Grade von beiden einander bekämpfenden imperialistischen Gruppen, nutzen ihre Feindschaft und ihren Krieg – der es ihnen erschwert, ein Abkommen gegen uns zu treffen – aus, bekommen für eine gewisse Periode die Hände frei, um die sozialistische Revolution fortzusetzen und zu festigen.“

(Siehe 4. Ausgabe, Bd. 26, S. 407, russ.)

„Jetzt sieht auch der Dümmste“, sagte Lenin drei Jahre nach dem Brester Frieden, „dass der ´Brester Friede´ ein Zugeständnis war, das uns stärkte und die Kräfte des internationalen Imperialismus zersplitterte“

(siehe 4. Ausgabe, Bd. 33, S. 4, russ.).

Das sind die Hauptbedingungen, die die Richtigkeit der strategischen Führung sichern.

5. Die taktische Führung. Die taktische Führung ist ein Teil der strategischen Führung und deren Aufgaben und Erfordernissen untergeordnet. Die Aufgabe der taktischen Führung besteht darin, dass alle Kampf- und Organisationsformen des Proletariats gemeistert und ihre richtige Ausnutzung sichergestellt werden, um bei dem gegebenen Kräfteverhältnis das Maximum an Resultaten zu erzielen, das zur Vorbereitung des strategischen Erfolgs nötig ist.

Worin besteht die richtige Ausnutzung der Kampf- und Organisationsformen des Proletariats?

In der Erfüllung einiger notwendiger Bedingungen, unter denen die folgenden als die Hauptbedingungen zu betrachten sind:

Erstens. In den Vordergrund zu stellen sind diejenigen Kampf- und Organisationsformen, die den Bedingungen der gegebenen Ebbe oder Flut der Bewegung am besten entsprechen und geeignet sind, das Heranführen der Massen an die revolutionären Positionen, das Heranführen der Millionenmassen an die Front der Revolution und ihre Verteilung an der Front der Revolution zu erleichtern und sicherzustellen.

Es handelt sich nicht darum, dass die Avantgarde die Unmöglichkeit, die alte Ordnung aufrechtzuerhalten und die Unvermeidlichkeit ihres Sturzes erkennt. Es handelt sich darum, dass die Massen, die Millionenmassen, diese Unvermeidlichkeit begreifen und die Bereitschaft an den Tag legen, die Avantgarde zu unterstützen. Doch können die Massen dies nur auf Grund der eigenen Erfahrung begreifen. Den Millionenmassen die Möglichkeit zu geben, durch eigene Erfahrung die Unvermeidlichkeit des Sturzes der alten Macht zu erkennen, und diejenigen Kampfmethoden und Organisationsformen in den Vordergrund zu stellen, die es den Massen erleichtern würden, en Hand der Erfahrung die Richtigkeit der revolutionären Losungen zu erkennen – darin besteht die Aufgabe.

Die Avantgarde würde sich von der Arbeiterklasse losgelöst und die Arbeiterklasse würde ihre Verbindung mit den Massen verloren haben, wenn die Partei seinerzeit nicht beschlossen hätte, sich an der Duma zu beteiligen, wenn sie nicht beschlossen hätte, ihre Kräfte auf die Arbeit in der Duma zu konzentrieren und den Kampf auf der Grundlage dieser Arbeit zu entfalten, um es den Massen zu erleichtern, durch eigene Erfahrung die Zwecklosigkeit der Duma, die Verlogenheit der Versprechungen der Kadetten, die Unmöglichkeit einer Verständigung mit dem Zarismus und die Unvermeidlichkeit des Bündnisses zwischen Bauernschaft und Arbeiterklasse zu erkennen. Ohne die Erfahrungen der Massen in der Dumaperiode wäre die Entlarvung der Kadetten und die Hegemonie des Proletariats unmöglich gewesen.

Die Gefährlichkeit der Taktik des Otsowismus bestand darin, dass sie die Avantgarde von ihren Millionenreserven loszulösen drohte.

Die Partei würde sich von der Arbeiterklasse losgelöst und die Arbeiterklasse würde ihren Einfluss auf die breiten Massen der Bauern und Soldaten eingebüßt haben, wenn das Proletariat den „linken“ Kommunisten Gefolgschaft geleistet hätte, die im April 1917 zum Aufstand riefen, als die Menschewiki und Sozialrevolutionäre sich noch nicht als Anhänger des Krieges und des Imperialismus entlarvt hatten, als die Massen noch nicht durch eigene Erfahrung die Verlogenheit der menschewistisch-sozialrevolutionären Reden über Frieden, Boden und Freiheit erkannt hatten. Ohne die Erfahrungen der Massen während der Kerenskiperiode wären die Menschewiki und Sozialrevolutionäre nicht isoliert worden, und die Diktatur des Proletariats wäre unmöglich gewesen. Deshalb war die Taktik der „geduldigen Aufklärung“ über die Fehler der kleinbürgerlichen Parteien und des offenen Kampfes innerhalb der Sowjets die einzig richtige Taktik.

Die Gefährlichkeit der Taktik der „linken“ Kommunisten bestand darin, dass sie die Partei aus der Führerin der proletarischen Revolution in ein Häuflein hohlköpfiger Verschwörer ohne Boden unter den Füßen zu verwandeln drohte.

„Mit der Avantgarde allein“, sagt Lenin, „kann man nicht siegen. Die Avantgarde allein in den entscheidenden Kampf werfen, solange die ganze Klasse, solange die breiten Massen nicht eine Position eingenommen haben, wo sie die Avantgarde entweder direkt unterstützen oder wenigstens wohlwollende Neutralität ihr gegenüber üben…, wäre nicht nur eine Dummheit, sondern auch ein Verbrechen. Damit aber wirklich die ganze Klasse, damit wirklich die breiten Massen der Werktätigen und vom Kapital Unterdrückten zu dieser Position gelangen, dazu ist Propaganda allein, Agitation allein zu wenig. Dazu bedarf es der eigenen politischen Erfahrung dieser Massen. Das ist das grundlegende Gesetz aller großen Revolutionen, das sich jetzt mit überraschender Kraft und Anschaulichkeit nicht nur in Rußland, sondern auch in Deutschland bestätigt hat. Nicht nur die auf niedriger Kulturstufe stehenden, oft des Lesens und Schreibens unkundigen Massen Rußlands, sondern auch die auf hoher Kulturstufe stehenden, durchweg des Lesens und Schreibens kundigen Massen Deutschlands mussten am eigenen Leibe die ganze Ohnmacht, die ganze Charakterlosigkeit, die ganze Hilflosigkeit, die ganze Liebedienerei gegenüber der Bourgeoisie, die ganze Gemeinheit der Regierung der Ritter der II. Internationale, die ganze Unvermeidlichkeit der Diktatur der äußersten Reaktionäre (Kornilow in Rußland, Kapp und Konsorten in Deutschland) erfahren als einzige Alternative gegenüber der Diktatur des Proletariats, um sich entschieden dem Kommunismus zuzuwenden.“

(Siehe 4. Ausgabe, Bd. 31, S. 73 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. II, S. 737].)

Zweitens. In jedem gegebenen Augenblick ist jenes besondere Glied in der Kette der Prozesse aufzufinden, das man anpacken muss, um die ganze Kette festhalten und die Bedingungen für die Erreichung des strategischen Erfolgs vorbereiten zu können.

Es handelt sich darum, aus der Reihe der Aufgaben, vor denen die Partei steht, gerade diejenige aktuelle Aufgabe herauszugreifen, deren Lösung den Zentralpunkt bildet und deren Bewältigung die erfolgreiche Lösung der übrigen aktuellen Aufgaben sichert.

