Leipziger Volkszeitung, 31. Mai, 1. Juni, 10. Juni u. 17. Juni 1918.
Aus Franz Mehring, Krieg und Politik, Bd.I, Berlin 1959, S.97-101.
I. Die Anklage gegen die Bolshewiki
Im Berliner Tageblatt bemüht sich Herr Hans Vorst, der beste und unbefangenste Kenner russischer Zustände in der bürgerlichen Presse Deutschlands, die Herrschaft der Bolschewiki als bedroht darzustellen durch die mit dem gemeinen Verbrechertum verbündeten Anarchisten. Allerdings nicht in dem landläufig-reaktionären Sinne, wie ihn Moltke bei der Beratung des Sozialistengesetzes vertrat, daß nämlich in Revolutionen eine radikale Fraktion immer noch durch eine radikalere überboten wird, bis nur allgemeiner Mord und Totschlag übrigbleibt, sondern in der veredelten Tendenz, den Bolschewiki zuzureden, gegenüber der Gefahr, der ihnen von links droht, den hoffnungslosen Kommunismus aufzugeben und die für die Arbeiterschaft allein zu schwere Verantwortung für das Schicksal des Staates und der Revolution auf die Schultern der gesamten Demokratie des Landes zu verteilen.
Daß die Gefahr „von links her“ nun wirklich so drohend ist, wie Herr Vorst behauptet, hat er in seinen zwei langen Artikeln jedenfalls nicht bewiesen. Der Anarchismus hat in den etwa sechzig Jahren, seit denen es eine revolutionäre Bewegung in Rußland gibt, in ihr immer eine verhältnismäßig geringe Bedeutung gehabt. „Der Anarchismus ist in der russischen Revolution nicht die Theorie des kämpfenden Proletariats“, schrieb Rosa Luxemburg im Jahre 1905, „sondern das ideologische Aushängeschild des konterrevolutionären Lumpenproletariats geworden, das wie ein Rudel Haifische hinter dem Schlachtschiff der Revolution wimmelt.“ 1 Und darin, daß die Bolschewiki das Lumpenproletariat, das bei jeder Revolution aus dem Schlamm einer verwesenden Gesellschaft emporzutauchen pflegt, mit eiserner Faust zu bändigen gewußt haben, sind bisher alle glaubwürdigen Berichte aus Rußland einig gewesen.
In der Tat muß auch Herr Vorst zugeben, daß es bisher so gut wie gar keine anarchistische Bewegung in Rußland gegeben hat. Er muß bis auf die Episode Netschajew 2 zurückgehen, die sich in den Jahren 1869 und 1870 abspielte, um einen Vorläufer des heutigen Anarchismus zu entdecken, der sich nach seiner Behauptung mit dem gemeinen Verbrechen verbündet hat. Jedoch die Schilderung, die er von der Episode Netschajew entwirft, stimmt so wenig mit den Tatsachen, daß sie an einem so guten Kenner russischer Zustände, wie Herr Vorst unzweifelhaft ist, einigermaßen verwundern muß. Netschajew ist niemals ein „Schüler Bakunins“ gewesen; es war vielmehr das Pech Bakunins, daß er den Schilderungen glaubte, die ihm Netschajew als angeblicher Emissär eines allmächtigen Komitees von den tatsächlichen Zuständen in Rußland überbrachte, übrigens auch nur kurze Zeit, denn Bakunin kam bald dahinter, daß Netschajew ein gewaltiger Schwindler vor dem Herrn war. Und die „gemeinen Verbrechen“, die Netschajew freilich auf seinem Konto hat, beging er nicht an den Gegnern der Revolution oder an Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft, sondern an seinen eigenen, glücklicherweise spärlichen Anhängern, die er, um sie unheilbar zu kompromittieren, belog, betrog, bestahl und, wenn sie sich einige ebenso berechtigte wie bescheidene Zweifel an seinen Schwindeleien erlaubten, durch feigen Meuchelmord aus dem Wege räumte. Ist der Anarchismus, durch den Herr Vorst die Bolschewiki bedroht sieht, in der Tat den Lenden Netschajews entsprossen, so brauchen die Bolschewiki einstweilen noch nicht vor ihm zu zittern.
