1869 // Bücher
Josef Dietzgen // Das Wesen der Menschlichen Kopfarbeit

Das Wesen der Menschlichen Kopfarbeit

1869

Dargestellt von einem Handwerker

Eine abermalige Kritik der reinen und praktischen Vernunft


Quelle: Ausgewählte Werke in Drei Bänden, Bd. 1, Berlin, Akademie Verlag: 1961, S. 15–139.


Vorrede

Hier dürfte der Ort sein, an den geneigten Leser sowohl wie an den ungeneigten Kritiker einige erläuternde Worte zu richten, welche das persönliche Verhältnis des Ver­fassers zu seiner Schrift betreffen. Der nächste Vorwurf, den ich antizipiere, ist Mangel an Gelehrsamkeit, der sich mehr noch indirekt, zwischen den Zeilen, als im Werkchen selbst direkt verrät. Wie darfst du, frage ich mich, dem Publikum deine Bearbeitung eines Gegenstandes vorlegen, der von den Heroen der Wissenschaft, unter anderen von Aristoteles, Kant, Fichte, Hegel usw. ist bearbeitet worden, ohne noch alle Werke deiner berühmten Vorgänger gründlich zu kennen? Wirst du nicht, im besten Falle, das längst Getane wiederholen?

Ich antworte: der Same, welchen die Philosophie in das Erdreich der Wissenschaft gepflanzt, ist längst aufgegangen und hat seine Früchte getragen. Was die Geschichte zu­tage fördert, entwickelt sich geschichtlich, treibt, wächst und vergeht, um in erneuter Form ewig fortzuleben. Die ur­sprüngliche Tat, das originale Werk ist nur fruchtbar in Kontakt mit den Verhältnissen und Beziehungen der Zeit, welche es geboren; schließlich aber wird es zu einer leeren Hülse, die ihren Kern an die Geschichte abgegeben hat. Was die Wissenschaft der Vergangenheit Positives produ­zierte, lebt nicht mehr im Buchstaben seines Autors, sondern ist mehr als Geist, ist Fleisch und Blut geworden in der gegenwärtigen Wissenschaft. Um z. B. die Produkte der Physik zu kennen und dazu Neues zu produzieren, ist es nicht erforderlich, erst die Geschichte dieser Wissenschaft zu studieren und die bisher entdeckten Gesetze an der Quelle zu schöpfen. Im Gegenteil, die geschichtliche For­schung dürfte der Lösung einer bestimmten physischen Aufgabe nur hinderlich sein, indem die konzentrierte Kraft notwendig mehr leistet als die geteilte. In diesem Sinne rechne ich mir den Mangel an anderweitigen Kenntnissen zugut, weil ich eben dadurch der Erkenntnis meines spe­ziellen Objekts um so entschiedener hingegeben bin. Dies Objekt zu erforschen und alles zu lernen, was meiner Zeit davon bekannt ist, habe ich mir ernstlich angelegen sein lassen. Die Geschichte der Philosophie hat sich insofern an meiner Individualität wiederholt, als ich mit dem Bedürfnis nach einer kompakten, systematischen Weltanschauung seit früher Jugend zu spekulieren ausging und schließlich die Befriedigung in der induktiven Erkenntnis des mensch­lichen Denkvermögens gefunden vermeine.

Und es ist nicht das Denkvermögen in seiner mannigfaltigen Erscheinung, es sind nicht die verschiedenen Weisen desselben, sondern seine allgemeinste Form, sein generelles Wesen, was mich befriedigte und was darzustellen mein Zweck ist. Mein Objekt ist demnach möglichst simpel und speziell, so absolut einfach, dass mir seine mannigfaltige Darstellung schwer und häufige Wiederholungen beinah un­vermeidlich wurden. Zugleich ist die Frage nach dem Wesen des Geistes ein populäres Objekt, das nicht nur von Philosophen von Fach, das von der Wissenschaft überhaupt kultiviert ist. Es muss deshalb auch, was zu seiner Erkennt­nis die Geschichte der Wissenschaft beigetragen, in der wissenschaftlichen Anschauung der Gegenwart allgemein lebendig sein. An dieser Quelle dürfte ich mir genügen lassen.

So mag ich denn trotz meiner Autorschaft bekennen, kein Professor der Philosophie, sondern von Profession ein Handwerker zu sein. Denjenigen, welche mir darum die alte Warnung zurufen möchten: „Schuster, bleib bei deinem Leisten!“ antworte ich mit Karl Marx: „Euer nee plus ultra handwerksmäßige Weisheit wurde zur furchtbaren Narr­heit von dem Moment, wo der Uhrmacher Watt die Dampf­maschine, der Barbier Artwright den Kettenstuhl, der Juwelierarbeiter Fulton das Dampfschiff erfunden hat.“ Ohne mich diesen Größen zurechnen zu wollen, darf doch ihr Vorgang mir zur Nacheiferung dienen. Zudem ist auch die Natur meines Gegenstandes noch besonders auf die Standesklasse angewiesen, der ich anzugehören, wenn nicht die Ehre, so doch das Vergnügen habe.

Ich entwickele in dieser Schrift das Denkvermögen als Organ des Allgemeinen. Der leidende, der vierte, der Ar­beiterstand ist insoweit erst der wahre Träger dieses Or­gans, als die herrschenden Stände durch ihre besonderen Klasseninteressen verhindert sind, das Allgemeine an­zuerkennen. Wohl bezieht sich diese Beschränkung zu­nächst auf die Welt der menschlichen Verhältnisse. Aber solange diese Verhältnisse nicht allgemein menschlich, son­dern Klassenverhältnisse sind, muss auch die Anschauung der Dinge von diesem beschränkten Standpunkt bedingt sein. Objektive Erkenntnis setzt subjektiv theoretische Freiheit voraus. Bevor Kopernikus die Erde sich bewegen und die Sonne stehen sah, musste er von seinem irdischen Standpunkt abstrahieren. Da nun dem Denkvermögen alle Verhältnisse Gegenstand sind, hat es von allem zu abstrahieren, um sich selbst rein oder wahr zu erfassen. Da wir alles nur mittels Denken begreifen, müssen wir von allem absehen, um das reine, das Denken im allgemeinen zu erkennen. Diese Aufgabe war zu schwer, solange sich der Mensch an einen beschränkten Klassenstandpunkt gebunden fand. Erst eine historische Entwicklung, welche soweit fortgeschritten, um die Auflösung der letzten Herr- und Knechtschaft zu erstreben, kann soweit der Vorurteile entbehren, um das Urteil im allgemeinen, das Erkenntnis­vermögen, die Kopfarbeit wahr oder nackt zu erfassen. Erst eine historische Entwicklung, welche die direkte all­gemeine Freiheit der Masse im Auge haben kann – und dazu gehören wohl sehr verkannte historische Voraus­setzungen —, erst die neue Ära des vierten Standes findet den Gespensterglauben soweit entbehrlich, um den letzten Urheber alles Spuks, um den reinen Geist entlarven zu dürfen. Der Mensch des vierten Standes ist endlich „reiner“ Mensch. Sein Interesse ist nicht mehr Klassen-, sondern Masseninteresse, Interesse der Menschheit. Die Tatsache, dass zu allen Zeiten das Interesse der Masse mit dem Inter­esse der herrschenden Klasse verbunden war, dass nicht nur trotz, sondern gerade mittels ihrer stetigen Unter­drückung durch jüdische Patriarchen, asiatische Eroberer, antike Sklavenhalter, feudale Barone, zünftige Meister, besonders durch moderne Kapitalisten und auch selbst noch durch kapitalistische Cäsaren die Menschheit stetig „fortgeschritten“ – diese Tatsache nähert sich ihrem Ende. Die Klassenverhältnisse der Vergangenheit waren notwendig für die allgemeine Entwicklung. Jetzt ist diese Entwicklung an einem Standpunkt angekommen, wo die Masse selbstbewußt wird. Die bisherige Menschheit hat sich mittels Klassengegensatzes entwickelt. Sie ist damit so weit gekommen, dass sie nunmehr sich unmittelbar selbst entwickeln will. Die Klassengegensätze waren Erschei­nungen der Menschheit. Der Arbeiterstand will die Klassen­gegensätze aufheben, damit die Menschheit eine Wahrheit sei.

Wie die Reformation von den faktischen Verhältnissen des sechzehnten Jahrhunderts, wie die Erfindung des elektrischen Telegraphen, so ist die Ergründung der Theorie unserer menschlichen Kopfarbeit von den fak­tischen Verhältnissen des neunzehnten Jahrhunderts be­dingt. Insofern ist der Inhalt dieser kleinen Schrift kein individuelles Produkt, sondern ein geschichtliches Gewächs. Ich fühle mich dabei – mit Verlaub für die mystische Phrase – nur als ein Organ der Idee. Mir gehört die Dar­stellung, in betreff deren ich hiermit um freundliche Nach­sicht bitte. Ich bitte den Leser, seine stillen oder lauten Einreden nicht gegen die mangelhafte Form, nicht gegen das zu richten, was ich derart sage, sondern gegen das, was ich sagen will; ich bitte, mich nicht geflissentlich im Buch­staben zu mißverstehen, sondern im Geiste, im Allgemeinen das Verständnis suchen zu wollen. Sollte es mir nicht ge­lungen sein, die Idee mit Erfolg zu entwickeln, sollte auch deshalb meine Stimme auf unserem überfüllten Büchermarkt ersticken müssen, wird doch die Sache, des bin ich sicher, einen talentvolleren Vertreter finden.

Siegburg, d. 15. Mai 1869
Jos. Dietzgen,
Lohgerber

I. Einleitung

Systematisierung ist das Wesen, ist der generelle Aus­druck für die gesamte Tätigkeit der Wissenschaft. Die Wissenschaft will nichts weiter, als die Objekte der Weit für unseren Kopf in Ordnung und System bringen. Die wissenschaftliche Erkenntnis einer Sprache z. B. fordert ihre Einteilung oder Ordnung in allgemeine Klassen und Regeln. Die Ackerbauwissenschaft will nicht, dass die Kar­toffeln nur geraten, sondern für die Art und Weise des An­baues die systematische Ordnung finden, deren Kenntnis instand setzt, mit Vorausbestimmung des Erfolges zu bauen. Das ist das praktische Resultat aller Theorie, dass sie uns mit dem System, mit der Methode ihrer Objekte bekannt macht und also befähigt, in der Welt mit Vorausbestimmung des Erfolges zu agieren. Erfahrung ist wohl die Voraus­setzung dazu; aber allein reicht sie nicht aus. Erst die aus ihr entwickelte Theorie, die Wissenschaft, erlöst vom Spiel des Zufalls. Sie verschafft uns mit dem Bewußtsein die Herrschaft über den Gegenstand und unbedingte Sicherheit in seiner Handhabung.

Der einzelne kann nicht alles wissen. Sowenig wie die Geschicklichkeit und Kraft seiner Hände ausreicht, alles zu produzieren, was er bedarf, sowenig reicht die Fähigkeit seines Kopfes aus, alles zu wissen, was not tut. Glaube ist dem Menschen notwendig. Jedoch nur der Glaube an das, was andere wissen. Die Wissenschaft ist ebenso wie die materielle Produktion eine gesellschaftliche Angelegenheit. „Einer für alle und alle für einen.“

Wie es aber leibliche Bedürfnisse gibt, die jeder nur sich selbst besorgen kann und soll, so gibt es auch wissenschaft­liche Objekte, die zu wissen von allen erfordert ist, und des­halb nicht irgendeiner besonderen Fachwissenschaft an­gehören.

Ein solcher Gegenstand ist das menschliche Denk­vermögen: die Erkenntnis, das Verständnis, die Theorie desselben kann keiner besonderen Zunft überlassen sein. Wohl mit Recht sagt Lassalle: „Das Denken selbst ist in diesem Zeitalter der Teilung der Arbeit zu einem beson­deren Handwerk geworden, und in die elendesten Hände ist dieses Handwerk gefallen – in die unserer Zeitungen.“ Damit sind wir angewiesen, uns diese Bedienung nicht länger gefallen, von der öffentlichen Meinung uns nicht länger harangieren zu lassen, sondern das Selbstdenken wiederaufzunehmen. Einzelne Gegenstände des Wissens oder der Wissenschaft mögen wir Fachleuten überlassen, aber das Denken im allgemeinen ist eine allgemeine An­gelegenheit, die niemand kann erlassen sein.

Vermöchten wir diese Arbeit des Denkens auf ein wissen­schaftliches Fundament zu stellen, dafür eine Theorie zu finden, vermöchten wir die Art und Weise zu entdecken, wie die Vernunft überhaupt Erkenntnisse zeugt, oder die Methode zu finden, nach welcher sich die wissenschaftliche Wahrheit produziert, so würden wir auf dem Gebiete des Wissens überhaupt, für unsere Urteilskraft im allgemeinen dieselbe Sicherheit des Erfolgs erwerben, welche in be­sonderen Disziplinen die Wissenschaft schon längst er­worben hat.

Kant sagt: „Wenn es nicht möglich ist, die verschiedenen Mitarbeiter in der Art, wie die gemeinschaftliche Absicht verfolgt werden soll, einhellig zu machen, so kann man überzeugt sein, dass ein solches Studium bei weitem noch nicht den sicheren Gang einer Wissenschaft eingeschlagen, sondern ein bloßes Herumtappen sei.“

Sehen wir uns heute nun in den Wissenschaften um, so finden wir da viele, vornehmlich die Naturwissenschaften, welche der Anforderung Kants entsprechen, welche mit sicherem Bewußtsein, mit widerspruchsloser Einhelligkeit bei ihren gewonnenen Erkenntnissen beharren und sie weitertragen. „Dort weiß man,“ wie Liebig sagt, „was eine Tatsache, ein Schluß, eine Regel, ein Gesetz ist. Für alles dies hat man Probiersteine, die jeder erst gebraucht, ehe er die Früchte seiner Arbeit in Zirkulation setzt. Die advo­katorische Durchführung einer Ansicht oder die Absicht, einen andern etwas Unbewiesenes glauben zu machen, scheitern augenblicklich an der wissenschaftlichen Moral.“

Dagegen auf anderen Gebieten, dort wo man die konkreten materiellen Dinge verläßt und sich abstrakten, sogenannten philosophischen Gegenständen zuwendet, in Sachen der allgemeinen Welt- und Lebensanschauung, in den Fragen von Anfang und Ende, von Schein und Wesen der Dinge, ob Ursache oder Wirkung, ob Kraft oder Stoff, ob Macht oder Recht, in Fragen der Lebensweisheit, in der Moral, der Religion, der Politik – da finden wir statt „schlagender beweisender Tatsachen“ nur „advokatorische Durchfüh­rungen“, nirgends ein zuverlässiges Wissen, sondern über­all nur ein bloß Herumtappen widersprechender Mei­nungen.

Ja gerade die Koryphäen der Naturwissenschaft be­kunden sich durch ihre Mißhelligkeit bei der Berührung solcher Themen als philosophische Pfuscher. Daraus er­gibt sich dann, dass die wissenschaftliche Moral, die Probier­steine, deren man für die scharfe Unterscheidung zwischen Wissen und Meinen zu besitzen sich rühmt, nur auf einer instinktiven Praxis, aber nicht auf bewußter Erkenntnis, auf keiner förmlichen Theorie beruhen. Obgleich auch unsere Zeit sich auszeichnet durch fleißige Kultur der Wissenschaft, so bezeugt doch auch wieder ihre vielfältige Meinungsverschiedenheit, dass sie nicht versteht, das Wissen mit Vorausbestimmung des Erfolges zu handhaben. Woher sonst die Mißverständnisse? Wer das Verstehen ver­steht, darf nicht mißverstehen. Nur die unbedingte Sicher­heit der astronomischen Rechnungen zeugt für ihre Wissen­schaftlichkeit. Wer zu rechnen versteht, weiß wenigstens zu erproben, ob seine Rechnung wahr oder falsch ist. So muss auch das allgemeine Verständnis des Denkprozesses uns den Probierstein an die Hand geben, das Verstandene vom Mißverstandenen, das Wissen vom Meinen, Wahrheit und Irrtum allgemein und unzweifelhaft zu unterscheiden. Irren ist menschlich, aber nicht wissenschaftlich. Da nun die Wissenschaft eine menschliche Sache ist, mögen Irrtümer ewig bleiben, aber dass man dieselben für wissenschaftliche Wahrheiten ausgibt und, noch mehr, sie allgemein dafür akzeptiert, davon wird das Verständnis des Denkprozesses „ ebensoweit befreien können, wie das Verständnis der Mathe­matik von falschen Rechnungen befreien kann. Es klingt paradox und ist dennoch wahr: Wer die allgemeine Regel, welche Wahrheit und Irrtum scheidet, so genau kennt wie die Regel der Sprachlehre, welche das Hauptwort vom Zeitwort trennt, wird dort wie hier mit gleicher Sicherheit unterscheiden. Von jeher haben Gelehrte sowohl wie Schriftgelehrte einander in Verlegenheit gesetzt mit der Frage: was ist Wahrheit? Diese Frage bildet seit Jahr­tausenden ein wesentliches Objekt, vornehmlich der Philo­sophie. Sie findet schließlich, wie letztere selbst, ihre Auf­lösung in der Erkenntnis des menschlichen Denkvermögens. Mit anderen Worten: Die Frage nach den Kennzeichen der Wahrheit im allgemeinen ist gleich mit der Frage nach dem Unterschiede zwischen Wahrheit und Irrtum. Die Philo­sophie ist die Wissenschaft, welche sich darum bemüht hat und mit dem Rätsel zuletzt sich selbst durch end­liche klare Erkenntnis des Denkprozesses auflöste. Eine kurze Betrachtung des Wesens und des Verlaufs der Philosophie darf also füglich unserem Thema als Einleitung dienen.

Da das Wort in mannigfaltiger Bedeutung gebraucht wird, sei bemerkt, dass hier nur von der sogenannten speku­lativen Philosophie die Rede ist. Wir unterlassen dabei, das Gesagte mit häufigen Zitaten und Quellenangaben zu be­legen, weil das, was wir davon sagen, so offenkundig, so widerspruchslos gilt, dass wir des gelehrten Beiwerks wohl entraten können.

Legen wir den erwähnten Maßstab Kants an, so erscheint die spekulative Philosophie mehr als Tummelplatz differen­ter Meinungen denn als Wissenschaft. Ihre Zelebritäten, ihre klassischen Größen sind nicht einmal einhellig in der Antwort auf die Frage: was ist, was will die Philosophie? Deshalb, um die verschiedenen Meinungen darüber nicht noch mit unserer Privatmeinung zu vermehren, lassen wir alles als Philosophie gelten, was sich so nennt, und suchen aus dieser reichen Bibliothek dickleibiger Bände – ohne vom Besonderen oder Sonderbaren uns beirren zu lassen — das Gemeinschaftliche oder Allgemeine.

Auf diesem empirischen Wege finden wir dann zunächst, dass die Philosophie ursprünglich keine besondere einzelne Wissenschaft ist, neben oder in Gemeinschaft mit anderen Wissenschaften, dass sie vielmehr Gattungsname des Wissens überhaupt, Inbegriff alles Wissens ist, wie die Kunst In­begriff der verschiedenen Künste. Wer sich das Wissen, wer sich die Kopfarbeit zu wesentlicher Beschäftigung machte – jeder Denker ohne Rücksicht auf den Inhalt seiner Gedanken war ursprünglich Philosoph.

Sobald dann mit der fortschreitenden Bereicherung des menschlichen Wissens sich die einzelnen Fächer von der mater sapientiae loslösten, vornehmlich seit Entstehung der modernen Naturwissenschaft, findet sich, dass die Philo­sophie nicht sowohl durch ihren Inhalt als durch ihre Form gekennzeichnet ist. Alle anderen Wissenschaften unter­scheiden sich durch ihre verschiedenen Gegenstände, die Philosophie hingegen durch ihre eigene Methode. Sie besitzt wohl auch einen Gegenstand, einen Zweck; sie will das All­gemeine, die Welt als Ganzes, den Kosmos begreifen. Aber es ist nicht dieser Gegenstand, nicht das Vorhaben, was sie charakterisiert, sondern die Art und Weise, wie sie es ver­folgt.

Alle anderen Wissenschaften beschäftigen sich mit be­sonderen Dingen oder Gegenständen, und wenn auch mit dem All, mit dem Kosmos, dann immer doch nur mit Be­ziehung auf die besonderen Teile oder Momente, woraus sich das Weltall zusammensetzt. Alexander von Humboldt sagt in der Einleitung zu seinem „Kosmos“, dass er sich in diesem Werke auf eine empirische Betrachtung beschränke, auf die physische Forschung, welche mittelst der Mannig­faltigkeit die Gleichartigkeit oder Einheit zu erkennen suche. So gelangen überhaupt die induktiven Wissen­schaften nur auf Grund ihrer Beschäftigung mit dem Ein­zelnen, Besonderen, sinnlich Gegebenen zu allgemeinen Schlüssen oder Erkenntnissen. Sie sagen deshalb von sich: „Unsere Schlüsse beruhen auf Tatsachen.“ Umgekehrt ver­fährt die spekulative Philosophie. Wo auch irgendein be­sonderes Thema ihr als Gegenstand der Forschung dient, so verfolgt sie es doch nicht im Besonderen. Die Offenbarungen der Sinne, die mit Aug‘ und Ohr, mit Hand und Kopf ge­machte physische Erfahrung, weist sie als trügerische Er­scheinung zurück und beschränkt sich auf das „reine“, von allen Voraussetzungen absehende Denken, um so auf umgekehrtem Wege, mittelst der Einheit menschlicher Ver­nunft die Mannigfaltigkeit des Weltalls zu erkennen. Bei der Frage z. B., welche uns gegenwärtig beschäftigt, bei der Frage: was ist Philosophie? – würde sie nicht von ihrer wirklichen sinnlichen Gestalt, von den hölzernen und schweinsledernen Folianten, von ihren großen und kleinen Abhandlungen ausgehen, um von hier aus zum Begriff zu gelangen. Umgekehrt, der spekulative Philosoph sucht innerlich in sich, in der Tiefe seines Geistes den wahren Be­griff der Philosophie, nach dessen Maßstab er dann die sinn­lich gegebenen Exemplare als echt oder unecht aburteilt. Mit der Erforschung handgreiflicher Objekte hat sich die spekulative Methode wohl niemals beschäftigt, es sei denn, dass wir in jeder unwissenschaftlichen Naturanschauung, welche die Welt mit Hirngespinsten bevölkerte, die Manier der Philosophie wiedererkennen. Die Anfänge der wissen­schaftlichen Spekulation forschten wohl auch nach Sonnen-und Weltenlauf. Seitdem jedoch die induktive Astronomie diese Gebiete mit größerem Erfolg kultiviert, beschränkt die Spekulation sich ganz und gar auf Behandlung mehr ab­strakter Themen. Hier ist sie denn, wie überhaupt, charak­terisiert durch Erzeugung ihrer Resultate aus der Idee oder dem Begriff. —

Für die empirische Wissenschaft, für die Methode der In­duktion ist die erfahrene Mannigfaltigkeit das erste und das Denken das zweite. Dagegen will die Spekulation ohne Hilfe der Erfahrung die wissenschaftliche Wahrheit er­zeugen. Die philosophische Erkenntnis soll sich nicht auf vergängliche Tatsachen stützen, sondern absolut, über Raum und Zeit erhaben sein. Die spekulative Philosophie will keine physische Wissenschaft, sie will Metaphysik sein. Ihre Aufgabe besteht darin, rein aus der Vernunft, ohne Bei­hilfe von Erfahrung ein System zu finden, eine Logik oder Wissenschaftslehre, mittelst deren sich die Wissenswürdigkeiten logisch oder systematisch abwickeln lassen, ähnlich, wie wir grammatisch aus dem gegebenen Stamme eines Wortes seine verschiedenen Formen abzuwickeln vermögen. Die physischen Wissenschaften agieren unter der Voraus­setzung, dass unser Erkenntnisvermögen – um bekannte Bilder zu gebrauchen – einem Stück weichen Wachses ähnlich sei, welches seine Eindrücke von der Außenwelt empfange, oder einer leeren Tafel, die von der Erfahrung beschrieben wird. Die Philosophie hingegen setzt angebo­rene Ideen voraus, welche mittelst des Denkens aus den Tiefen des Geistes zu schöpfen und produzieren sind.

Der Unterschied zwischen spekulativer und induktiver Wissenschaft beruht auf dem Unterschiede zwischen Phantasie und gesundem Menschenverstände. Letzterer zeugt seine Begriffe mittelst der Außenwelt, mittelst der Er­fahrung, während die Phantasie ihr Produkt aus der Tiefe des Geistes, mit sich selbst, von innen heraus zeugt. Jedoch ist diese Zeugung nur scheinbar einseitig. Sowenig der Maler übersinnliche Bilder, übersinnliche Gestalten zu er­finden weiß, sowenig vermag der Denker außerhalb der Er­fahrung liegende, übersinnliche Gedanken zu denken. Wie die Phantasie aus Zusammensetzung von Mensch und Vo­gel Engel schafft oder aus Fisch und Weib Sirenen, in der­selben Art sind alle ihre anderen Produkte, obgleich scheinbar Erzeugnisse ihrer selbst, doch in der Tat nur willkürlich ge­ordnete Eindrücke der Außenwelt. Der Verstand, die Ver­nunft bindet sich an Zahl und Ordnung, an Zeit und Maß der Erfahrung, während die Phantasie das Erfahrene un­gebunden, in willkürlicher Form reproduziert.

Der Drang nach Wissen hat von jeher veranlaßt, auch schon dort, wo wegen Mangel an Erfahrung und Beobach­tung keine induktive Erkenntnis möglich war, dennoch die Erscheinungen der Natur und des Lebens aus dem mensch­lichen Geiste, d. h. spekulativ, zu erklären. Man suchte die Erfahrung durch Spekulation zu ergänzen. In einer folgen­den, durch Erfahrung bereicherten Zeit erkannte man ge­wöhnlich die vorhergegangene Spekulation als Irrtum. Aber dennoch bedurfte es tausendjähriger angehäufter Wieder­holung dieses Enttäuschungsaktes einerseits und der zahlreichsten eklatantesten Erfolge induktiver Methode andererseits, bevor man diese spekulative Liebhaberei ver­lassen mochte.

Gewiß ist auch die Phantasie ein positives Vermögen, und sehr oft geht die spekulative, durch Analogie erworbene Ahnung der erfahrungsmäßigen induktiven Erkenntnis voraus. Nur sollen wir klar, bewußt sein, was und wieviel Vermutung und was und wieviel Wissenschaft. Bewußte Ahnung fordert zu wissenschaftlicher Forschung auf, während vermeintliche Wissenschaft der induktiven For­schung die Türe schließt. Die Erwerbung eines klaren Be­wußtseins über den Unterschied zwischen Spekulation und Wissen ist ein geschichtlicher Prozeß, dessen Anfang und Ende mit Anfang und Ende der spekulativen Philosophie zusammenfällt.

Im Altertum arbeitete der gesunde Menschenverstand mit der Phantasie, die induktive Methode mit der speku­lativen gemeinschaftlich und unentzweit. Die Auseinander­setzung beider beginnt erst mit Erkenntnis der mannig­fachen Täuschungen, welchen bis zur neueren Zeit das noch ungeübte Urteil unterlegen hatte. Statt nun die erfahrenen Täuschungen aus dem Mangel an Verständnis herzuleiten, schrieb man sie der Mangelhaftigkeit der Sinne zu, schalt die Sinne Betrüger und die sinnliche Erscheinung unwahr. Wer kennt nicht das alte Lamento über die Unzuverlässigkeit der Sinne? Die Mißverständnisse der Natur und ihrer Er­scheinungen dienten vorerst zum völligen Zerwürfnis mit der Sinnlichkeit. Man hatte sich getäuscht, und glaubte, ge­täuscht worden zu sein. Der Unmut darüber verkehrte sich zur totalen Mißachtung der sinnlichen Welt. Ebenso kritik­los gläubig, wie man bis dahin das Scheinbare für Wahrheit angenommen, ebenso unkritisch im Zweifel verwarf man jetzt den Glauben an die sinnliche Wahrheit ganz und gar. Die Forschung wandte sich von der Natur, von der Er­fahrung weg und begann mit reinem Denken die Arbeit der spekulativen Philosophie.

Doch nein! So ganz ließ sich die Wissenschaft niemals vom Wege des gesunden Menschenverstandes, von der Wahrheit der sinnlichen Welt abbringen. Die Naturwissen­schaft trat bald dafür ein, und ihre glänzenden Erfolge er­warben der induktiven Methode das Bewußtsein der Fruchtbarkeit, während andererseits die Philosophie nach einem System forschte, mittels dessen sich die großen all­gemeinen Wissenswürdigkeiten ohne Forschung en detail, ohne sinnliche Erfahrung und Beobachtung mit der Ver­nunft allein erschließen.

Solcher spekulativen Systeme besitzen wir nun eine mehr als hinreichende Zahl. Messen wir dieselben mit dem er­wähnten Maße der Einhelligkeit, so findet sieh die Philo­sophie nur einig in einer allgemeinen Uneinigkeit. Die Ge­schichte der spekulativen Philosophie besteht denn auch nicht, wie die Geschichte anderer Wissenschaften, in der allmählichen Ansammlung von Kenntnissen, sondern in einer Reihe mißglückter Versuche, mit der puren Denkkraft, ohne Hilfe der Objekte oder der Erfahrung davon, die all­gemeinen Rätsel der Natur und des Lebens zu erforschen. Den kühnsten Versuch, den künstlichsten Gedankenbau vollendete Hegel im Anfange unseres Jahrhunderts, welcher, einer Redensart nachzusprechen, in der wissen­schaftliehen Welt eine Berühmtheit erlangte wie Napoleon in der politischen. Aber auch die Hegeische Philosophie hat die ihr gestellte Probe nicht bestanden. „Sie ist“, wie Haym („Hegel und seine Zeit“) sagt, „durch den Fortschritt der Welt und durch die lebendige Geschichte be­seitigt worden.“

Das Resultat der Philosophie bis dahin war also die Un­fähigkeitserklärung ihrer selbst. Jedoch werden wir nicht verkennen, dass einer Arbeit, welche Jahrtausende lang die besten Köpfe beschäftigte, wohl etwas Positives zugrunde liegt. Und in der Tat, die Philosophie besitzt eine Ge­schichte – eine Geschichte nicht nur im Sinne einer Reihenfolge mißglückter Versuche, sondern auch eine Ge­schichte im Sinne lebendiger Entwicklung. Aber es ist nicht der Gegenstand, nicht das gesuchte logische Weltsystem, welches sich mit ihr entwickelt, sondern die Methode.