Die Bedeutung dieses Leitsatzes kann an zwei Beispielen veranschaulicht werden, von denen das eine einer fernen Vergangenheit (der Periode der Bildung der Partei) und das andere der uns nächstliegenden Gegenwart (der Periode der NÖP) entnommen ist.

In der Periode der Bildung der Partei, als die unzähligen Zirkel und Organisationen noch nicht miteinander verbunden waren, als die Handwerklerei und das Zirkelwesen die Partei von oben bis unten zerfraßen, als die ideologische Zerfahrenheit das charakteristische Merkmal des inneren Lebens der Partei bildete, in dieser Periode bestand das Hauptglied in der Kette der Glieder und die Hauptaufgabe in der Kette der Aufgaben, vor denen die Partei damals stand, in der Schaffung einer gesamt-russischen illegalen Zeitung („Iskra“). Warum? Weil man nur mit Hilfe einer gesamtrussischen illegalen Zeitung unter den damaligen Verhältnissen einen Parteikern schaffen konnte, der in ein und dieselbe Kerbe hieb und imstande war, die unzähligen Zirkel und Organisationen zu einem einheitlichen Ganzen zu verbinden, die Bedingungen für die ideologische und taktische Einheit vorzubereiten und auf diese Weise das Fundament für die Bildung einer wirklichen Partei zu legen

In der Periode des Übergangs vom Krieg zum wirtschaftlichen Aufbau, als die Industrie in den Fängen der Zerrüttung dahinvegetierte und die Landwirtschaft unter dem Mangel an städtischen Erzeugnissen litt, als der Zusammenschluss zwischen der staatlichen Industrie und der bäuerlichen Wirtschaft zur Grundbedingung des erfolgreichen sozialistischen Aufbaus wurde, in dieser Periode bildete die Entwicklung des Handels das Hauptglied in der Kette der Prozesse, die Hauptaufgabe in der Reihe anderer Aufgaben. Warum? Weil unter den Verhältnissen der NÖP der Zusammenschluss zwischen der Industrie und der bäuerlichen Wirtschaft nicht anders möglich ist als durch den Handel, weil Produktion ohne Absatz unter den Verhältnissen der NÖP für die Industrie den Tod bedeutet, weil man die Industrie nur erweitern kann, wenn man den Absatz durch Entwicklung des Handels erweitert, weil man nur dann, wenn man auf dem Gebiet des Handels festen Fuß gefasst hat, nur wenn man den Handel gemeistert hat, nur wenn man dieses Kettenglied gemeistert hat, darauf hoffen kann, die Industrie und den bäuerlichen Markt eng miteinander zu verbinden und mit Erfolg andere aktuelle Aufgaben zu lösen, um die Bedingungen für die Errichtung des Fundaments der sozialistischen Wirtschaft zu schaffen.

„Es genügt nicht, Revolutionär und Anhänger des Sozialismus oder Kommunist im Allgemeinen zu sein…“, sagt Lenin. „Man muss es verstehen, in jedem Augenblick jenes besondere Kettenglied zu finden, das man mit aller Kraft anpacken muss, um die ganze Kette festzuhalten und den Übergang zum nächsten Kettenglied sicher vorzubereiten…“

„Im gegebenen Augenblick ist … ein solches Kettenglied die Belebung des inneren Handels bei einer richtigen Regulierung (Lenkung) durch den Staat. Der Handel ist jenes ´Glied´ in der historischen Kette der Ereignisse, in den Übergangsformen unseres sozialistischen Aufbaus der Jahre 1921-1922, das wir… ´mit aller Kraft anpacken müssen´.“

(Siehe 4.Ausgabe, Bd. 33, S.88, 89 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. II, S. 895, 896].)

Das sind die Hauptbedingungen, die die Richtigkeit der taktischen Führung sichern.

6. Reformismus und Revolutionismus. Wodurch unterscheidet sich die revolutionäre Taktik von der reformistischen Taktik?

Manche meinen, dass der Leninismus überhaupt gegen Reformen, gegen Kompromisse und Verständigungen sei. Das ist völlig falsch. Die Bolschewiki wissen nicht weniger als alle anderen, dass in gewissem Sinne „jede Gabe genehm ist“, dass unter gewissen Umständen Reformen im Allgemeinen, Kompromisse und Verständigungen im Besonderen notwendig und nützlich sind.

„Krieg führen zum Sturz der internationalen Bourgeoisie“, sagt Lenin, „einen Krieg, der hundertmal schwieriger, langwieriger, komplizierter ist als der hartnäckigste der gewöhnlichen Kriege zwischen Staaten, und dabei im voraus auf Lavieren, auf die Ausnutzung der (wenn auch zeitweiligen) Interessengegensätze zwischen den Feinden, auf Verständigungen und Kompromisse mit möglichen (wenn auch zeitweiligen, unbeständigen, schwankenden, bedingten) Verbündeten verzichten – ist das nicht eine über alle Maßen lächerliche Sache? Ist das nicht dasselbe, als wollte man bei einem schwierigen Aufstieg auf einen noch unerforschten und bis dahin unzugänglichen Berg von vornherein darauf verzichten, manchmal im Zickzack zu gehen, manchmal umzukehren, die einmal gewählte Richtung aufzugeben und verschiedene Richtungen zu versuchen?“

(Siehe 4. Ausgabe, Bd. 31, S. 51 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. II, S. 715].)

Es kommt offenbar nicht auf die Reformen oder Kompromisse und Verständigungen selbst an, sondern auf den Gebrauch, den man von den Reformen und Verständigungen macht.

Für den Reformisten ist die Reform alles, die revolutionäre Arbeit aber Nebensache, ein Unterhaltungsthema, ein Täuschungsmanöver. Deshalb verwandelt sich die Reform bei einer reformistischen Taktik unter Verhältnissen des Bestehens der bürgerlichen Macht unvermeidlich in ein Werkzeug zur Festigung dieser Macht, in ein Werkzeug zur Zersetzung der Revolution.

Für den Revolutionär dagegen ist umgekehrt die revolutionäre Arbeit die Hauptsache und nicht die Reform, für ihn ist die Reform ein Nebenprodukt der Revolution. Deshalb verwandelt sich die Reform bei einer revolutionären Taktik unter Verhältnissen des Bestehens der bürgerlichen Macht naturgemäß in ein Werkzeug zur Zersetzung dieser Macht, in ein Werkzeug zur Festigung der Revolution, in einen Stützpunkt zur weiteren Entwicklung der revolutionären Bewegung.

Der Revolutionär akzeptiert die Reform nur, um sie als Anknüpfungspunkt zur Verbindung der legalen und der illegalen Arbeit und als Deckung zur Verstärkung der illegalen Arbeit zu benutzen zwecks revolutionärer Vorbereitung der Massen zum Sturz der Bourgeoisie.

Darin besteht das Wesen der revolutionären Ausnutzung der Reformen und Kompromisse unter den Bedingungen des Imperialismus.

Der Reformist dagegen ist umgekehrt für Reformen, um jede illegale Arbeit von sich zu weisen, die Vorbereitung der Massen zur Revolution zu hintertreiben und im Schatten der „geschenkten“ Reform der Ruhe zu pflegen.

Darin besteht das Wesen der reformistischen Taktik.

So verhält es sich mit Reformen und Kompromissen unter den Bedingungen des Imperialismus.