Im übrigen haben wir bei diesen Artikeln des Herrn Vorst einen Augenblick verweilt, nicht um dem Verfasser, dessen Verdienste wir durchaus zu schätzen wissen, etwas am Zeuge zu flicken, sondern umgekehrt, um an einem Beispiele aufzuzeigen, wie schwer es ist, sich heute über russische Zustände zu unterrichten, selbst wenn man an eine sonst gute Quelle geht. Herr Vorst macht übrigens selber auch durchaus kein Hehl aus dieser Schwierigkeit. Zwar hat sie sich bis zu einem gewissen Grade gehoben, seitdem der Friede zwischen Rußland und den Mittelmächten beschlossen worden ist; man kann sich jetzt aus russischen Zeitungen einigermaßen unterrichten, aber es fehlt doch noch viel an der Möglichkeit, ein klares und erschöpfendes Bild von den russischen Zuständen zu gewinnen.
Für keine Partei ist diese Lage der Dinge aber peinlicher als für die Sozialdemokratie. Wer alt genug ist, sich noch zu erinnern, mit wie atemloser Spannung im Frühjahr 1871 die Nachrichten vom Tun und Treiben der Pariser Kommune von der deutschen Arbeiterschaft erwartet wurden, in der die Sozialdemokratie noch verhältnismäßig spärlich vertreten war, der mag billig erstaunen, wenn er sieht, mit wie gelassener Ruhe das deutsche Proletariat dem ungleich großartigerem Versuch der Bolschewiki zusieht, ein großes Reich nach sozialistischen Grundsätzen zu reorganisieren, nach denselben Grundsätzen, zu denen sich die deutsche Sozialdemokratie von jeher bekannt hat. Die Bolschewiki selbst werden nicht müde zu wiederholen, daß ihr endgültiges Schicksal abhängt von der Teilnahme und von dem Verständnis, den ihr Kampf in dem europäischen Proletariat findet, und sicherlich haben sie allen Anspruch darauf, daß namentlich auch die deutsche Arbeiterklasse ein richtiges Verständnis ihrer Politik gewinnt. Zu diesem Behufe möchten wir uns mit einigen Anklagen beschäftigen, die gegen die Bolschewiki erhoben wurden, um zu prüfen, was denn nun eigentlich Wahres an ihnen ist.
Da läuft uns gerade eine Schrift über den Weg, betitelt Im Kampf um die Wahrheit und verfaßt von Parvus-Helphand, dem ehemaligen erzradikalen Sozialdemokraten und nunmehrigen Nährpater der Glocke, der J.K. und andrer regierungssozialistischer Makulatur. Er war im vorigen Frühjahre als Botschafter der Scheidemänner in Stockholm erschienen, um mit der dortigen Auslandsvertretung der Bolschewiki zu mogeln, blitzte aber damit nach Verdienst ab und ist nun voll Zorns über die „Narrentaktik“ der Bolschewiki, die, statt mit Herrn Scheidemann Arm in Arm ihr Jahrhundert in die Schranken zu fordern, lieber mit den Zimmerwaldern verhandelt hätten, „das heißt mit einem Häuflein Menschen, die auch nicht die geringste Bedeutung hatten“, und namentlich, was Herrn Parvus besonders schmerzlich sein wird, nie die geringste Anlage für gerissene Börsenspekulationen bekundet haben. Nun muß Parvus selbst zugeben, der im vorigen Frühjahre geplante internationale Sozialistenkongreß 3 sei durch die Ententesozialisten vereitelt worden, aber er meint, wenn die Bolschewiki nur mit den Scheidemännern sich eingelassen hätten, so wäre doch ein Kongreß zustande gekommen, der den Frieden diktiert und den politischen Einfluß der Arbeiter auch für die Zukunft gefestigt hätte.
Über diesen ausgekochten Blödsinn braucht kein Wort verloren zu werden. Aber Parvus hat noch einen anderen Beweis für die „Narrentaktik“ der Bolschewiki. Nach seiner Darstellung hatten die Bolschewiki den Mittelmächten grimmige Fehde geschworen im Vertrauen auf eine Revolution in Deutschland und Österreich, aber als diese Revolution ausblieb, waren sie geprellt. „Nicht gewillt, die Niederlage einzugestehen und wenigstens jetzt endlich Frieden zu schließen, erließen sie die berühmte Erklärung, daß sie die Operationen einstellten, aber keinen Frieden unterzeichneten. Sie sagten damit, daß sie gern Krieg führen möchten, aber es nicht könnten, und der deutsche Generalstab zog daraus die notwendigen Folgerungen. Rußland wurde zerschmettert, und die Bolschewiki trugen die volle Verantwortung für den Frieden von Brest-Litowsk.“ So der würdige Parvus, und die von ihm ausgehaltene J.K. findet, daß diese Darstellung „viel menschlich Anziehendes“ habe und „Verbreitung in weite Kreise“ verdiene.