Jede positive Wissenschaft besitzt ein sinnliches Objekt, einen äußerlich gegebenen Anfang, eine Voraussetzung, auf welche sich ihre Erkenntnis steift. Jeder empirischen Wissenschaft unterliegt ein sinnliches Material, ein ge­gebener Gegenstand, infolgedessen ihr Wissen abhängig, unrein ist. Die spekulative Philosophie sucht ein reines, totales, absolutes Wissen. Sie will ohne Material, ohne Er­fahrung, aus „reiner“ Vernunft erkennen. Sie entspringt aus dem begeisterten Bewußtsein von der überlegenen Vor­trefflichkeit der Erkenntnis oder Wissenschaft über die empirische sinnliche Erfahrung. Sie will deshalb ganz und gar über die Erfahrung hinaus, zu einer totalen, reinen Er­kenntnis. Ihr Gegenstand ist die Wahrheit, aber nicht die besondere, nicht die Wahrheit dieser oder jener Sache, son­dern die Wahrheit im allgemeinen, die Wahrheit „an sich“. Die spekulativen Systeme suchen an einem voraussetzungs­losen Anfang, an einem unbezweifelbaren sich selbst tragenden Standpunkt, um von hier aus das überhaupt Un­bezweifelbare zu bestimmen. Die Systeme der Spekulation sind ihrem eigenen Bewußtsein nach vollkommene, ab­geschlossene, in sich selbst begründete Systeme. Jedes speku­lative System fand seine Auflösung in der nachfolgenden Erkenntnis, dass seine Totalität, seine Selbstbegründung, seine Voraussetzungslosigkeit vermeintlich war, dass es sich wie andere Erkenntnisse äußerlich, empirisch hat be­stimmen lassen, dass es kein philosophisches System, son­dern eine relative empirische Erkenntnis ist. Die Speku­lation löste sich schließlich in die Wissenschaft auf, dass das Wissen an sich oder im allgemeinen unrein ist, dass das Or­gan der Philosophie, das Erkenntnisvermögen ohne ge­gebenen Anfang nicht anfangen kann, dass die Wissen­schaft der Erfahrung nicht total, sondern nur insoweit überlegen ist, als sie zahlreiche Erfahrungen zu organisieren vermag, dass also nur insoweit eine allgemeine, objektive Erkenntnis oder die Wahrheit „an sich“ Gegenstand der Philosophie sein kann, als man aus gegebenen besonderen Er­kenntnissen oder Wahrheiten die Erkenntnis oder Wahr­heit im allgemeinen zu charakterisieren, zu erkennen ver­mag. Schlicht gesprochen reduziert sich die Philosophie auf die unphilosophische Wissenschaft des empirischen Er­kenntnisvermögens, auf die Kritik der Vernunft.

Von der Erfahrung des Unterschieds zwischen Schein und Wahrheit geht die neuere, die bewußte Spekulation aus. Sie negiert jede sinnliche Erscheinung, um, von keinem Scheine betrogen, die Wahrheit durch Denken zu finden. Im Verlauf erkennt der folgende Philosoph jedesmal, dass die derartig gewonnenen Wahrheiten der Vorgänger nicht das sind, was sie zu sein prätendieren, sondern ihrem posi­tiven Gehalt nach sich darauf beschränken, die Wissen­schaft des Erkenntnisvermögens, des Denkprozesses ge­fördert zu haben. Durch ihre Negation der Sinnlichkeit, durch das Bestreben, das Denken von allem sinnlich Ge­gebenen, gleichsam von seiner natürlichen Hülle zu schei­den, legte die Philosophie mehr als jede andere Wissen­schaft die Struktur des Geistes bloß. So dass, je älter sie wurde, je mehr sie sich in geschichtlichem Verlauf entwickelte, je klassischer, je frappanter dieser Kern ihrer Ar­beit zu Tage trat. Nach wiederholten Schöpfungen großer Hirngespinste fand sie ihre Auflösung in der positiven Er­kenntnis, dass das reine, philosophische, von jedem ge­gebenen Inhalt absehende Denken auch ein Denken ohne Inhalt, Gedanken ohne Wirklichkeit, Hirngespinste zeugt. Der Prozeß der spekulativen Täuschung und wissenschaft­lichen Enttäuschung setzte sich fort bis in die neuste Zeit, wo endlich die Lösung der Gesamtfrage, die Auflösung der Spekulation mit den Worten Ludwig Feuerbachs beginnt: „Meine Philosophie ist keine Philosophie.“

Die lange Rede der spekulativen Arbeit reduziert sich auf die Erkenntnis des Verstandes, der Vernunft, des Geistes, auf die Enthüllung jener geheimnisvollen Operationen, welche wir Denken nennen.

Das Geheimnis der Art und Weise, wie sich die Wahr­heiten der Erkenntnis zeugen, die Unkenntnis der Tatsache, dass jedes Denken eines Objekts, einer Voraussetzung be­darf, war die Ursache jener spekulativen Irrung, welche in der Geschichte der Philosophie enthalten ist. Dasselbe Ge­heimnis ist heute die Ursache jener vielen spekulativen Irrungen und Widersprüche, welchen wir en passant in den Worten und Werken unserer Naturforscher begegnen. Das Wissen und Erkennen ist dort weit gediehen, jedoch nur so­weit, als man greifbare Gegenstände behandelt. Bei irgend­einem Thema anderer, abstrakterer Art finden wir an Stelle „beweisender Tatsachen“ „advokatorische Durch­führungen“, weil man, wenn auch im besonderen, wenn auch instinktiv, so doch nicht im allgemeinen, nicht mit Bewußtsein, nicht theoretisch weiß, was eine Tatsache, ein Schluß, eine Regel, eine Wahrheit ist. Die naturwissen­schaftlichen Erfolge haben gelehrt, das Instrument des Wissens, den Geist, instinktiv zu handhaben. Jedoch fehlt die systematische Erkenntnis, welche mit Vorausbestimmung des Erfolges agiert. Es fehlt das Verständnis für die Arbeit der spekulativen Philosophie.

Unsere Aufgabe wird nun darin bestehen, das, was die Philosophie positiv Wissenschaftliches langstielig und größtenteils unbewußt gefördert hat, durch eine kurze Rekapitulation zum Bewußtsein zu bringen, d. h. die all­gemeine Natur des Denkprozesses zu enthüllen. Wir werden sehen, wie die Erkenntnis dieses Prozesses uns das Mittel an die Hand gibt, alle die allgemeinen Rätsel der Natur und des Lebens wissenschaftlich zu lösen, wie somit jener fundamen­tale Standpunkt, jene systematische Weltanschauung ge­wonnen ist, welche das langerstrebte Ziel der spekulativen Philosophie war.

II. Die Reine Vernunft oder das Denkvermögen im Allgemeinen

Wie wenn man von Lebensmitteln überhaupt spricht und dann im Verlauf der Rede Frucht, Getreide, Korn, Fleisch, Brot usw. als synonyme Ausdrücke verwenden mag, welche unbeschadet ihrer Differenz sich doch alle unter dem Begriff Lebensmittel als gleichbedeutend sum­mieren, so reden wir hier von der Vernunft, dem Bewußt­sein, dem Verstande, dem Vorstellungs-, Begriffs-, Unter­scheidungs-, Denk- oder Erkenntnisvermögen als gleich­bedeutenden Dingen. Wir haben es eben nicht mit den ver­schiedenen Klassen, sondern mit der allgemeinen Natur des Denkprozesses zu tun.

„Keinen Verständigen fällt es ein,“ sagt ein moderner Physiologe, „den Sitz der geistigen Kräfte, wie bei den Griechen, im Blute suchen zu wollen oder, wie im Mittel­alter, in der Zirbeldrüse – sondern alle haben sich über­zeugt, dass in den Zentren des Nervensystems auch der or­ganische Mittelpunkt für die geistige Funktion des tie­rischen Organismus zu suchen sei.“ – Jawohl! Denken ist eine Funktion des Gehirns, wie Schreiben eine Funktion der Hand. Aber ebensowenig wie die Erforschung und Ana­tomie der Hand die Aufgabe zu lösen vermag, was heißt Schreiben? – ebensowenig vermag die physiologische Er­forschung des Gehirns sich der Frage zu nähern, was heißt Denken? Mit dem anatomischen Messer mögen wir den Geist erwürgen, aber nicht entdecken. Die Erkenntnis, dass Denken ein Produkt des Gehirns ist, nähert uns unserem Gegenstande soweit, als es ihn aus dem Gebiete der Phan­tasie, wo die Gespenster umgehen, in das helle Tageslicht der Wirklichkeit zieht. Aus einem immateriellen unfaß­baren Wesen wird nunmehr der Geist zu einer körperlichen Tätigkeit.

Denken ist eine Tätigkeit des Gehirns, wie Gehen eine Tätigkeit der Beine. Wir nehmen das Denken, den Geist ebenso sinnlich wahr, wie wir den Gang, wie wir Schmerzen, wie wir unsere Gefühle sinnlich wahrnehmen. Das Denken ist uns fühlbar als ein subjektiver Vorgang, als innerlicher Prozeß.

Seinem Inhalt nach ist dieser Prozeß perschieden in jedem Augenblick und bei jeder Persönlichkeit, seiner Form nach bleibt er überall derselbe. Mit anderen Worten heißt das: Beim Denkprozeß unterscheiden wir, wie bei allen Prozessen, zwischen dem Besonderen oder Konkreten und dem Allgemeinen oder Abstrakten. Allgemeiner Zweck desselben, des Denkens, ist die Erkenntnis. Wir werden später sehen, wie die einfachste Vorstellung, wie jeder Be­griff, mit der tiefsten Erkenntnis ein und desselben Wesens ist.

Sowenig es ein Denken, eine Erkenntnis gibt ohne In­halt, sowenig existiert ein Denken ohne Gegenstand, ohne ein Anderes, das gedacht oder erkannt wird. Denken ist eine Arbeit und bedarf wie jede andere Arbeit eines Ob­jektes, an dem es sich äußert. Auf den Satz: ich tue, ich arbeite, ich denke, folgt die Frage nach Inhalt und Gegen­stand: was tust, arbeitest, denkst du?

Jede bestimmte Vorstellung, jedes wirkliche Denken ist identisch mit seinem Inhalt, aber nicht mit seinem Gegen­stande. Mein Schreibtisch als Inhalt meines Gedankens ist eins mit diesem Gedanken, unterscheidet sich nicht von demselben. Jedoch der Schreibtisch außerhalb des Kopfes ist sein durchaus von ihm verschiedener Gegenstand. Der Inhalt ist vom Denken nur als Teil desselben, als ein Akt des Denkens überhaupt zu unterscheiden, während der Gegen­stand kategorisch oder wesentlich verschieden ist.

Wir unterscheiden zwischen Denken und Sein. Wir unterscheiden den sinnlichen Gegenstand von seinem gei­stigen Begriff. Gleichwohl ist doch auch die unsinnliche Vor­stellung sinnlich, materiell, d. h. wirklich. Ich nehme meinen Schreibtischgedanken ebenso materiell wahr, wie ich den Schreibtisch selbst wahrnehme. Allerdings, wenn man nur das Greifbare materiell nennt, dann ist der Gedanke im­materiell. Dann ist aber auch der Duft der Rose und die Wärme des Ofens immateriell. Wir nennen besser vielleicht den Gedanken sinnlich. Oder wenn man uns dann einwenden will, dass das ein Mißbrauch des Wortes sei, weil die Sprache sinnliche und geistige Dinge streng scheide, so ver­zichten wir auch auf dies Wort und nennen ihn wirklich. Der Geist ist wirklich, ebenso wirklich, wie der greifbare Tisch, wie das sichtbare Licht, wie der hörbare Ton. Trotz­dem der Gedanke von diesen Dingen sich wohl unter­scheidet, hat er doch soviel gemein mit ihnen, dass er wirklich ist, ist wie andere Dinge. Der Geist ist nicht weiter vom Tisch, vom Licht, vom Ton verschieden, wie diese Dinge untereinander verschieden sind. Wir leugnen nicht die Differenz, wir behaupten nur die gemeinschaftliche Na­tur dieser differenten Dinge. Wenigstens wird mich nun­mehr der Leser nicht mißverstehen, wenn ich das Denk­vermögen ein materielles Vermögen, eine sinnliche Er­scheinung nenne.

Jede sinnliche Erscheinung bedarf eines Gegenstandes, an dem sie sich äußert. Damit die Wärme sei, wirklich sei, muss ein Gegenstand, muss anderes sein, das sich erwärmen läßt. Das Aktivum kann nicht sein ohne Passivum. Das Sichtbare kann nicht sichtbar sein ohne das Gesicht und wieder das Gesicht nicht Gesicht sein ohne das Sichtbare. Auch das Denkvermögen erscheint, aber, wie alle Dinge, niemals an und für sich, sondern immer in Verbindung mit anderen sinnlichen Erscheinungen. Der Gedanke erscheint, wie jede wirkliche Erscheinung, an und mit einem Objekt. Die Hirnfunktion ist nicht mehr und nicht weniger „reine“ Tätigkeit wie die Funktion des Auges, wie der Duft meiner Blume oder die Wärme des Ofens oder die Erscheinung des Tisches. Dass sich der Tisch sehen, hören und fühlen läßt, dass er wirklich oder wirkend ist, liegt ebensoviel und eben­sowenig an seiner eigenen Tätigkeit wie an der Tätigkeit eines anderen, in Relation mit dem er wirkt.

Jedoch beschränkt jede andere Tätigkeit sich auf eine aparte Kategorie von Gegenständen. Der Funktion des Auges dient nur das Sichtbare, der Hand das Greifbare, der Gang findet am Raume, den er durchschreitet, ein Objekt. Währenddessen ist für das Denken alles Gegenstand. Alles ist erkennbar. Das Denken ist nicht beschränkt auf eine be­sondere Art von Gegenständen. Jede Erscheinung vermag Gegenstand und also auch Inhalt des Gedankens zu sein. Ja, alles, was wir überhaupt gewahr werden, werden wir nur dadurch gewahr, dass es Material unserer Hirntätigkeit wird. Gegenstand und Inhalt des Denkens ist alles. Das Denkvermögen erstreckt sich allgemein auf alle Objekte.

Wir sagten vorhin, alles ist erkennbar, und sagen jetzt, nur das Erkennbare läßt sich erkennen, nur das Wißbare kann Gegenstand der Wissenschaft, nur das Denkbare Gegenstand des Denkvermögens sein. Insofern ist auch das Denkvermögen beschränkt, als es das Lesen, Hören, Fühlen und alle andere unzählige Tätigkeiten der sinnlichen Welt nicht ersetzen kann. Wir erkennen wohl alle Objekte, aber kein Objekt läßt sich totaliter erkennen, wissen oder be­greifen. D. h. die Objekte gehen nicht in die Erkenntnis auf. Zum Sehen gehört etwas, das gesehen wird, etwas also, das noch mehr ist, als wir sehen, zum Hören etwas, das ge­hört wird, zum Denken ein Objekt, das gedacht wird; also wieder ein Etwas, das auch noch außer unserem Gedanken, außer unserem Bewußtsein etwas ist. Wie wir zu der Wissen­schaft kommen, dass wir Objekte sehen, hören, fühlen, denken und nicht Subjektives, wird sich später finden.

Mittelst des Denkens besitzen wir dem Vermögen nach alle Welt doppelt: außen in der Wirklichkeit, innerlich im Gedanken, in der Vorstellung. Dabei ist leicht zu sehen, dass die Dinge in der Welt anders beschaffen sind als die Dinge im Kopf. In optima forma, in ihrer natürlichen Aus­dehnung können sie nicht hinein. Der Kopf nimmt nicht die Dinge selbst, sondern nur ihre Begriffe, ihre Vorstellung, ihre allgemeine Form auf. Der vorgestellte, gedachte Baum ist immer nur ein allgemeiner. Der wirkliche Baum ist ein Baum wie kein anderer. Und wenn ich mir auch diesen be­sonderen Baum zu Kopf nehme, unterscheidet sich der inner­liche immer noch von dem äußerlichen, wie sich das All­gemeine vom Besonderen unterscheidet. Die unendliche Mannigfaltigkeit der Dinge, der unzählbare Reichtum ihrer Eigenschaften hat keinen Raum im Kopf.

„Die Welt, die draußen sich vermißt“, die Erscheinungen der Natur und des Lebens werden wir in zweifacher, in konkreter, sinnlicher, mannigfaltiger, und in abstrakter, gei­stiger, einheitlicher Form gewahr. Für unsere Sinne ist die Welt ein Mannigfaltiges. Der Kopf faßt sie zusammen als Einheit. Und was von der Welt, gilt von jedem besonderen Teile. Eine sinnliche Einheit ist ein Unding. Auch das Atom eines Wassertröpfchens oder das Atom eines chemischen Elementes ist, sofern es wirklich ist, teilbar und in seinen Teilen ungleich, mannigfaltig. A ist nicht B. Aber der Be­griff, das Denkvermögen macht aus jedem sinnlichen Teile ein abstraktes Ganzes und versteht jedes sinnliche Ganze als Teil der abstrakten Welteinheit. Um die Dinge ganz zu nehmen, müssen wir sie praktisch und theoretisch, mit Kopf und Sinn, mit Leib und Geist ergreifen. Mit dem Leibe können wir nur das Leibliche, mit dem Geiste nur das Geistige ergreifen. Also auch die Dinge besitzen Geist. Der Geist ist dinglich, und die Dinge sind geistig. Geist und Dinge sind nur in Relationen wirklich.

Können wir die Dinge sehen? Nein, wir sehen nur die Wirkung der Dinge auf unsere Augen. Wir schmecken nicht den Essig, sondern die Relation des Essigs zu unserer Zunge. Das Produkt ist die Empfindung der Säure. Der Essig ist nur gegenüber der Zunge wirkend sauer, Eisen gegenüber wirkt er auflösend. Kälte gegenüber wird er fest, Wärme gegenüber flüssig. Und er wirkt so verschieden, als die Objekte verschieden sind, mit denen er in Raum und Zeit Relationen eingeht. Der Essig erscheint, wie ohne Aus­nahme alle Dinge erscheinen; aber niemals als Essig an und für sich, sondern immer nur in Relation, in Kontakt, in Ver­bindung mit andern Erscheinungen. Jede Erscheinung ist Produkt von Subjekt und Objekt.

Damit ein Gedanke erscheine, ist das Gehirn oder Denk­vermögen für sich allein nicht hinreichend, es bedarf dazu eines Objekts, eines Gegenstandes, der gedacht wird. Aus dieser relativen Natur unseres Themas folgt denn auch, dass wir bei der Behandlung desselben nicht „rein“ beim Thema bleiben können. Weil eben die Vernunft oder das Denkvermögen nie für sich, sondern immer in Verbindung mit anderem erscheint, sind wir genötigt, fortwährend vom Denkvermögen zu seinen Objekten überzugehen, beides in Verbindung zu behandeln. —

Wie das Gesicht nicht den Baum, sondern nur das Sicht­bare des Baumes sieht, so vermag auch das Denkvermögen nicht das Objekt selbst, sondern nur seine erkennbare gei­stige Seite aufzunehmen. Das Produkt, der Gedanke ist ein Kind, welches von der Hirnfunktion in Gemeinschaft mit irgendeinem Objekte gezeugt ist. Im Gedanken erscheint sowohl das subjektive Denkvermögen einerseits als anderer­seits die geistige Natur des Objekts. Jede Funktion des Geistes setzt einen Gegenstand voraus, von dem sie erzeugt ist, der den geistigen Inhalt abgibt. Und andererseits kommt dieser Inhalt von einem Gegenstande, welcher außerdem ist, in irgendeiner Art sinnlich wahrgenommen, entweder gesehen, gehört, gerochen, geschmeckt oder gefühlt, kurz, erfahren ist.

Wenn wir nun vorhin sagten, dass das Sehen auf das Sichtbare als Objekt, das Hören auf das Hörbare usw. sich beschränkt, dass dagegen dem Denk- oder Erkenntnis­vermögen alles Objekt sei, so bedeutet das jetzt nur noch, dass Objekte, neben ihren unzähligen, aber besonderen sinnlichen Eigenschaften, auch noch die allgemeine, geistige Eigenschaft besitzen, sich denken, begreifen oder erkennen zu lassen, kurz, Objekt unseres Denkvermögens zu sein.

Diese metaphysische Bestimmung aller Objekte gilt auch dem Denkvermögen selbst, dem Geiste. Der Geist ist eine körperliche, sinnliche Tätigkeit, welche mannigfaltig er­scheint. Es ist das zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Köpfen, von verschiedenen Gegenständen sinnlich erzeugte Denken. Wie alles andere mögen wir diesen Geist zum Gegenstand eines besonderen Denkakts machen. Als Gegen­stand ist der Geist eine mannigfaltige, empirische Tatsache, welche mit einer speziellen Hirnfunktion in Kontakt ge­bracht, den generellen Begriff des Geistes, als Inhalt dieses besonderen Denkaktes zeugt. Der Gegenstand des Denkens unterscheidet sich vom Inhalt desselben, wie sich überhaupt die Sache von ihrem Begriff unterscheidet. Der sinnlich er­fahrene, mannigfaltige Gang dient dem Denken als Gegen­stand, mittelst dessen es den Begriff des Ganges als Inhalt besitzt. Dass der Begriff irgendeines sinnlichen Objektes Vater und Mutter hat, dass er gezeugt ist von unserem Denken mittelst des erfahrenen Gegenstandes, begreift sich leichter, ist sinnfälliger als die Dreifaltigkeit, welche exi­stiert, indem unser gegenwärtiges Denken, aus der Erfahrung seiner seihst, seinen eigenen Begriff als Produkt erzeugt. Hier scheint es, als bewegten wir uns im Kreise. Gegenstand, In­halt und Tätigkeit fällt scheinbar zusammen. Die Vernunft bleibt hei sich: sie dient sich als Gegenstand und nimmt da­von ihren Inhalt. Aber deshalb bleibt der Unterschied, wenn auch minder offenbar, doch nicht minder wahrhaft wie anderswo. Was die Wahrheit verbirgt, ist die Gewohnheit, Sinnliches und Geistiges als heterogene, absolut verschiedene Dinge zu betrachten. Die Notwendigkeit der Unterschei­dung zwingt überall, zwischen den sinnlichen Objekten und ihren geistigen Begriffen zu distinguieren. Sie zwingt uns, dasselbe am Begriffsvermögen selbst zu tun, und sind wir so genötigt, ein Objekt sinnlich zu nennen, welches den Namen „Geist“ trägt. Solche Zweideutigkeit der Terminologie ist wohl in keiner Wissenschaft ganz zu vermeiden. Der Leser, der nicht am Worte klaubt, sondern den Sinn sucht, wird begreifen, dass der Unterschied zwischen Sein und Denken auch am Erkenntnisvermögen Geltung hat, dass das Fak­tum des Erkennens, Begreifens, Denkens usw. verschieden ist vom Verständnis dieses Faktums. Und da auch das letz­tere, das Verständnis, wiederum ein Faktum ist, wird es erlaubt sein, alles Geistige faktisch oder „sinnlich“ zu nennen. Die Vernunft oder das Denkvermögen ist demnach kein mystisches Objekt, welches den einzelnen Gedanken produ­zierte. Umgekehrt, die Tatsache einzelner, erfahrener Ge­danken bildet das Objekt, welches in Kontakt mit einem Hirnakt den Vernunftsbegriff zeugt. Die Vernunft hat, wie alle Dinge, von denen wir wissen, eine doppelte Existenz: die eine in der Erscheinung oder Erfahrung, die andere im Wesen oder Begriff. Der Begriff irgendeines Objekts setzt dessen Erfahrung voraus, nicht minder der Begriff der Denkkraft. Da aber der Mensch per se denkt, hat jeder auch die betreffende Erfahrung per se gemacht.

Wir sind bei einem Gegenstand angekommen, wo die spekulative Methode, welche ihre Erkenntnisse ohne Er­fahrung, aus der Tiefe des Geistes erzeugen will, heimlich, durch die sinnliche Natur des Objekts, zur induktiven Methode wird, und wo umgekehrt die Induktion, welche Schlüsse, Begriffe, Erkenntnisse nur mittelst Erfahrung zeugen will, durch die gleichzeitig geistige Natur ihres Ob­jekts zur Spekulation wird. Es gilt hier, mittelst des Den­kens den Begriff des Denk- oder Erkenntnisvermögens, der Vernunft, des Wissens oder der Wissenschaft zu analysieren.

Begriffe zeugen und diese Begriffe analysieren ist in­soweit dasselbe, als beides Funktion des Gehirns, Ver­standestätigkeit ist. Beides ist gemeinschaftlicher Natur. Das eine unterscheidet sich jedoch vom anderen, wie In­stinkt und Bewußtsein sich unterscheiden. Der Mensch denkt zunächst nicht, weil er will, sondern weil er muss. Be­griffe zeugen sich instinktiv, unwillkürlich. Um derselben klar, bewußt zu werden, um sie dem Wissen und Willen zu unterwerfen, bedürfen wir ihrer Analyse. Aus der Erfahrung des Gehens zeugen wir z. B. den Begriff des Ganges. Ihn analysieren heißt die Frage lösen, was heißt gehen im all­gemeinen, was ist das Allgemeine des Gehens. Wir antworten vielleicht: der Gang ist eine taktmäßige Bewegung von einem Ort zum anderen, und erheben somit den instinktiven zu einem bewußten, analysierten Begriff. Erst mittelst der Analyse wird die Sache begrifflich, förmlich oder theoretisch begriffen. Wir wollten wissen, aus welchen Elementen der Gangbegriff gebildet ist, und finden die taktmäßige Be­wegung als das Allgemeine derjenigen Erfahrungen, welche wir gemeinsam „gehen“ nennen. In der Erfahrung ist der Gang bald weit-, bald kurzschrittig, zwei- oder mehrfüßig Uhren- oder Maschinengang, kurz, mannigfaltig. Im Be­griff ist er nur eine taktmäßige Bewegung, und die Analyse des Begriffs gibt uns erst das Bewußtsein dieser Tatsache. Der Begriff des Lichtes existierte längst, bevor die Wissen­schaft ihn analysierte, bevor sie erkannte, dass Äther­schwingungen die Elemente bilden, welche den Licht­begriff konstituieren. Instinktive und analysierte Begriffe unterscheiden sich, wie die Gedanken des Lebens sich von den Gedanken der Wissenschaft unterscheiden.

Die Analyse irgendeines Begriffs und die theoretische Analyse des Gegenstandes oder der Sache, welcher der Be­griff entnommen, ist ein und dasselbe. Jedem Begriff ent­spricht ein wirklicher Gegenstand. Ludwig Feuerbach hat nachgewiesen, dass selbst die Begriffe Gott und Unsterb­lichkeit Begriffe wirklicher, sinnlicher Gegenstände sind. Um die Begriffe Tier, Licht, Freundschaft, Mensch usw. zu analysieren, werden die Gegenstände, die Tiere, die Freund­schaften, die Menschen, die Lichterscheinungen analysiert. Der zu analysierende Gegenstand des Tierbegriffs ist eben­sowenig ein einzelnes Tier, wie der Gegenstand des Licht­begriffs irgendeine einzelne Lichterscheinung ist. Der Be­griff umfaßt die Gattung, die Sache im allgemeinen, und so darf sich denn die Analyse, die Frage, was ist das Tier, was ist das Licht, was ist die Freundschaft, nicht damit be­schäftigen, irgendein Besonderes, sondern das Allgemeine, die Gattung in ihre Elemente zu zerlegen.

Was scheinen läßt, als sei die Analyse eines Begriffs und die Analyse seines Gegenstandes voneinander verschieden, ist unsere Fähigkeit, Gegenstände in zweifacher Weise, praktisch, sinnlich, handlich, im besonderen, und dann auch theoretisch, geistig, mit dem Kopf, im allgemeinen separieren zu können. Die praktische Analyse ist die Voraussetzung der theoretischen. Um den Tierbegriff zu analysieren, dienen uns die sinnlich separaten Tiere, um die Freundschaft zu analysieren, dienen die separat erfahrenen Freundschaften als Material oder Voraus­setzung.

Jedem Begriff entspricht ein Gegenstand, welcher prak­tisch in viel separate Teile zu zerlegen ist. Den Begriff ana­lysieren heißt nunmehr, seinen bereits praktisch analy­sierten Gegenstand theoretisch analysieren. Die Analyse des Begriffs besteht in der Erkenntnis des Gemeinschaftlichen oder Allgemeinen der besonderen Teile seines Gegenstandes. Das Gemeinschaftliche der verschiedenen Gänge, die takt­mäßige Bewegung, konstituiert den Gangbegriff, das Ge­meinschaftliche der verschiedenen Lichterscheinungen den Lichtbegriff. Die chemische Fabrik analysiert die Gegen­stände, um Chemikalien zu gewinnen, die Wissenschaft, um ihre Begriffe zu analysieren.

Auch unser spezieller Gegenstand, das Denkvermögen, unterscheidet sich von seinem Begriff. Doch, um den Be­griff zu analysieren, will der Gegenstand analysiert sein. Chemisch läßt er sich nicht analysieren – nicht alles gehört in die Chemie —, wohl aber theoretisch oder wissenschaft­lich. Der Wissenschaft oder Vernunft gehören, wie gesagt, alle Gegenstände. Doch alle Gegenstände, welche die Wissen­schaft begrifflich analysieren will, wollen vorher analytisch praktiziert, je nach ihrer Art entweder mannigfaltig han­tiert oder vorsichtig beguckt oder aufmerksam behorcht, kurz gründlich erfahren sein.