Die Sache ändert sich jedoch einigermaßen nach dem Sturz des Imperialismus, unter der Diktatur des Proletariats. Unter bestimmten Umständen, in einer bestimmten Situation kann die proletarische Macht sich gezwungen sehen, vorübergehend vom Wege des revolutionären Umbaus der bestehenden Ordnung auf den Weg ihrer allmählichen Umgestaltung überzugehen, „auf den reformistischen Weg“, wie Lenin in seinem bekannten Artikel „über die Bedeutung des Goldes“15 sagt, auf den Weg von Umgehungsbewegungen, auf den Weg von Reformen und Zugeständnissen an die nichtproletarischen Klassen, um diese Klassen zu zersetzen, der Revolution eine Atempause zu verschaffen, Kräfte zu sammeln und die Bedingungen für eine neue Offensive vorzubereiten. Es lässt sich nicht leugnen, dass dieser Weg in gewissem Sinne ein „reformistischer“ Weg ist. Nur muss man daran denken, dass wir es hier mit einer grundlegenden Besonderheit zu tun haben, die darin besteht, dass die Reform in diesem Falle von der proletarischen Macht ausgeht, dass sie die proletarische Macht stärkt, dass sie ihr die notwendige Atempause verleiht, dass sie berufen ist, nicht die Revolution, sondern die nichtproletarischen Klassen zu zersetzen.

Die Reform verwandelt sich somit unter solchen Umständen in ihr Gegenteil.

Die Durchführung einer solchen Politik durch die proletarische Macht wird deshalb und nur deshalb möglich, weil der Schwung der Revolution in der vorangegangenen Periode groß genug war und somit genügend breiten Raum zum Rückzug geschaffen hat, um an die Stelle der Taktik des Angriffs die Taktik des vorübergehenden Rückzugs, die Taktik der Umgehungsbewegungen setzen zu können.

Waren also früher, unter der Macht der Bourgeoisie, die Reformen ein Nebenprodukt der Revolution, so sind jetzt, unter der Diktatur des Proletariats, die Quelle der Reformen die revolutionären Errungenschaften des Proletariats, die angehäufte Reserve in den Händen des Proletariats, die aus diesen Errungenschaften gebildet wird.

„Das Verhältnis von Reformen und Revolution“, sagt Lenin, „ist nur vom Marxismus genau und richtig bestimmt worden, wobei Marx dieses Verhältnis nur von der einen Seite sehen konnte, nämlich in einer Situation, die dem ersten mehr oder weniger festen, mehr oder weniger dauerhaften Siege des Proletariats, sei es auch nur in einem Lande, vorausging. In einer solchen Situation war die Grundlage eines richtigen Verhältnisses die folgende: Reformen sind das Nebenprodukt des revolutionären Klassenkampfes des Proletariats… Nach dem Siege des Proletariats, sei es auch nur in einem Lande, tritt etwas Neues in dem Verhältnis von Reformen und Revolution ein. Prinzipiell hat sich nichts geändert, aber in der Form tritt eine Veränderung ein, die Marx persönlich nicht voraussehen konnte, der man sich jedoch nur auf dem Boden der Philosophie und Politik des Marxismus bewusst werden kann… Nach dem Siege sind sie (das heißt die Reformen. J. St.) (während sie im internationalen Maßstab nach wie vor ein ,Nebenprodukt´ bleiben) für das Land, in dem der Sieg erfochten ist, außerdem eine notwendige und berechtigte Atempause in Fällen, wo die Kräfte, nachdem man sie aufs höchste angespannt hat, zur revolutionären Ausführung dieses oder jenes Übergangs offensichtlich nicht ausreichen. Der Sieg liefert einen solchen ´Kräftevorrat´, dass man sogar bei einem erzwungenen Rückzug durchhalten kann – durchhalten sowohl im materiellen wie im moralischen Sinne.“

(Siehe 4. Ausgabe, Bd. 33, S. 91, 92 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. II, S. 898, 899].)

VIII. Die Partei

In der vorrevolutionären Periode, in der Periode der mehr oder weniger friedlichen Entwicklung, als die Parteien der II. Internationale in der Arbeiterbewegung die herrschende Kraft darstellten und die parlamentarischen Kampfformen als die Grundformen galten – unter diesen Bedingungen hatte die Partei nicht die ernste und entscheidende Bedeutung und konnte diese auch nicht haben, wie die Partei sie dann unter den Bedingungen der offenen revolutionären Schlachten gewann. Zur Verteidigung der II. Internationale gegen verschiedene Angriffe erklärte Kautsky, dass die Parteien der II. Internationale ein Friedensinstrument und kein Kriegsinstrument seien, dass sie gerade deshalb nicht imstande gewesen seien, während des Krieges, in der Periode der revolutionären Aktionen des Proletariats, irgend etwas Ernstes zu unternehmen. Das ist völlig richtig. Aber was bedeutet das? Das bedeutet, dass die Parteien der II. Internationale untauglich sind für den revolutionären Kampf des Proletariats, dass sie keine Kampfparteien des Proletariats sind, die die Arbeiter zur Macht führen, sondern ein Wahlapparat, der für Parlamentswahlen und den parlamentarischen Kampf eingerichtet ist. Daraus erklärt sich eigentlich auch die Tatsache, dass in der Periode der Herrschaft der Opportunisten der II. Internationale nicht die Partei, sondern die Parlamentsfraktion die maßgebende politische Organisation des Proletariats war. Es ist bekannt, dass die Partei in dieser Periode in Wirklichkeit ein Anhängsel und dienstbares Element der Parlamentsfraktion war. Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, dass unter solchen Bedingungen und mit einer solchen Partei an der Spitze von einer Vorbereitung des Proletariats auf die Revolution nicht einmal die Rede sein konnte.

Die Sache änderte sich jedoch von Grund aus mit dem Anbruch der neuen Periode. Die neue Periode ist die Periode offener Zusammenstöße der Klassen, die Periode revolutionärer Aktionen des Proletariats, die Periode der proletarischen Revolution, die Periode der direkten Vorbereitung der Kräfte zum Sturz des Imperialismus, zur Ergreifung der Macht durch das Proletariat. Diese Periode stellt dem Proletariat neue Aufgaben: die gesamte Parteiarbeit auf neue, auf revolutionäre Art umzubauen, die Arbeiter im Geiste des revolutionären Kampfes um die Macht zu erziehen, Reserven auszubilden und heranzuziehen, das Bündnis mit den Proletariern der benachbarten Länder herzustellen, feste Verbindungen mit der Befreiungsbewegung der Kolonien und der abhängigen Länder zu schaffen usw. usf. Zu glauben, dass diese neuen Aufgaben mit den Kräften der alten sozialdemokratischen Parteien, die in den friedlichen Verhältnissen des Parlamentarismus erzogen wurden, gelöst werden können – heißt sich zu hoffnungsloser Verzweiflung, zu einer unausbleiblichen Niederlage verurteilen. Die alten Parteien weiter an der Spitze zu belassen, wo man solche Aufgaben zu bewältigen hat, heißt völlig ungerüstet dastehen. Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, dass das Proletariat sich mit einer solchen Sachlage nicht abfinden konnte.

Daraus folgt die Notwendigkeit einer neuen Partei, einer Kampfpartei, einer revolutionären Partei, die kühn genug ist, die Proletarier in den Kampf um die Macht zu führen, die genügend Erfahrung hat, um sich in den komplizierten Verhältnissen der revolutionären Situation zurechtzufinden, und genügend Elastizität besitzt, um Klippen jeder Art auf dem Wege zum Ziel zu umgehen.

Ohne eine solche Partei ist an einen Sturz des Imperialismus, an die Eroberung der Diktatur des Proletariats gar nicht zu denken. Diese neue Partei ist die Partei des Leninismus.

Worin bestehen die Besonderheiten dieser neuen Partei?