Wir halten dies Urteil für etwas zu günstig; denn für die Zwecke der Massenverdummung ist die Darstellung des Parvus gar zu dumm. Schließlich weiß doch jedes Kind, daß die Bolschewiki den allgemeinen demokratischen Völkerfrieden gesucht und angeboten hatten und daß, wenn es zu diesem Frieden nicht gekommen ist, sondern zu dem Gewaltfrieden von Brest-Litowsk, ganz andre Ursachen mitgespielt haben als das von Parvus entdeckte grimmige Revanchegelüst der Bolschewiki. Indessen lohnt es sich, bei dieser Anklage gegen sie etwas länger zu verweilen, als ihre volle „Verantwortung für Brest-Litowsk“ als ihr „Tilsit“ auch sonst vielfach kolportiert und gerade dieser Vergleich mit dem Frieden zu Tilsit besonders geeignet ist, die Wahrheit, die auf den Kopf gestellt werden soll, wieder auf die Füße zu stellen.
II. Brest-Litowsk und Tilsit
Die Friedensschlüsse von Brest-Litowsk und Tilsit haben sicherlich manche Ähnlichkeit; namentlich soweit es sich in Tilsit um den Frieden zwischen Frankreich und Preußen handelt. Eine gewaltige Übermacht diktierte dem wehrlosen Gegner ihre Gesetze, die Gunst des Augenblicks bis auf den letzten Tropfen ausnützend.
Aber mit solchen Frieden ist es ein böses Ding. Im Augenblick, wo sie geschlossen werden, liegt auf dem Sieger heller Sonnenschein und auf dem Besiegten tiefe Finsternis, aber dem Sonnenschein pflegt sehr schnell die Nacht zu folgen und der Finsternis sehr früh das Morgenrot. Nach Tilsit genügte dazu schon ein so kurzer Augenblick, wie im Völkerleben ein halb Dutzend Jahre sind.
Tilsit hat lange Zeit als der Höhepunkt napoleonischen Genies und Glücks gegolten, aber seit nun doch auch schon geraumer Zeit gilt es im Gegenteil als der Tiefpunkt napoleonischen Genies und Glücks. Und wenigstens ein Mann war sich schon zur Zeit, wo der Friede geschlossen wurde, über ihn völlig klar; das war Talleyrand, der französische Minister des Auswärtigen, der ihn nach Napoleons Vorschrift dem Gegner diktieren mußte. Er sagte: „Dieser Vertrag ist nur ein Auskunftsmittel, das man für ein System ausgeben will“; er witterte Leichengeruch und begann am Tage nach dem Frieden mit dem besiegten Zaren zu konspirieren. Es ist gewiß erfreulich, daß es in den Reihen der deutschen Diplomatie keine solchen Verräter gibt, wie Talleyrand einer war, aber wenn etwas von Talleyrands diplomatischer Voraussicht unter den deutschen Diplomaten lebendig gewesen wäre, die den Frieden von Brest-Litowsk abgeschlossen haben, so wäre es sicherlich kein Unglück für das Deutsche Reich gewesen.
Im Grunde braucht man aber gar nicht einmal die Autorität eines Franzmannes oder auch nur eines Diplomaten, um solche Gewalt- frieden richtig einzuschätzen, wie sie in Brest-Litowsk und Tilsit geschlossen worden sind. Selbst Poeten verstehen den Zusammenhang schon. In einem Gedicht, das hier wohl zitiert werden darf, da es einem preußischen Kronprinzen gewidmet und von diesem mit huldvollem Danke angenommen wurde, sang Graf Platen vor achtzig Jahren:
„Wie mancher wähnt den Feind zersplittert,
indes die Nemesis umwittert
des Siegers Zelt.
Triumphe sind die Niederlagen,
wenn ihre Frucht besteht in Klagen,
im grenzenlosen Haß der Welt.“
Und auch Bismarck wußte solche „Imponderabilien“ noch zu wägen, so beispielsweise 1866, als er bei Nikolsburg bis aufs Blut gegen einen Frieden stritt, der dem österreichischen Staate solche Opfer auferlegte, die von einem großen Reich nie vergeben und vergessen zu werden pflegen.