Dass der Mensch denkt, das Denkvermögen, ist eine sinn­lich erfahrene Tatsache. Tatsachen geben die Veranlassung oder den Gegenstand, woraus wir instinktiv den Begriff bilden. Den Begriff der Denkkraft analysieren, heißt nun­mehr, bei den verschiedenen, persönlichen, zeitlichen Denk­akten der Wirklichkeit das Gemeinschaftliche oder All­gemeine aufsuchen. Um eine solche Forschung mit natur­wissenschaftlicher Methode zu verfolgen, bedürfen wir hier weder eines physikalischen Instruments noch chemischer Reagenzien. Die sinnliche Beobachtung, welche für jede Wissenschaft, für jede Erkenntnis unumgänglich ist, ist uns diesmal gleichsam a priori gegeben. Den Gegenstand unserer Forschung, die Tatsache der Denkkraft und ihre Erfahrung, besitzt jeder in der Erinnerung an sich selbst.

Erkannten wir nun vorhin, dass sowohl der instinktive Begriff wie auch seine wissenschaftliche Analyse überall aus dem Sinnlichen, Besonderen, Konkreten das Abstrakte oder Allgemeine entwickelt, so heißt das mit anderen Worten: Das Gemeinschaftliche aller separaten Denkakte ist darin gefunden, dass sie an ihren Gegenständen, welche in sinnlicher Leiblichkeit mannigfaltig erscheinen, das All­gemeine, die generelle Einheit aufsuchen. Das Allgemeine, worin sich die verschiedenen Tiere, die verschiedenen Lichterscheinungen gleichen, bildet das Element, woraus der generelle Tier- und Lichtbegriff zusammengesetzt ist. Das Allgemeine ist der Inhalt aller Begriffe, aller Erkennt­nis, aller Wissenschaft, aller Denkakte. Somit ergibt die Analyse des Denkvermögens das letztere als Fähigkeit, aus dem Besonderen das Allgemeine zu erforschen. Das Auge er­forscht das Sichtbare; das Ohr nimmt das Hörbare und unser Gehirn das Allgemeine, das ist das Wiß- oder Er­kennbare, wahr.

Wir haben gesehen, wie das Denken, ähnlich jeder anderen Tätigkeit, eines Objektes bedarf; wie ferner dasselbe un­beschränkt ist in der Wahl seiner Objekte, wie unbeschränkt alles zu einem Objekt des Denkvermögens werden kann; wie dann diese Objekte in der Sinnlichkeit mannigfaltig er­scheinen und nun die Denkarbeit darin besteht, diese Er­scheinungen durch Extrahieren ihrer Ähnlichkeit, ihres Gleichartigen oder Allgemeinen in einfache Begriffe zu ver­wandeln. Wenden wir nun diese erkannte Erfahrung oder erfahrene Erkenntnis von der allgemeinen Methode des Denkvermögens auf unsere Aufgabe an, so ist klar, dass da­mit die Lösung gegeben ist, indem eben nur die allgemeine Methode des Denkvermögens gesucht wurde.

Ist die Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen die generelle Methode, die Art und Weise überhaupt, mit welcher die Vernunft Erkenntnisse fördert, so ist damit die Vernunft vollständig erkannt als die Fähigkeit, dem Beson­deren das Allgemeine zu entnehmen.

Denken ist eine leibliche Arbeit, die ebensowenig wie irgendeine andere Arbeit sein oder wirken kann ohne Ma­terial. Zum Denken bedarf ich eines Stoffes, der sich denken läßt. Dieser Stoff ist gegeben in den Erscheinungen der Natur und des Lebens. Sie sind es, welche wir das Besondere nennen. Wenn nun vorhin das All oder alles Objekt des Denkens genannt wurde, so heißt das nunmehr, der Stoff der Denkarbeit, der Gegenstand der Vernunft ist unendlich, unendlich in der Quantität und unbeschränkt in der Quali­tät. Der Stoff, welcher unserem Denkvermögen als Material dient, ist so endlos wie der Raum, so ewig wie die Zeit und so absolut mannigfaltig wie der Inhalt dieser beiden Formen. Das Denkvermögen ist insoweit ein universelles Vermögen, als es mit allem, mit allen Stoffen, mit allen Dingen, mit allen Erscheinungen Verbindungen eingeht, d. h. Gedanken zeugt. Das Absolute aber ist es nicht, weil es zum Sein, zum Wirken die Welt der Erscheinung, die Materie voraussetzt. Die Materie ist die Schranke des Geistes; er kann nicht über sie hinaus. Sie gibt ihm den Hintergrund zu seiner Beleuch­tung, aber sie geht nicht auf in die Beleuchtung. Geist ist ein Produkt der Materie, die Materie jedoch ist mehr als ein Produkt des Geistes, sie kommt auch noch durch die fünf Sinne uns nahe, sie ist zugleich Produkt unserer Sinnen­tätigkeit. Nur solche Produkte, welche uns durch Sinn und Geist zugleich offenbart sind, nennen wir wirkliche, objek­tive Produkte, Dinge „an sich“.

Ein wahrhaftiges, wirkliches Ding ist die Vernunft nur insoweit, als sie sinnlich ist. Die sinnliche Wirkung der Ver­nunft offenbart sich sowohl im Kopf des Menschen, wie auch objektiv in der äußeren Welt. Oder sind nicht die Wirkungen handgreiflich, mit denen die Vernunft Natur und Leben umgestaltet? Wir sehen die Erfolge der Wissen­schaft mit Augen und greifen sie mit Händen. Allerdings vermag das Wissen oder die Vernunft nicht allein aus sich diese materiellen Wirkungen zu produzieren. Die Welt der Sinnlichkeit, die äußeren Objekte müssen dazu gegeben sein. Aber welches Ding wirkt denn auch „an und für sich“? Damit das Licht leuchte, damit die Sonne wärme und ihren Kreislauf ausführe, müssen Raum und andere Dinge ge­geben sein, welche sich erleuchten, erwärmen, durchkreisen lassen. Bevor mein Tisch Farbe hat, muss Licht und Auge gegeben sein, und alles was er ferner ist, ist er nur in Kon­takt mit anderem, und ebenso mannigfaltig ist sein Sein, wie diese Kontakte, diese Relationen mannigfaltig sind. Das heißt, die Welt ist nur im Zusammenhange. Ein Ding aus dem Zusammenhange gerissen, hört auf zu sein. Das Ding ist für sich nur, indem es für anderes ist, indem es wirkt oder erscheint.

Nehmen wir als „Ding an sich“ die Welt, so versteht es sich leicht, dass die Welt „an sich“ und die Welt, wie sie uns erscheint, die Erscheinungen der Welt, nicht weiter ver­schieden sind wie das Ganze und sein Teil. Die Welt an sich ist nichts anderes, als die Summe ihrer Erscheinungen. Ebenso verhält es sich mit jenem Teil der Welterscheinung, welche wir Vernunft, Geist, Denkvermögen nennen. Ob­gleich wir das Denkvermögen von seinen Erscheinungen oder Wirkungen unterscheiden, ist das Denkvermögen „an sich“, die „reine“ Vernunft doch nur in der Summe ihrer Erscheinungen wirklich vorhanden. Das Sehen ist die leib­liche Existenz des Gesichtsvermögens. Wir besitzen das Ganze nur mittelst seiner Teile, und wie alle Dinge, so auch unsere Vernunft nur mittelst ihrer Wirkungen, mittelst der einzelnen Gedanken. Wie gesagt, nicht das Denkvermögen ist das zeitlich erste, es geht nicht dem Gedanken vorher. Umgekehrt, an sinnlichen Objekten erzeugte Gedanken dienen als Material, an dem sich der Begriff des Denk­vermögens erzeugt. Wie uns das Verständnis der Welt­bewegung gelehrt hat, dass nicht die Sonne um die Erde kreist, so lehrt uns das Verständnis des Denkprozesses, dass nicht das Denkvermögen die Gedanken bildet, sondern dass, umgekehrt, aus einzelnen Gedanken der Begriff Denk­vermögen gebildet ist – dass also, wie das Gesichts­vermögen durch die Summe unserer Gesichte, so das Denk­vermögen nur als Gesamtsumme unserer Gedanken prak­tisch da ist.

Diese Gedanken, die praktische Vernunft, dienen als Material, aus welchem unser Hirn die reine Vernunft als Begriff erzeugt. Die Vernunft ist in der Praxis notwendig unrein, d. h. mit irgendeinem besonderen Objekt beschäftigt. Die reine Vernunft, die Vernunft ohne besonderen Inhalt kann nichts weiter sein, als das Allgemeine der besonderen Vernunftakte. Dies Allgemeine besitzen wir doppelt: un­rein, praktisch oder konkret als Summe der wirklichen Er­scheinungen und rein, theoretisch oder abstrakt im Be­griff. Die Erscheinung der Vernunft unterscheidet sich von der Vernunft an sich, wie sich die Tiere des Lebens, der sinnlichen Wirklichkeit vom Begriff des Tieres im all­gemeinen unterscheiden.

Jedem wirklichen Vernunft- oder Erkenntnisakte dient eine andere wirkliche Erscheinung als Gegenstand, welcher, der Natur alles Wirklichen gemäß, vielfältig oder mannig­faltig ist. Aus diesem mannigfaltig gearteten Gegenstande zieht das Denkvermögen das Gleichartige oder Allgemeine hervor. Die Maus und der Elefant verlieren ihre Verschiedenheit in dem gleichartigen, allgemeinen Tierbegriff. Der Begriff umfaßt das Viele zur Einheit, entwickelt aus dem Besonderen das Allgemeine. Da nun Begreifen das Ge­meinschaftliche oder Allgemeine aller Vernunftakte aus­macht, so findet sich daran die Bestätigung, dass die Ver­nunft im allgemeinen oder das allgemeine Wesen des Denk-und Erkenntnisvermögens darin besteht, aus irgendeiner gegebenen, wirklichen, sinnlichen Erscheinung das Wesen, das Allgemeine oder Gemeinschaftliche, das Geistige oder Generelle zu abstrahieren.

Da die Vernunft nicht wirklich sein, nicht wirken kann ohne Objekt, so versteht sich, dass wir die „reine“ Vernunft, die Vernunft „an sich“ nur erkennen können aus ihrer Praxis. Sowenig wir das Licht ohne Auge, sowenig ver­möchten wir die Vernunft zu finden ohne die Gegenstände, mit denen in Kontakt sie sich produziert hat. So mannig­faltig diese Gegenstände, so mannigfaltig sind die Erschei­nungen der Vernunft. Nochmals, nicht das Wesen der Ver­nunft erscheint. Umgekehrt, aus den Erscheinungen bilden wir den Begriff des Wesens, der Vernunft an sich oder der reinen Vernunft.

Nur in Kontakt mit anderen, mit sinnlichen Erscheinungen erscheinen die geistigen Denkakte. Sie sind selbst dadurch zu sinnlichen Erscheinungen geworden, welche in Kontakt mit einer Hirnfunktion den Begriff des „Denkvermögens an sich“ erzeugen. Analysieren wir diesen Begriff, so besteht die Vernunft „rein“ in der Tätigkeit, aus gegebenem Ma­terial – immaterielle Gedankenspäne gehören mit dazu – allgemeine Begriffe zu erzeugen. Mit anderen Worten charak­terisiert sich die Vernunft als Tätigkeit, die aus jeder Mannigfaltigkeit Einheit, aus jedem Verschiedenen das Gleichartige produziert, alle Gegensätze ausgleicht. Es sind das nur verschiedene Worte für dieselbe Sache, die hier ge­geben sind, damit der Leser nicht das leere Wort, sondern den lebendigen Begriff, das mannigfaltige Objekt nach seinem generellen Wesen erhalte.

Die Vernunft, sagten wir, besteht rein in der Entwick­lung des Allgemeinen aus dem Besonderen, in der Ermitt­lung des Generellen oder Abstrakten aus dem Konkreten oder sinnlich Gegebenen. Das ist rein und ganz der Inhalt der Vernunft, der Erkenntnis des Wissens, des Bewußt­seins. Dieses „rein“ und „ganz“ aber bedeutet nur, dass da­mit der gemeinschaftliche Inhalt der verschiedenen Denk­akte, die allgemeine Form der Vernunft gegeben ist. Neben dieser allgemeinen abstrakten Form hat die Vernunft, wie alle Dinge, auch ihre konkrete, besondere, sinnliche Form, welche wir durch Erfahrung unmittelbar gewahr werden. Die ganze Gewahrung des Bewußtseins besteht demnach in seiner sinnlichen Erfahrung, d. h. in seiner leiblichen Fühl­barkeit und in seiner Erkenntnis. Die Erkenntnis ist die allgemeine Form einer Sache.

Das Bewußtsein ist schon dem Wortsinne nach ein Wissen des Seins, also eine Form, eine Eigenschaft, welche von anderen Eigenschaften des Seins sich dadurch unter­scheidet, dass sie bewußt ist. Die Qualität läßt sich nicht erklären, sondern erfahren. Aus Erfahrung wissen wir, dass mit dem Bewußtsein, mit dem Wissen des Seins, die Zwei­teilung in Subjekt und Objekt, der Unterschied, der Gegen­satz, der Widerspruch zwischen Denken und Sein, zwischen Form und Inhalt, zwischen Erscheinung und Wesen, zwischen Akzidenz und Substanz, zwischen dem Besonderen und Allgemeinen gegeben ist. Aus diesem immanenten Widerspruch des Bewußtseins erklärt sich denn auch die widersprechende Benennung, wonach es einerseits Organ des Allgemeinen, Generalisations- oder Einheitsvermögen – und andererseits und mit gleichem Rechte Unterschei­dungsvermögen genannt ist. Das Bewußtsein generalisiert das Verschiedene, unterscheidet das Generelle. Die Natur des Bewußtseins ist der Widerspruch, und so widerspruchs­voll ist diese Natur, dass sie zugleich Natur der Vermitt­lung, der Erklärung, des Verständnisses ist. Das Bewußt­sein generalisiert den Widerspruch. Es erkennt, dass die ganze Natur, das gesamte Sein im Widerspruch lebt, dass alles, was da ist, das, was es ist, nur durch Mitwirkung eines anderen, eines Gegensatzes ist. Wie das Sichtbare ohne Ge­sicht nicht sichtbar und umgekehrt das Gesicht nicht sieht ohne Sichtbares, so ist der Widerspruch als ein Allgemeines zu erkennen, welcher Denken und Sein beherrscht. Es löst die Wissenschaft des Denkvermögens, durch Generalisation des Widerspruchs, alle besonderen Widersprüche auf.

III. Das Wesen der Dinge

Insofern das Erkenntnisvermögen ein physisches Objekt, ist die Kenntnis desselben eine physische Wissenschaft. In­sofern jedoch wir mittelst dieses Vermögens alle Dinge er­kennen, wird die Wissenschaft desselben zur Metaphysik. Wenn die wissenschaftliche Analyse der Vernunft die ge­wöhnliche Anschauung von ihrem Wesen umkehrt, so zieht diese spezielle Erkenntnis notwendig eine generelle Umkehr unserer gesamten Weltanschauung nach. Mit der Erkennt­nis vom Wesen der Vernunft ist die solange gesuchte Er­kenntnis vom „Wesen der Dinge“ gegeben.

Alles, was zu wissen, verstehen, begreifen, erkennen ist, wollen wir nicht nach der Erscheinung, sondern nach dem Wesen erfassen. Die Wissenschaft sucht hinter dem was scheinbar, das was wahrhaft ist, das Wesen der Dinge. Jedes besondere Ding hat sein besonderes Wesen, welches jedoch nicht dem Auge, nicht dem Ohr, nicht der Hand, sondern nur dem Denkvermögen erscheint. Das Denkvermögen er­forscht aller Dinge Wesen, wie das Auge alle Sichtbarkeit. Wie nun das Sichtbare im allgemeinen in der Theorie des Gesichts, so ist das Wesen der Dinge im allgemeinen in der Theorie des Denkvermögens zu finden.

Wenn hier gesagt ist, dass einer Sache Wesen nicht dem Auge usw., sondern dem Denkvermögen erscheint, so hört es sich allerdings widersprechend an, dass das Entgegengesetzte der Erscheinung, das Wesen, erscheine. Doch in dem­selben Sinne, wie wir im vorhergehenden Kapitel das Gei­stige sinnlich nannten, nennen wir hier das Wesen eine Er­scheinung, und werden im Verlauf näher zeigen, wie jedes Sein ein Schein, wie jeder Schein ein mehr oder minder wesenhaftes Sein ist.

Wir sahen, das Denkvermögen bedarf zum Wirken, um wirklich zu sein, einen Gegenstand, Stoff, Material. Die Wirkung des Denkvermögens erscheint in der Wissenschaft, gleichviel, ob wir das Wort Wissenschaft nur in enger klas­sischer oder in breitester Bedeutung nehmen, wo ausnahms­los jedes Wissen eine Wissenschaft ist. Der allgemeine Gegen­stand oder Stoff der Wissenschaft ist die sinnliche Erschei­nung. Die sinnliche Erscheinung ist -bekanntlich ein un­begrenzter Stoffwechsel. Aus räumlich nebeneinander be­stehenden und aus zeitlich nacheinander folgenden Ver­änderungen des Stoffs besteht die Welt und alles was darin. Sie, die Sinnlichkeit oder das Universum, ist an jedem Ort und zu jeder Zeit eigentümlich, neu, nie dagewesen. Sie ent­steht und vergeht, vergeht und entsteht unter unseren Händen. Nichts bleibt sich gleich, beständig ist nur der ewige Wechsel, und auch der Wechsel ist verschieden. Jeder Teil der Zeit und des Raumes bringt neue Wechsel. Der Materialist zwar behauptet die Beständigkeit, Ewigkeit, Unvergänglichkeit des Stoffes. Er lehrt uns, dass niemals noch ein Gran vom Stoff der Welt verlorengegangen, dass ewig nur die Materie ihre Formen wechselt, ihr eigentliches Selbst aber unzerstörbar alle Vergänglichkeit überdauere. Und doch, trotz dieser Unterscheidung zwischen dem Stoff selbst und seiner vergänglichen Form, ist andererseits der Materialist mehr wie jeder andere geneigt, die Identität von Form und Stoff zu betonen. Wenn er mit Ironie von form­losen Stoffen und stofflosen Formen spricht, hinterher aber von vergänglichen Formen der ewigen Materie redet, so ist klar, dass der Materialismus sowenig wie der Idealismus über das Verhältnis von Form und Inhalt, Erscheinung und Wesen Aufschluß zu geben weiß. Wo finden wir jenen ewigen, unvergänglichen, also formlosen Stoff? In der sinn­lichen Wirklichkeit begegnen wir immer nur geformten ver­gänglichen Stoffen. Stoff ist allerdings überall. Wo etwas vergeht, entsteht etwas. Aber nirgends ist jene einheitliche, sich selbst gleiche, die Form überdauernde Materie prak­tisch entdeckt worden. Auch das chemisch unzerlegbare Element ist in seiner sinnlichen Wirklichkeit nur eine rela­tive Einheit, überhaupt aber, so in der Länge der Zeit, wie in der Breite der Ausdehnung, verschieden, neben- und nach­einander so verschieden, wie irgendein organisches Indivi­duum, das eben auch nur Formen wechselt, aber dem Wesen, dem Allgemeinen nach von Anfang bis zu Ende un­veränderlich dasselbe bleibt. Mein Leib wechselt unaufhör­lich Fleisch und Knochen und alles was an ihm ist, und bleibt immer noch derselbe. Worin besteht nun dieser von seinen veränderlichen Erscheinungen unterschiedene Leib selbst? Antwort: in der Totalität, in der zur Einheit zu­sammengefaßten Summe seiner mannigfaltigen Formen. Die ewige Materie, der unvergängliche Stoff ist wirklich oder praktisch nur da als Summe seiner vergänglichen Erschei­nungen. Der Stoff ist unvergänglich, kann nur heißen, zu allen Zeiten ist überall Stoff. So wahr, wie wir sagen, die Ver­änderungen bestehen am Stoff, der Stoff ist das Bleibende, nur die Veränderungen wechseln, so wahr mögen wir die Sache umdrehen und sagen: der Stoff besteht in Verände­rungen, der Stoff ist das, was wechselt und nur der Wechsel ist das, was bleibt. Die stoffliche Veränderung und der ver­änderliche Stoff sind doch nur verschiedene Phrasen.

In der sinnlichen Welt, in der Praxis ist nichts Bestän­diges, nichts Gleiches, nichts Wesenhaftes, kein „Ding an sich.“ Alles ist Wechsel, alles Veränderung, alles Phantom, wenn man so will. Eine Erscheinung jagt die andere. „Gleichwohl“, sagt Kant, „sind auch die Dinge etwas an sich, denn sonst würde der ungereimte Widerspruch folgen, dass Erscheinung ohne etwas wäre, was erscheint.“ Doch nein! die Erscheinung ist von dem was erscheint nicht mehr und nicht weniger verschieden, wie der 10 Meilen lange In­halt eines Weges vom Wege selbst, oder wie Stiel nebst Klinge vom Messer verschieden sind. Ob wir am Messer auch Stiel und Klinge unterscheiden, so ist doch das Messer nichts außer Stiel und Klinge, Das Wesen der Welt ist ab­solute Veränderlichkeit. Erscheinungen erscheinen — voilà tout.

Der Widerspruch zwischen dem „Ding an sich,“ dem Wesen und seiner Erscheinung findet seine vollständige Lösung in einer vollständigen Kritik der Vernunft, in der Erkenntnis, dass das menschliche Denkvermögen jede will­kürliche Zahl sinnlich gegebener Mannigfaltigkeiten als gei­stige Einheit, als ein Wesen begreift, am Besonderen oder Verschiedenen das Gleichartige oder Allgemeine gewahrt und also alles, was ihm gegenübertritt, als einzelnen Teil eines größeren Ganzen versteht.

Mit andern Worten: die absolut relative, flüchtige Form der Sinnenwelt dient unserer Hirntätigkeit als Materiatur, um durch Abstraktion, nach Kennzeichen des Ähnlichen oder Generellen für unser Bewußtsein systematisiert, ge­ordnet oder geregelt zu werden. Die unbegrenzt mannig­faltige Sinnlichkeit passiert am Geiste, der subjektiven Ein­heit, vorbei und er setzt nun aus dem Vielen das Eine, aus den Teilen das Ganze, aus den Erscheinungen das Wesen, aus dem Vergänglichen das Unvergängliche, aus Akzidenzen die Substanz zusammen. Das Reale, das Wesen oder Ding an sich ist ein ideales, geistiges Geschöpf. Das Bewußtsein weiß aus Verschiedenheiten Einheiten zu summieren. Das Quantum dieser Summation ist willkürlich. Die ganze Vielheit des Universums begreift sich theoretisch als Einheit. Andererseits löst jede kleine abstrakte Einheit sich prak­tisch auf in die unendliche Mannigfaltigkeit einer sinnlichen Erscheinung. Wo finden wir außerhalb des Kopfes eine praktische Einheit? 2/2, 4/4, 8/8, eine endlose Zahl separater Teile ist das Material, woraus der Verstand die mathe­matische 1 anfertigt. Sind dies Buch, oder seine Blätter, die Lettern oder deren Teile Einheiten? Wo fange ich an, und wo höre ich auf? Mit gleichem Rechte mag ich die Bibliothek mit zahlreichen Bänden, Haus und Hof und zuletzt die Welt eine Einheit nennen. Ist nicht jedes Ding ein Teil, ist nicht jeder Teil ein Ding? Ist die Farbe des Blattes weniger eine Sache, wie das Blatt selbst? Vielleicht will man die Farbe nur Eigenschaft und das Blatt Stoff oder Substanz nennen, weil wohl das Blatt ohne Farbe, nicht aber die Farbe ohne Blatt sein könnte. So sicher indes wir durch Schöpfen vom Sandhauf den Sandhauf erschöpfen, so sicher nehmen wir dem Blatte mit seinen Eigenschaften schließ­lich auch allen Stoff oder die Substanz. Wie die Farbe nur eine summarische Wechselwirkung von Licht, Blatt und Auge, so ist auch der „übrige Stoff“ des Blattes nur ein Aggregat verschiedener Wechselwirkungen. Wie unser Denkvermögen dem Blatte die Eigenschaft der Farbe ab­pflückt und sie als „Ding an sich“ fixiert, so mögen wir ferner noch dem Blatte eine beliebige Anzahl Eigenschaften abnehmen, jedoch nicht, ohne dasselbe mehr und mehr seines „Stoffs“ zu entblättern. Die Farbe ist ihrer Qualität nach nicht weniger Stoff oder Substanz, als das Blatt, und das Blatt nicht weniger pure Eigenschaft, als die Farbe. Wie die Farbe Eigenschaft des Blattes, ist das Blatt Eigenschaft des Baumes, der Baum Eigenschaft der Erde, die Erde Eigenschaft der Welt. Die Welt erst ist eigentliche Sub­stanz, Stoff überhaupt, dem gegenüber alle besonderen Stoffe nur Eigenschaften sind. An diesem Weltstoff aber wird es offenbar, dass das Wesen, das Ding an sich im Unterschiede von den Erscheinungen nur ein Gedankending ist.

Das allgemeine Streben des Geistes von den Akzidenzen zur Substanz, vom Relativen zum Absoluten, über den Schein hinaus zur Wahrheit, zur Sache „an sich“ zu ge­langen, offenbart schließlich das Resultat dieses Strebens, die Substanz, als eine vom Gedanken gesammelte Summe von Akzidenzen und somit den Geist oder den Gedanken als das allein substanzielle Wesen, welches aus sinnlichen Mannigfaltigkeiten geistige Einheiten erschafft, die ver­gänglichen Dinge oder Eigenschaft der Welt durch Verbin­dung als ein selbständiges Wesen „an sich“, als absolutes Ganzes erfaßt. Wenn der Geist von Eigenschaften un­befriedigt, fort und fort nach der Substanz fragt, den Schein verwirft und an der Wahrheit, am Wesen, am Ding an sich sucht, wenn sich dann zuletzt diese substanzielle Wahrheit als Summe vermeintlicher Unwahrheiten, als Totalität der Erscheinungen darstellt, so betätigt sich damit der Geist als Schöpfer der Substanz, welcher jedoch nicht aus nichts, sondern Substanzen aus Akzidenzen, Wahr­heiten aus Scheinbarkeiten zeugt.

Gegenüber der idealistischen Vorstellung, dass hinter der Erscheinung ein Wesen versteckt sei, was erscheine, gilt die Erkenntnis, dass dies versteckte Wesen nicht in der Außen­welt, sondern innen im Kopf des Mensehen apart wohnt. Da jedoch der Kopf seinen Unterschied zwischen Schein und Wesen, zwischen dem Besonderen und Allgemeinen nur auf Grund sinnlicher Erfahrung macht, so ist anderer­seits nicht zu verkennen, dass die Unterscheidung begrün­det, dass die erkannten Wesen, wenn nicht hinter, so doch mittelst der Erscheinung da sind, objektiv da sind, dass unser Denkvermögen ein wesentliches, reales Vermögen ist.

Es gilt nicht allein von physischen, es gilt auch von gei­stigen, es gilt metaphysisch von allen Dingen, dass sie das, was sie sind, nicht „an sich“, nicht im Wesen, sondern nur im Kontakt mit anderem, in der Erscheinung sind. In diesem Sinne mögen wir sagen: die Dinge sind nicht, son­dern sie erscheinen, und erscheinen so unendlich mannig­faltig, wie andere Erscheinungen mannigfaltig sind, mit denen Raum und Zeit sie in Kontakt bringen. Der Satz je­doch: „Die Dinge sind nicht, sondern erscheinen“, bedarf, um kein Mißverständnis zuzulassen, den Satz der Er­gänzung: „Was erscheint, das ist“, jedoch nur insoweit, als es erscheint. „Die Wärme selbst vermögen wir nicht wahr­zunehmen“, sagt die Physik des Professor Koppe, „wir schließen nur aus den Wirkungen derselben auf das Vor­handensein dieses Agens in der Natur“. So schließt der Naturforscher, welcher praktisch die Erkenntnis der Sache in emsiger induktiver Erforschung ihrer Wirkungen sucht, jedoch seinem Mangel an Theorie in Sachen der Logik mit dem spekulativen Glauben an ein verborgenes „Ding an sich“ aushilft. Wir, umgekehrt, schließen aus der Unwahr­nehmbarkeit der Wärme selbst auf das Nichtvorhandensein, auf das Nichtansichsein dieses Agens in der Natur, ver­stehen vielmehr die Wirkungen der Wärme als stoffliche Materiatur, aus welcher der menschliche Kopf den Begriff der „Wärme selbst“ geformt hat. Weil die Wissenschaft vielleicht noch nicht vermochte, diesen Begriff zu analy­sieren, sagt der Professor, wir vermöchten den Gegenstand des Wärmebegriffs nicht wahrzunehmen. Die Summe ihrer verschiedenen Wirkungen, das ist die Wärme selbst, die Wärme ganz und gar. Das Denkvermögen erfaßt diese Ver­schiedenheit im Begriff als Einheit. Die Analyse des Be­griffs, die Entdeckung des Gemeinschaftlichen oder All­gemeinen der verschiedensten als warm benannten Er­scheinungen oder Wirkungen ist Sache der induktiven Wissenschaft. Die von ihren Wirkungen separierte Wärme ist jedoch ein spekulatives Ding, gleich Lichtenbergs Messer ohne Stiel und Klinge.