1. Die Partei als Vortrupp der Arbeiterklasse. Die Partei muss vor allem der Vortrupp der Arbeiterklasse sein. Die Partei muss die besten Elemente der Arbeiterklasse mit ihrer Erfahrung, mit ihrem revolutionären Geist, ihrer grenzenlosen Ergebenheit für die Sache des Proletariats in sich aufnehmen. Um aber wirklich der Vortrupp zu sein, muss die Partei mit einer revolutionären Theorie, mit der Kenntnis der Gesetze der Bewegung, mit der Kenntnis der Gesetze der Revolution gewappnet sein. Sonst ist sie nicht imstande, den Kampf des Proletariats zu leiten, das Proletariat zu führen. Die Partei kann keine wirkliche Partei sein, wenn sie sich darauf beschränkt, zu registrieren, was die Masse der Arbeiterklasse empfindet und denkt, wenn sie hinter der spontanen Bewegung einhertrottet, wenn sie die Trägheit und die politische Gleichgültigkeit der spontanen Bewegung nicht zu überwinden vermag, wenn sie sich nicht über die Augenblicksinteressen des Proletariats zu erheben vermag, wenn sie die Massen nicht auf das Niveau zu heben vermag, auf dem sie die Klasseninteressen des Proletariats erkennen. Die Partei muss der Arbeiterklasse voraus sein, sie muss weiter sehen als die Arbeiterklasse, sie muss das Proletariat führen und darf nicht hinter der spontanen Bewegung einhertrotten. Die Parteien der II. Internationale, die die „Nachtrabpolitik“ predigen, sind Schrittmacher der bürgerlichen Politik, die das Proletariat dazu verurteilt, ein Werkzeug in den Händen der Bourgeoisie zu sein. Nur eine Partei, die den Vortrupp des Proletariats bildet und imstande ist, die Massen auf das Niveau zu heben, auf dem sie die Klasseninteressen des Proletariats erkennen, nur eine solche Partei ist fähig, die Arbeiterklasse vom Wege des Trade-Unionismus abzubringen und sie in eine selbständige politische Kraft zu verwandeln.

Die Partei ist der politische Führer der Arbeiterklasse.

Ich sprach bereits über die Schwierigkeiten des Kampfes der Arbeiterklasse, über die Kompliziertheit der Kampfbedingungen, über Strategie und Taktik, über Reserven und Manövrieren, über Angriff und Rückzug. Diese Bedingungen sind nicht weniger kompliziert – wenn nicht gar komplizierter – als die Bedingungen des Krieges. Wer vermag sich in diesen Bedingungen zurechtzufinden, wer vermag den Millionenmassen der Proletarier eine richtige Orientierung zu geben? Keine Armee kann im Krieg ohne einen erfahrenen Stab auskommen, wenn sie nicht einer Niederlage entgegengehen will. Ist es nicht klar, dass das Proletariat erst recht nicht ohne einen solchen Stab auskommen kann, wenn es sich nicht seinen Todfeinden mit Haut und Haar ausliefern will? Aber wo ist dieser Stab? Dieser Stab kann nur die revolutionäre Partei des Proletariats sein. Die Arbeiterklasse ohne revolutionäre Partei – das ist eine Armee ohne Stab.

Die Partei ist der Kampfstab des Proletariats.

Aber die Partei kann nicht nur Vortrupp sein. Sie muss gleichzeitig ein Trupp der Klasse, ein Teil der Klasse sein, der durch sein ganzes Sein mit ihr fest verwurzelt ist. Der Unterschied zwischen dem Vortrupp und der übrigen Masse der Arbeiterklasse, zwischen Parteimitgliedern und Parteilosen kann nicht verschwinden, solange die Klassen nicht verschwunden sind, solange die Reihen des Proletariats durch Elemente aufgefüllt werden, die anderen Klassen entstammen, solange die Arbeiterklasse als Ganzes nicht die Möglichkeit hat, sich auf das Niveau des Vortrupps zu erheben. Aber die Partei würde aufhören, Partei zu sein, wenn aus diesem Unterschied ein Bruch würde, wenn sie sich abkapselte und von den parteilosen Massen losrisse. Die Partei kann die Klasse nicht führen, wenn sie nicht mit den parteilosen Massen verbunden ist, wenn es keine enge Verbindung zwischen Partei und parteilosen Massen gibt, wenn diese Massen ihre Führung nicht anerkennen, wenn die Partei bei den Massen keinen moralischen und politischen Kredit hat.

Vor kurzem wurden in unsere Partei zweihunderttausend neue Mitglieder aus der Arbeiterschaft aufgenommen. Bedeutsam ist hierbei der Umstand, dass sie nicht so sehr von selber in die Partei kamen, als vielmehr von der ganzen übrigen parteilosen Masse entsandt wurden, die bei der Aufnahme der neuen Mitglieder aktiv mitwirkte und ohne deren Zustimmung keine neuen Mitglieder aufgenommen wurden. Diese Tatsache besagt, dass die breiten Massen der parteilosen Arbeiter in unserer Partei ihre Partei sehen, die Partei, die ihnen nahe und vertraut ist, an deren Erweiterung und Festigung sie zutiefst interessiert sind und deren Führung sie freiwillig ihr Schicksal anvertrauen. Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, dass die Partei ohne diese ungreifbaren moralischen Fäden, die die Partei mit den parteilosen Massen verbinden, nicht zur entscheidenden Kraft ihrer Klasse hätte werden können.

Die Partei ist ein untrennbarer Teil der Arbeiterklasse.

„Wir sind“, sagt Lenin, „die Partei der Klasse, und deshalb muss fast die gesamte Klasse (und in Kriegszeiten, in der Epoche des Bürgerkriegs, restlos die gesamte Klasse) unter der Leitung unserer Partei handeln, sie muss sich unserer Partei so eng wie möglich anschließen, doch wäre es Manilowerei und ´Nachtrabpolitik´, wollte man glauben, dass irgendwann unter der Herrschaft des Kapitalismus fast die gesamte Klasse oder die gesamte Klasse imstande wäre, sich bis zu der Bewusstheit und der Aktivität zu erheben, auf der ihr Vortrupp, ihre sozialdemokratische Partei, steht. Kein vernünftiger Sozialdemokrat hat je daran gezweifelt, dass unter dem Kapitalismus selbst die Gewerkschaftsorganisation (die primitiver, dem Bewusstsein der unentwickelten Schichten zugänglicher ist) außerstande ist, fast die gesamte oder die gesamte Arbeiterklasse zu erfassen. Es würde bedeuten, nur sich selbst zu betrügen, die Augen vor der gewaltigen Größe unserer Aufgaben zu verschließen, diese Aufgaben einzuengen, wollte man den Unterschied zwischen dem Vortrupp und all den Massen, die sich zu ihm hingezogen fühlen, vergessen, wollte man die ständige Pflicht des Vortrupps vergessen, immer breitere Schichten auf das Niveau dieses Vortrupps zu beben.“

(Siehe 4. Ausgabe, Bd. 7, S. 240 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. I, S. 356].)

2. Die Partei als organisierter Trupp der Arbeiterklasse. Die Partei ist nicht nur ‘Vortrupp der Arbeiterklasse. Will sie wirklich den Kampf der Klasse leiten, so muss sie zugleich auch der organisierte Trupp ihrer Klasse sein. Die Aufgaben der Partei sind unter den Bedingungen des Kapitalismus außerordentlich groß und mannigfaltig. Die Partei muss den Kampf des Proletariats unter außerordentlich schwierigen Bedingungen der inneren und äußeren Entwicklung leiten, sie muss das Proletariat zur Offensive führen, wenn die Umstände eine Offensive erfordern, und sie muss das Proletariat den Schlägen eines starken Gegners entziehen, wenn die Umstände den Rückzug erfordern; sie muss in die Millionenmassen der unorganisierten parteilosen Arbeiter den Geist der Disziplin und der Planmäßigkeit im Kampf, den Geist der Organisiertheit und der Standhaftigkeit hineintragen. Aber die Partei kann diesen Aufgaben nur dann gerecht werden, wenn sie selbst die Verkörperung der Disziplin und Organisiertheit ist, wenn sie selbst der organisierte Trupp des Proletariats ist. Ohne diese Bedingungen kann von einer wirklichen Führung der Millionenmassen des Proletariats durch die Partei keine Rede sein.