Soviel über die Glanzseiten der Friedensschlüsse von Brest-Litowsk und Tilsit! Was nun ihre Schmachseiten anbetrifft, so fällt die „volle Verantwortung“ für den Frieden von Tilsit auf das altpreußische und für den Frieden von Brest-Litowsk auf das zarische System, und selbst diese berühmten Demolierer brauchten Jahrhunderte, um einen so gründlichen Bankrott in die Wege zu leiten. Die Bolschewiki, und wenn jeder einzelne von ihnen ein Peter der Große wäre, sind eine viel zu jugendliche Partei, als daß sie die Möglichkeit und die Zeit gehabt hätten, einen Weltkrach zu inszenieren. Will man sie überhaupt mit Tilsit in einen Vergleich bringen, so brauchen sie sich durchaus nicht dieses Vergleichs zu schämen; sie haben eine ähnliche Aufgabe wie jene preußischen Reformer, die die Niederlage nicht verschuldet haben, aber sie sühnen wollten, die den Karren, den sie nicht in den Dreck geschoben hatten, wieder aufs Trockne bringen mußten, die deshalb zunächst nicht mit klirrendem Heldenschritt die Bühne beschreiten konnten, sondern sich mit mancher Demütigung abfinden mußten, die ihnen den steifen Nacken wundscheuerte, denen aber der geschichtliche Ruhm geworden ist, in entscheidungsschweren Tagen die Zeichen der Zeit richtig erkannt zu haben; wir meinen Männer wie Scharnhorst, Gneisenau, den Freiherrn von Stein und andre, die sich historisch immerhin schon sehen lassen können.
Will man den Bolschewiki einen Vorwurf daraus machen, daß sie den Krieg nicht fortgesetzt haben, statt sich dem Frieden zu Brest-Litowsk zu unterwerfen, so muß man nachweisen können, daß die Fortsetzung des Krieges eine europäische Revolution hervorgerufen haben würde. Wer diesen Nachweis führen zu können glaubt, der mag den ersten Stein auf die Bolschewiki werfen. Aber bisher ist der Nachweis noch nicht einmal versucht, geschweige denn geführt worden, daß diese einzige Voraussetzung eines Erfolges auch nur im Bereich einer entfernten Möglichkeit gelegen hätte. Fehlte sie aber, so wäre die Fortführung des Krieges auf ein Verbluten der russischen Revolution hinausgekommen – zugunsten des Imperialismus der Entente, den die Bolschewiki mit Recht nicht minder hassen als den Imperialismus der Mittelmächte.. Übrigens hat ein ähnlicher Gesichtspunkt auch nach Tilsit mitgespielt, wo der Wille der Reformer zum augenblicklichen Losschlagen immer wieder gelähmt wurde durch die Aussicht, daß ein Mißlingen dem zarischen Despotismus auf die Beine helfen würde, den wenigstens die Einsichtigeren von ihnen noch mehr fürchteten als den napoleonischen.
Der ganze Komplex von Fragen, der durch den Frieden von Brest-Litowsk aufgeworfen wurde, ist nach Tilsit aufs gründlichste erörtert worden. Wenn damals die preußischen Reformer entschieden haben wie heute die Bolschewiki, so hat ihnen die Geschichte recht gegeben, und niemand hat behauptet, daß es ihnen an Entschlossenheit und Mut gefehlt hätte, den Kampf sofort nach Tilsit wiederaufzunehmen. Für diesen Fall hat Gneisenau, der spätere eigentliche Sieger über Napoleon, Insurrektionspläne von einer Kühnheit und Rücksichtslosigkeit entworfen, daß sich ihrer kein heutiger Revolutionär zu schämen hätte. Aber er und seine Genossen hatten den höheren Mut, Vorwürfen zu trotzen, wie sie auf dem Moskauer Sowjetkongreß, der über den Frieden von Brest-Litowsk zu entscheiden hatte, gegen die Bolschewiki vorgebracht wurden: Vorwürfen, die nach Tilsit übrigens von einem preußischen Junker, der nebenbei den Vorzug hatte, ein genialer Dichter zu sein, viel durchschlagender formuliert wurden als von den Rednern der Menschewiki in Moskau. Heinrich v. Kleist sang nach Tilsit:
„Nicht der Sieg ist’s, den der Deutsche fordert,
hilflos, wie er schon am Abgrund steht:
Wenn der Krieg nur fackelgleich entlodert,
wert der Leiche, die zu Grabe geht.“
Das ist die einzige Logik, womit sich die Taktik der Bolschewiki gegenüber dem Frieden von Brest-Litowsk anfechten läßt, aber es ist freilich eine Logik zum Totschießen, wie der arme Kleist durch sein eigenes Schicksal bekräftigt hat.