Das Denkvermögen im Kontakt mit den Erscheinungen der Sinnlichkeit produziert die Wesen der Dinge. Es pro­duziert sie jedoch ebensowenig allein, unberechtigt oder subjektiv, wie Auge, Ohr oder irgendein anderer Sinn ihre Eindrücke ohne Objekt zu produzieren vermögen. Wir sehen und fühlen nicht die Dinge „selbst“, sondern nur ihre Wirkungen auf unsere Augen, Hände usw. Die Fähigkeit des Gehirns, aus verschiedenen Gesichtseindrücken das Ge­meinschaftliche zu abstrahieren, läßt uns das Sehen im all­gemeinen von besonderen Gesichten unterscheiden. Das Denkvermögen unterscheidet ein einzelnes Gesicht als Ob­jekt des Gesichts im allgemeinen, es unterscheidet dann auch ferner noch zwischen subjektiven und objektiven Ge­sichtserscheinungen, d. h. Erscheinungen, die nicht nur dem einzelnen, die dem Auge im allgemeinen sichtbar sind. Auch die Visionen eines Geistersehers, oder die subjektiven Eindrücke, zuckende Blitze, leuchtende Kreise, welche ein erregtes Blut das geschlossene Auge sehen läßt, sind dem kritischen Bewußtsein Objekt. Das meilenweit entfernte, im hellen Tageslicht erglänzende Objekt ist qualitativ nicht mehr und nicht minder äußerlich, nicht mehr und nicht minder wahr, als irgendein optisches Trugbild. Auch wer sein Ohr klingen hört, hat, wenn auch kein Schellen­geklingel, immer doch etwas gehört. Jede sinnliche Er­scheinung ist Objekt und jedes Objekt eine sinnliche Er­scheinung. Ein subjektives Objekt ist eine ephemere Er­scheinung und jede objektive Erscheinung doch nur ein vergängliches Subjekt. Der objektive Gegenstand mag äußerlich, entfernter, stabiler, allgemeiner dasein, aber ein Wesen, ein „Ding an sich“ ist er nicht. Er mag nicht nur meinen, er mag auch anderen Augen, nicht nur dem Gesichte, auch dem Gefühl, dem Gehör, dem Geschmack usw., nicht nur dem Menschen, auch anderen Objekten erscheinen, – aber er erscheint doch nur. So wie hier ist er nicht dort, wie heute nicht morgen. Jedes Dasein ist relativ, verhält sich zu anderem, bewegt sich nach- und nebeneinander in verschiedenen Verhältnissen.

Jeder sinnliche Eindruck, jede Erscheinung ist ein wahres, wesenhaftes Objekt. Die Wahrheit ist sinnlich da, und alles, was ist, ist wahr. Sein und Schein sind nur Relationen, aber keine Gegensätze, wie denn überhaupt alle Gegensätze vor unserem Generalisations- oder Denkvermögen verschwinden, weil eben es die Fähigkeit ist, welche alle Gegensätze ver­mittelt, welche in aller Verschiedenheit Einheit zu finden weiß. Sein, der Infinitiv von ist, die allgemeine Wahrheit, ist das allgemeine Objekt, das allgemeine Material des Denk­vermögens. Dies Material ist uns mannigfaltig gegeben, ge­geben mittelst der Sinne. Die Sinne geben uns den Stoff des Weltalls absolut qualitativ, d. h., die Qualität des sinnlichen Stoffs ist dem Denkvermögen absolut mannigfaltig gegeben; nicht im Allgemeinen, nicht im Wesen, sondern nur relativ, nur in der Erscheinung. Aus der Relation, aus dem Kontakt der sinnlichen Erscheinung mit unserem Denkvermögen ent­stehen Quantitäten, Wesen, Dinge, wahre Erkenntnisse oder erkannte Wahrheiten.

Wesen und Wahrheit sind zwei Worte für dieselbe Sache. Die Wahrheit oder das Wesen ist theoretischer Natur. Wir nehmen, wie gesagt, die Welt doppelt wahr, sinn­lich und geistig, praktisch und theoretisch. Die Praxis gibt uns die Erscheinung, – die Theorie das Wesen der Dinge. Praxis ist Voraussetzung der Theorie, Er­scheinung Voraussetzung des Wesens oder der Wahr­heit. Dieselbe Wahrheit erscheint in der Praxis neben-und nacheinander, und ist theoretisch als kompakter Begriff.

Die Praxis, die Erscheinung, die Sinnlichkeit ist absolut qualitativ, d. h., sie hat keine Quantität, keine Grenzen im Raume und in der Zeit, dagegen aber ist ihre Qualität ab­solut mannigfaltig. So unzählig wie die Teile einer Sache, so unzählig sind ihre Eigenschaften. Die Funktion des Denk­vermögens, der Theorie besteht umgekehrt darin, absolut quan­titativ zu sein, Quantitäten nach Willkür, in unbegrenzter Zahl zu schaffen, jede Qualität der sinnlichen Erscheinung als Quantität, als Wesen, als Wahrheit, zu begreifen. Jeder Begriff hat ein Quantum sinnlicher Erscheinung zum Gegen­stand. Jeder Gegenstand kann vom Denkvermögen nur als Quantum, als Einheit, als Wesen oder Wahrheit er- oder begriffen werden.

Das Begriffsvermögen produziert im Kontakt mit der sinnlichen Erscheinung das, was erscheint, was wesenhaft, was wahrhaft, was gemeinschaftlich oder allgemein ist. Der Begriff tut das zunächst nur instinktiv, der wissenschaftliche Begriff ist eine mit Wissen und Willen vollführte Wieder­holung dieser Tat. Die Erkenntnis der Wissenschaft, welche ein Objekt, z. B. die Wärme, zu erkennen begehrt, will nicht die Erscheinung, will nicht hören oder sehen, wie die Wärme hier Eisen, dort Wachs schmelzt, bald wohl, bald weh tut, Eier fest und Eis flüssig macht, wie animalische Wärme, Sonnen- und Ofenwärme verschieden sind. Das alles sind gegenüber dem Denkvermögen nur Wirkungen, Erscheinungen, Eigenschaften. Das Denkvermögen will die Sache, das Wesen, d. h. von dem Gesehenen, Gehörten, Ge­fühlten nur das summarische, allgemeine Gesetz, einen kurzen wissenschaftlichen Auszug. Die Wesen der Dinge können keine sinnlichen, praktischen Gegenstände sein. Die Wesen der Dinge sind Gegenstände der Theorie, der Wissenschaft, des Denkvermögens. Die Erkenntnis der Wärme besteht darin, dass wir an den warmbenannten Erscheinungen das Gemeinschaftliche, das Allgemeine, das Wesen oder die Wahrheit gewahr werden. Das Wesen der Wärme besteht praktisch in der Summe ihrer Erscheinungen, theoretisch in ihrem Begriff und wissenschaftlich in der Analyse dieses Begriffs. Den Begriff der Wärme analysieren heißt das All­gemeine der warmen Erscheinungen entdecken.

Das allgemeine ist das wahre Sein, die allgemeine ist die wahre Eigenschaft einer Sache. Wir bestimmen den Regen wahrhaftiger als naß, denn als fruchtbar, weil er ausgedehnter, allgemeiner netzt und nur dann und wann, hie oder da fruchtbar wirkt. Mein wahrer ist mein beständiger Freund, der mir zeitlebens, wie gestern, so morgen noch, allgemein freundlich gesinnt ist. Zwar dürfen wir nicht an eine ganz allgemeine, an eine absolute Freundschaft glauben, sowenig wie an irgendeine andere absolute Wahrheit. Ganz wahr, ganz allgemein ist nur das Sein überhaupt, das Weltall, die absolute Quantität. Die wirkliche Welt dagegen ist absolut relativ, absolut vergänglich, unendlich scheinbar, eine unbegrenzte Qualität. Alle Wahrheiten sind nur Bestandteile dieser Welt, Teilwahrheiten. Schein und Wahrheit gehn wie hart und weich, wie gut und bös, wie Recht und Unrecht dialektisch zueinander über, ohne dass deshalb ihr Unterschied zerfällt. Auch wenn ich weiß, dass es keinen „an sich“ fruchtbaren Regen, keinen „an sich“ wahren Freund gibt, mag ich deshalb doch einen Regen mit Bezug auf bestimmte Saaten fruchtbar nennen und unter meinen Freunden die mehr oder minder wahren unterscheiden.

Das Allgemeine ist die Wahrheit. Das Allgemeine ist das, was allgemein ist, d. h. Dasein, Sinnlichkeit. Sein ist das allgemeine Kennzeichen der Wahrheit, weil das Allgemeine die Wahrheit kennzeichnet. Nun ist aber das Sein nicht da im Allgemeinen, d. h., das Allgemeine existiert in der Wirk­lichkeit oder Sinnlichkeit nur auf besondere Art und Weise. Die Sinnlichkeit hat ihr wahres sinnliches Dasein in den flüchtigen vielgestaltigen Erscheinungen der Natur und des Lebens. Demnach erweisen sich alle Erscheinungen als relative Wahrheiten, alle Wahrheiten als besondere zeit­liche Erscheinungen. Die Erscheinung der Praxis ist eine Wahrheit in der Theorie, und umgekehrt, die Wahrheit der Theorie erscheint in der Praxis. Gegensätze bedingen sich wechselseitig: Wahrheit und Irrtum sind wie Sein und Schein, wie Tod und Leben, wie Licht und Dunkel, wie alle Dinge der Welt, nur komparativ, nur dem Maß, dem Volumen oder Grade nach verschieden. Selbstverständlich sind doch alle Dinge der Welt weltlich, also eines Stoffs, eines Wesens, einer Gattung, einer Qualität. Mit anderen Worten: Jedes Volumen sinnlichen Scheins bildet in Kontakt mit dem menschlichen Denkvermögen ein Wesen, eine Wahr­heit, ein Allgemeines. Dem Bewußtsein ist sowohl das Staukorn wie die Staubwolke, wie jede größere Masse irdener Mannigfaltigkeit, einerseits ein wesenhaftes „Ding an sich“ und andererseits doch nur ein vorübergehender Schein des absoluten Objekts, des Weltalls. Innerhalb dieses Alls systematisieren und generalisieren sich mittelst unseres Geistes die verschiedenen Erscheinungen willkürlich nach Zwecken. Das chemische Element sowohl wie die orga­nische Zelle ist ein ebenso vielseitiges System wie das ganze Pflanzenreich. Das kleinste wie das größte Wesen teilt sich in Individuen, Arten, Familien, Klassen usw. Diese Syste­matisierung, diese Generalisation, diese Zeugung von Wesen setzt sich aufwärts fort, bis in die Unendlichkeit des Ganzen, abwärts bis in die Unendlichkeit der Teile. Gegenüber dem Denkvermögen werden alle Eigenschaften zu wesenhaften Dingen, alle Dinge zu relativen Eigenschaften.

Jedes Ding, jede sinnliche Erscheinung, wie subjektiv, wie ephemer auch immer, ist wahr, ist ein kleineres oder größeres Quantum der Wahrheit. Mit anderen Worten: die Wahrheit existiert nicht nur im allgemeinen Sein, sondern jedes besondere Sein hat auch seine besondere Allgemein­heit oder Wahrheit. Jeder Gegenstand, sowohl die flüch­tigste Idee wie der ätherische Duft, wie die greifbare Materie, ist ein Quantum mannigfaltiger Erscheinung. Das Denkvermögen macht aus der Mannigfaltigkeit ein Quan­tum, gewahrt im Verschiedenen das Gleiche, im Vielen das Eine. Geist und Materie haben wenigstens das gemein­schaftlich, dass sie sind. Die organische stimmt mit der an­organischen Natur wenigstens darin überein, dass sie materiell ist. Gewiß sind der Mensch, der Affe, der Elefant und das an der Scholle festgewachsene Pflanzentier toto genere verschieden, aber dennoch vereinigen wir noch größere Verschiedenheit unter dem Begriff des Organismus. Wie verschieden auch ein Stein von einem Menschenherzen ist, die denkende Vernunft wird unzählige Ähnlichkeiten zwischen beiden gewahr. Sie stimmen wenigstens in ihrer sachlichen materiellen Natur überein, sind beide schwer, sichtbar, greifbar usw. So groß ihre Verschiedenheit, so groß ist ihre Einheit. So wahr wie Salomon: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“, so wahr sagt Schiller: „Die Welt wird alt und wird wieder jung.“ Welches abstrakte Ding, Wesen, Sein, welche Allgemeinheit ist nicht in sinnlicher Existenz mannigfaltig, individuell, allem anderen unähnlich? Sind doch keine zwei Tropfen Wasser einander gleich! Ich bin jetzt ganz und gar nicht mehr derselbe, der ich noch vor einer Stunde war, und die Gleichheit zwischen mir und meinem Bruder ist nur quantitativ, nur dem Grad nach größer als die Gleichheit oder Ähnlichkeit zwischen einer Taschenuhr und einer Auster. Kurz, das Denkvermögen ist absolutes Gattungsvermögen, es bringt unbegrenzt jede Mannigfaltigkeit unter einen Hut; umfaßt, begreift ohne Ausnahme alles zusammen, während die Sinnlichkeit ab­solut alles als verschieden, neu, individuell erscheinen läßt.

Wenden wir diese Metaphysik auf unser Thema, auf das Erkenntnisvermögen an, dann gehören seine Funktionen, wie alle anderen Dinge, zu den sinnlichen Erscheinungen, welche an und für sich alle gleich wahr sind. Allen Äuße­rungen des Geistes, allen Gedanken, Meinungen, Irrungen usw. unterliegt eine gewisse Wahrheit, alle besitzen einen wahrhaftigen Kern. So notwendig der Maler alle Formen seiner Schöpfung der Sinnlichkeit entlehnt, so notwendig sind alle Gedanken Bilder wahrer Dinge, Theorien wahrer Objekte. Soweit Erkenntnisse Erkenntnisse sind, versteht es sich von selbst, dass mit allen Erkenntnissen etwas er­kannt sei. Soweit Wissen Wissen ist, versteht es sich selbst­redend, dass mit jedem Wissen etwas gewußt wird. Es be­ruht das auf dem Satz der Idendität, a = a, oder auch auf dem Satz des Widerspruchs, 100 ist nicht 1000.

Alle Erkenntnisse sind Gedanken. Man darf bestreiten, dass umgekehrt alle Gedanken Erkenntnisse sind. Man mag „erkennen“ als besondere Art des Denkens definieren, als wahres, objektives Denken, im Unterschiede von meinen, glauben oder phantasieren. Gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass allen Gedanken, trotz ihrer unendlichen Verschieden­heit, doch auch eine gemeinsame Natur zukommt. Dem Denken ergeht es vor dem Forum des Denkvermögens wie allem andern, es wird uniformiert. Wie verschieden auch mein gestriges vom heutigen Denken ist, wie different auch die Gedanken verschiedener Menschen und Zeiten, wie scharf wir auch zwischen Idee, Begriff, Urteil, Schluß, Vor­stellung usw. unterscheiden: insoweit alles das geistige Äußerungen sind, besitzen sie auch ein gleiches, gemein­sames, uniformes Wesen.

Daraus ergibt sich denn, dass die Differenz zwischen wahren und irrigen Gedanken, zwischen erkennen und ver­kennen, wie überhaupt alle Differenz, eine nur relative Gültigkeit hat. Ein Gedanke ist an sich weder wahr noch irrig, er ist eins von beiden nur mit Bezug auf ein bestimmtes gegebenes Objekt. Gedanken, Begriffe, Theorien, Wesen, Wahrheiten stimmen darin überein, dass sie einem Objekt angehören. Objekte überhaupt haben wir kennengelernt als Quanta der mannigfaltigen Sinnlichkeit, „der Welt da draußen“. Ist das Quantum des Seins, das Objekt, was er­kannt, begriffen oder verstanden werden soll, durch den Sprachgebrauch eines Begriffs vorher bestimmt oder be­grenzt, so besteht die Wahrheit in der Entdeckung des All­gemeinen dieser also gegebenen sinnlichen Quantität.

Die sinnlichen Quantitäten, die Dinge der Welt, besitzen alle außer ihrem Scheine auch eine Wahrheit oder hinter der Erscheinung ein Wesen. Die Wesen der Dinge sind so zahllos, wie die Sinnlichkeit nach Raum und Zeit unendlich teilbar ist. Jeder kleine Teil der Erscheinung hat sein eigenes Wesen, jeder besondere Schein seine allgemeine Wahrheit. Die Erscheinung produziert sich in Kontakt mit den Sinnen, die Wesen oder Wahrheiten in Kontakt mit unserem Erkenntnisvermögen. Daher entsteht denn auch für uns die leidige Notwendigkeit, hier, wo uns das Wesen der Dinge als Thema vorliegt, vom Erkenntnisvermögen zu reden, und umgekehrt, mit dem Erkenntnisvermögen Wesen oder Wahrheit der Dinge zu behandeln.

Wie am Anfange gesagt: in dem Kriterium der Wahrheit ist das Kriterium der Vernunft enthalten. Wie die Ver­nunft, so besteht die Wahrheit darin, aus einem gegebenen Quantum der Sinnlichkeit das Allgemeine, die abstrakte Theorie zu entwickeln. Also nicht die Wahrheit überhaupt ist das Kriterium einer wahren Erkenntnis, sondern die­jenige Erkenntnis nennt sich wahr, welche die Wahrheit, d. h. das Allgemeine eines bestimmten Objekts produziert. Die Wahrheit muss objektiv, d. h., sie muss die Wahrheit ihres bestimmten Objekts sein. Erkenntnisse können nicht wahr an sich, können nur relativ, nur mit Bezug auf einen bestimmten Gegenstand, nur auf Grund äußerlicher Tat­sachen wahr sein. Ihre Aufgabe besteht in der Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen. Das Besondere ist das Maß des Allgemeinen, das Maß der Wahrheit. Alles was ist, ist wahr, gleichgültig wie viel oder wenig es ist. Ist erst das Sein gegeben, dann folgt dessen allgemeine Natur als Wahrheit. Der Unterschied zwischen dem mehr oder minder Allgemei­nen, zwischen Sein und Schein, zwischen Wahrheit und Irr­tum fällt innerhalb bestimmter Grenzen, unterstellt die Be­ziehung auf ein besonderes Objekt. Ob oder ob nicht eine Er­kenntnis wahr heiße, wird deshalb nicht sowohl von der Erkenntnis als von der Grenze, von der Aufgabe, abhängen, welche sie selbst sich stellte oder die ihr anderswo gestellt wurde. Eine vollständige Erkenntnis ist nur möglich innerhalb gesetzter Schranken. Eine vollkommene Wahrheit ist immer eine vom Bewußtsein ihrer Unvollkommenheit begleitete Wahrheit. Dass alle Körper schwer sind, ist so ganz voll­kommen wahr, weil sich vorher schon der Begriff des Körpers auf schwere Gegenstände beschränkt. Nachdem die Vernunft den Körper überhaupt aus den verschiedensten Gewichten formierte, ist ihre apodiktische Gewißheit über seine allgemeine, unumgängliche Schwere nicht so wunder­bar. Zugegeben, dass es einzig und allein fliegende Tiere waren, von denen wir den Begriff des Vogels abstrahierten, mögen wir sicher sein, dass alle Vögel fliegen, im Himmel, auf Erden und an anderen Orten, auch ohne den Glauben an Erkenntnisse a priori, welche sich durch das Merkmal der Notwendigkeit und strengen Allgemeinheit von den empi­rischen unterscheiden sollen. Wahrheiten sind nur unter Voraussetzungen gültig, und unter Voraussetzungen sind Irrtümer wahr. Dass die Sonne scheint, ist eine wahre Er­kenntnis, wenn sie unter Voraussetzung eines wolkenlosen Himmels verstanden wird. Es ist nicht minder wahr, dass der gerade Stock in fließendem Wasser winklig wird, wenn wir nur diese Wahrheit auf eine optische einschränken. Das Allgemeine innerhalb eines gegebenen Zyklus sinnlicher Er­scheinungen ist Wahrheit. Innerhalb eines gegebenen Kreises sinnlicher Erscheinungen Einzelnes oder Besonderes als das Allgemeine ausgeben heißt irren. Der Irrtum, das Gegenteil der Wahrheit, besteht überhaupt darin, dass das Denk­vermögen oder Bewußtsein unbedachterweise, kurzsichtig, ohne Erfahrung, Erscheinungen eine mehr allgemeine Aus­dehnung beimißt, als die Sinne oder Sinnlichkeit bezeugen, z. B. der wirklichen wahren optischen Existenz voreilig auch eine vermeintliche plastische Existenz zuteilt.

Das Urteil des Irrtums ist ein Vorurteil. Wahrheit und Irrtum, kennen und verkennen, verstehen und mißverstehen, haben im Denkvermögen, im Organ der Wissenschaft, ge­meinschaftlichen Wohnsitz. Allgemeiner Ausdruck sinnlich erfahrener Tatsachen ist der Gedanke überhaupt, Irrtümer einbegriffen. Der Irrtum aber unterscheidet sich dadurch von der Wahrheit, dass er der bestimmten Tatsache, deren Ausdruck er ist, ein weiteres, breiteres, allgemeineres Sein prätendiert, als die sinnliche Erfahrung lehrt. Prätension ist das Wesen des Irrtums. Die Glasperle wird erst unecht, wenn sie eine Muschelperle zu sein prätendiert.

Schieiden spricht vom Auge: „Wenn das erregte Blut, die Adern aufschwellend, die Nerven drückt, so fühlen wir es in den Fingern als Schmerz, wir sehen es im Auge als zuckenden Blitz. Und hierin haben wir den entschiedenen Beweis, dass unsere Vorstellungen freie Schöpfungen unseres Geistes sind, dass wir nicht die Außenwelt so auffassen, wie sie ist, son­dern, dass ihre Einwirkung auf uns nur die Veranlassung wird zu einer eigentümlichen geistigen Tätigkeit, deren Produkte häufig in einem gewissen gesetzmäßigen Zu­sammenhang mit der Außenwelt stehen, häufig aber auch gar nicht damit zusammenhängen. Wir drücken unser Auge und sehen einen leuchtenden Kreis, aber es ist kein leuchtender Körper vorhanden. – Welch eine reiche und ge­fährliche Quelle von Irrtümern aller Art hier fließt, ist leicht zu sehen. Von den neckenden Gestalten der mond­durchglänzten Nebellandschaft bis zu den wahnsinndrohen­den Visionen des Geistersehers haben wir eine Reihe von Täuschungen, die alle nicht der Natur, nicht ihrer strengen Gesetzlichkeit zur Last fallen, sondern in das Gebiet der freien und deshalb dem Irrtum unterworfenen Tätigkeit des Geistes gehören. Großer Umsicht, vielseitiger Bildung be­darf es, ehe der Geist sich hier von allen seinen eigenen Irr­tümern losmacht und sie ganz beherrschen lernt. Das Lesen im weiteren Sinne des Wortes erscheint uns so leicht, und doch ist es eine schwere Kunst. Nur nach und nach lernt man, welchen Botschaften der Nerven man vertrauen und danach seine Vorstellungen formen dürfe. Selbst Männer von Wissenschaft können hier irren, irren oft und um so öfter, je weniger sie darüber verständigt sind, wo sie die Quelle des Irrtums zu suchen haben . . . Das Licht, wenn wir es ganz für sich betrachten, ist nicht hell, nicht gelb und blau und rot. Das Licht ist eine Bewegung einer sehr feinen überall verbreiteten Materie, des Äthers.“

Die schöne Welt des Lichtes und Glanzes, der Farben und Gestalten soll kein Wahrnehmen dessen sein, was wirk­lich ist. „Durch das dichte Dach der Weinlaube zittert ein Sonnenstrahl in den heimlich wohltuenden Schatten. Du glaubst, den Lichtstrahl selbst zu sehen, aber weit entfernt davon ist, was du wahrnimmst, nichts als eine Reihe von Stäubchen.“ Die Wahrheit von Licht und Farbe sind „Wellen, die sich in rastloser Folge mit einer Schnelligkeit von 40000 Meilen in der Sekunde durch den Äther jagen“. Diese wahre körperliche Natur des Lichts und der Farbe ist so wenig zu sehen, „dass es vielmehr des Scharfsinns der größten Geister bedurfte, um uns diese eigentliche Natur des Lichts zu enthüllen… Wir finden, dass jeder unserer Sinne nur für ganz bestimmte äußere Einflüsse empfäng­lich ist, und dass die Erregung jedes Sinnes in unserer Seele ganz andere Vorstellungen hervorruft. So stehen zwischen jener äußeren seelenlosen Welt (Ätherschwingungen), welche uns durch die Wissenschaft erschlossen wird, und der schönen (wirklichen, sinnlichen) Welt, in der wir geistig uns finden, die Sinnesorgane als Vermittler.“

Soweit Schieiden, der uns damit ein Beispiel gibt, wie auch unsere Zeit immer noch in Verlegenheit ist um das Ver­ständnis zweier Welten, wie vergeblich man an einer Ver­mittlung sucht zwischen der Welt des Denkvermögens, des Wissens oder der Wissenschaft, die hier durch Ätherschwin­gungen repräsentiert ist, und zwischen der Welt unserer fünf Sinne, vertreten von den hellen, farbigen Lichtern des Auges oder der Wirklichkeit. Wir besitzen daran zugleich ein Beispiel, wie sich der überkommene Rest einer speku­lativen Weltanschauung so kauderwelsch im Munde des modernen Naturforschers ausnimmt. Der konfuse Ausdruck dieser Lage unterscheidet eine „körperliche Welt der Wissenschaft“, in welcher „wir geistig uns finden“. Der Gegensatz zwischen Geist und Sinn, zwischen Theorie und Praxis, zwischen dem Besonderen und Allgemeinen, zwischen Wahrheit und Irrtum ist zum Bewußtsein gekommen – doch die Lösung fehlt. Man weiß, was, aber nicht, wo man suchen soll, daher die Konfusion.

Überwindung der Spekulation, der unsinnlichen Wissen­schaft, Erlösung der Sinne, Begründung der Empirie, das ist die große wissenschaftliche Tat unseres Jahrhunderts. Dieser Tat theoretische Anerkennung zollen heißt sich über die Quelle des Irrtums verständigen. Wenn die Philosophie mit dem Geiste Wahrheit, mit den Sinnen Trug zu finden meinte, so haben wir diese philosophische Meinung zu ver­kehren, die Wahrheit mit den Sinnen und die Quelle des Irrtums im Geiste zu suchen. Der Glaube an gewisse Botschaften der Nerven, denen man allein vertrauen dürfe, die man nur nach und nach kennenlernen soll, ohne deren spezifisches Unterscheidungsmerkmal entdecken zu können, ist Aberglaube. Vertrauen wir dreist allen Zeugnissen der Sinne. Da ist nichts Falsches von Echtem zu sondern. Der unsinnliche Geist ist allein der Berücker, wenn er sich unterfängt den Sinnen vorzugreifen, wenn er, der nur die Sinne zu interpretieren hat, ihre Aussagen vergrößert, nachsagt, was ihm nicht vorgesagt wurde. Wenn bei er­regtem Blute oder äußerlichem Drucke das Auge zuckende Blitze oder leuchtende Kreise sieht, sind das sowenig Irr­tümer, als wenn es irgend andere Erscheinungen der Außen­welt wahrnimmt. Den Irrtum begeht unser Bewußtsein, wenn es solche subjektiven Begegnisse a priori für objektive Körper ansieht. Der Geisterseher irrt erst, wenn er seine persönlichen Gesichte für Gesichte überhaupt, als all­gemeine Erscheinung darstellt, voreilig für Erfahrung aus­gibt, was er nicht erfahren hat. Der Irrtum ist ein Vergehen wider das Gesetz der Wahrheit, welches unserem Bewußt­sein vorschreibt, dass es sich der Voraussetzung erinnere, auf Grund deren, der Schranken bewußt sei, innerhalb deren eine Erkenntnis wahr, d. h. allgemein ist. Der Irrtum macht Besonderes zum Allgemeinen, das Prädikat zum Subjekt, die Erscheinung zur Sache. Der Irrtum erkennt a priori, die Wahrheit, der Gegensatz des Irrtums, erkennt gegensätzlich a posteriori.

Die beiden Arten der Erkenntnis, Erkenntnis a priori und Erkenntnis a posteriori, verhalten sich zueinander wie Philosophie und Naturwissenschaft, letztere im weitesten Sinne des Wortes, als Wissenschaft überhaupt. Der Gegen­satz von Glauben und Wissen wiederholt sich in dem Gegen­satz von Philosophie und Naturwissenschaft. Die speku­lative Philosophie lebte, wie die Religion, im Element des Glaubens. Die moderne Welt hat den Glauben in Wissenschaft verkehrt. Wenn die Herren der politischen Reaktion eine Umkehr der Wissenschaft fordern, so ist damit die Rückkehr zum Glauben gemeint. Der Inhalt des Glaubens ist ein müheloses Akquisit. Der Glaube erkennt a priori. Die Wissenschaft ist eine Arbeit, eine a posteriori errungene Er­kenntnis. Den Glauben aufgeben heißt die Bärenhäuterei aufgeben. Die Wissenschaft auf die Erkenntnis a posteriori einschränken heißt sie mit dem charakteristischen Merk­zeichen der modernen Zeit, mit der Arbeit, schmücken.

Es ist kein naturwissenschaftliches Ergebnis, es ist eine philosophische Unart, dass Schieiden den farbigen Erschei­nungen des Lichtes Wirklichkeit und Wahrheit abspricht, sie Phantasmagorien nennt, die sich der Geist frei er­schaffe. Der Aberglaube an die philosophische Spekulation läßt ihn die wissenschaftliche Methode der Induktion ver­kennen, wenn er „Wellen, die sich in rastloser Folge mit einer Schnelligkeit von 40000 Meilen in der Sekunde durch den Äther schwingen“, als die wirkliche wahre Natur von Licht und Farbe den farbigen Erscheinungen des Lichts entgegensetzt. Die Verkehrtheit wird handgreiflich, indem sie die körperliche Welt der Augen eine „Schöpfung des Geistes“ und die vom „Scharfsinn der größten Geister“ ent­hüllte Ätherschwingung „körperliche Natur“ nennt.

Die Wahrheit der Wissenschaft verhält sich zur sinn­lichen Erscheinung, wie sich das Allgemeine zum Besonderen verhält. Lichtwellen, die sogenannte Wahrheit von Licht und Farbe, repräsentieren nur insoweit „die eigentliche Natur“ des Lichtes, als sie die Allgemeinheit der ver­schiedenen, hellen, gelben, blauen usw. Lichterscheinungen sind. Die Welt des Geistes oder der Wissenschaft findet in der Sinnlichkeit ihr Material, ihre Voraussetzung, ihre Be­gründung, ihren Anfang, ihre Grenze.