Die Partei ist der organisierte Trupp der Arbeiterklasse.

Die Idee von der Partei als einem organisierten Ganzen ist in der bekannten Leninschen Formulierung des ersten Punkts unseres Parteistatuts verankert, wo die Partei als Summe von Organisationen und die Mitglieder der Partei als Mitglieder einer der Parteiorganisationen betrachtet werden. Die Menschewiki, die sich bereits im Jahre 1903 gegen diese Formulierung wandten, schlugen statt dessen ein „System“ vor, bei dem man sich selbst zum Parteimitglied erklärt, ein „System“ der Ausdehnung des „Namens“ Parteimitglied auf jeden „Professor“ und „Gymnasiasten“, jeden „Sympathisierenden“ und „Streikenden“, der die Partei in irgendeiner Weise unterstützt, aber keiner Parteiorganisation angehört noch ihr anzugehören wünscht. Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, dass dieses originelle „System“, falls es sich in unserer Partei durchgesetzt hätte, unausbleiblich zur Überfüllung der Partei mit Professoren und Gymnasiasten und zu ihrer Ausartung in ein verschwommenes, formloses, desorganisiertes „Gebilde“ geführt hätte, das im Meere der „Sympathisierenden“ untergegangen wäre, die Grenzen zwischen Partei und Klasse verwischt und der Partei die Lösung der Aufgabe, die unorganisierten Massen auf das Niveau des Vortrupps zu heben, unmöglich gemacht hätte. Es erübrigt sich zu sagen, dass bei einem solchen opportunistischen „System“ unsere Partei ihre Rolle als organisierender Kern der Arbeiterklasse in unserer Revolution nicht hätte erfüllen können.

„Vom Standpunkt des Genossen Martow“, sagt Lenin, „bleibt die Grenze der Partei völlig unbestimmt, denn ´jeder Streikende´ darf ´sich für ein Parteimitglied erklären´. Welchen Nutzen bringt diese Verschwommenheit? Eine weite Verbreitung des ,Namens´. Der Schaden, den sie bringt, ist das Hereintragen der desorganisierenden Idee der Vermengung von Klasse und Partei.“

(Siehe 4. Ausgabe, Bd. 7, S.246 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. I, S. 360].)

Aber die Partei ist nicht nur die Summe der Parteiorganisationen. Die Partei ist zugleich das einheitliche System dieser Organisationen, ihre Vereinigung in aller Form zu einem einheitlichen Ganzen, mit oberen und unteren Organen der Führung, mit der Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit, mit praktischen Beschlüssen, die für alle Parteimitglieder bindend sind. Ohne diese Bedingungen kann die Partei kein einheitliches, organisiertes Ganzes sein, das fähig wäre, die planmäßige und organisierte Leitung des Kampfes der Arbeiterklasse zu verwirklichen.

„Früher“, sagt Lenin, „war unsere Partei kein formal organisiertes Ganzes, sondern nur die Summe vereinzelter Gruppen, und darum konnte es auch keine anderen Beziehungen zwischen diesen Gruppen geben als die ideologische Beeinflussung. Jetzt sind wir eine organisierte Partei geworden, und dies eben bedeutet die Schaffung einer Macht, die Verwandlung der Autorität der Ideen in eine Autorität der Macht, die Unterordnung der unteren Parteikörperschaften unter die höheren.“

(Siehe 4. Ausgabe, Bd.7, S.338/339, russ.)

Das Prinzip der Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit, das Prinzip der Leitung der Parteiarbeit durch ein Zentrum ruft nicht selten Angriffe seitens unbeständiger Elemente, Beschuldigungen wegen „Bürokratismus“, „Formalismus“ usw. hervor. Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, dass eine planmäßige Arbeit der Partei als Ganzes und die Leitung des Kampfes der Arbeiterklasse ohne Durchführung dieser Prinzipien unmöglich wären. Leninismus in der Organisationsfrage bedeutet die unbeugsame Durchführung dieser Prinzipien. Den Kampf gegen diese Prinzipien nennt Lenin „russischen Nihilismus“ und „Edelanarchismus“, der es verdient, verspottet und verworfen zu werden.

In seinem Buch „Ein Schritt vorwärts“ schreibt Lenin über diese unbeständigen Elemente:

„Dem russischen Nihilisten ist dieser Edelanarchismus besonders eigen. Die Parteiorganisation erscheint ihm als eine ungeheuerliche ´Fabrik´, die Unterordnung des Teils unter das Ganze und der Minderheit unter die Mehrheit erscheint ihm als ,Hörigkeit´…, die Arbeitsteilung unter“ der Leitung des Zentrums ruft bei ihm ein tragikomisches Gezeter gegen die Verwandlung der Menschen in ,Rädchen und Schräubchen´ hervor…, die Erwähnung des Organisationsstatuts der Partei ruft eine verächtliche Grimasse und die geringschätzige Bemerkung … hervor, dass es ja auch ganz ohne Statut gehen könnte.“

„Es ist wohl klar, dass das Geschrei über den vielgenannten Bürokratismus bloß ein Deckmantel für die Unzufriedenheit mit der personellen Zusammensetzung der Zentren ist, ein Feigenblatt… Du bist ein Bürokrat, denn der Parteitag hat dich nicht meinem Willen gemäß, sondern gegen meinen Willen bestimmt; du bist ein Formalist, denn du stützt dich auf formale Parteitagsbeschlüsse und nicht auf meine Zustimmung; du handelst grob-mechanisch, denn du berufst dich auf die ,mechanische´ Parteitagsmehrheit und nimmst keine Rücksicht auf meinen Wunsch, kooptiert zu werden; du bist ein Selbstherrscher, denn du willst die Macht nicht an die alte traute Kumpanei abgeben.“ (Gemeint ist die „Kumpanei“ Axelrod, Martow, Potressow u. a., die sich den Beschlüssen des II. Parteitags nicht fügten und Lenin „Bürokratismus“ vorwarfen. J.St )

(siehe 4. Ausgabe, Bd. 7, S. 361 und 335 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. I, S. 395])