Man braucht also der Redensart von dem „Tilsit der Bolschewiki“, die besonders geeignet ist, die deutschen Arbeiter zu verwirren, nur ins Gesicht zu leuchten, um sie in ihrer völligen Nichtigkeit zu erkennen. Wobei denn auch nicht zu übersehen ist, daß es sich bei den „paar Jahren des Atemholens“ bei den preußischen Reformern nach Tilsit nur um kleine Reformen handelte, während die Bolschewiki die russische Revolution zu retten bemüht sind, um den ersten großen Versuch einer sozialen Wiedergeburt zur unternehmen.
III. Marx und die Pariser Kommune
Von andern Anklagen gegen die Bolschewiki erledigt sich die Vorhaltung des Herrn Hans Vorst von selbst; seine Zumutung, die Bolschewiki sollten ihren „hoffnungslosen Kommunismus“ aufgeben und gemeinsam mit der ganzen Demokratie Rußlands an der Rettung des Landes arbeiten, ist ja nur ein Echo des Singsangs, der vor dem Kriege von dem Berliner Tageblatt und der Frankfurter Zeitung an die deutsche Sozialdemokratie gerichtet wurde, um von dieser Seite mit einem spöttischen Achselzucken erwidert zu werden.
Innerlich mit diesem Vorwurf bis zu einem gewissen Grade verwandt, aber von um so tieferem Eindruck auf die deutsche Arbeiterklasse, ist die Anklage, daß die Bolschewiki eine sozialistische Gesellschaft in einem Lande gründen wollen, das neben 90 Prozent Bauern erst etwa 10 Prozent industrielle Arbeiter zählt. Das sei ein verwegenes Abenteuer, das mit Schimpf und Schande enden müsse. Es widerspräche den einfachsten Begriffen des Marxismus. Dem mag so sein, aber wenn Marx seine Meinung dazu sagen könnte, so würde er vermutlich ein bekanntes Wort wiederholen: Nun, dann bin ich eben kein Marxist.
Er hat es nämlich nie für seine Aufgabe gehalten, neue Revolutionen an alten Formen zu messen, sondern er sah jede neue Revolution darauf an, ob sie neue Erkenntnisse liefere, die den proletarischen Emanzipationskampf fördern könnte, unbekümmert darum, ob dabei diese oder jene alte Formel in die Brüche ging. Es ist bekannt und oft erwähnt, daß er nach dem Fall der Pariser Kommune deren Taten unbesehen auf das Konto der Internationale übernahm, aber es ist weniger bekannt, daß er dabei einen Satz preisgab, den er seit mehr als zwanzig Jahren verteidigt hatte und den er zur Zeit, wo die Kommune entstand, besonders leidenschaftlich gegen Bakunin verteidigte. Bekanntlich hatte er schon im Kommunistischen Manifest die politische Tätigkeit der Arbeiterklasse gefordert, damit sie sich der Gewalt bemächtigen und mit deren Hilfe die bürgerliche Gesellschaft in die sozialistische Gesellschaft umzuschaffen vermöge, während Bakunin die politische Betätigung im Klassenstaat als eine ewige Quelle der Korruption ansah und sie nur gestatten wollte, wo sie sich auf den unmittelbaren Umsturz des Staates richtete.
Nun lag es auf der Hand, daß die Kommune nach den Rezepten Bakunins entstanden war; er meinte: Ich verstehe nicht, wie gerade Marx die Kommune verherrlichen kann, denn sie tut ja gerade das, was er verurteilt. Marx bestätigte diese Meinung, indem er allerdings alle Maßregeln lobte, die die Kommune ergriffen hatte, um den Staat unmittelbar abzuschaffen, wenn sie zumeist auch nur auf dem Papier blieben: die Beseitigung des stehenden Heeres und der Polizei, die Vernichtung der Pfaffenmacht, die Abschaffung der selbständigen vom Staate besoldeten Richter usw. Aber Marx wußte sehr genau, was er tat; er war durch die Geschichte der Kommune zu der Erkenntnis gekommen, daß es nicht genüge, wie er noch im Kommunistischen Manifest gefordert hatte, die fertige Staatsmaschine in Besitz zu nehmen und sie für die Zwecke der Arbeiterklasse in Bewegung zu setzen. Die alte Staatsmacht, die nur noch wie ein Schmarotzerauswuchs am Körper der Nation zehrte, mußte zunächst beseitigt und durch eine von Grund demokratische Organisation ersetzt werden. „Ihr wahres Geheimnis war dies“, sagt Marx in seiner berühmten Schrift über den Pariser Aufstand, „sie war wesentlich eine Regierung der Arbeiterklasse, das Resultat des Kampf s der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte.“ 4 An dieser Auffassung hat Marx auch fernerhin festgehalten und in Vorreden zu späteren Auflagen des Kommunistischen Manifests stets betont, daß die in dieser Schrift niedergelegte Anschauung von der Eroberung der Staatsgewalt durch die arbeitenden Klassen nach den Erfahrungen der Kommune umzuwandeln sei.