Wenn wir gesehen, dass das Wesen oder die Wahrheit der Dinge nicht hinter ihrer Erscheinung, sondern nur mittels derselben, und nicht „an und für sich,“ sondern nur in Relation mit dem Erkenntnisvermögen, nur für die Vernunft da oder wirklich sind, dass nur der Begriff die Wesen von der Erscheinung absondert; wenn wir andererseits gesehen, dass die Vernunft irgendeinen Begriff nicht aus sich, son­dern nur im Kontakt mit der Erscheinung gewinnt, so finden wir an diesem Thema vom „Wesen der Dinge“ die Bestätigung, dass das Wesen des Erkenntnisvermögens ein Begriff ist, den wir von seiner sinnlichen Erscheinung ge­wonnen. Erkennen, dass das Denkvermögen, wenn auch universell in der Wahl seiner Objekte, doch darin be­schränkt ist, dass es eines gegebenen Objektes überhaupt bedarf; erkennen, dass der rechte wahre Denkakt, der Ge­danke mit wissenschaftlichem Ergebnis sich von unwissen­schaftlichem Denken dadurch unterscheidet, dass er sich mit Wissen und Willen an das äußerlich gegebene Objekt bindet; erkennen, dass sich die Wahrheit oder das All­gemeine nicht „an sich“, sondern nur an einem gegebenen Objekt erkennen läßt, dieser so oft variierte Satz enthält das Wesen des Erkenntnisvermögens. Er erscheint wieder am Ende eines jeden Kapitels, weil alle besonderen Wahr­heiten, alle besonderen Kapitel nur dazu dienen sollen, das allgemeine Kapitel von der allgemeinen Wahrheit zu demonstrieren.

IV. Die Praxis der Vernunft in der Physischen Wissenschaft

Obgleich wir auch die Vernunft an sinnliches Material, an physische Objekte gebunden wissen und Wissenschaft demnach niemals etwas anderes als Wissenschaft des Physischen sein kann, mögen wir doch, anlehnend an die herrschende Anschauung und dem Sprachgebrauch ge­mäß, die Physik von der Logik und Ethik trennen und sie als verschiedene Formen der Wissenschaft unterscheiden. Es gilt dann nachzuweisen, dass sowohl in der Physik wie in der Logik, wie in der Moral die allgemeinen oder geisti­gen Erkenntnisse nur auf Grund besonderer, d. h. sinn­licher Tatsachen zu praktizieren sind.

Diese Praxis der Vernunft, den Gedanken aus der Mate­rie, die Erkenntnis aus der Sinnlichkeit, das Allgemeine aus dem Besonderen zu erzeugen, ist denn in der physischen Forschung auch allgemein, jedoch nur praktisch anerkannt. Man verfährt induktiv und ist sich dieses Verfahrens be­wußt, aber man verkennt, dass das Wesen der Natur­wissenschaft das Wesen des Wissens, der Vernunft über­haupt ist. Man mißversteht den Denkprozeß. Man er­mangelt der Theorie und gerät deshalb nur zu oft aus dem praktischen Takt. Das Denkvermögen ist der Naturwissen­schaft immer noch ein unbekanntes geheimnisvolles my­stisches Wesen. Entweder sie verwechselt materialistisch die Funktion mit dem Organ, den Geist mit dem Gehirn, oder glaubt idealistisch es als ein unsinnliches Objekt außer­halb ihres Gebietes gelegen. Wir sehen die modernen For­scher in physischen Dingen meist festen, einhelligen Schrittes ihrem Ziele entgegengehen; jedoch an abstrak­teren Verhältnissen dieser Dinge blindlings „umher­tappen“. Die Methode der Induktion hat sich bei der Naturwissenschaft praktisch eingebürgert und durch ihre Erfolge Ruf erworben. Die spekulative Methode anderer­seits ist durch Erfolglosigkeit diskreditiert. Von einem be­wußten Verständnis dieser verschiedenen Denkweisen ist man weit entfernt. Wir sehen die Männer der physischen Forschung abseits ihres speziellen Terrains, in allgemeinen Fragen, spekulative Produkte als wissenschaftliche Tat­sachen advokatorisch geltend machen. Obgleich man die speziellen Fachwahrheiten nur mittelst der sinnlichen Er­scheinung produziert, glaubt man spekulative Wahrheiten doch aus der Tiefe des eigenen Geistes schöpfen zu können. Hören wir Alexander von Humboldt, wie er eingangs seines „Kosmos“ sich mit der Spekulation auseinander­setzt. „Das wichtigste Resultat des sinnigen physischen Forschens ist daher dieses: in der Mannigfaltigkeit die Ein­heit zu erkennen; von dem Individuellen alles zu umfassen, was die Entdeckungen der letzten Zeitalter uns darbieten, die Einzelheiten prüfend zu sondern und doch nicht ihrer Masse zu unterliegen; der erhabenen Bestimmung des Menschen eingedenk, den Geist der Natur zu ergreifen, welcher unter der Decke der Erscheinungen verhüllt liegt. Auf diesem Wege reicht unser Bestreben über die engen Grenzen der Sinnenwelt hinaus, und es kann uns gelingen, die Natur begreifend, den rohen Stoff empirischer An­schauung gleichsam durch Ideen zu beherrschen. In meinen Betrachtungen über die wissenschaftliche Behandlung einer allgemeinen Weltbeschreibung ist nicht die Rede von Einheit durch Ableitung aus wenigen von der Vernunft gegebenen Grundprinzipien. Es ist die denkende Betrachtung der durch Empirie gegebenen Erscheinungen als eines Natur-ganzen. Ich wage mich nicht auf ein Feld, was mir fremd ist. Was ich physische Weltbeschreibung nenne, macht da­her keinen Anspruch auf den Rang einer rationellen Wissen­schaft der Natur . . . Dem Charakter meiner früheren Schriften, wie der Art meiner Beschäftigungen treu, welche Versuchungen, Messungen, Ergründung von Tatsachen ge­widmet waren, beschränke ich mich auch in diesem Werke auf eine empirische Betrachtung. Sie ist der alleinige Boden, auf dem ich mich weniger unsicher zu bewegen verstehe.“ In demselben Hauche sagt Humboldt, dass „ohne den ernsten Hang nach der Kenntnis des einzelnen alle große und allgemeine Weltanschauung nur ein Luftgebilde sein könne“, und sagt wieder, dass, im Gegensatz zu seiner empirischen Wissenschaft, „ein denkendes (soll heißen, spekulatives) Erkennen, ein vernunftmäßiges Begreifen des Universums ein noch erhabeneres Ziel darbieten würde“. „Ich bin weit entfernt, Bestrebungen, in denen ich mich nicht versucht habe, darum zu tadeln, weil ihr Erfolg bis­heran sehr zweifelhaft geblieben ist.“ (1. Bd. Seite 68)

Die Naturwissenschaft teilt nun mit Humboldt das Be­wußtsein, dass die Praxis der Vernunft in der physischen Wissenschaft einzig darin besteht, „in der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen“. Aber andererseits, obgleich sie auch ihren Glauben an die Spekulation, an das „vernunft­mäßige Erkennen“, nicht immer so deutlich ausspricht, beweist sie doch durch Anwendung der spekulativen Me­thode in Behandlung sogenannter philosophischer Themen – wo man die Einheit aus der Vernunft statt aus der mannigfaltigen Sinnlichkeit zu erkennen vermeint —, sie beweist dort durch den absoluten Mangel an Einhelligkeit, dadurch, dass sie das Unwissenschaftliche der uneinigen Meinungen verkennt, wie sehr sie die wissenschaftliche Praxis mißversteht, wie sie außer der physischen noch eine metaphysische Wissenschaft glaubt. Die Verhältnisse zwi­schen Erscheinung und Wesen, Wirkung und Ursache, Stoff und Kraft, Materie und Geist sind doch wohl phy­sische Verhältnisse. Aber was Einhelliges lehrt davon die Wissenschaft? Ergo, das Wissen oder die Wissenschaft ist eine Arbeit, welche, wie die Wirtschaft des Bauern, nur noch praktisch, aber nicht wissenschaftlich, nicht mit Voraus­bestimmung des Erfolgs gepflegt ist. Das Erkennen, d. h., die Ausübung des Erkennens wird in der physischen Wissen­schaft wohl verstanden, wer wird es leugnen? Aber das In­strument dieser Erkenntnis, das Erkenntnisvermögen ist mißverstanden. Wir finden, dass die Naturwissenschaft, statt die Vernunft wissenschaftlich zu applizieren, damit experimentiert. Warum? Weil sie die Kritik der Vernunft, die Wissenschaftslehre oder Logik vernachlässigt.

Wie Stiel und Klinge genereller Inhalt des Messers, so erkannten wir als generellen Inhalt der Vernunft das Gene­relle selbst, das Allgemeine. Wir wissen, dass sie diesen In­halt nicht aus sich, sondern aus dem gegebenen Objekt er­zeugt, und kennen dies Objekt als die Summe alles Natür­lichen oder Physischen. Das Objekt ist also ein unermeß­liches, unbegrenztes, absolutes Quantum. Dies unbegrenzte Quantum erscheint in begrenzten Quantitäten. In Behand­lung relativ kleiner Quantitäten der Natur ist man sich des Wesens der Vernunft, der Methode des Wissens oder Er­kennens wohl bewußt. Es bleibt uns nachzuweisen, dass auch die großen Naturverhältnisse, deren Behandlung streitbar ist, in ganz derselben Art zu erkennen sind. Ur­sache und Wirkung, Geist und Materie, Kraft und Stoff sind solche große, weite, breite, allgemeine physische Gegen­stände. Wir wollen dartun, wie der allgemeinste Gegensatz zwischen der Vernunft und ihrem Objekt den Schlüssel her­gibt, die großen Gegensätze aufzuschließen.

a) Ursache und Wirkung

„Das Wesen der Naturlehre“, sagt F. W. Bessel, „be­steht darin, dass sie die Erscheinungen nicht als für sich be­stehende Tatsachen betrachtet, sondern die Ursachen auf­sucht, deren Folgen die Erscheinungen sind. Hierdurch wird die Kenntnis der Natur auf die kleinste Zahl der Tatsachen zurückgebracht.“ Aber auch schon vor dem Zeitalter der Naturwissenschaft hatte man für die Erscheinungen der Natur Ursachen aufgesucht. Das Charakteristische der Naturwissenschaft besteht nicht sowohl in der Forschung nach Ursachen als in der eigentümlichen Beschaffenheit, in der Qualität der Ursachen, welche sie erforscht.

Die induktive Wissenschaft hat den Begriff der Ursache wesentlich verändert. Das Wort hat sie behalten, aber ver­steht darunter ganz eine andere Sache als die Spekulation. Der Naturforscher versteht innerhalb seines Fachs die Ur­sache ganz anders als außerhalb, wo er vielfältig speku­liert, weil er die Wissenschaft und ihre Ursache nur noch im Besonderen, aber nicht im Generellen kennt. Die unwissen­schaftlichen Ursachen sind supranaturalistischer Art, sind außernatürliche Geister, Götter, Kräfte, große oder kleine Kobolde. Der ursprüngliche Begriff der Ursache ist ein anthropomorphistischer Begriff. Im Stande der Unerfahren­heit mißt der Mensch das Objektive mit subjektivem Maß­stabe, beurteilt die Welt nach seinem Selbst. So wie er Dinge mit Vorbedacht schafft, so überträgt er der Natur seine menschliche Manier, denkt sich von den Erschei­nungen der Sinnlichkeit eine so äußerliche, schöpferische Ursache, wie er selbst die separate Ursache seiner eigenen Schöpfungen ist. Diese subjektive Art verschuldet es, dass man so lange vergeblich nach objektiver Erkenntnis strebte. Die unwissenschaftliche Ursache ist eine Spekulation, eine Wissenschaft a priori.

Will man der subjektiven Erkenntnis den Namen Er­kenntnis belassen, dann unterscheidet sich von ihr die ob­jektive wissenschaftliche Erkenntnis dadurch, dass sie ihre Ursachen nicht durch Glauben, oder Spekulation, sondern durch Erfahrung, durch Induktion, nicht a priori, sondern a posteriori gewahr wird. Die Naturwissenschaft sieht ihre Ursachen nicht außer oder hinter den Erscheinungen, son­dern in oder mittelst derselben. Die moderne Forschung sucht in ihren Ursachen keinen äußerlichen Schöpfer, son­dern das immanente System, die Methode oder allgemeine Art und Weise der in zeitlicher Nacheinanderfolge gegebenen Er­scheinungen. Die unwissenschaftliche Ursache ist ein „Ding an sich“, ein kleiner Herrgott, welcher die Wirkungen selb­ständig zeugt und sich dahinter versteckt. Der wissen­schaftliche Begriff der Ursache dagegen will nur die Theorie der Wirkungen, das Generelle der Erscheinung. Eine Ursache erforschen heißt nunmehr, die betreffenden Erscheinungen generalisieren, die Vielfältigkeit der Empirie in eine wissen­schaftliche Regel zusammenpacken. „Hierdurch wird die Kenntnis der Natur auf die kleinste Zahl der Tatsachen be­schränkt.“

Wie irgendein kleinlicher, weibischer Aberglaube sich von dem historischen Aberglauben eines ganzen Zeitalters, nicht mehr und nicht minder unterscheidet sich das täglichste, hausbackenste, platteste Wissen von der höchsten, selten­sten, neu entdecktesten Wissenschaft. Wir dürfen deshalb – nebenbei gesagt – wohl auch unsere Beispiele dem täg­lichen Kreise entnehmen, statt sie in der sogenannten höheren Region einer entlegenen Wissenschaft aufzusuchen. Der gemeine Menschenverstand hat längst induktive natur­wissenschaftliche Ursachen praktiziert, bevor noch die Wissenschaft zu der Entdeckung gelangt war, dass sie ihre höheren Ziele in derselben Art zu verfolgen habe. Nur wenn der gemeine Menschenverstand sich über das Feld seiner nächsten Umgebung erheben will, gelangt er, ganz wie der Naturforscher, zu dem Glauben an die geheimnisvolle Ur­sache der spekulativen Vernunft. Um auf dem Boden des realen Wissens festzustehen, bedarf es für alle der Erkenntnis, in welcher Art und Weise die induktive Vernunft ihre Ur­sachen ermittelt.

Werfen wir zu diesem Zwecke einen kurzen Rückblick auf das gewonnene Resultat vom Wesen der Vernunft. Wir wissen, das Erkenntnisvermögen ist kein Ding, keine Er­scheinung an oder für sich, weil dasselbe nur in Kontakt mit anderem, mit einem Gegenstande wirklich wird. Was immer jedoch vom Gegenstand gewußt wird, ist nicht nur durch den Gegenstand, sondern zugleich auch durch die Vernunft ermittelt. Das Bewußtsein ist, wie alles Sein, relativ. Wissen ist Kontakt einer Verschiedenheit. Mit dem Wissen ist Trennung, ist Subjekt und Objekt, ist Mannigfaltigkeit in der Einheit gegeben. Da wird eines am anderen zur Ur­sache, eines am anderen zur Wirkung. Die gesamte Welt der Erscheinung, wovon das Denken nur ein besonderes Quan­tum, eine Form, ist absoluter Kreis, wo überall und nirgends Anfang und Ende, Wesen und Erscheinung, Ursache und Wirkung, Allgemeines und Besonderes ist. Wie die gesamte Natur in letzter Instanz die einzige generelle Einheit ist, der gegenüber alle besonderen Einheiten zur Vielheit werden, so ist dieselbe Natur die Objektivität, die Sinnlich­keit, oder wie sonst wir die Summe aller Erscheinung oder Wirkung zu nennen belieben, Ursache in letzter Instanz, der gegenüber alle anderen Ursachen zu Wirkungen herabsinken. Hierbei jedoch dürfen wir nicht verkennen, dass diese Ur­sache aller Ursachen nur die Summe aller Wirkungen, nichts anderes oder höheres ist. Jede Ursache wirkt, jede Wir­kung ursacht.

Eine Ursache ist leiblich sowenig von ihrer Wirkung zu trennen wie das Sichtbare vom Gesicht, wie der Geschmack von der Zunge, wie überhaupt das Allgemeine vom Be­sonderen. Gleichwohl trennt das Denkvermögen eines vom anderen. Wir sollen nun wissen, dass diese Trennung eine bloße Formalität der Vernunft ist, eine Formalität jedoch, welche nötig ist, um vernünftig oder bewußt zu sein, um wissenschaftlich zu agieren. Die Praxis des Wissens oder die wissenschaftliche Praxis leitet das Besondere aus dem All­gemeinen her, die natürlichen Dinge aus der Natur. Wer jedoch dem Denkvermögen hinter die Kulissen gesehen, weiß, dass umgekehrt das Allgemeine aus dem Besonderen, der Naturbegriff von den natürlichen Dingen abgeleitet ist. Die Theorie des Wissens oder der Wissenschaft lehrt uns, dass das Vorhergehende aus dem Nachfolgenden, die Ursache aus der Wirkung erkannt ist, obgleich unserem praktischen Wissen das Nach eine Folge des Vorgangs, die Wirkung eine Folge der Ursache ist. Dem Denkvermögen, dem Organ des Allgemeinen ist das Gegenteil, das Besondere, Gegebene, Andere sekundär; aber dem Denkvermögen, das sich selbst begreift, ist es primär. Die Praxis des Erkennens soll und kann jedoch durch ihre Theorie nicht verändert werden, sondern nur das Bewußtsein den sicheren Schritt empfangen. Der wissenschaftliche Landwirt unterscheidet sich vom praktischen nicht dadurch, dass er Theorie, dass er Methode hat – davon besitzen beide —, sondern da­durch, dass er von seiner Theorie weiß, während der andere instinktiv theoretisiert.

Doch zur Sache: aus der gegebenen Mannigfaltigkeit überhaupt erzeugt die Vernunft die Wahrheit im Allgemeinen, aus der zeitlichen Mannigfaltigkeit, aus Veränderungen die wahre Ursache. Wie absolute Mannigfaltigkeit die Natur des Raumes, so ist absolute Veränderlichkeit die Natur der Zeit. Jeder Teil der Zeit ist wie jeder Teil des Raumes neu, original, nie dagewesen. In dieser absoluten Veränderlich­keit uns zurechtfinden hilft das Denkvermögen, indem es, wie die Mannigfaltigkeit des Raumes durch namhafte Dinge, so die Veränderungen der Zeit durch namhafte Ur­sachen generalisiert. Das Sinnliche zu generalisieren, im Besonderen das Allgemeine zu gewahren, darin besteht das ganze Wesen der Vernunft. Wer mittels der Erkenntnis, dass die Vernunft Organ des Allgemeinen, dieselbe nicht völlig begreift, vergißt, dass zum Begreifen ein gegebenes Objekt gehört, was außerhalb des Begriffs bleibt. Das Sein dieses Vermögens ist sowenig zu begreifen wie das Sein überhaupt. Oder vielmehr, das Sein ist begriffen, wenn wir es in seiner Generalität nehmen. Nicht das Dasein, son­dern das Generelle des Daseins ist durch die Vernunft wahr­zunehmen.

Vergegenwärtigen wir uns beispielsweise den Prozeß, den die Vernunft ausführt, wenn sie eine unverstandene Sache begreift. Unterstelle eine sonderbare, d. h. un­erwartete, unerfahrene chemische Veränderung, die mit irgendeinem Gemisch plötzlich und ohne weiteres Zutun vorgeht. Unterstelle ferner, dass diese Veränderung dem­nach öfter passiert, bis uns die Erfahrung zu der Erkenntnis bringt, dass dem unerklärlichen Wechsel des Gemisches jedesmal eine Berührung mit Sonnenlicht vorhergeht. Da­mit ist schon der Vorgang begriffen. Unterstelle noch ferner, dass weitere Erfahrung lehrt, wie noch mehrere andere Stoffe die Eigenschaft besitzen, in Berührung mit Sonnen­licht die betreffende Veränderung einzugehen, so ist damit die unbekannte Erscheinung einer größeren Anzahl von Erscheinungen derselben Art angereiht, d. h. weiter, tiefer, vollständiger begriffen. Finden wir nun schließlich noch einen Teil des Sonnenlichts oder ein besonderes Element der Mischung, welche miteinander die Veränderung eingehen, so ist die Erfahrung rein generalisiert, oder die Generali­sation rein erfahren, d. h., die Theorie ist komplett, die Ver­nunft hat ihre Aufgabe gelöst und hat doch nur dasselbe getan, als wenn sie Tier- oder Pflanzenreich in Gattungen, Familien, Arten usw. verteilt. Die Art, das Genus, das Ge­schlecht einer Sache ermitteln, heißt sie begreifen.

In derselben Weise verfährt die Vernunft, indem sie die Ursachen gegebener Veränderungen ermittelt. Ursachen werden wir nicht durch Sehen, Hören, Fühlen, nicht sinn­lich gewahr. Ursachen sind Produkte des Denkvermögens. Sie sind allerdings nicht dessen reine Produkte, sondern sind gezeugt vom Denkvermögen in Verbindung mit sinn­lichem Material. Dies sinnliche Material gibt der also er­zeugten Ursache ihre objektive Existenz. Wie wir von der Wahrheit verlangen, dass sie Wahrheit einer objektiven Er­scheinung, so verlangen wir von der Ursache, dass sie wirklich, dass sie Ursache einer objektiv gegebenen Wirkung sei.

Die Erkenntnis irgendeiner besonderen Ursache ist be­dingt durch die empirische Beobachtung ihres Materials, dagegen die Erkenntnis der Ursache im allgemeinen durch die Beobachtung der Vernunft. Bei der Erkenntnis be­sonderer Ursachen wechselt jedesmal das Material, das Objekt; aber die Vernunft ist beständig oder allgemein da­bei. Die Ursache im allgemeinen ist ein reiner Begriff, welchem die Mannigfaltigkeit der besonderen Ursachen­erkenntnis oder die mannigfaltigen Erkenntnisse be­sonderer Ursachen als Material gedient hat. Um also diesen Begriff zu analysieren, sind wir genötigt, zu seinem Material, zur Ursachenerkenntnis im besonderen, zurück­zukehren.

Wenn der ins Wasser gefallene Stein Kreiswellen zeugt, ist doch der Stein nicht mehr Ursache daran als anderer­seits die flüssige Beschaffenheit des Wassers. Wo der Stein auf festes Material fällt, erzeugt er keine Wellen. Der fallende Stein im Kontakt mit der Flüssigkeit, die Zu­sammenwirkung beider ursacht die Kreiswellen. Die Ursache ist selbst Wirkung, und die Wirkung, die Wellen­bewegung wird zur Ursache — indem sie den schwimmen­den Kork aufs Trockene setzt. Doch auch diesmal, wie anderswo, ist die Ursache nur eine gemeinschaftliche Wir­kung, eine Zusammenwirkung der Wellen mit der leichten Beschaffenheit des Korks.

Der ins Wasser gefallene Stein ist nicht Ursache über­haupt oder an sich. Zu dieser Ursache gelangen wir nur, wie gesagt, indem das Denkvermögen die besonderen Ursachen als Material nimmt und daraus den reinen Begriff der Ur­sache überhaupt erzeugt. Der ins Wasser gefallene Stein ist nur Ursache gegenüber der folgenden Wellenbewegung, und ist das auf Grund der Erfahrung, dass ihm die Wellen­bewegung allgemein nachfolgt.

Ursache nennt man, was einer gegebenen Erscheinung allgemein vorhergeht, Wirkung, was allgemein nachfolgt. Nur weil überall oder generell dem ins Wasser gefallenen Steine Wellenbewegung folgt, wissen wir ihn als ihre Ursache. Da nun umgekehrt der Wellenbewegung nicht immer ein ge­fallener Stein vorhergeht, hat sie generaliter eine andere Ursache. Die Elastizität des Wassers ist, insofern sie das Allgemeine ist, was der Wellenbewegung überhaupt voraus­geht, Ursache derselben. Den Kreiswellen, einem be­sonderen Teile, einer Art der Wellenbewegung geht all­gemein vielleicht ein gefallener Körper vorauf, der ihnen dadurch zur Ursache wird. Immer wechselt die Ursache mit dem Quantum der Erscheinung, welches in Betracht kommt.

Ursachen können wir nicht mit der Vernunft allein er­mitteln, sie sind nicht aus dem Kopf zu ziehen. Stoff, Material, sinnliche Erscheinung muss dazu gegeben sein. Und zu einer bestimmten Ursache auch ein bestimmter Stoff, d. h. ein bestimmtes Quantum der sinnlichen Er­scheinung. Die Verschiedenheit der Stoffe wird in der abstrakten Einheit der Natur zur Verschiedenheit natür­licher Quanta. Ein solches Quantum ist zeitlich, vor und nach, oder als Vorgang und Nachfolge gegeben. Das All­gemeine des Vorgangs heißt Ursache, das Allgemeine der Nachfolge Wirkung.

Wenn der Wind den Wald bewegt, ist dabei die schwanke Beschaffenheit des Waldes soviel Ursache wie die beugende Kraft des Windes. Die Ursache einer Sache ist ihr Zu­sammenhang. Dass derselbe Wind, der die Bäume schwankt, Felsen und Mauern stehen läßt, beweist, dass die Ursache von der Wirkung nicht qualitativ verschieden, sondern nur Gesamtwirkung ist. Wenn gleichwohl das Wissen oder die Wissenschaft an einer Veränderung, d. h. an einer nach­einanderfolgenden Erscheinung, etwas Besonderes als Ur­sache ermittelt, so ist letztere doch nicht mehr der äußer­liche Schöpfer, sondern nur die allgemeine Art und Weise, die immanente Methode der Nacheinanderfolge. Eine be­stimmte Ursache läßt sich nur dann ermitteln, wenn der Kreis, die Reihe oder Zahl der Veränderungen, deren Ur­sache ermittelt werden soll, wenn das Quantum begrenzt oder bestimmt ist. Innerhalb eines gegebenen Kreises nach­einanderfolgender Erscheinungen ist das allgemein Vorher­gehende Ursache.

Wo der Wind den Wald bewegt, unterscheidet er sich als Ursache von dieser seiner Wirkung nur insofern, als er eine allgemeinere Wirkung ist, die hier braust, dort staubt, hier so, dort anders agiert, speziell die Bäume schüttelt. Der Wind ist hier nur insoweit Ursache, als seine Erscheinung im allgemeinen der Waldbewegung vorangeht. Weil aber umgekehrt die Festigkeit der Felsen und Mauern dem Winde allgemein vorangeht, ist sie Ursache der Stetigkeit der­selben; obgleich in einem weiteren Kreise von Sturm­erscheinungen auch der schwache Wind am Bestande ge­nannter Objekte zur Ursache wird.

Die Quantität oder Zahl des Gegebenen variiert den Namen der Ursache. Wenn irgendeine Gesellschaft von einem Spaziergange ermüdet zurückkehrt, dann ist an der geschehenen Veränderung der Gang nicht mehr Ursache wie die Schwächlinge, welche ihn getan. D. h. die Erschei­nung hat an sich keine von der Erscheinung separierte Ur­sache. Alles, was in der Erscheinung erschienen, hat zur Erscheinung beigetragen: sowohl die Art und Beschaffen­heit, die Konstitution der Gänger wie die Art und Be­schaffenheit des Ganges oder Weges. Wenn es dennoch der Vernunft zur Aufgabe gemacht ist, die Ursache der quästio­nierten Veränderung im Besonderen zu bestimmen, so wird damit nur gefordert, von den Faktoren denjenigen zu er­mitteln, welcher am meisten zur Ermüdung beigetragen hat. Wie überhaupt, so wird auch bei vorliegendem Exempel die Arbeit der Vernunft in der Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen bestehen, speziell: aus der gegebenen Zahl von Ermüdungen das herauszuzählen, was im Allgemeinen der Ermüdung vorhergeht. Wo die meisten oder gar alle sich ermüdet finden, wird der Gang, wo nur einzelne die Ermüdung fühlen, wird die schwache Konstitution der Gänger die Sache oder Ursache sein, welche der Erscheinung allgemein vorhergeht.

Wenn, um ein anderes Beispiel zu wählen, der Schuß die Vögel jagt, ist das eine Gesamtwirkung von Schuß und Schreckbarkeit. Beim Abflug der Majorität wird der Schuß, beim Abflug der Minorität die Schreckbarkeit Ur­sache heißen.

Wirkungen sind Folgen. Da nun in der Natur alles nach­einander folgt, alles einen Vorgänger hat oder Folge ist, mögen wir das Natürliche, Sinnliche, Wirkliche absolute Wirkung nennen, wo an sich nirgends eine Ursache zu finden ist, es sei denn, dass unser Denkvermögen dies ge­gebene Material durch Ursachenermittlung systematisiert. Ursachen sind geistige Allgemeinheiten sinnlicher Ver­änderungen. Das vermeintliche Verhältnis von Ursache und Wirkung ist ein Wunder, eine Schöpfung aus Nichts. Es war und ist deshalb noch immer ein Gegenstand der Spekulation. Die spekulative Ursache erschafft ihre Wir­kungen. Tatsächlich jedoch sind die Wirkungen Material, aus welchem der Kopf oder die Wissenschaft Ursachen formt. Die Ursache ist ein Produkt des Geistes, aber nicht des reinen, sondern des mit der Sinnlichkeit verehelichten Geistes.

Wenn Kant behauptet, dass der Satz: Jede Veränderung hat ihre Ursache – eine Wissenschaft a priori ist, die wir nicht erfahren können, weil jemand unmöglich alle Ver­änderungen erfahren kann und jeder doch der notwendigen und allgemeinen Wahrheit des Satzes apodiktisch sicher ist, so begreifen wir jetzt, wie mit diesen Worten nur die Erfahrung ausgesprochen ist, dass die Erscheinung dessen, was wir Vernunft nennen, in jeder Mannigfaltigkeit Ein­heit erkennt; oder besser: dass die Entwicklung des All­gemeinen aus dem Besonderen Vernunft, Denken oder Geist genannt wird. Die Gewißheit, dass jede Veränderung ihre Ursache hat, ist nichts weiter als die Gewißheit, dass wir denkende Menschen sind. Cogito, ergo sum. Wir haben das Wesen unserer Vernunft, wo es auch nicht wissen­schaftlich analysiert ist, doch instinktiv erfahren. Wir sind uns ihrer Fähigkeit, aus jeder gegebenen Veränderung eine Ursache zu ermitteln, ebenso sicher bewußt, wie uns be­wußt ist, dass jeder Kreis rund, dass a = a ist. Wir wissen, das Allgemeine ist Produkt der Vernunft, welches sie mit irgendeinem d. h. mit jedem gegebenen Objekt zeugt. Da nun alle Objekte vor und nach, zeitlich oder Veränderungen sind, so müssen wohl auch alle Veränderungen, welche uns, die wir vernünftige Wesen sind, vorkommen, einen allgemeinen Vorgang, d. h. eine Ursache haben.