3. Die Partei als höchstenorm der Klassenorganisation des Proletariats. Die Partei ist der organisierte Trupp der Arbeiterklasse. Aber die Partei ist nicht die einzige Organisation der Arbeiterklasse. Das Proletariat hat noch eine ganze Reihe anderer Organisationen, ohne die es keinen erfolgreichen Kampf gegen das Kapital führen kann: Gewerkschaften, Genossenschaften, Betriebsorganisationen, Parlamentsfraktionen, parteilose Frauenvereinigungen, die Presse, Kultur- und Aufklärungsorganisationen, Jugendverbände, revolutionäre Kampforganisationen (zur Zeit offener revolutionärer Aktionen), Deputiertensowjets als staatliche Organisationsform (wenn sich das Proletariat an der Macht befindet) usw. In ihrer übergroßen Mehrheit sind es parteilose Organisationen, und nur ein gewisser Teil von ihnen lehnt sich direkt an die Partei an oder bildet eine Abzweigung von der Partei. Alle diese Organisationen sind unter bestimmten Verhältnissen für die Arbeiterklasse absolut notwendig, denn ohne sie ist es unmöglich, die Klassenpositionen des Proletariats in den mannigfaltigen Sphären des Kampfes zu festigen, denn ohne sie ist es unmöglich, das Proletariat zu stählen als die Kraft, die berufen ist, an die Stelle der bürgerlichen Gesellschaftsordnung die sozialistische zu setzen. Wie kann aber bei dieser Fülle an Organisationen eine einheitliche Leitung verwirklicht werden? Wo ist die Garantie, dass das Vorhandensein so .zahlreicher Organisationen nicht zu einem Durcheinander in der Leitung führen wird? Man könnte sagen, dass jede dieser Organisationen innerhalb ihrer abgesonderten Sphäre tätig ist und dass sie deshalb einander nicht behindern können. Das ist natürlich richtig. Aber richtig ist auch, dass alle diese Organisationen in einer Richtung tätig sein müssen, denn sie dienen einer Klasse, der Klasse der Proletarier. Es fragt sich nun: Wer bestimmt die Linie, die allgemeine Richtung, in der alle diese Organisationen ihre Arbeit ausführen sollen? Wo ist jene zentrale Organisation, die dank der notwendigen Erfahrungen nicht nur fähig ist, diese allgemeine Linie auszuarbeiten, sondern dank der hierzu ausreichenden Autorität auch die Möglichkeit hat, alle diese Organisationen zu veranlassen, diese Linie zu verwirklichen, um eine Einheitlichkeit in der Führung zu erzielen und Stockungen unmöglich zu machen?

Eine solche Organisation ist die Partei des Proletariats.

Die Partei verfügt über alle hierzu nötigen Voraussetzungen, erstens, weil die Partei das Sammelbecken der besten Elemente der Arbeiterklasse ist, die mit den parteilosen Organisationen des Proletariats unmittelbar verbunden sind und diese sehr oft leiten; zweitens, weil die Partei, als Sammelbecken der Besten der Arbeiterklasse, die beste Schule zur Heranbildung von Führern der Arbeiterklasse ist, die fähig sind, die Organisationen ihrer Klasse in allen ihren Formen zu leiten; drittens, weil die Partei, als die beste Schule von Führern der Arbeiterklasse, dank ihrer Erfahrung und Autorität die einzige Organisation bildet, die fähig ist, die Leitung des Kampfes des Proletariats zu zentralisieren und auf diese Weise alle wie immer gearteten parteilosen Organisationen der Arbeiterklasse in Hilfsorgane und Transmissionsriemen zu verwandeln, die sie mit der Klasse verbinden.

Die Partei ist die höchste Form der Klassenorganisation des Proletariats.

Das bedeutet natürlich nicht, dass die parteilosen Organisationen, die Gewerkschaften, Genossenschaften usw., der Leitung der Partei formal unterstellt sein müssen. Es handelt sich nur darum, dass die Parteimitglieder, die diesen Organisationen angehören, als zweifellos einflussreiche Menschen alle Mittel der Überzeugung anwenden, damit die parteilosen Organisationen in ihrer Tätigkeit der Partei des Proletariats möglichst nahe gebracht werden und freiwillig ihre politische Führung anerkennen.

Deshalb sagt Lenin, dass die Partei „die höchste Form der Klassenvereinigung der Proletarier ist“, deren politische Führung sich auf alle anderen Formen der Organisation des Proletariats zu erstrecken hat. (Siehe 4. Ausgabe, Bd. 31, S. 32 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. II, S. 697].)

Deshalb ist die opportunistische Theorie von der „Unabhängigkeit“ und „Neutralität“ der parteilosen Organisationen, die unabhängige Parlamentarier und von der Partei losgelöste Journalisten, engstirnige Gewerkschaftler und verspießerte Genossenschaftler züchtet, völlig unvereinbar mit der Theorie und Praxis des Leninismus.

4. Die Partei als Instrument der Diktatur des Proletariats. Die Partei ist die höchste Form der Organisation des Proletariats. Die Partei ist die grundlegende, führende Kraft innerhalb der Klasse der Proletarier und unter den Organisationen dieser Klasse. Daraus folgt aber keineswegs, dass man die Partei als Selbstzweck, als sich selbst genügende Kraft ansehen kann. Die Partei ist nicht nur die höchste Form der Klassenvereinigung der Proletarier – sie ist zugleich das Instrument in der Hand des Proletariats zur Eroberung der Diktatur, solange diese noch nicht erobert ist, zur Festigung und zum Ausbau der Diktatur, nachdem sie erobert ist. Die Partei könnte nicht eine so hohe Bedeutung erlangen und könnte nicht alle übrigen Formen der Organisation des Proletariats überragen, wenn vor dem Proletariat nicht die Frage der Macht stünde, wenn die Verhältnisse des Imperialismus, die Unvermeidlichkeit von Kriegen, das Vorhandensein einer Krise nicht die Konzentration aller Kräfte des Proletariats auf einen Punkt, die Vereinigung aller Fäden der revolutionären Bewegung an einer Stelle erforderten, um die Bourgeoisie zu stürzen und die Diktatur des Proletariats zu erkämpfen. Das Proletariat braucht die Partei vor allem als seinen Kampfstab, der notwendig ist, um erfolgreich die Macht zu ergreifen. Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, dass es dem Proletariat in Rußland nicht möglich gewesen wäre, seine revolutionäre Diktatur zu verwirklichen, wenn es keine Partei gehabt hätte, die fähig war, die Massenorganisationen des Proletariats um sich zu scharen und im Verlauf des Kampfes die Leitung der gesamten Bewegung zu zentralisieren.

Aber das Proletariat braucht die Partei nicht nur zur Eroberung der Diktatur, es braucht sie noch notwendiger, um die Diktatur zu behaupten und sie im Interesse des vollständigen Sieges des Sozialismus zu festigen und auszubauen.

„Sicherlich sieht jetzt schon fast jeder“, sagt Lenin, „dass die Bolschewiki keine zweieinhalb Monate, geschweige denn zweieinhalb Jahre die Macht hätten behaupten können ohne die strengste, wahrhaft eiserne Disziplin in unserer Partei, ohne die vollste und grenzenlose Unterstützung der Partei durch die gesamte Masse der Arbeiterklasse, das heißt durch alle denkenden, ehrlichen, selbstlosen, einflussreichen Menschen dieser Klasse, die fähig sind, die rückständigen Schichten zu führen oder mit sich fortzureißen.“

(Siehe 4. Ausgabe, Bd. 31, S. 7 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. II, S.671/672].)

Was heißt aber, die Diktatur „behaupten“ und „ausbauen“? Das heißt, die Millionenmassen der Proletarier mit dem Geist der Disziplin und Organisiertheit beseelen; das heißt, in den proletarischen Massen eine Schutzwehr und ein Bollwerk gegen die zerfressenden Einflüsse der klein-bürgerlichen Elementargewalt und der kleinbürgerlichen Gewohnheiten schaffen; das heißt, die organisatorische Arbeit der Proletarier zur Umerziehung und Ummodelung der kleinbürgerlichen Schichten unterstützen; das heißt, den proletarischen Massen helfen, sich selbst zu erziehen, als die Kraft, die fähig ist, die Klassen aufzuheben und die Bedingungen für die Organisierung der sozialistischen Produktion vorzubereiten. Aber das alles durchzuführen ist unmöglich ohne eine Partei, die durch ihre Geschlossenheit und Disziplin stark ist.