Nun darf man aber nicht übersehen, daß die Pariser Kommune keine Zeit hatte, sich auszuleben, und daß sie während der wenigen Wochen ihres Bestehens in einem Kampfe auf Leben und Tod stand, der ihre demokratische Organisation schon in den Anfängen störte, in Anfängen, die sich ohnehin nur auf eine einzelne Stadt beschränkten. Wenn Marx diese Anfänge schon mit heller Begeisterung begrüßte, so mag man sich leicht vorstellen, wie er sich zur Sowjetregierung stellen würde, die nun schon für die ungezählten Massen eines großen Volkes das Problem, zugleich regieren und regiert zu werden, in einer in der Weltgeschichte noch nie dagewesenen Weise gelöst hat. Ein revolutionärer Denker ist immer noch mehr als der einzelne revolutionäre Satz, den er einmal aufgestellt hat, und Marx war der letzte, an einer Formel festzuhalten, wenn sie durch die Tatsachen widerlegt wurde.
Übrigens, wenn Marx anerkannt hat, daß eine revolutionäre Klasse unter Umständen zum Siege gelangen könne, ehe die notwendigen Vorbedingungen dieses Sieges gesichert seien, so hat er daraus doch nie die sehr törichte Schlußfolgerung gezogen, daß sie deshalb nun einer hinter ihr trabenden Klasse die Herrschaft anbieten solle, wie ein höflicher Jüngling einem älteren Herrn sagen mag: „Bitte nach Ihnen, ich bin noch nicht reif genug, den Vortritt zu nehmen.“ Das mag im Ballsaal eine empfehlenswerte Liebenswürdigkeit sein, aber im geschichtlichen Leben wäre es eine vollkommene Albernheit, die übrigens aber auch so sehr aller menschlichen Psychologie widerstreitet, daß sie noch niemals vorgekommen ist oder jemals vorkommen kann. Wenn Marx und Engels von der Möglichkeit sprachen, vorzeitig zur Macht zu gelangen, war doch immer ihre Ansicht – und einige ausführliche Bemerkungen von Engels darüber habe ich vor einigen Monaten an dieser Stelle wörtlich mitgeteilt – daß die noch heiße Suppe dennoch und unter allen Umständen ausgelöffelt werden müsse, und der lehrreiche Artikel, den die Leipziger Volkszeitung kürzlich über die Sowjetrepublik veröffentlichte, wies treffend an dem stürmischen Gange der Dinge in Rußland die Unmöglichkeit nach, an irgendeinem theoretisch wünschenswerten Stadium die Revolution festzuhalten.
In jenem Artikel wird auch darauf hingewiesen, daß die russische Revolution nach ihren inneren Zusammenhängen aus dem Jahre 1905 datiert, und wenn sich in diesem doch schon ganz respektablen Alter von 13 Jahren noch nicht die verhängnisvollen Wirkungen des Todkeimes gezeigt haben, den sie an dem Gegensatz der bäuerlichen und proletarischen Interessen im eigenen Schoße tragen soll, so ist dieser Gegensatz am Ende nicht unüberwindlich. Es scheint in der Tat, daß Marx den Nagel auf den Kopf getroffen hat, als er in der geplanten Verfassung der Pariser Kommune endlich die Form zu entdecken glaubte, in der sich die ökonomische Befreiung der Arbeit vollziehen könnte. Denn ohne daß von irgendeiner Nachahmung gesprochen werden dürfte, haben sich die Sowjets unter den gebieterischen Forderungen des Augenblicks entwickelt, treffen aber im wesentlichen mit den Gedanken der Kommune zusammen. Die Sowjets sind die Diktatur des Proletariats, elastisch genug, um allen Schichten der arbeitenden Klassen freien Spielraum zu gewähren, aber in ihrer Aktionsfähigkeit dadurch so wenig behindert, daß sie in der einsichtigen Entschlossenheit,, womit sie ihre revolutionären Maßregeln ausführen, alle revolutionären Regierungen übertreffen, die vor ihnen dagewesen sind.