Schon der englische Skeptiker Hume hatte empfunden, dass die wahre von der vermeintlichen Ursache wesentlich verschieden sei. Nach ihm enthält der Begriff der Ursache nichts weiter als die Erfahrung dessen, was einer Erschei­nung gemeinlich vorhergeht. Mit Recht macht Kant da­gegen geltend, dass der Begriff von Ursache und Wirkung ein viel intimeres Verhältnis ausdrücke als das loser, zu­fälliger Nacheinanderfolge, dass vielmehr im Begriff der Ursache die betreffende Wirkung als Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit enthalten sei; – also etwas, was gar nicht erfahren werden kann, was sogar über alle Er­fahrung hinausgeht, a priori im Verstande müsse ent­halten sein.

Den Materialisten,die alle Autonomie des Geistes leugnen, die durch Erfahrung Ursachen zu finden meinen, ist zu entgegnen, dass die Notwendigkeit und Allgemeinheit, welche das Verhältnis von Ursache und Wirkung voraussetzt, eine unmögliche Erfahrung darstellt. Den Idealisten ist dagegen andererseits zu bedeuten, dass, ob auch der Verstand Ursachen erforscht, die nicht zu erfahren sind, diese Forschung doch nicht a priori, sondern nur a poste­riori, auf Grund empirisch gegebener Wirkungen statt­haben kann. Wohl entdeckt allein der Geist die unsinnliche abstrakte Allgemeinheit; – aber nur innerhalb eines ge­gebenen Kreises sinnlicher Erscheinungen.

b) Geist und Materie

Das Verständnis der allgemeinen Abhängigkeit des Er­kenntnisvermögens von materiellen sinnlichen Voraus­setzungen wird der objektiven Wirklichkeit das ihr bisher von Ideen und Meinungen allzulang vorenthaltene Recht zurückerstatten. Der Natur, welche in ihren vielfältigen konkreten Erscheinungen durch philosophische und religiöse Hirngespinste aus der menschlichen Beachtung ver­drängt war, dann seit Entfaltung der modernen Natur­wissenschaft im einzelnen aus ihrem wissenschaftlichen „Winkel hervorgeholt wurde, wird durch Erkenntnis der Hirnfunktion in allgemeiner theoretischer Form Geltung ver­schafft. Bisher hat sich die Naturwissenschaft nur noch be­sondere Materien, besondere Ursachen, besondere Kräfte zum Gegenstand erwählt und ist in allgemeinen, so­genannten naturphilosophischen Fragen in betreff der Ur­sache, der Materie, der Kraft überhaupt, unwissend ge­blieben. Die tatsächliche Offenbarung dieser Unwissenheit ist jener große Widerspruch zwischen Idealismus und Materialismus, der, einem roten Faden gleich, die Werke der Wissenschaft durchzieht.

„Möchte es mir in diesem Briefe gelingen, die Über­zeugung zu befestigen, dass die Chemie als selbständige Wissenschaft eines der mächtigsten Mittel zu einer höheren Geisteskultur darbietet, dass ihr Studium nützlich ist, nicht nur insofern sie die materiellen Interessen der Menschen fördert, sondern weil sie uns Einsicht gewährt in die Wunder der Schöpfung, an welche unser Dasein, unser Bestehen und unsere Entwicklung aufs engste geknüpft ist.“

Mit diesen Worten spricht Liebig die herrschende An­schauungsweise aus, welche sich gewöhnt hat, materielle und geistige Interessen als Gegensätze zu unterscheiden. Die Unhaltbarkeit dieser Unterscheidung dämmert selbst dem angeführten Vertreter der Denkart, indem er den materiellen Interessen eine geistige Einsicht entgegen­setzt, an die unser Dasein, unser Bestehen und unsere Ent­wicklung aufs engste geknüpft ist. Was aber sind die mate­riellen Interessen weiter als der abstrakte Ausdruck für unser Dasein, Bestehen und Entwicklung? Sind denn letztere nicht der konkrete Inhalt der materiellen Inter­essen? Heißt es nicht ausdrücklich, dass Einsicht in die Wunder der Schöpfung genannte materielle Interessen fördert? Oder fordert nicht umgekehrt die Förderung unserer materiellen Interessen Einsicht in die Wunder der Schöpfung? Wie unterscheiden sich nun schließlich die materiellen Interessen von der geistigen Einsicht?

Das Höhere, Geistige, Ideale, was Liebig, in Einklang mit der naturwissenschaftlichen Welt, den materiellen Interessen entgegensetzt, ist nur eine besondere Art dieser Interessen, geistige Einsicht und materielles Interesse unterscheidet sich, wie z. B. Kreis und Viereck, beide sind Gegensätze und doch nur verschiedene Klassen der all­gemeineren Form.

Man ist namentlich seit christlicher Zeit daran gewohnt, von materiellen, sinnlichen, fleischlichen Dingen, die Rost und Motten fressen, verächtliche Reden zu führen. Jetzt fährt man konservativ im alten Geleise weiter, obschon jene Antipathie wider die Sinnlichkeit längst aus Herz und Tat verschwunden ist. Der christliche Gegensatz von Geist und Fleisch ist im Zeitalter der Naturwissenschaft prak­tisch überwunden. Es fehlt die theoretische Lösung, die Vermittlung, der Nachweis, dass das Geistige sinnlich und das Sinnliche geistig ist, um die materiellen Interessen vom bösen Leumund zu befreien.

Die moderne Wissenschaft ist überhaupt Naturwissen­schaft. Nur insofern eine Wissenschaft Naturwissenschaft ist, wird sie überhaupt Wissenschaft genannt, d. h., nur das Denken, welches das Wirkliche, Sinnliche, Natürliche zum bewußten Gegenstand hat, heißt wissen. Unmöglich können deshalb die Vertreter und Verehrer der Wissen­schaft feindlich gesinnt sein gegen die Natur oder Materie. In der Tat, sie sind es nicht. Dass es jedoch mit dieser Natur, mit der Sinnlichkeit, mit der Materie oder dem Stoff nicht genug ist, beweist andererseits das bloße Dasein der Wissenschaft. Die Wissenschaft oder das Denken, welche die materielle Praxis oder das Sein zum Gegen­stande haben, wollen denselben nicht in seiner Integrität, wollen nicht seine sinnliche, stoffliche Natur, dieselbe ist schon anderweitig gegeben. Wenn die Wissenschaft das, wenn sie nichts Neues wollte, wäre sie überflüssig. Nur da­durch, dass sie zum Stoff, zur Materie ein neues Element beibringt, erwirbt sie eine besondere Anerkennung. Der Wissenschaft geht es nicht um das Material, sondern um die Erkenntnis, aber um Erkenntnis des Materials, um das Allgemeine der Materie, um das Wahre, Generelle, „um den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht“. In der Über­windung der Mannigfaltigkeit, in der Aufsteigung zum Generellen, Allgemeinen besteht, was affektvoll die Religion dem Irdischen, die Wissenschaft dem Materiellen als ein Höheres, Göttliches, Geistiges entgegensetzt.

Die vornehmeren geistigen sind von den materiellen Interessen nicht toto genere, nicht qualitativ verschieden. Die positive Seite des modernen Idealismus besteht nicht darin, Essen und Trinken, die Lust am irdischen Gut und weiblichen Geschlecht zu verpönen, sondern neben diesen auch noch andere materielle Genüsse, z. B. des Auges und des Ohres, der Kunst und der Wissenschaft, kurz, den ganzen Menschen zur Geltung zu bringen. Du sollst nicht dem materiellen Rausch der Leidenschaft frönen, d. h. du sollst nicht die einseitige Lust, sondern dein allgemeines Bestehen, deine ganze Entwicklung im Auge haben, auf dein Dasein in seiner totalen generellen Ausdehnung Be­dacht nehmen. Darin ist das materialistische Prinzip un­zureichend, dass es den Unterschied zwischen dem Be­sonderen und Allgemeinen nicht anerkennt, das Individuelle dem Generellen gleichstellt. Es will die quantitative Über­legenheit, die übersichtliche Genialität des Geistes über die körperliche Sinnenwelt nicht zugestehen. Der Idealismus andererseits vergißt über dem quantitativen Unterschied die qualitative Einheit. Er ist überschwenglich, macht die relative Trennung zu einer absoluten. Der Widerspruch beider Parteien dreht sich um das mißverstandene Ver­hältnis unserer Vernunft zu ihrem gegebenen Objekt oder Material. Der Idealist sieht die Quelle der Erkenntnis in der Vernunft allein, der Materialist in der sinnlich gegebenen Welt. Zur Vermittlung des Widerspruchs bedarf es nur der Einsicht in die gegenseitige Bedingung dieser beiden Er­kenntnisquellen. Der Idealismus sieht nur die Verschieden­heit, der Materialismus nur die Einheit von Körper und Geist, Erscheinung und Wesen, Inhalt und Form, Stoff und Kraft, Sinnlichem und Sittlichem – alles Unterschiede, welche in dem einen Unterschied, des Besonderen und All­gemeinen ihre gemeinschaftliche Gattung finden.

Konsequente Materialisten sind pure Praktiker, ohne Wissenschaft. Da aber das Wissen oder Denken dem Menschen ohne Rücksicht auf sein Parteibewußtsein tat­sächlich beigegeben ist, sind die puren Praktiker unmöglich. Wie gesagt, die geringste „Experimentierkunst“, welche auf Grund erfahrener Regeln handelt, ist von der wissen­schaftlichen Praxis, welche auf theoretischen Grundsätzen fußt, nur dem Quantum oder Grade nach verschieden. Andererseits sind konsequente Idealisten ebenso unmöglich wie lautere Praktiker. Sie wollen das Allgemeine ohne Be­sonderes, den Geist ohne Materie, Kraft ohne Stoff, Wissen­schaft ohne Erfahrung oder Material, Absolutes ohne Rela­tives. Wie könnten Denker, welche die Wahrheit, das Sein oder Relative zum Gegenstand haben, i. e. Naturforscher, Idealisten sein? Sie sind es nur außerhalb, nie innerhalb ihres Fachs. Der moderne Geist, der Geist der Naturwissen­schaft ist nur insoweit immateriell, als er das alle Materien Umfassende ist. Der Astronom Mädler zwar findet die all­gemeine Erwartung, welche auf eine wesentliche Steigerung unserer geistigen Kräfte nach ihrer „Befreiung aus den Banden der Materie“ hofft, so wenig lächerlich, dass er glaubt, ihr nichts Besseres substituieren zu können und meint, die „Banden der Materie“ als materielle Attraktion näher bestimmt zu haben. Allerdings, wo man unter Geist sich noch ein religiöses Gespenst vorstellt, ist die Erwartung, welche durch Befreiung aus den Banden der Materie eine Kräftigung desselben erhofft, weniger lächerlich als traurig zu finden. Wenn Geist aber den modernen Geist der Wissen­schaft, des Menschen Denkvermögen bedeuten soll, so haben wir dem überkommenen Glauben das Bessere einer wissenschaftlichen Erklärung zu substituieren. Unter den Banden der Materie ist nicht die Schwerkraft, sondern die Mannigfaltigkeit der sinnlichen Erscheinung zu verstehen, die Materie ist für den Geist nicht länger „Bande“, als ihre Viel- oder Mannigfaltigkeit unüberwunden ist. In der Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen besteht die Erlösung des Geistes aus den Banden der Materie.

c) Kraft und Stoff

Wer unserer Hauptlehre, welche wiederum zu erläutern ist, bis hierher folgte, wird antizipieren, dass die Kraft- und Stofffrage ihre Vermittlung oder Lösung in der Einsieht über das Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen findet. Wie verhält sich das Abstrakte zum Konkreten? So stellt sich mit anderen Worten das gemeinschaftliche Problem einerseits derjenigen, welche in spiritueller Kraft und an­dererseits derjenigen, welche in materiellem Stoff den Im­puls der Welt, das Wesen der Dinge, das non plus ultra der Wissenschaft finden zu können glauben.

Liebig, der es besonders liebt, von seiner induktiven Wissenschaft hinüber zur Spekulation abzuschweifen, sagt, im Sinne des Idealismus: „Die Kraft läßt sich nicht sehen, wir können sie mit unsern Händen nicht fassen; um sie in ihrem Wesen und in ihrer Eigentümlichkeit zu erkennen, müssen wir ihre Wirkungen erforschen.“ Wenn daraufhin der Materialist antwortet: „Stoff ist Kraft, Kraft ist Stoff, kein Stoff ohne Kraft, keine Kraft ohne Stoff“, so be­stimmen offenbar beide das Verhältnis nur negativ. Auf Jahrmärkten fragt der Prinzipal den Harlekin: Harlekin, wo warst Du? – Bei den anderen. – Wo waren die anderen? – Bei mir. — Wie dort zwei Antworten mit einem Inhalt, so haben wir hier zwei Parteien, welche mit differenten Worten sich in einer unbestrittenen Sache herumzanken. Und um so lächerlicher ist der Streit, je ernsthafter er ge­nommen wird! Wenn jener die Kraft vom Stoff unter­scheidet, so will er damit nicht leugnen, dass die wirkliche Erscheinung der Kraft unzertrennlich an Stoff gebunden ist. Wenn der Materialist behauptet, dass kein Stoff ohne Kraft, keine Kraft ohne Stoff ist, so will er damit nicht leugnen, was der Gegner behauptet, dai3 Kraft und Stoff different sind.

Der Streit hat seinen guten Grund, seinen Gegenstand, aber der Gegenstand kommt im Streite nicht zum Vor­schein. Er wird vor den Parteien instinktiv verhüllt, um sich nicht die gegenseitige Unwissenheit gestehen zu müssen. Jeder will dem anderen beweisen, dass seine Erklärungen nicht ausreichen, ein Beweis, der von beiden hinreichend dargetan wurde. Büchner gesteht in den Schlußbetrach­tungen zu „Kraft und Stoff“, dass das empirische Material nicht ausreiche, um bestimmte Antworten auf transzendente Fragen geben, um diese Fragen positiv beantworten zu können, dagegen, sagt er ferner, „reicht es vollkommen aus, um sie negativ zu beantworten und die Hypothese zu ver­bannen“. Mit anderen Worten heißt das: die Wissenschaft des Materialisten reicht zu dem Beweise aus, dass der Gegner nichts weiß.

Der Spiritualist oder Idealist glaubt an ein geistiges, d. h. gespenstiges, unerklärliches Wesen der Kraft. Die materia­listischen Forscher sind ungläubig. Eine wissenschaftliche Begründung des Glaubens oder Unglaubens ist nirgends vorhanden. Was der Materialismus voraus hat, besteht darin, dass er das Transzendentale, das Wesen, die Ursache, die Kraft nicht hinter der Erscheinung, nicht außerhalb des Stoffes sucht. Darin jedoch, dass er einen Unterschied zwischen Kraft und Stoff verkennt, das Problem leugnet, bleibt er hinter dem Idealismus zurück. Der Materialist pocht auf die tatsächliche Untrennbarkeit von Kraft und Stoff und will für die Trennung nur einen „äußerlichen, aus den systematischen Bedürfnissen unseres Geistes her­vorgegangenen Grund“ gelten lassen. Büchner sagt, „Natur und Geist“, Seite 66: „Kraft und Stoff voneinander ge­sondert sind für mich nichts weiter als Gedankendinge, Phantasien, Ideen ohne Wesenheit, Hypothesen, welche für eine gesunde Naturbetrachtung gar nicht vorhanden sind, weil alle Erscheinungen der Natur durch eine solche Trennung alsbald dunkel und unverständlich werden.“ Wenn jedoch Büchner, statt mit „naturphilosophischen“ Redensarten, mit irgendeiner Fachwissenschaft sich pro­duktiv beschäftigt, wird seine Praxis alsbald beweisen, dass die Trennung der Kräfte von den Stoffen keine „äußerliche“, sondern eine innerliche, d. h. wesentliche Notwendigkeit ist, welche allein uns befähigt, die Erschei­nungen der Natur zu erhellen und zu verstehen. Obgleich der Verfasser von „Kraft und Stoff“ sich das Motto wählt: „Now what I want is – facts“ – so versichern wir doch, dass die Devise mehr ein gedankenloses Wort als eine ernste Meinung ist. So grobkörnig ist der Materialismus nicht, dass es ihm pur um Tatsachen geht. Tatsachen gibt die Natur in unendlicher Fülle. Jene facts, die Büchner sucht, geben gar kein spezifisches Merkmal seines Begehrens ab. Solche Tatsachen will auch der Idealist. Nach Hypothesen verlangt kein Naturforscher. Was alle Bebauer der Wissenschaft gemeinschaftlich wollen, sind nicht so­wohl Tatsachen, als Erklärungen oder Erkenntnisse von Tatsachen. Dass es der Wissenschaft – Büchners „Natur­philosophie“ nicht einmal ausgenommen — nicht um leib­liche Stoffe, sondern um geistige Kräfte geht, dass für die Wissenschaft der Stoff nur Nebensache ist, um durch ihn Kräfte zu ermitteln, wird auch der Materialist nicht be­streiten wollen. Die Trennung von Kraft und Stoff „ist aus dem systematischen Bedürfnis unseres Geistes hervor­gegangen.“ Sehr wahr! Aber so, wie überhaupt die Wissen­schaft aus dem systematischen Bedürfnis unseres Geistes hervorgeht.

Der Gegensatz zwischen Kraft und Stoff ist so alt wie der Gegensatz zwischen Idealismus und Materialismus. Die erste Vermittlung vollbrachte die Phantasie, durch den Glauben an Geister, welche sie allen natürlichen Erschei­nungen als deren geheimes ursächliches Wesen substituierte. Viele besonderen Geister hat nun die Wissenschaft in neuerer Zeit dadurch ausgetrieben, dass sie an Stelle phan­tastischer Dämonen wissenschaftliche, d. h. generelle Er­klärungen setzte. Wenn es uns gelungen ist, den Dämon des reinen Geistes zu erklären, wird es uns nicht schwer, den besonderen Geist der Kraft überhaupt durch die gene­relle Erkenntnis ihres Wesens auszutreiben und somit auch diesen Gegensatz zwischen Spiritualismus und Mate­rialismus wissenschaftlich zu vermitteln.

Am Gegenstande der Wissenschaft, am Objekt des Geistes ist Kraft und Stoff ungetrennt. In der leibhaften Sinnlich­keit ist Kraft Stoff, ist Stoff Kraft. „Die Kraft läßt sich nicht sehen.“ Ei doch! das Sehen selbst ist pure Kraft. Das Sehen ist soviel Wirkung des Gegenstandes als Wirkung des Auges, eine Doppelwirkung, und Wirkungen sind Kräfte. Wir sehen nicht die Dinge selbst, sondern ihre Wir­kungen auf unsere Augen: wir sehen ihre Kräfte. Und nicht nur sehen läßt sich die Kraft, sie läßt sich hören, riechen, schmecken, fühlen. Wer wird leugnen, dass er die Kraft der Wärme, der Kälte, der Schwere zu fühlen vermöge? Wir führten bereits den Ausspruch des Professor Koppe an: „Die Wärme selbst vermögen wir nicht wahrzunehmen, wir schließen nur aus ihren Wirkungen auf das Vorhandensein dieses Agens in der Natur.“ Mit anderen Worten heißt das, wir sehen, hören, fühlen nicht die Dinge, sondern ihre Wir­kungen oder Kräfte.

Ebenso wahr, wie sich sagen läßt, ich fühle den Stoff und nicht die Kraft, läßt sich umgekehrt sagen, ich fühle die Kraft und nicht den Stoff. In der Tat, am Objekt, wie ge­sagt, ist beides ungetrennt. Vermöge der Denkkraft aber trennen wir an den neben- und nacheinander folgenden Er­scheinungen das Allgemeine vom Besonderen. Aus den ver­schiedenen Erscheinungen unseres Gesichts z. B. abstra­hieren wir den allgemeinen Begriff des Sehens überhaupt und unterscheiden ihn als Sehkraft von den besonderen Gegenständen oder Stoffen des Gesichts. Aus sinnlicher Vielfältigkeit entwickeln wir mittelst der Vernunft das All­gemeine. Das Allgemeine mannigfaltiger Wassererschei­nungen, das ist die vom Stoff des Wassers unterschiedene Wasserkraft. Wenn stofflich verschiedene Hebel gleicher Länge dieselbe Kraft besitzen, ist es wohl augenscheinlich, dass hier die Kraft nur soweit vom Stoff verschieden ist, als sie das Gemeinschaftliche verschiedener Stoffe darstellt. Das Pferd zieht nicht ohne Kraft, und die Kraft zieht nicht ohne Pferd. In der Tat, in der Praxis ist das Pferd die Kraft, ist die Kraft das Pferd. Aber dennoch mögen wir die Zug­kraft von anderen Eigenschaften des Pferdes als etwas Apartes unterscheiden oder mögen das Gemeinschaftliche verschiedener Pferdeleistungen als allgemeine Pferdekraft abtrennen, ohne uns deshalb einer andern Hypothese schuldig zu machen, als wenn wir die Sonne von der Erde unterscheiden; obgleich in der Tat die Sonne nicht ohne Erde, die Erde nicht ohne Sonne ist.

Die Sinnlichkeit ist uns nur durch das Bewußtsein ge­geben, aber das Bewußtsein setzt dennoch die Sinnlichkeit voraus. Die Natur, je nachdem wir sie, vom Standpunkt des Bewußtseins, als bedingungslose Einheit, oder, vom Standpunkt der Sinnlichkeit, als unbedingte Mannigfaltig­keit gelten lassen, ist grenzenlos vereint und grenzenlos ge­trennt. Wahr ist beides: Einheit und Vielheit, doch jedes nur unter gewissen Voraussetzungen, relativ. Es kommt darauf an, ob wir vom Standpunkt des Allgemeinen oder des Besonderen, ob wir mit geistigen oder mit körperlichen Augen umschauen. Mit geistigen Augen gesehen, ist der Stoff Kraft. Mit körperlichen Augen gesehen, ist die Kraft Stoff. Der abstrakte Stoff ist Kraft, die konkrete Kraft ist Stoff. Stoffe sind Gegenstände der Hand, der Praxis. Kräfte sind Gegenstände der Erkenntnis, der Wissenschaft.

Die Wissenschaft ist nicht beschränkt auf die sogenannte wissenschaftliche Welt. Sie reicht über alle besonderen Klassen hinaus, gehört dem Leben in seiner ganzen Breite und Tiefe. Die Wissenschaft gehört dem denkenden Men­schen überhaupt. So auch die Trennung zwischen Kraft und Stoff. Nur die stumpfsinnigste Leidenschaft kann sie prak­tisch verkennen. Der Geizhals, der Geld anhäuft, ohne seinen Lebensprozeß zu bereichern, vergißt, dass die vom Stoff verschiedene Kraft des Geldes das wertvolle Element ist; er vergißt, dass nicht der Reichtum als solcher, nicht die schlechte silberne Materie, sondern ihr geistiger Gehalt, die ihr inwohnende Fähigkeit, Lebensmittel zu kaufen, es ist, was das Streben nach ihrem Besitz vernünftig macht. Jede wissenschaftliche Praxis, d. h. jedes Tun, welches mit voraus bestimmtem Erfolge, mit durchschauten Stoffen agiert, bezeugt, dass die Trennung von Stoff und Kraft, wenn auch mit dem Gedanken vollzogen, also ein Ge­dankending, doch deshalb keine leere Phantasie, keine Hypothese, sondern eine sehr wesentliche Idee ist. Wenn der Landmann sein Feld düngt, geht er insofern mit reiner Düngkraft um, als es gleichgültig ist, in welchem Stoffe, ob in Kuhmist, Knochenmehl oder Guano sie sich verkörpert. Beim Abwägen eines Warenballens wird nicht der Stoff der Gewichtsstücke, das Eisen, Kupfer oder der Stein nicht, sondern die Schwerkraft pfundweise gehandhabt.

Allerdings, keine Kraft ohne Stoff, kein Stoff ohne Kraft. Kraftlose Stoffe und stofflose Kräfte sind Undinge. Wenn idealistische Naturforscher an ein immaterielles Dasein von Kräften glauben, welche gleichsam im Stoffe ihren Spuk treiben, die wir nicht sehen, nicht sinnlich wahrnehmen und dennoch glauben sollen, so sind es in diesem Punkte eben keine Naturforscher, sondern Spekulanten, d. h. Geisterseher. Doch ebenso kopflos ist andererseits das Wort des Materialisten, das die intellektuelle Scheidung zwischen Kraft und Stoff eine Hypothese nennt.

Damit diese Scheidung nach Verdienst gewürdigt sei, damit unser Bewußtsein die Kraft weder spiritualistisch ver­flüchtigt noch materialistisch verleugnet, sondern wissen­schaftlich begreift, dürfen wir nur das Unterscheidungs­vermögen überhaupt oder an sich begreifen, d. h. seine ab­strakte Form erkennen. Der Intellekt kann nicht ohne sinnliches Material operieren. Um zwischen Kraft und Stoff zu unterscheiden, müssen diese Dinge sinnlich ge­geben, müssen erfahren sein. Auf Grund der Erfahrung nennen wir den Stoff kräftig, die Kraft stofflich. Das zu be­greifende sinnliche Objekt ist also ein Kraftstoff, und da nun alle Objekte in ihrer leiblichen Wirklichkeit Kraft­stoffe sind, besteht die Unterscheidung, welche das Unter­scheidungsvermögen daran vollbringt, in der allgemeinen Art und Weise, der Kopfarbeit, in der Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen. Der Unterschied zwischen Kraft und Stoff summiert sich unter den allgemeinen Unterschied des Konkreten und Abstrakten. Den Wert dieser Unterscheidung absprechen, heißt also den Wert der Unterscheidung, des Intellekts überhaupt verkennen. Benennen wir die sinnlichen Erscheinungen Kräfte des allgemeinen Stoffs, so ist dieser einheitliche Stoff nichts weiter als die abstrakte Allgemeinheit. Verstehen wir unter der Sinnlichkeit die verschiedenen Stoffe, so ist das Allgemeine, welches die Verschiedenheit einbegreift, be­herrscht oder durchzieht, die das Besondere erwirkende Kraft. Ob Kraft, ob Stoff genannt, das Unsinnliche, das, was die Wissenschaft nicht mit den Händen, sondern mit dem Kopf sucht, das Wesenhafte, Ursächliche, Ideale, höhere Geistige ist die Allgemeinheit, welche das Besondere umfaßt.

V. „Praktische Vernunft“ oder Moral

a) Das Weise, Vernünftige

Die begriffene Methode des Wissens, das Verständnis des Geistes ist bestimmt, die Probleme der Religion und Philo­sophie alle zu lösen, die großen oder allgemeinen Unerklär­lichkeiten gründlichst zu erklären und somit die Forschung ihrem Berufe, der Erkenntnis empirischer Detailverhält­nisse ganz und ungeteilt zurückzugeben. Verstehen wir als Gesetz der Vernunft, dass sie zu ihrer Betätigung sinnliches Material voraussetzt, einer Ursache bedarf, so wird damit die Frage nach der ersten oder allgemeinen Ursache über­flüssig. Die menschliche Vernunft ist dann als erste und letzte, als schließliche Ursache aller besondern Ursachen erkannt. Verstehen wir als Gesetz, dass die Vernunft zu ihrer Tätigkeit notwendig Gegebenes, einen Anfang be­darf, mit dem sie anfängt, so muss die Frage nach dem ersten Anfang geistlos werden. Verstehen wir, dass die Ver­nunft abstrakte Einheiten aus konkreten Mannigfaltig­keiten entwickelt, dass sie die Wahrheit aus Erschei­nungen, die Substanz aus Akzidenzen konstruiert, alles nur als Teil eines Ganzen, als Individuum einer Gattung, als Eigenschaft einer Sache gewahr wird, dann muss wohl die Frage nach dem „Ding an sich“, nach einem Realen, welches selbständig den Erscheinungen zugrunde liegt, zu einer unerquicklichen Frage werden. Kurz, das Ver­ständnis von der Unselbständigkeit der Vernunft läßt uns das Begehr nach selbständiger Erkenntnis als unvernünftig erkennen.

Wenn auch nun die Hauptangelegenheiten der Meta­physik, die Ursache aller Ursachen, der Anfang der An­fänge, das Wesen der Dinge, unserer heutigen Wissenschaft wenig Quästion machen, wenn auch die Bedürfnisse der Gegenwart über die Spekulation mächtig geworden sind, so reicht diese praktische Beseitigung doch nicht aus zur Auflösung ihrer Konsequenzen. Solange es nicht als ein theoretisches Gesetz verstanden ist, dass die Vernunft in jeder Praxis ein sinnlich gegebenes Objekt bedarf, wird man das objektlose Denken, diese Unart der spekulativen Philosophie, welche Erkenntnisse ohne Begattung mit einem sinnlichen Gegenstande erzeugen will, niemals unter­lassen können. Unsere Naturforscher zeigen uns das sehr deutlich, sobald sie von ihren handgreiflichen an abstrakte Gegenstände gelangen. Der Zank in Fragen der Lebens­weisheit, der Sittlichkeit, der Streit über das Weise, Gute, Rechte, Schlechte zeigt, dass man hier an der Grenze wissenschaftlicher Einhelligkeit angekommen. Die exak­testen Forscher verlassen im sozialen Leben täglich ihre induktive Methode und verirren sich in philosophische Spekulation. Wie in der Physik an unsinnliche physikalische Wahrheiten, an „Dinge an sich“, so glaubt man hier an das Vernünftige, Weise, Rechte, Schlechte „an sich“, an ab­solute Lebensverhältnisse, d. h. an unbedingte Bedingungen, Hier gilt es, das gewonnene Resultat, die Kritik der reinen Vernunft in Anwendung zu bringen.