„Die Diktatur des Proletariats“, sagt Lenin, „ist ein zäher Kampf, ein blutiger und unblutiger, gewaltsamer und friedlicher, militärischer und wirtschaftlicher, pädagogischer und administrativer Kampf gegen die Mächte und Traditionen der alten Gesellschaft. Die Macht der Gewohnheit von Millionen und aber Millionen ist die fürchterlichste Macht. Ohne eine eiserne und kampfgestählte Partei, ohne eine Partei, die das Vertrauen alles dessen genießt, was in der gegebenen Klasse ehrlich ist, ohne eine Partei, die es versteht, die Stimmung der Massen zu verfolgen und zu beeinflussen, ist es unmöglich, einen solchen Kampf erfolgreich zu führen.“

(Siehe 4. Ausgabe, Bd. 31, S. 27 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. 11, S. 691].)

Das Proletariat braucht die Partei dazu, um die Diktatur zu erobern und zu behaupten. Die Partei ist ein Instrument der Diktatur des Proletariats.

Daraus folgt aber, dass mit dem Verschwinden der Klassen, mit dem Absterben der Diktatur des Proletariats auch die Partei absterben muss.

5. Die Partei als eine mit der Existenz von Fraktionen unvereinbare Einheit des Willens. Die Diktatur des Proletariats zu erobern und zu behaupten ist unmöglich ohne eine Partei, die durch ihre Geschlossenheit und eiserne Disziplin stark ist. Die eiserne Disziplin in der Partei aber ist undenkbar ohne die Einheit des Willens, ohne die völlige und unbedingte Einheit des Handelns aller Parteimitglieder. Das bedeutet natürlich nicht, dass dadurch die Möglichkeit eines Meinungskampfes in der Partei ausgeschlossen wird. Im Gegenteil, die eiserne Disziplin schließt Kritik und Meinungskampf in der Partei nicht nur nicht aus, sondern setzt sie vielmehr voraus. Das bedeutet erst recht nicht, dass die Disziplin „blind“ sein soll. Im Gegenteil, die eiserne Disziplin schließt Bewusstheit und Freiwilligkeit der Unterordnung nicht aus, sondern setzt sie vielmehr voraus, denn nur eine bewusste Disziplin kann eine wirklich eiserne Disziplin sein. Aber nachdem der Meinungskampf beendet, die Kritik erschöpft und ein Beschluss gefasst ist, bildet die Einheit des Willens und die Einheit des Handelns aller Parteimitglieder jene unerlässliche Bedingung, ohne die weder eine einheitliche Partei noch eine eiserne Disziplin in der Partei denkbar ist.

„In der gegenwärtigen Epoche des verschärften Bürgerkriegs“, sagt Lenin, „wird die Kommunistische Partei nur dann ihre Pflicht erfüllen können, wenn sie möglichst zentralistisch organisiert ist, wenn in ihr eine eiserne Disziplin herrscht, die an die militärische Disziplin grenzt, und wenn ihr Parteizentrum ein mit Machtbefugnissen ausgestattetes, autoritatives Organ mit weitgehenden Vollmachten ist, das das allgemeine Vertrauen der Parteimitgliedschaft genießt.“

(Siehe 4. Ausgabe, Bd. 31, S.185, russ.)

So steht es mit der Disziplin in der Partei unter den Bedingungen des Kampfes vor Eroberung der Diktatur.

Dasselbe, jedoch in noch höherem Maße, muss von der Disziplin in der Partei nach Eroberung der Diktatur gesagt werden.

„Wer auch nur im geringsten“, sagt Lenin, „die eiserne Disziplin der Partei des Proletariats (besonders während seiner Diktatur) schwächt, der hilft faktisch der Bourgeoisie gegen das Proletariat.“

(Siehe 4. Ausgabe, Bd. 31, S. 27 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. II, S. 692].)

Daraus folgt aber, dass das Bestehen von Fraktionen unvereinbar ist sowohl mit der Einheit der Partei als auch mit ihrer eisernen Disziplin. Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, dass die Existenz von Fraktionen zum Entstehen mehrerer Zentren führt, das Bestehen mehrerer Zentren aber bedeutet das Fehlen eines gemeinsamen Zentrums in der Partei, die Zersplitterung des einheitlichen Willens, die Schwächung und Zersetzung der Disziplin, die Schwächung und Zersetzung der Diktatur. Die Parteien der II. Internationale, die gegen die Diktatur des Proletariats kämpfen und die Proletarier nicht zur Macht führen wollen, können sich natürlich einen Liberalismus wie die Fraktionsfreiheit gestatten, da sie eine eiserne Disziplin gar nicht brauchen. Die Parteien der Kommunistischen Internationale aber, die ihre Arbeit auf die Aufgabe einstellen, die Diktatur des Proletariats zu erkämpfen und sie zu festigen, können weder auf „Liberalismus“ noch auf Fraktionsfreiheit eingehen.

Die Partei ist eine Einheit des Willens, die jegliche Fraktionsmacherei und Machtzersplitterung in der Partei ausschließt.

Daher Lenins Hinweis auf die „Gefährlichkeit der Fraktionsmacherei vom Standpunkt der Parteieinheit und der Verwirklichung der Willenseinheit der Avantgarde des Proletariats als der Grundbedingung für den Erfolg der Diktatur des Proletariats“, der in einer speziellen Resolution des X. Parteitags „Über die Einheit der Partei“16 verankert wurde.

Daher die Forderung Lenins, jegliche Fraktionsmacherei vollständig auszumerzen“ und „ausnahmslos alle Gruppen, die sich auf der einen oder anderen Plattform gebildet haben, sofort aufzulösen“, bei Strafe des „unbedingten und sofortigen Ausschlusses aus der Partei“ (siehe Resolution „Über die Einheit der Partei“).

6. Die Partei wird dadurch gestärkt, dass sie sich von opportunistischen Elementen säubert. Die Quelle der Fraktionsmacherei in der Partei sind ihre opportunistischen Elemente. Das Proletariat ist keine nach außen abgeschlossene Klasse. Es erhält ständigen Zustrom durch Elemente aus der Bauernschaft, dem Kleinbürgertum, der Intelligenz, die durch die Entwicklung des Kapitalismus proletarisiert wurden. Gleichzeitig geht in den Oberschichten des Proletariats ein Zersetzungsprozess vor sich, hauptsächlich unter den Gewerkschaftlern und Parlamentariern, die von der Bourgeoisie aus dem kolonialen Extraprofit gefüttert werden. „Diese Schicht der verbürgerlichten Arbeiter“, sagte Lenin, „oder der ´Arbeiteraristokratie´, in ihrer Lebensart, durch ihr Einkommen, durch ihre ganze Weltanschauung vollkommen verspießert, ist die Hauptstütze der II. Internationale und in unseren Tagen die soziale (nicht militärische) Hauptstütze der Bourgeoisie. Denn sie sind wirkliche Agenten der Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterbewegung, die Arbeiterkommis der Kapitalistenklasse…, wirkliche Schrittmacher des Reformismus und Chauvinismus.“ (Siehe 4. Ausgabe, Bd. 22, S. 182 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. I, S. 774].)

Alle diese kleinbürgerlichen Gruppen dringen auf eine oder die andere Weise in die Partei ein und tragen in sie den Geist des Schwankens und des Opportunismus, den Geist der Zersetzung und der Unsicherheit hinein. Sie sind es hauptsächlich, die die Quelle der Fraktionsmacherei und des Zerfalls bilden, die Quelle der Desorganisation und Sprengung der Partei von innen heraus. Gegen den Imperialismus kämpfen, wenn man solche „Bundesgenossen“ im Rücken hat, heißt in die Lage von Leuten geraten, die von zwei Seiten beschossen werden – von der Front und vom Hinterland. Deshalb ist der schonungslose Kampf gegen solche Elemente, ihre Verjagung aus der Partei die Vorbedingung für den erfolgreichen Kampf gegen den Imperialismus.