IV. Die Aufgabe der deutschen Sozialdemokratie
Werfen wir nun auch einen Blick auf die Tätigkeit der Sowjets, so macht sich freilich der Übelstand sehr fühlbar geltend, den wir schon in unserem ersten Artikel hervorgehoben haben: die Lückenhaftigkeit, Spärlichkeit und Unsicherheit der Nachrichten, die über die russischen Grenzen zu uns dringen.
Dabei sehen wir von vornherein schon von allen Tatarennachrichten ab. Aber wenn selbst ein sonst verständiger Mann wie Herr v. Gerlach in der Welt am Montag mit sittlicher Entrüstung zu melden weiß, daß Lenin mit „edler Unparteilichkeit“ von „englischen und deutschen Banditen“ gesprochen habe, so müssen wir gestehen, daß wir auch dadurch noch nicht besonders tief gerührt werden.
Ob Lenin wirklich eine solche Äußerung getan hat, können wir weder bestätigen noch bestreiten.
Am merkwürdigsten ist uns dabei, wie Leute, die sich überhaupt mit Lenins Reden beschäftigen – und er hat deren in letzter Zeit ja viele gehalten, von denen wir namentlich die große Rede über den Aufbau des sozialistischen Staates hervorheben möchten – auf den kuriosen Gedanken verfallen, darin nach heftigen oder doch kräftigen Ausdrücken zu suchen, wie nach Rosinen in einem Napfkuchen. Der böse Wille guckt dabei gar zu deutlich hervor. Wer sich nämlich auch nur mit einiger Unbefangenheit einen Überblick über die gegenwärtige in Rußland erscheinende revolutionäre Literatur, namentlich auch Zeitungsliteratur, zu verschaffen gesucht hat, wird unter dem genau entgegengesetzten, geraden mit Händen greifbaren Eindruck stehen, daß sich diese Literatur von der Literatur früherer revolutionärer Perioden (1793, 1830, 1848, 1871) in der Form durch eine auffallend mäßige und sachliche Sprache unterscheidet.
Wir sagen das keineswegs, weil wir auf den „guten Ton“ versessen sind und in ihm einen untrüglichen Maßstab für die Güte der Sache erblicken. Eher im Gegenteil! Um keinen Preis möchten wir auf die von revolutionärer Leidenschaft flammenden Artikel verzichten, wie sie Marx und Engels in der Neuen Rheinischen Zeitung veröffentlicht haben. Aber alles zu seiner Zeit! Nicht um dem Philister die Sowjetrepublik schmackhafter zu machen, sondern um sozusagen ihren historischen Ort zu bestimmen, heben wir die von allen Illusionen und Überschwenglichkeiten freie Sprache hervor, womit die Organe dieser Republik die Aufgaben erörtern, deren Lösung ihrer harrt. Sie verkennen die ungeheuren Schwierigkeiten nicht, die sie dabei zu bewältigen haben. Aber sie schrecken vor diesen Schwierigkeiten nicht zurück; sie gehen ihnen nicht mit irgendeiner Prahlerei als dem Wege, sondern rücken ihnen unverdrossen auf den Leib: „Möglich, daß wir nicht gleich das Richtige treffen, aber die Sache muß gemacht werden, und schließlich werden wir sie machen.“ Diese ruhige Sicherheit, die ebenso daraus entspringt, daß die russischen Revolutionäre sicheren Boden unter ihren Füßen fühlen, als auch daß sie aus den tiefsten Quellen der sozialistischen Wissenschaft schöpfen, gibt der Regierung der Sowjetrepublik das kennzeichnende Gepräge.