Indem wir das Bewußtsein, das Sein des Wissens, die geistige Tätigkeit (nach ihrer allgemeinen Form) als Ent­wicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen erkannten, ist es Umschreibung, wenn wir sagen, die Vernunft ent­wickelt ihre Erkenntnisse aus Gegensätzen. Unter ge­gebenen Erscheinungen von verschiedenem Umfang und verschiedener Dauer das Sein am Schein und den Schein am Sein zu kennen; unter Bedürfnissen von verschiedener Dringlichkeit das Wesentliche, Notwendige durch minder Dringliches und umgekehrt das Unwesentliche mittelst des Notwendigen zu unterscheiden; innerhalb verschiedener Größen das Große am Kleinen und das Kleine am Großen, kurz, die Gegensätze der Welt aneinander zu messen, durch Auseinandersetzung zu vereinbaren, ist das Wesen des Geistes. Der Sprachgebrauch nennt instinktiv erkennen auch ermessen. Messen benötigt einen gegebenen Maßstab. Sowenig wir Objekte zu kennen vermögen, welche „an sich“ groß oder klein, hart oder weich, klar oder trüb sind, so wahr diese Prädikate Verhältnisse bezeichnen, so nötig sie einen Maßstab voraussetzen, auf Grund dessen die Be­stimmung statthat, so nötig bedarf die Vernunft einen Maßstab zur Ermittlung des Vernünftigen.

Wenn wir Handlungen, Einrichtungen, Begriffe, Ma­ximen anderer Zeiten, Völker oder Personen unvernünftig finden, rührt das einfach aus der Anlegung eines ver­kehrten Maßstabes, weil man von den Voraussetzungen, von den Verhältnissen absieht, auf Grund deren die fremde Vernünftigkeit von der eigenen differiert. Wo die Menschen in ihrem geistigen Ermessen, wo sie in ihren Erkenntnissen auseinandergehen, verhalten sie sich gegeneinander wie die Thermometer von Réaumur und Celsius, wovon das eine den Siedepunkt mit 80 bezeichnet, während das andere ihn 100 nennt. Ein verschiedener Maßstab ist die Ursache eines verschiedenen Resultats. Auf sogenanntem mora­lischem Gebiet fehlt jene wissenschaftliche Einhelligkeit, deren wir uns in physischen Materien erfreuen, weil uns dort der einhellige Maßstab fehlt, über welchen sich die Natur­wissenschaft längst verständigt hat. Das Vernünftige, Gute, Rechte usw. will man ohne Erfahrung, ohne Beihilfe der Empirie, spekulativ erkennen. Die Spekulation will die Ursache aller Ursachen, die maßlose Ursache; die Wahrheit „an sich“, die voraussetzungslose, maßlose Wahrheit; das maßlos Gute, maßlos Vernünftige usw., Maßlosigkeit ist das Prinzip der Spekulation, unbeschränkte Zerfahrenheit, d. h. Mißhelligkeit ihre Praxis. Wenn die Angehörigen irgendeiner positiven Religion in betreff ihrer Moral einig gehen, so haben sie das dem positiven Maßstab zu danken, welchen Dogmen, Lehren und Gebote ihrer Vernunft an die Hand geben. Wenn wir andererseits aus reiner Vernunft erkennen wollen, wird sich die Abhängigkeit derselben von irgendeinem Maßstabe durch unreine, d. h. individuelle Erkenntnisse beweisen.

Maß der Wahrheit oder Wissenschaft überhaupt ist die Sinnlichkeit. Das Maß der physischen Wahrheiten sind die Erscheinungen der Außenwelt, Maß der moralischen Wahr­heit ist der bedürfnisreiche Mensch. Die Handlungsweise des Menschen ist ihm durch sein Bedürfnis gegeben. Durst lehrt trinken, Not lehrt beten. Das Bedürfnis lebt im Süden südlich, im Norden nördlich, beherrscht Zeit und Raum, Völker und Individuen, heißt den Wilden jagen und den Gourmand schlemmen. Das menschliche Bedürfnis gibt der Vernunft das Maß zur Ermessung des Guten, Rechten, Schlechten, Vernünftigen usw. Was unserem Bedürfnis ent­spricht, ist gut, das Widersprechende schlecht. Das leib­liche Gefühl des Menschen ist das Objekt der Moralbestim­mung, das Objekt der „praktischen Vernunft“, Auf die widerspruchsvolle Verschiedenheit menschlicher Bedürf­nisse gründet sich die widerspruchsvolle Verschiedenheit moralischer Bestimmungen. Weil der feudale Zunftbürger in der beschränkten und der moderne Industrieritter in der freien Konkurrenz prosperiert, weil sich die Interessen widersprechen, widersprechen sich die Anschauungen, und es findet der eine mit Recht dieselbe Institution vernünftig, welche dem anderen unvernünftig ist. Wenn die Vernunft einer Persönlichkeit rein aus sich das Vernünftige schlecht­hin zu bestimmen versucht, kann sie nicht anders, als ihre Person zum Maß der allgemeinen Menschheit machen. Wenn man der Vernunft das Vermögen zuspricht, in sich selbst die Quelle der moralischen Wahrheit zu besitzen, verfällt man in den spekulativen Irrtum, ohne Sinnlichkeit, ohne Objekt Erkenntnisse produzieren zu wollen. Aus dem­selben Irrtum geht die Anschauung hervor, welche die Ver­nunft dem Menschen als Autorität überordnet, welche ver­langt, dass sich der Mensch den Forderungen der Vernunft unterwerfe. Sie macht den Menschen zu einem Attribut der Vernunft, während in der Tat die Vernunft umgekehrt Attribut des Menschen ist.

Die Frage, ob der Mensch von der Vernunft oder die Ver­nunft vom Menschen abhängt, ist der Frage gleich, ob der Bürger für den Staat oder der Staat für den Bürger da ist. In letzter höchster Instanz hat der Bürger das Primat, modifiziert sich der Staat nach dem Bedürfnis des Bürgers. Sind einmal aber die höchsten dominierenden Interessen zu staatlicher Autorität gelangt, dann allerdings wird nach­träglich der Bürger vom Staat abhängig. Mit anderen Worten heißt das: der Mensch läßt sich in Nebendingen von der Hauptsache beherrschen. Er bringt dem Großen, Ganzen, Allgemeinen das minder Bedeutsame, Kleine, Partikuläre zum Opfer; er subordiniert dem wesentlichen notwendigen Bedürfnis das luxuriöse Gelüst. Es ist nicht die Vernunft überhaupt, sondern die Vernunft eines ge­brechlichen Körpers oder einer beschränkten Börse, welche den Freuden der Ausschweifung entsagen lehrt zugunsten des allgemeinen Heils. Sinnliche Bedürfnisse sind das Material, aus welchem die Vernunft moralische Wahrheiten anfertigt. Unter sinnlich gegebenen Bedürfnissen von ver­schiedener Dringlichkeit oder verschiedenem Umfange das Wesentliche, Wahre vom Individuellen zu scheiden, Entwicklung des Allgemeinen ist die Aufgabe der Vernunft. Der Unterschied zwischen dem scheinbar und wahrhaft Ver­nünftigen reduziert sich auf den Unterschied zwischen dem Besonderen und Allgemeinen.

Wir erinnern uns, dass die Vernunft, um zu sein, um zu wirken, um überhaupt erkennen zu können, Sinnlichkeit voraussetzt, eines gegebenen Gegenstandes bedarf, der er­kannt wird. Sein ist Bedingung oder Voraussetzung der Erkenntnis überhaupt. Wie die Aufgabe der Physik die Er­kenntnis des wahren, so ist die Aufgabe der Weisheit die Er­kenntnis des vernünftigen Seins. Überhaupt hat die Ver­nunft zu erkennen was ist, als Physik was wahr, als Weis­heit was vernünftig ist. Wie wahr mit allgemein, so über­setzt sich vernünftig mit zweckmäßig, so dass wahrhaft vernünftig soviel wie allgemein zweckmäßig heißt. Wir sahen vorhin, dass eine Erscheinung der Sinnlichkeit nicht wahr „an sich“, sondern nur relativ wahr, nur wahr oder allgemein genannt ist mit Bezug auf andere Erscheinungen von geringerer Allgemeinheit. So kann auch im mensch­lichen Leben eine Handlungsweise nicht vernünftig oder zweckmäßig „an sich“ sein – sie kann zweckmäßig nur heißen mit Bezug auf eine andere Handlungsweise, welche denselben Zweck in minder zweckmäßiger, d. h. unzweck­mäßiger Art erstrebt. Wie das Wahre, das Allgemeine die Beziehung auf ein besonderes Objekt, auf ein gegebenes Quantum der Erscheinung, bestimmte Grenzen unterstellt, innerhalb deren es wahr oder allgemein ist, so setzt das Ver­nünftige oder Zweckmäßige gegebene Verhältnisse voraus, innerhalb deren es vernünftig oder zweckmäßig sein kann. Das Wort expliziert sich selbst: der Zweck ist das Maß des Zweckmäßigen. Nur auf Grund eines gegebenen Zweckes läßt sich das Zweckmäßige bestimmen. Ist erst der Zweck gegeben, dann heißt die Handlungsweise, welche den­selben am weitesten, breitesten, allgemeinsten verwirklicht, die vernünftige, der gegenüber jede minder zweck­mäßige Weise unvernünftig wird.

Auf Grund des bei Analyse der reinen Vernunft ent­wickelten Gesetzes, dass alles Erkennen, alles Denken sich auf ein sinnliches Objekt, auf ein Quantum der Sinnlichkeit bezieht, ist es offenbar, dass alles, was unser Unter­scheidungsvermögen unterscheidet, ein Quantum ist, dass also alle Unterschiede nur quantitativ, nicht absolut, nur graduell, nicht wesenhaft sind. Auch der Unterschied zwischen Unvernunft und Vernunft, d. h. zwischen dem momentan oder individuell Vernünftigen und dem Ver­nünftigen schlechthin, ist, wie aller Unterschied, rein quan­titativ, so also, dass alle Unvernünftigkeit bedingt ver­nünftig und nur das unbedingt Vernünftige unvernünftig ist.

Verstehen wir, dass Erkennen überhaupt ein äußerliches Objekt, ein äußerliches Maß benötigt, dann werden wir abstehen, das maßlos Vernünftige oder das Vernünftige schlechthin erkennen zu wollen. Wir werden uns bescheiden müssen, wie überhaupt, so auch das Vernünftige im Be­sonderen aufzusuchen. Von der bestimmten Formulierung der Aufgabe, von der genauen Abgrenzung des sinnlichen Quantums, was erkannt werden soll, hängt das bestimmte, genaue, sichere, einhellige Resultat der Erkenntnis ab. Ist der Moment, die Person, die Klasse, das Volk gegeben und damit zugleich das wesentliche Bedürfnis, der allgemeine, dominierende Zweck, dann kann das Vernünftige oder Zweckmäßige nicht mehr fraglich sein. Wohl vermögen wir auch ganz allgemein menschliche Vernünftigkeiten zu erkennen, aber unter der Voraussetzung, dass uns auch die allgemeine Menschheit und kein besonderer Teil zum Maß­stab dient. Die Wissenschaft vermag nicht nur den körper­lichen Bau eines besonderen Individuums, sondern auch den allgemeinen Typus des menschlichen Körpers zu erkennen, aber das auch nur unter der Bedingung, dass sie dem Er­kenntnisvermögen kein individuelles, sondern ein all­gemeines Material unterbreitet. Wenn die Naturwissen­schaft die gesamte Menschheit in 4 oder 5 Rassen teilt, gleichsam ihr physiognomisches Gesetz aufstellt, in der Wirklichkeit dann später noch Personen oder Volks­stämmen begegnet, welche sich durch ihre seltenen Eigen­schaften in keiner bestimmten Fraktion unterbringen lassen, so ist doch das Dasein dieser Ausnahme kein Ver­brechen wider die physische Weltordnung, sondern nur ein Beweis von der Mangelhaftigkeit unserer wissenschaft­lichen Einteilung, Wenn dagegen die herrschende An­schauung irgendeine Handlungsweise allgemein vernünftig oder unvernünftig heißt und dann im Leben auf Wider­spruch stößt, glaubt sie sich die Arbeit der Erkenntnis sparen zu können, indem sie dem Gegner das Bürgerrecht in der sittlichen Weltordnung abspricht. Statt sich durch das Dasein widersprechender Instanzen von der beschränkten Gültigkeit der Regel zu überzeugen, erkauft man dieser durch Außerachtsetzung des Widerspruchs eine wohlfeile Absolutheit. Es ist das ein dogmatisches Absprechen, eine negative Praxis, welche das Objekt als ungehörig ignoriert, aber kein positives Erkennen, kein einsichtsvolles Wissen, das eben durch Vermittlung der Widersprüche sich doku­mentiert.

Fordert demnach unsere Aufgabe die Ermittlung des Menschlich-Vernünftigen schlechthin, so verdienen ein solches Prädikat nur Handlungsweisen, welche ohne Aus­nahme allen Menschen, zu allen Zeiten und unter allen Ver­hältnissen zweckmäßig sind — folglich widerspruchslose und insofern nichtssagende unbestimmte Allgemeinheiten, Dass physisch das Ganze größer ist als der Teil, das mo­ralisch das Gute dem Schlechten vorzuziehen, sind solche allgemeine, deshalb bedeutungslose, unpraktische Kenntnisse. Der Gegenstand der Vernunft ist das Allgemeine, aber – das Allgemeine eines besonderen Gegenstandes. Die praktizierende Vernunft hat es mit dem Einzelnen, Be­sonderen zu tun, mit dem Gegensatz des Allgemeinen, mit bestimmten, besonderen Kenntnissen. In der Physik zu kennen, was Ganzes und was Teil, unterstellt gegebene Er­scheinungen oder Objekte. Was moralisch das vorziehbare Gute und was das Schlechte sei, setzt zu seiner Ermittlung ein bestimmtes, gegebenes, spezielles Quantum mensch­licher Bedürfnisse voraus. Die allgemeine Vernunft samt ihren allgemeinen ewigen Wahrheiten ist ein Hirngespinnst der Unwissenheit, welches das Recht der Individualität in heillose Fesseln knebelt. Die wirkliche, wahre Vernunft ist individuell, kann nur individuelle Erkenntnisse zeugen, die nicht weiter allgemein sind, als ihnen ein allgemeines Mate­rial unterliegt. Vernünftig im allgemeinen ist nur das, was jede Vernunft anerkennt. Wenn die Vernunft einer Zeit, Klasse oder Person vernünftig heißt, wovon anderwärts das Gegenteil anerkannt ist, wenn der russische Adelige die Leibeigenschaft und der englische Bourgeois die Freiheit seines Arbeiters eine vernünftige Institution nennt, so ist etwa keine von beiden schlechthin, sondern jede nur relativ, nur in ihrem mehr oder minder beschränkten Kreise ver­nünftig.

Dass hiermit der hohen Bedeutung unserer Vernunft nicht widersprochen ist, dürfte eine überflüssige Versiche­rung sein. Wenn die Vernunft auch die Gegenstände speku­lativer Forschung, die Objekte der moralischen Welt, das Wahre, Schöne, Rechte, Schlechte, Vernünftige usw. nicht absolut, nicht selbständig zu entdecken vermag, so wird sie doch mit Hilfe sinnlich gegebener Verhältnisse relativ Allgemeines und Besonderes, Sein und Schein, notwendige Bedürfnisse und luxuriöse Gelüste wohl zu unterscheiden wissen. Auch wenn wir den Glauben an das Vernünftige an

sich ablegen, und infolgedessen keine absoluten Friedens­freunde sind, mögen wir doch den Krieg mit Bezug auf die friedlichen Interessen unserer Zeit oder Bürgerschaft ein heilloses Übel nennen. Erst wenn wir die vergebliche Ent­deckungsreise nach der Wahrheit überhaupt einstellen, werden wir das räumlich und zeitlich Wahre zu finden wissen. Gerade das Bewußtsein von der nur relativen Gültigkeit unserer Erkenntnisse ist der kräftigste Hebel des Fortschritts. Die Gläubigen der absoluten Wahrheit be­sitzen in ihrer Anschauung das monotone Schema ehrbarer Menschen und vernünftiger Einrichtungen. Sie widersetzen sich deshalb allen menschlichen und geschichtlichen Formen, welche ihrer Norm nicht passen und die doch die Wirklichkeit ohne Rücksicht auf ihren Kopf hervorbringt. Die absolute Wahrheit ist der Urgrund der Intoleranz. Um­gekehrt geht die Toleranz aus dem Bewußtsein von der be­schränkten Gültigkeit „ewiger Wahrheiten“ hervor. Das Verständnis der reinen Vernunft, d. h. Einsicht in die all­gemeine Abhängigkeit des Geistes, ist der wahre Weg zur praktischen Vernunft.

b) Das sittlich Rechte

Dem Wesen nach beschränkt sich unsere Arbeit auf den Nachweis, dass reine Vernunft ein Unding ist, dass die Ver­nunft Inbegriff der einzelnen Erkenntnisakte ist, welche nur vermeintlich reine, d. h. allgemeine, tatsächlich aber und notwendig immer nur praktische, d. h. besondere Er­kenntnisse inbegreift. Wir betrachteten die Philosophie, die vorgebliche Wissenschaft reiner oder absoluter Er­kenntnisse. Ihr Zweck erweist sich eitel, insofern die philosophische Entwicklung einen fortwährenden Ent­täuschungsakt darstellt, wo die unbedingten oder absoluten Systeme sich als räumlich und zeitlich bedingt erweisen. Unsere Darstellung hat die relative Bedeutung ewiger Wahrheiten gezeigt. Wir erkannten die Vernunft von der Sinnlichkeit abhängig, erkannten bestimmte Grenzen als notwendige Bedingung der Wahrheit überhaupt. In spe­ziellem Bezug auf Lebensweisheit sahen wir die gewonnene Wissenschaft des „reinen“ Erkenntnisvermögens prak­tisch bestätigt durch die Abhängigkeit des Weisen oder Vernünftigen von sinnlich gegebenen Verhältnissen. Bringen wir diese Theorie ferner bei der Moral in engerem Sinne in Anwendung, so muss sich auch hier, wo das Rechte und Schlechte streitbar ist, durch die wissenschaftliche Methode wissenschaftliche Einhelligkeit erreichen lassen.

Die heidnische Moral ist eine andere als die christliche. Die feudale Moral unterscheidet sich von der modern bürgerlichen wie Tapferkeit und Zahlungsfähigkeit. Kurz, dass die verschiedenen Zeiten und verschiedenen Völker verschiedener Moral sind, bedarf keiner Ausführung en détail. Es gilt diesen Wechsel als notwendig begreifen, als Vorzug der menschlichen Gattung, als geschichtliche Ent­wicklung und somit den Glauben an die „ewige Wahrheit“, wofür jedesmal die herrschende Klasse ihre eigennützigen Gebote ausgibt, umzutauschen gegen die Wissenschaft, dass das Recht überhaupt ein purer Begriff ist, den wir ver­möge der Denkkraft den verschiedenen einzelnen Rechten entnehmen. Das Recht im allgemeinen bedeutet nicht mehr und nicht minder als jeder Gattungsname, als z. B. der Kopf überhaupt. Jeder wirkliche Kopf ist ein aparter, ent­weder Menschen- oder Tierkopf, breit oder lang, schmal oder dick, d. h. eigen oder individuell geartet. Aber jeder aparte Kopf hat doch wieder allgemeine Eigenschaften, Eigenschaften, welche allen Köpfen übereinstimmend an­gehören, z. B. des Körpers Oberhaupt zu sein. Ja, jeder Kopf hat so viel Gemeines wie Apartes, nicht mehr eigen als kommun. Das Denkvermögen entnimmt den einzelnen, wirklichen Köpfen das Allgemeine und verschafft sich so den Begriff des Kopfes, d. i. den Kopf überhaupt. Wie der Kopf überhaupt das Gemeinschaftliche aller Köpfe, so be­deutet das Recht überhaupt das Gemeinschaftliche aller Rechte. Beides sind Begriffe und keine Dinge.

Jedes wirkliche Recht ist ein besonderes, recht nur unter gewissen Umständen, für gewisse Zeiten, diesem oder jenem Volke. „Du sollst nicht töten“ ist Recht im Frieden, Un­recht im Kriege; recht für die Majorität unserer Gesell­schaft, welche ihrem dominierenden Bedürfnisse die Mucken der Leidenschaft geopfert wissen will, doch unrecht dem Wilden, der nicht soweit gekommen, ein friedliches ge­selliges Leben zu schätzen, der deshalb das angeführte Recht als unrechte Beschränkung seiner Freiheit empfindet. Für die Lebensliebe ist der Mord ein schimpflicher Greuel, für die Rache ein köstliches Labsal. So ist der Raub dem Räuber recht und dem Beraubten unrecht. Von einem Un­recht überhaupt kann dabei nur in einem relativen Sinne die Rede sein. Die Handlung ist nur soweit allgemein un­recht, als sie allgemein mißliebig ist. Sie ist der großen Mehrzahl unrecht, weil unsere Generation mehr Interesse am bürgerlichen Handel und Wandel als an den Abenteuern der Heerstraße hat.

Wollte ein Gesetz, eine Lehre, eine Handlung absolut recht, recht überhaupt sein, so müßte sie dem Wohle aller Menschen unter allen Verhältnissen, zu allen Zeiten ent­sprechen. Dieses Wohl ist jedoch so verschieden wie die Menschen, ihre Umstände und die Zeit. Was mir gut, ist einem anderen schlimm, was in der Regel wohl, tut aus­nahmsweise leid; was einer Zeit frommt, hemmt eine andere. Das Gesetz, welches Anspruch darauf machen wollte, Recht überhaupt zu sein, dürfte nie und niemand wider­sprechen. Keine Moral, keine Pflicht, kein kategorischer Imperativ, keine Idee des Guten vermag den Menschen zu lehren, was gut, was böse, was recht, was unrecht sei. Gut ist, was unserem Bedürfnis entspricht, böse, was ihm wider­spricht. Aber was ist wohl gut überhaupt? Alles und nichts! Nicht das grade Holz ist gut, nicht das krumme. Keines ist gut, und jedes ist gut – da, wo ich sein bedarf. Und wir bedürfen alles, gewinnen jedem Dinge eine gute Seite ab. Wir sind nicht beschränkt auf dies oder jenes. Wir sind un­beschränkt, universell, allbedürftig. Deshalb sind unsere Interessen unzählbar, unsagbar, deshalb ist jedes Gesetz ungenügend, weil es immer nur ein besonderes Wohl, ein einzelnes Interesse im Sinne hat, deshalb ist kein Recht recht, oder auch alle Rechte: du sollst töten und du sollst nicht töten.

Der Unterschied zwischen guten und bösen, rechten und schlechten Bedürfnissen findet, wie Wahrheit und Irrtum, wie Vernunft und Unvernunft, seine Auflösung in dem Unterschiede des Besonderen und Allgemeinen. Die Ver­nunft vermag aus sich sowenig positive Rechte, absolut moralische Maximen zu entdecken wie irgendeine andere spekulative Wahrheit. Erst wenn ihr sinnliches Material gegeben ist, wird sie der Zahl nach das Allgemeine und Be­sondere, dem Grade nach das Wesentliche und Unwesent­liche zu ermessen wissen. Die Erkenntnis des Rechten oder Moralischen will, wie die Erkenntnis überhaupt, das All­gemeine. Aber das Allgemeine ist nur möglich innerhalb gesetzter Schranken, als das Allgemeine eines besonderen, gegebenen, sinnlichen Objekts. Wenn man irgendeine Maxime, irgendein Gesetz oder Recht, zu Recht „an sich“, zu Recht überhaupt oder im Allgemeinen macht, so ver­gißt man diese notwendige Beschränkung. Das Recht im allgemeinen ist zunächst ein leerer Begriff, der erst einen vagen Inhalt gewinnt, wenn er als Recht des Menschen im allgemeinen erfaßt wird. Die Moral, die Bestimmung des Rechten hat jedoch einen praktischen Zweck. Lassen wir nun das allgemein menschliche, das widerspruchslose Recht für moralisches Recht gelten, so wird notwendig der prak­tische Zweck verfehlt. Eine Tat oder Handlungsweise, welche allgemein, d. h. überall recht ist, empfiehlt sich selbst, bedarf deshalb keiner gesetzlichen Vorschrift. Nur das determinierte, bestimmten Personen, Klassen, Völkern, bestimmten Zeiten und Umständen angepaßte Gesetz hat praktischen Wert und ist um so praktischer, je begrenzter, bestimmter, präziser, je weniger allgemein es ist.

Das allgemeinste, weitest anerkannte Recht oder Be­dürfnis ist seiner Qualität nach nicht rechtlicher, nicht besser oder wertvoller als das kleinste Recht eines Augenblicks, als das momentane Bedürfnis einer Persönlichkeit. Ob wir auch die Sonne hunderte oder tausende Meilen groß wissen, sind wir dennoch frei, sie tellergroß zu sehen. Ob wir auch ein Gebot der Moral theoretisch oder im allgemeinen als gut und heilig anerkennen, sind wir doch in der Praxis frei, dasselbe momentan, stellenweise, individuell als schlecht und nichtsnutzig zu verwerfen. Auch das hehrste, heiligste allgemeinste Recht gilt nur innerhalb gesetzter Schranken, und innerhalb gesetzter Schranken ist auch das krasseste Unrecht gültiges Recht. Wohl besteht ein ewiger Unter­schied zwischen vermeintlichen und wahren Interessen, zwischen passion und raison, zwischen wesentlichen, domi­nierenden, allgemeinen, anzuerkennenden Bedürfnissen und Neigungen und zufälligen, untergeordneten, besonderen Gelüsten. Aber dieser Unterschied begründet keine zwei ge­trennten Welten, eine Welt des Guten und eine andere Welt des Bösen. Der Unterschied ist kein positiver, all­gemeiner, beständiger, absoluter, sondern gilt nur relativ. Er richtet sich, wie der Unterschied von schön und häß­lich, nach der Individualität desjenigen, der da unter­scheidet. Was hier ein wahres, gebotenes Bedürfnis, ist dort eine sekundäre, untergeordnete, verwerfliche Neigung.

Die Moral ist der summarische Inbegriff der verschiedensten einander widersprechenden sittlichen Gesetze, welche den ge­meinschaftlichen Zweck haben, die Handlungsweise des Menschen gegen sich und andere derart zu regeln, dass bei der Gegenwart auch die Zukunft, neben dem einen das andere, neben dem Individuum auch die Gattung bedacht sei. Der einzelne Mensch findet sich mangelhaft, unzulänglich, be­schränkt. Er bedarf zu seiner Ergänzung des andern, der Ge­sellschaft, und muss also, um zu leben, leben lassen. Die Rück­sichten, welche aus dieser gegenseitigen Bedürftigkeit hervor­gehen, sind es, was sich mit einem Wort Moral nennt.

Die Unzulänglichkeit des einzelnen, das Bedürfnis der Genossenschaft ist Grund oder Ursache der Berücksichtigung des Nächsten, der Moral. So notwendig nun der Träger dieses Bedürfnisses, so notwendig der Mensch immer indi­viduell ist, so notwendig ist auch das Bedürfnis ein indi­viduelles, bald mehr und bald minder intensiv. So not­wendig der Nächste verschieden ist, so notwendig sind die erforderlichen Rücksichten verschieden. Dem konkreten Menschen gehört eine konkrete Moral. So abstrakt und inhaltslos wie die allgemeine Menschheit, so abstrakt und inhaltslos ist auch die allgemeine Sittlichkeit, so unprak­tisch und erfolglos sind auch die ethischen Gesetze, welche man aus dieser vagen Idee abzuleiten sucht. Der Mensch ist eine lebendige Persönlichkeit, die ihr Heil und ihren Zweck in sich selbst, zwischen sich und der Welt das Be­dürfnis, das Interesse als Mittler hat, die keinem Gesetz, ohne Ausnahme, längeren und weiteren Gehorsam schuldet, als es diesem Interesse Untertan ist. Die moralische Pflicht und Schuldigkeit eines Individuums geht nie über sein Interesse hinaus. Was aber darüber hinausgeht, das ist die materielle Macht des Allgemeinen über das Besondere.

Bestimmen wir als Aufgabe der Vernunft die Ermittlung des moralisch Rechten, so kann ein einhelliges, wissenschaftliches Resultat erzielt werden unter der Bedingung, dass wir uns vorher über die Personen oder Verhältnisse, über die Grenzen einigen, innerhalb deren das allgemein Rechte zu bestimmen sei, dadurch also, dass wir keine Rechte an sich, sondern determinierte Rechte für be­stimmte Voraussetzungen suchen, dadurch, dass wir die Aufgabe präzisieren. Die widerspruchsvolle Bestimmung der Moral, die mißhellige Lösung beruht auf dem Miß­verständnis der Aufgabe. Ohne ein gegebenes Quantum der Sinnlichkeit, ohne begrenztes Material das Rechte suchen, ist ein Akt der Spekulation, welche überhaupt die Natur ohne Sinne erforschen zu können glaubt. In dem Be­gehr, aus puren Erkenntnisakten oder pur aus der Vernunft eine positive Bestimmung der Moral zu erlangen, mani­festiert sich der philosophische Glaube an Erkenntnisse a priori.

„Es ist wahr,“ sagt Macaulay in seiner Geschichte Eng­lands, wo er von dem Aufstande gegen die gesetzlose und grausame Regierung James II. redet, „die Grenze zwischen der gerechten und ungerechten Auflehnung ist unmöglich genau zu bestimmen. Diese Unmöglichkeit stammt aus der Natur des Unterschieds zwischen Recht und Unrecht und findet sich in allen Teilen der Ethik wieder. Die gute Hand­lung ist von der schlechten nicht so genau zu unterscheiden wie der Kreis vom Viereck. Es gibt eine Grenze, wo Tugend und Laster ineinander übergehen. Wer vermöchte wohl den Unterschied zwischen Mut und Verwegenheit, zwischen Vorsichtigkeit und Feigheit, zwischen Freigebigkeit und Verschwendung genau zu markieren? Wer ist fähig zu be­stimmen, wie weit die Gnade über das Verbrechen aus­zudehnen ist, wo sie aufhört den Namen der Gnade zu ver­dienen und zur verderblichen Schwachheit wird?“

Die Unmöglichkeit der genauen Bestimmung dieser Grenze ursacht nicht im Sinne Macaulays die Natur des Unterschieds zwischen Recht und Unrecht, sondern die be­fangene Anschauung, welche an ein unbegrenztes Recht, an positive Tugenden und Laster glaubt, welche sich nicht zu der Einsicht erhoben hat, dass gut und brav, recht und schlecht immer nur einer Relation des Subjekts, das ur­teilt, gilt und nicht dem Objekt an sich. Mut ist in den Augen des Vorsichtigen Verwegenheit und Vorsicht in den Augen des Mutigen Feigheit. Die Auflehnung gegen eine bestehende Regierung ist immer nur den Aufständischen gerecht, den Angegriffenen immer unrecht. Keine Hand­lung kann recht überhaupt, absolut recht oder unrecht sein.