Die Theorie der „Überwältigung“ der opportunistischen Elemente durch ideologischen Kampf innerhalb der Partei, die Theorie der „Überwindung“ dieser Elemente im Rahmen ein und derselben Partei ist eine faule und gefährliche Theorie, die die Gefahr heraufbeschwört, die Partei zu einem Zustand der Lähmung und des chronischen Siechtums zu verurteilen, sie mit Haut und Haar dem Opportunismus auszuliefern, das Proletariat ohne revolutionäre Partei zu lassen, das Proletariat der wichtigsten Waffe im Kampf gegen den Imperialismus zu berauben. Unsere Partei hätte sich nicht ihren Weg bahnen können, sie hätte nicht die Macht ergreifen und die Diktatur des Proletariats organisieren können, sie hätte aus dem Bürgerkrieg nicht als Sieger hervorgehen können, wenn sie die Martow und Dan, die Potressow und Axelrod in ihren Reihen gehabt hätte. Wenn es unserer Partei gelungen ist, in der Partei die innere Einheit, die beispiellose Geschlossenheit ihrer Reihen zu schaffen, so vor allem deshalb, weil sie es verstanden hat, sich rechtzeitig von dem Unrat des Opportunismus zu reinigen, weil sie es verstanden hat, die Liquidatoren und Menschewiki aus der Partei zu verjagen. Der Weg zur Entwicklung und Festigung der proletarischen Parteien führt über ihre Säuberung von den Opportunisten und Reformisten, den Sozialimperialisten und Sozialchauvinisten, den Sozialpatrioten und Sozialpazifisten.

Die Partei wird gestärkt dadurch, dass sie sich von den opportunistischen Elementen reinigt.

„Wenn man in seinen Reihen Reformisten, Menschewiki hat“, sagt Lenin, „so ist es unmöglich, in der proletarischen Revolution zu siegen, so ist es unmöglich, sie zu behaupten. Das steht offenbar prinzipiell fest. Das ist sowohl in Rußland als auch in Ungarn durch die Erfahrung anschaulich bestätigt worden… In Rußland hat es oftmals schwierige Situationen gegeben, wo das Sowjetregime ganz sicher gestürzt worden wäre, wenn die Menschewiki, Reformisten, kleinbürgerlichen Demokraten innerhalb unserer Partei verblieben wären… In Italien stehen, wie allgemein angenommen wird, entscheidende Kämpfe zwischen Proletariat und Bourgeoisie um die Eroberung der Staatsmacht bevor. In einem solchen Augenblick ist nicht nur die Entfernung der Menschewiki, der Reformisten, der Turatileute aus der Partei unbedingt notwendig, sondern kann sich sogar die Entfernung ausgezeichneter Kommunisten, die zu Schwankungen neigen und Schwankungen in der Richtung der ´Einheit´ mit den Reformisten an den Tag legen, von allen verantwortlichen Posten als nützlich erweisen… Am Vorabend der Revolution und in Augenblicken des erbittertsten Kampfes um ihren Sieg können die geringsten Schwankungen innerhalb der Partei alles zugrunde richten, die Revolution vereiteln, die Macht den Händen des Proletariats entreißen, denn diese Macht ist noch nicht fest begründet und der Ansturm gegen sie noch allzu stark. Wenn schwankende Führer in einer solchen Zeit abtreten, so schwächt das nicht, sondern stärkt sowohl die Partei als auch die Arbeiterbewegung und die Revolution.“

(Siehe 4. Ausgabe, Bd. 31, S. 357, 358, 359, russ.)

Anmerkungen

1. Gemeint ist eine Äußerung von K. Marx in dem Brief an F. Engels vom 16. April 1856 (siehe K. Marx und F. Engels, „Ausgewählte Briefe“, 1947, S. 86 [deutsch in Karl Marx und Friedrich Engels „Ausgewählte Schriften“ in zwei Bänden, Bd. II, S. 426]).

2. Gemeint ist der Artikel von F. Engels „Die Bakunisten an der Arbeit“ (siehe K. Marx und F. Engels, „Werke“, Bd. XV, 1933, S.105-124, russ.).

3. W. I. Lenin, „Der ´linke Radikalismus´, die Kinderkrankheit im Kommunismus“ (siehe „Werke“, 4. Ausgabe, Bd. 31, S. 9 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. II, S. 673]).

4. W. I. Lenin, „Was sind die ´Volksfreunde´ und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?“ (siehe „Werke“, 4. Ausgabe, Bd.1, S.278/279, russ.).

5. Der Baseler Kongress der II. Internationale tagte vom 24. bis zum 25. November 1912. Er wurde anlässlich des Balkankrieges und der drohenden Gefahr eines Weltkrieges einberufen. Der Kongress erörterte nur eine Frage – die internationale Lage und gemeinsame Aktionen gegen den Krieg. In seinem Manifest rief der Kongress die Arbeiter auf, die Organisation und die Stärke des Proletariats für den revolutionären Kampf gegen die Kriegsgefahr auszunutzen, den „Krieg dem Kriege“ zu erklären.

6. Siehe Karl Marx, „Das Kapital“, Band I, 1935, S. XXIII [deutsche Ausgabe, Berlin 1951, S. 18].

7. Siehe F. Engels, „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“, 1939, S.21 [deutsch in Karl Marx und Friedrich Engels „Ausgewählte Schriften“ in zwei Bänden, Bd. II, S. 347].

8. Siehe W. I. Lenin, „Werke“, 4. Ausgabe, Bd. 14 (russ.).

9. K. Marx, „Thesen über Feuerbach“, (siehe F. Engels, „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“, 1939, Anhang [deutsch in Karl Marx und Friedrich Engels „Ausgewählte Schriften“ in zwei Bänden, Bd. II, S. 376-378]).

10. W. I. Lenin, „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ (siehe „Werke“, 4. Ausgabe, Bd. 22, S. 173-290 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. I, S. 767-875]).

11. J. W. Stalin beruft sich auf W.I. Lenins 1905 geschriebene Artikel: „Die Sozialdemokratie und die provisorische revolutionäre Regierung“, woraus er den Auszug anführt, „Die revolutionäre demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ und „Über die provisorische revolutionäre Regierung“ (siehe W. I. Lenin, „Werke“, 4. Ausgabe, Bd. 8, S. 247-263, 264-274, 427-447, russ.).

12. Siehe K. Marx und F. Engels, „Manifest der Kommunistischen Partei“, 1939, S. 10, und „Ausgewählte Briefe“, 1947, 5.263 [deutsch in „Ausgewählte Schriften“ in zwei Bänden, Bd.!, S. 16 und Bd. II, S. 435].

13. Siehe F. Engels, „Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland“, 1922, S. 41 und 66/67 [deutsch in Karl Marx und Friedrich Engels „Ausgewählte Schriften“ in zwei Bänden, Bd. II, S. 395 und 408].

14. Der Allrussische Verband landwirtschaftlicher Genossenschaften bestand von August 1921 bis Juni 1929.

15. Siehe W. I. Lenins Artikel „Über die Bedeutung des Goldes jetzt und nach dem vollen Sieg des Sozialismus“ („Werke“, 4. Ausgabe, Bd. 33, S. 85-92 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. II, S. 892-899]).

16. Die Resolution „über die Einheit der Partei“ wurde von W. I. Lenin verfasst und auf dem X. Parteitag der KPR(B), der vom 8. bis zum 16. März 1921 tagte, angenommen. (Siehe W. I. Lenin, „Werke“, 4. Ausgabe, Bd. 32, S. 217-220 [deutsch in „Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd. II, S.801 bis 804] und ferner „Die KPdSU(B) in Resolutionen und Beschlüssen der Parteitage, Parteikonferenzen und Plenartagungen des ZK“, Teil I, 1941, S. 364-366, russ.)