Diese in der Geschichte der Revolution ganz neue Erscheinung mag dem Revolutionsromantiker wegen des mitunter „trockenen Tons“ nicht besonders behagen, aber geschichtlich ist sie ein gewaltiger Fortschritt. Man entsinnt sich, daß, als die Kongresse der deutschen Sozialdemokratie aus ihren mehr lärmenden Anfängen in ein mehr nüchternes Fahrwasser hinüberglitten, ein kundiger Thebaner meinte: Nun werden die Leute endlich vernünftig, worauf ihm ein noch kundigerer Thebaner erwiderte: Im Gegenteil, nun geht die Geschichte erst recht los. Was damals im kleinen, gilt heute im großen. In den vier Kriegsjahren konnte man, dank der Politik der Regierungssozialisten, sich oft die verzweifelte Frage vorlegen, ob wir nicht ein halbes Jahrhundert rein um nichts und wieder nichts gearbeitet und gekämpft haben, aber wenn wir heute das Journal officiel der Pariser Kommune mit seinen Artikeln Debatten, Beschlüssen usw. zur Hand nehmen und damit die Artikel, Debatten, Beschlüsse usw. vergleichen, wie sie heute in der Sowjetrepublik erscheinen, so ist es eine Sache unschätzbaren Trostes, sich zu sagen, daß dies halbe Jahrhundert doch nicht frucht- und spurlos über die Häupter der internationalen Arbeiterbewegung dahingerauscht ist, sondern eine Frucht gezeitigt hat, die immerhin eine Reifezeit lohnt, wie ein halbes Jahrhundert sein mag.
Was sich daraus als Aufgabe der deutschen Sozialdemokratie ergibt, braucht es erst gesagt zu werden? Selbst wenn man von allem Sozialismus absieht, muß schon jeder, der einen demokratischen Verständigungsfrieden nicht bloß mit dem Maule wünscht, die Befestigung und Erhaltung der bolschewistischen Herrschaft in Rußland aufs dringendste zu fördern suchen; von einem solchen Frieden unaufhörlich zu schwatzen und dabei einen dicken Trennungsstrich zwischen sich und die Bolschewiki zu ziehen ist der Gipfel jener hoffnungslosen Konfusion, den nur Scheidemann und seine Gefolgschaft zu erklimmen vermag. Die Bolschewiki sind die einzige russische Partei, die vollkommen Bürgschaft für einen demokratischen Verständigungsfrieden bietet, die vollkommen hieb- und stichfest ist gegen allen und jeden Imperialismus, gegen den englischen Imperialismus nicht minder als gegen den deutschen.
Indessen für die deutsche Sozialdemokratie gibt es noch ganz andre Gründe und Rücksichten, wobei wir noch gar nicht einmal den Umstand mitrechnen, daß die Sowjetrepublik ja eine befreundete Macht des Deutschen Reiches ist. Halten sich die Bolschewiki in Rußland, so ist trotz alledem ein Erfolg errungen, der über alte Enttäuschungen der letzten Jahre hinwegzuhelfen vermag; unterliegen sie, so mag es an der Zeit sein, daß die Toten ihre Toten begraben und ein oder ein paar Menschenalter hindurch nur noch mit einem Achselzucken von dem internationalen Sozialismus gesprochen werden kann.
Anmerkungen
1. Rosa Luxemburg, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd.I, Berlin 1955, S.161.
2. Netschajew (1847-1882), eine Bakunin nahestehender russischer Anarchist, hatte ende der 1860er jahre eine illegale Verschwörergruppe gegründet, die ihre Hauptaufgabe im prinzipienloser Terror sah. Aus Mißtrauen und persönlicher Rachsucht ließ Netschajew 1869 den zu seiner Gruppe gehörenden Studenten Iwanow ermorden. Durch diesen Mord wurde die Organisation von der zaristischen Polizei aufgedeckt und zerschlagen. Netschajew floh in die Schweiz, der größte teil seiner Anhänger wurde verhaftet und zu langjährigen Strafen verurteilt. Marx und Engels haben die Verschwörertaktik Netschajews aufs schärfste mißbilligt und ihre Schädlichkeit für die Entwicklung der revolutionären Arbeiterbewegung entlarvt.
3. Unterstützt von der kaiserlichen Regierung Deutschlands, schlugen die opportunistischen Führer der deutschen Sozialdemokratie im Frühjahr 1917 die Einberufung eines internationalen Sozialistenkongresses nach Stockholm vor. Sie wollten sich mit den russischen Menschewiki und sozialrevolutionären verständigen, um sie für eine Separatfrieden mit dem imperialistischen Deutschland zu gewinnen. Die Vertreter der sozialistischen Parteien der Ententeländer, die die Kriegs- und Eroberungspolitik ihrer imperialistischen Regierungen ebenfalls unterstützten, lehnten es ab, an der Konferenz teilzunehmen, und verhinderten damit ihren Zusammentritt.
4. Karl Marx u. Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd.I, Berlin 1953, S.494.