Dieselben Eigenschaften des Menschen sind, je nach Be­dürfnis und Verwendung, je nach Zeit und Ort, bald gut, bald schlecht. Hier gilt Winkelzügigkeit, List und Ver­schlagenheit, dort Treue, Gradheit und Offenheit. Hier führt Barmherzigkeit und Milde, dort rücksichtslose, blutige Strenge zum Zweck und zur Wohlfahrt. Die Quan­tität, das mehr oder minder Heilsame einer menschlichen Eigenschaft bestimmt den Unterschied zwischen Tugend und Laster.

Nur insoweit die Vernunft das quantitative Rechtsein einer Eigenschaft, Vorschrift oder Handlung zu ermessen vermag, weiß sie Recht und Unrecht, Tugend und Laster zu scheiden. Kein kategorischer Imperativ, kein ethisches Soll begründet das wirkliche praktische Recht, umgekehrt findet die Ethik ihre Begründung in dem wirklichen sinn­lichen Rechtsem. Der Vernunft überhaupt ist Freimütig­keit keine bessere Charaktereigenschaft als Verschlagen­heit. Nur insofern die Freimütigkeit quantitativ, d. h. öfter, häufiger, allgemeiner, besser bekommt als Ver­schlagenheit, ist erstere vorziehbar. Daraus erhellt, dass eine Wissenschaft des Rechten nur insoweit der Praxis zum Leitfaden dienen kann, als andererseits die Praxis der Wissenschaft zur Voraussetzung gedient hat. Die Wissen­schaft kann die Praxis nicht weiter belehren, als sie erstlich von der Praxis belehrt worden ist. Die Vernunft kann die Handlungswelse des Menschen nicht im voraus bestimmen, weil sie die Wirklichkeit nur erfahren, nicht antizipieren kann, weil jeder Mensch, jede Situation neu, ursprünglich, original, nie dagewesen ist, weil sich die Möglichkeit der Vernunft auf das Urteil a posteriori beschränkt.

Das Recht im allgemeinen oder das Recht an sich ist ein Recht ins Blaue hinein, ist ein spekulativer Wunsch. Das wissenschaftlich allgemeine Recht bedarf gegebener, sinn­licher Voraussetzungen, auf deren Grund die Bestimmung des Allgemeinen statthat. Die Wissenschaft ist keine dog­matische Versicherung, die da sagen könnte: das oder das ist recht; weil es als recht erkannt wird. Die Wissenschaft bedarf zu ihren Erkenntnissen einen äußerlichen Grund. Sie kann das Rechte nur erkennen, sofern es recht ist. Sein ist Material, Voraussetzung, Bedingung, Grund der Wissen­schaft.

Aus dem Gesagten ergibt sich die Forderung, die Moral, statt spekulativ oder philosophisch induktiv oder wissen­schaftlich zu erforschen. Wir dürfen keine absolut, sondern nur relativ allgemeine Rechte zu kennen begehren, immer nur Rechte vorher bestimmter Voraussetzungen als mora­lische Aufgabe der Vernunft bestimmen. So löst sich der Glaube an eine sittliche Weltordnung in das Bewußtsein der menschlichen Freiheit auf. Die Erkenntnis der Ver­nunft, des Wissens oder der Wissenschaft schließt ein die Erkenntnis von der beschränkten Rechtsgültigkeit aller ethischen Maximen.

Was auf den Menschen den Eindruck des Heilvollen, Wertvollen, Göttlichen machte, stellte er im Tabernakel des Glaubens als das hochwürdigste Gut aus. Der Ägypter die Katze und der Christ die väterliche Vorsorge. So, als sein Bedürfnis ihn anfänglich zu Ordnung und Zucht an­führte, begeisterte die Wohltat des Gesetzes ihn zu einer solch hohen Meinung von der adligen Herkunft desselben, dass er das eigene Machwerk für göttliche Bescherung an­nahm. Die Erfindung der Mausfalle oder andere wohltätige Neuerungen verdrängten die Katze aus ihrer erhabenen Stellung. Wo der Mensch sein eigener Herr wird, sich selber Schutz und Schirm, wo er selbst vorsieht, wird jede andere Vorsehung unnütz, mit seiner Mündigkeit eine höhere Vor­mundschaft lästig. Der Mensch ist ein eifersüchtiger Mensch! Rücksichtslos subordiniert er jegliches seinen Interessen: Gott und Gebot! Mag sich nun eine Verordnung durch ihre treue Dienste eine noch so alte und wichtige Autorität erworben haben, neue, kontradiktorische Be­dürfnisse degradieren die göttliche Instruktion zur mensch­lichen Satzung, das alte Recht zum frischen Unrecht. Die Einschüchterung mittelst exemplarischer Strafe: Aug‘ um Auge, Zahn um Zahn, welche der Hebräer als den Schutz­herrn moralischen Wandels gesalbt und geehrt hatte, dem kündigte der Christ ganz frivol den Respekt. Er hatte den Segen der Friedfertigkeit kennen lernen, brachte die er­gebene Duldung ins heilige Land, besetzte den leeren Tabernakel mit der sanftmütigen Zumutung, auch die Linke noch hinzuhalten, wenn die Rechte Ohrfeigen satt­hat. Und in unserer, dem Namen nach wohl christlichen, jedoch der Tat nach höchst antichristlichen Zeit, ist die verehrte Duldung längst außer Praxis gekommen.

Wie jeder Glaube seinen besonderen Gott, so hat jede Zeit ihr besonderes Recht. Soweit bleiben Religion und Moral mit der Verehrung ihres Heiligtums in Ordnung; aber arrogant werden die Gesellen, weil sie sich breiter machen, als sie sind, weil sie, was zeitweise, was unter ge­wissen Umständen göttlich und recht, nun auch allen weiteren Verhältnissen als ein Unübertreffliches, Absolutes, Permanentes aufbürden möchten, weil sie mit dem heil­samen Remedium ihrer individuellen Krankheit die Scharlatanerie einer Universalmedizin treiben, weil sie übermütig ihre Herkunft vergessen. Ursprünglich diktiert ein individuelles Bedürfnis das Gesetz, und dann soll der allbedürftige Mensch auf dem schmalen Seil dieser Regel tanzen. Ursprünglich ist das wirklich Gute recht, und dann soll nur das gebotene Recht wirklich gut sein. Das ist das Unerträgliche: dem etablierten Gesetz ist es nicht genug, dieser Zeit, diesem Volke oder Lande, dieser Klasse oder Kaste recht zu sein; es will alle Welt dominieren, will Recht überhaupt sein, so als wenn eine Pille Medikament über­haupt sein wollte, gut für alles, gut für Durchfall und gut für Hartleibigkeit. Diese dünkelhaften Übergriffe heim­schicken, dem Hahn die Pfauenfeder ausrupfen, ist Sache des Fortschritts, welcher den Menschen über die erlaubte Grenze hinausleitet, ihm die Welt erweitert, seinen be­drängten Interessen die vorenthaltene Freiheit wieder­erobert. Die Übersiedlung von Palästina nach Europa, wo der verbotene Genuß des Schweinfleisches die schlimme Folge von Grind und Krätze nicht mehr nachzieht, erlöst unsere natürliche Freiheit von einer nunmehr sinnlosen, wenn auch ehemals göttlichen Beschränkung. Doch reißt der Fortschritt einem Gott oder Recht nicht die Tressen ab, um sie anderen anzuhängen: das wäre Tausch, kein Akquisit. Die Entwicklung verweist die überlieferten Heiligen nicht des Landes; sie drängt sie nur zurück von dem usurpierten Boden des Allgemeinen in ihr besonderes Gehege. Das Kind hebt sie auf und schüttet dann das Bad aus. Weil die Katze den Heiligenschein verloren, weil sie aufhört Gott zu sein, hört sie noch nicht auf zu mausen, und wenn auch die jü­dischen Gebote zeitbestimmter Reinigung längst ver­schollen, blieb doch die Sauberkeit immer noch in ver­dienter Achtung. Nur einer ökonomischen Verwaltung des alten Erwerbs verdanken wir den gegenwärtigen Reichtum der Zivilisation. Die Entwicklung ist ebensoviel konservativ als revolutionär und findet in jedem Gesetz soviel Unrecht als Recht.

Zwar spüren die Gläubigen der Pflicht Differenz zwischen moralischem und gesetzlichem Recht; doch läßt ihre inter­essierte Befangenheit sie nicht zu der Einsicht, dass jedes Gesetz ursprünglich moralisch und jede bestimmte Moral im Verlauf der Entwicklung zum bloßen Gesetz herab­sinkt. Ihr Verständnis erreicht andere Zeiten und andere Klassen, nur nicht die eigenen. In den Gesetzen der Chinesen und Lappländer erkennt man chinesische und lappländische Bedürfnisse. Doch weit erhabener ist das Reglement des bürgerlichen Lebens! Unsere heutigen Einrichtungen und Moralbegriffe sind entweder ewige Natur- und Vernunft­wahrheiten oder permanente Orakelsprüche eines reinen Gewissens. Als wenn nicht der Barbar auch eine barbarische Vernunft; als wenn nicht der Türke ein türkisch, der Hebräer ein hebräisch Gewissen hätte; als wenn sich der Mensch nach dem Gewissen richten könnte, da sich doch umgekehrt das Gewissen nach dem Menschen richtet!

Wer die Bestimmung des Menschen beschränkt auf das Gott lieben und dienen, um später ewig selig zu werden, mag die überkommenen Vorschriften seiner Moral gläubig als Autorität anerkennen und demnach wandeln. Wem da­gegen die Entwicklung, die Bildung, die irdische Seligkeit des Menschen Zweck ist, wird die Frage nach dem Titel dieser Superiorität keineswegs müßig finden. Das Bewußt­sein individueller Freiheit schafft erst die zum beherzten Fortschritt nötige Rücksichtslosigkeit gegen andermanns Regel, erlöst uns von dem Streben nach einem illusorischen Ideal, einer besten Welt überhaupt und gibt uns den be­stimmten praktischen Interessen unserer Zeit oder Indi­vidualität zurück. Zugleich aber söhnt es uns aus mit der bestehenden wirklichen Welt, welche wir nun nicht mehr betrachten als verfehlte Realisation dessen, was sein soll, sondern als Ordnung dessen, was sein kann. Die Welt ist immer recht. Was da ist, soll sein und soll nicht eher anders sein, bis es anders wird. Wo die Wirklichkeit, die Macht, ist per se auch das Recht, d. h. die Formulierung des Rechten. Der Ohnmacht bleibt in Wirklichkeit kein weiteres Recht, als erst die Übermacht zu erstreben, um dann ihrem Be­dürfnis die verweigerte Geltung zu schaffen. So wie uns das Verständnis der Geschichte die Religionen, Sitten, Ein­richtungen und Anschauungen der Vergangenheit nicht nur von der negativen, lächerlichen, verbrauchten, sondern auch von der positiven, vernünftigen, notwendigen Seite zeigt, welche uns z. R. die Vergötterung der Tiere als be­geisterte Anerkennung ihrer Nützlichkeit verstehen lernt; so zeigt uns das Verständnis der Gegenwart die bestehende Ordnung der Dinge nicht allein in ihrer Unzulänglichkeit, sondern auch als vernünftige, notwendige Konklusion vor­hergegangener Prämissen.

c) Das Heilige

In dem bekannten Satz: Der Zweck heiligt das Mittel findet die entwickelte Theorie der Moral ihre praktische Formulierung. Die Maxime diene, zweideutig gesprochen, uns und den Jesuiten zum gemeinschaftlichen Vorwurf. Die Verteidiger der Gesellschaft Jesu bestreben sich, die­selbe als eine böswillige Verleumdung ihres Klienten dar­zustellen. Wir wollen zwischen den Parteien weder für noch gegensprechen, sondern unser Wort der Sache selbst leihen, den Lehrsatz als wahr, vernünftig begründen, ihn in der öffentlichen Meinung zu rehabilitieren suchen.

Zur Beschwichtigung des allgemeinsten Widerspruches dürfte das Verständnis genügen, dass Mittel und Zwecke sehr relative Begriffe sind, dass alle besonderen Zwecke Mittel und alle Mittel Zwecke sind. Sowenig ein positiver Unterschied zwischen groß und klein, zwischen Recht und Unrecht, zwischen Tugend und Laster statthat, sowenig vermögen wir zwischen Mittel und Zweck positiv zu unter­scheiden. Für sich apart, als Ganzes betrachtet, ist jede Handlung Selbstzweck, und die verschiedenen Momente, in welche sich auch die kurzzeitigste Handlung teilt, sind ihre Mittel. In Gemeinschaft mit anderen Handlungen ist jede besondere Handlung Mittel, das mit seinesgleichen einen allgemeinen Zweck erstrebt. Handlungen sind an sich weder Mittel noch Zwecke. An und für sich ist nichts. Alles Sein ist relativ. Die Dinge sind das, was sie sind, nur in und durch ihre Beziehungen. Umstände ändern die Sache. In­sofern jede Handlung andere Handlungen neben sich hat, ist sie Mittel, hat sie ihren Zweck außer sich, in der Ge­meinschaft; insofern aber jede Handlung abgeschlossen für sich ist, ist sie Zweck, der seine Mittel einschließt. Wir essen, um zu leben; insofern wir jedoch während des Essens leben, leben wir, um zu essen. Wie sich das Leben zu seinen Funktionen, so verhält sich der Zweck zu seinen Mitteln. Wie das Leben nur der Inbegriff der Lebensfunktionen, so ist der Zweck Inbegriff seiner Mittel. Der Unterschied zwischen Mittel und Zweck reduziert sich auf den Unter­schied zwischen dem Besonderen und Allgemeinen, Und alle abstrakten Unterschiede reduzieren sich auf diesen einen Unterschied, weil die Abstraktions- oder die Unter­scheidungskraft selbst sich reduziert auf das Vermögen, zwischen dem Besonderen und Allgemeinen zu unter­scheiden. Diese Unterscheidung aber setzt Material, Ge­gebenes, einen Kreis sinnlicher Erscheinungen, etwas vor­aus, durch welches sie sich betätigt. Ist dieser Kreis auf dem Gebiete der Handlungen oder Funktionen gegeben, mit anderen Worten, ist eine vorherbegrenzte Anzahl ver­schiedener Handlungen der Gegenstand, so nennen wir das Allgemeine Zweck und jeden mehr oder minder großen Teil des Kreises, jede besondere Funktion Mittel. Ob irgendeine bestimmte Handlung Zweck oder ob Mittel ist, hängt ab davon, ob wir sie betrachten als Ganzes, in Be­ziehung zu ihren eigenen Momenten, woraus sie sich zu­sammensetzt, oder als Teil, in Beziehung ihrer Gemein­schaft mit anderen Handlungsweisen. Im Allgemeinen, von einem Standpunkt, welcher alle menschlichen Handlungen totaliter überschaut, welcher die Totalität der mensch­lichen Handlungen zum Gegenstande hat, gibt es nur einen Zweck: das menschliche Heil. Dieses Heil ist Zweck aller Zwecke, Zweck in letzter Instanz, ist der eigentliche, wahre, allgemeine Zweck, dem gegenüber alle besonderen Zwecke nur Mittel sind.

Nun kann unsere Behauptung, dass der Zweck das Mittel heiligt, auch nur von einem unbedingten Zweck unbedingt gültig sein. Alle besonderen Zwecke aber sind endlich, be­dingt. Absoluter, unbedingter Zweck ist nur das mensch­liche Heil, ein Zweck, der alle Verordnungen und Hand­lungen, alle Mittel heiligt, solange sie ihm Untertan, der sie lästert, sobald sie sich selbst überlassen, ihm nicht mehr dienstbar sind. Das Heil ist, wie wörtlich, so auch tatsäch­lich der Ursprung und Grund des Heiligen. Heilig ist über­all das Heilsame. Dabei ist das Heil im allgemeinen, jenes Heil, welches alle Mittel heiligt, nicht als Abstraktion zu verkennen, deren wirklicher Inhalt so verschieden ist wie die Zeiten, Völker oder Personen, die an ihrem Heile suchen. Es ist nicht zu verkennen, dass es zur Bestimmung des Heiligen oder Heilsamen bestimmter Verhältnisse bedarf, dass kein Mittel, keine Handlung heilig an sich ist sondern erst durch gegebene Beziehungen heilig wird. Nicht der Zweck überhaupt, sondern der heilige Zweck heiligt die Mittel. Da aber jeder wirkliche, besondere Zweck nur relativ heilig ist, kann er seine Mittel nur relativ heiligen.

Die Opposition, welche man gegen unsere Maxime ins Feld führt, ist nicht sowohl gegen sie selbst als gegen eine falsche Anwendung derselben gerichtet. Man versagt die Anerkennung, man erlaubt den sogenannten heiligen Zwecken nur beschränkte Mittel, weil im Hintergrunde das Bewußtsein versteckt ist, dass diesen Zwecken nur eine be­schränkte Heiligkeit zugehört. Andererseits wollen wir mit der Behauptung des Satzes nur sagen, dass die verschie­denen nominell heiligen Mittel und Zwecke nicht heilig sind, weil irgendeine Autorität, irgendein Ausspruch einer Schrift, eines Gewissens oder einer Vernunft sie heilig nennt, sondern nur dann und darum, nur insoweit, als sie dem ge­meinschaftlichen Zweck aller Zwecke und Mittel, als sie dem menschlichen Heil entsprechen. Unsere Lehre vom Zweck sagt ganz und gar nicht, dass wir dem heiligen Glauben Lieb‘ und Treu‘, aber auch nicht umgekehrt, dass wir für Lieb‘ und Treu‘ den Glauben opfern sollen. Sie spricht nur die Tatsache aus, dass, wo der oberste Zweck durch sinnliche Dispositionen oder Umstände gegeben ist, alle widersprechenden Mittel schlecht sind, und umgekehrt, allgemein schlechte Mittel durch Beziehung auf ein momen­tanes oder individuelles Heil momentane oder individuelle Heiligung finden. Wo immer Friedfertigkeit tatsächlich als heilsamer Zweck beliebt wird, ist der Krieg ein schlechtes Mittel. Wo umgekehrt der Mensch sein Heil im Kriege sucht, ist Morden und Brennen ein heiliges Mittel. Mit anderen Worten, unsere Vernunft bedarf zur endgültigen Bestimmung des Heiligen gegebener sinnlicher Verhältnisse oder Tatsachen als Voraussetzung; sie vermag das Heilige nicht im Allgemeinen, nicht a priori, nicht philosophisch, sondern nur im Speziellen, a posteriori, nur empirisch zu bestimmen.

Erkennen, dass das Heil des Menschen Zweck aller Zwecke, Heiliger aller Mittel ist, ferner absehen von allen besonderen Bestimmungen, von allen persönlichen Ideen dieses Heils und die tatsächliche Verschiedenheit desselben anerkennen, heißt zugleich verstehen, dass die Mittel über­haupt nicht weiter heilig sind, als der Zweck heilig ist. Kein Mittel, keine Handlung ist positiv heilig oder heilsam. Je nach den Umständen und der Relation ist ein und dasselbe Mittel bald gut und bald schlecht. Eine Sache ist nur da gut, wo ihre Folgen gut sind, nur darum, weil das Gute ihr Resultat, ihr Zweck ist. Lug und Trug sind nur darum schlecht, weil ihre Folgen uns schlecht bekommen, weil wir nicht belogen und betrogen sein wollen. Wo es dagegen einem heiligen Zweck gilt, nennt sich das auf Lug und Trug basierte Scheinmanöver Kriegslist. Wer glaubefest die Keuschheit gutheißt, weil sie Gott befohlen hat, mit dem wollen wir weiter nicht rechten; wer aber die Tugend ehrt um der Tugend willen und das Laster scheut des Lasters, d. h. der Folgen wegen, der gibt zugleich zu, dass er die Be­gier des Fleisches dem Zweck der Gesundheit zum Opfer bringt, mit anderen Worten: dass erst der Zweck das Mittel heiligt.

Der christlichen Weltanschauung sind die Gebote ihrer Religion unbedingt absolut gut, gut für Zeit und Ewigkeit, gut, weil die christliche Offenbarung sie gutheißt. Sie weiß nicht, dass z. B. ihre Tugend par excellence, die spezifisch christliche Tugend der Enthaltsamkeit ihren Wert erst gegenüber der korrupten heidnischen Üppigkeit erhalten hat, gegenüber dem vernünftigen, bedächtigen Genusse aber keine Tugend mehr ist. Sie hat bestimmte Mittel, die ihr ohne Beziehung auf ihren Zweck gut, und andere, die ihr ohne Beziehung auf den Zweck schlecht sind. Sie lehnt sich insoweit mit Recht gegen die quästio­nierte Maxime auf.

Das moderne Christentum, die heutige Welt hat jedoch diesen Glauben praktisch längst abgetan. Mit dem Munde zwar nennt sie die Seele das Ebenbild Gottes und den Leib einen stinkenden Madensack; mit der Tat aber beweist sie, wie wenig ernst die religiösen Phrasen gemeint sind. Sie kümmert sich wenig um jenen besseren Teil und schenkt dem geschmähten Leibe ihr ganzes Sinnen und Trachten. Wissenschaft und Kunst, die Produkte aller Zonen ver­wendet man zu seiner Verherrlichung, ihn köstlich zu kleiden, lecker zu nähren, sorgsam zu pflegen und weich zu betten. Ob man auch im Vergleich zu jenem ewigen Leben verächtlich von diesem irdischen Leben spricht, hängt doch die Praxis sechs lange Wochentage unermüdlich an seinem Genusse, während man den Himmel kaum sonntags eine kurze Stunde unaufmerksamer Aufmerksamkeit werthält. Mit derselben kopflosen Zerfahrenheit geht dann die so­genannte christliche Welt auch mündlich gegen unser Thema an, während sie wirklich die beschimpftesten Mittel mit dem Zweck der eigenen Wohlfahrt heiligt, als argumen­tum ad hominem sogar die Prostitution mit Staatsmitteln toleriert. Wenn die Kammern unserer Repräsentativ­staaten die Feinde ihrer bürgerlichen Ordnung mit Stand­recht und Deportation niederhalten und dieses Verbrechen an dem vielgepriesenen Spruch „Was du nicht willst, das dir gescheh‘, das füg‘ auch keinem andern zu“, mit dem öffentlichen Heil oder ihre Ehescheidungsgesetze mit der Privatwohlfahrt motivieren, so finden wir damit tatsäch­lich anerkannt, dass der Zweck das Mittel heiligt. Und wenn auch die Bürger dem Staat Rechte erlauben, welche sie selbst sich absprechen, so sind das doch auch im Sinne unserer Gegner nur die abgetretenen eigenen Rechte seiner Untertanen.

Allerdings, wer in der bürgerlichen Welt Lug und Trug als Mittel der Bereicherung, wenn auch zum Zweck ander­weitiger Wohltätigkeit, verwendet, oder wie der heilige Krispinus, Leder stiehlt, um armen Leuten Schuhe zu machen, der heiligt seine Mittel nicht mit seinem Zweck, weil ihr der Zweck nicht, oder doch nur nominell, wohl im allgemeinen, aber nicht im speziellen, nicht im angeführten Falle heilig ist; weil die Wohltätigkeit nur ein Zweck von untergeordneter Heiligkeit ist, der ihrem Hauptzweck, der bürgerlichen Ordnung gegenüber nur ein Mittel sein darf, der, wo er sich dieser seiner Bestimmung widersetzt, da­durch auch den Namen eines guten Zwecks verliert, und wie gesagt, kann der Zweck, der nur unter Bedingungen heilig ist, auch nur unter denselben Bedingungen seine Mittel heiligen. Die unerläßliche Bedingung aller guten Zwecke ist die Heilsamkeit, die, mag sie nun auf christliche oder heidnische, auf feudale oder bürgerliche Art gesucht werden, allemal die Forderung stellt, dass dem als wesent­lich und notwendig Betrachteten das Unwesentliche und minder Notwendige untergeordnet werde, wogegen im an­geführten Falle die mehr geschätzte Ehrlichkeit und bürgerliche Rechtschaffenheit der minder geschätzten Wohltätigkeit geopfert würde. „Der Zweck heiligt das Mittel“ heißt mit anderen Worten, der Gewinn muss wie in der Ökonomie, so auch in der Ethik das Anlagekapital rentieren. So, wenn man die Bekehrung des Unglaubens einen guten Zweck und die polizeiliche Gewaltmaßregel ein schlechtes Mittel nennt, zeugt auch das nicht gegen die Wahrheit der Maxime, sondern für eine falsche Anwendung. Das Mittel ist nicht heilig, weil der Zweck nicht gut ist, weil die gewaltsame Bekehrung kein heilsamer, vielmehr ein Zweck des Unheils, der Heuchelei ist; weil das eine Be­kehrung ist, die nicht den Namen der Bekehrung verdient, oder die Gewalt ein Mittel ist, dem hier nicht der Name des Mittels gehört. Wenn uns eine gewaltsame Bekehrung und ein hölzernes Eisen gleich tolle Sachen sind, wie dürfen wir dann mit solchen Gedankenlosigkeiten, solch sinnlosen Wortverdrehungen, solchen dialektischen Kniffen und Sophistereien gegen eine tatsächlich allgemein anerkannte Wahrheit angehn! Auch die jesuitischen Mittel, Ränke und Intrigen, Gift und Mord sind uns nur unheilig, weil uns der jesuitische Zweck, z. B. die Ausbreitung, Bereicherung und Verherrlichung des Ordens wohl ein Nebenzweck, der sich der unschuldigen Kanzelrede bedienen mag, aber kein un­bedingt heiliger Zweck, kein Zweck à tout prix ist, dem wir Mittel erlaubten, die uns um einen wesentlicheren Zweck, z. B. um die öffentliche oder leibliche Sicherheit betrögen. Mord und Totschlag sind uns als individuelle Handlungen unsittlich, weil sie keine Mittel unseres Zwecks sind, weil wir nicht für die Rache oder Raubgier, nicht für Willkür und eigenmächtige Handhabung des Richteramts, viel­mehr für Gesetzlichkeit und den mehr unparteiischen Ent­scheid des Staats disponiert sind. Wenn wir uns dann aber als Schwurgericht konstituieren und die gefährlichen Ver­brecher mit Strick und Beil unschädlich machen, heißt das nicht ausdrücklich, der Zweck heiligt das Mittel?

Dieselben Leute, die sich rühmen, schon seit Jahr­hunderten mit dem Aristoteles, d. h. mit dem Autoritäts­glauben, gebrochen zu haben und infolgedessen an Stelle der toten, überlieferten – die lebendige, selbsterkannte Wahrheit setzten, finden wir in dem behandelten Exempel in vollem Widerspruch mit ihrer Tendenz. Bei einem schnurrigen Vorfall, wenn auch vom glaubwürdigsten Zeugen erzählt, bleibt man doch dem Grundsatz der Ge­wissensfreiheit treu, d. h., was der Erzähler possierlich und schnurrig nennt, darf der Zuhörer ernst und fatal finden. Man weiß zwischen der Geschichte und ihrem subjektiven Eindruck zu unterscheiden, welcher letztere mehr den Er­zähler als seinen Gegenstand charakterisiert. Bei guten Zwecken und schlechten Mitteln hingegen will man die Differenz zwischen dem Objekt und dessen subjektiver Be­stimmung, die sonstwo aller Kritik Augenmerk ist, außer acht lassen. Zwecke wie die Wohltätigkeit, die Bekehrung des Unglaubens usw., nennt man ohne weiteres, a priori, gedankenlos gut und heilig, weil sie das anderswo gewesen sind, obgleich ihr lebendiger Eindruck in den angeführten Fällen das gerade Gegenteil aussagt, und wundert sich nachträglich, dass der unrechtmäßige Titel die Unrecht­mäßigkeit der Privilegien nachzieht.

Das Prädikat gut oder heilig verdient in der Praxis nur der Zweck, der selbst ein Mittel, ein Untertan des Zwecks der Zwecke, des Heils ist. Wo der Mensch sein Heil im bürgerlichen Leben, in Produktion und Handel, in un­gestörtem Besitz der Güter sucht, schneidet er sich die langen Finger mit dem Gebot „Du sollst nicht stehlen“; wo hingegen, wie bei den Spartanern, Krieg das höchste Gut ist und Verschlagenheit die notwendige Eigenschaft eines guten Kriegers, verwendet man die Spitzbüberei zur Erwerbung der Schlauheit, sanktioniert den Diebstahl als Mittel zum Zweck. Nun den Spartaner schelten, dass er ein Krieger und kein ehrlicher Spießbürger war, heißt die Wirklichkeit verkennen, heißt verkennen, dass unser Kopf nicht berufen ist, der Welt faktische Zustände zu rem­placieren, sondern zu begreifen, dass eine Zeit, ein Volk, ein Individuum immer das ist, was es unter den gegebenen Umständen sein kann und deshalb auch sein soll.

Wenn wir mit dem Satz „der Zweck heiligt das Mittel“ die herrschende Anschauung auf den Kopf setzen, so ist das keine tadelhafte individuelle Liebhaberei des Para­doxen, sondern die konsequente Anwendung der philo­sophischen Wissenschaft. Die Philosophie ist hervor­gegangen aus dem Glauben an einen dualistischen Gegen­satz zwischen Gott und Welt, zwischen Leib und Seele, zwischen Geist und Fleisch, zwischen Kopf und Sinn, zwischen Denken und Sein, zwischen dem Allgemeinen und Besonderen. Die Vermittlung dieses Gegensatzes stellt sich dar als ihr Zweck oder als Gesamtresultat der philo­sophischen Forschung. Die Philosophie fand ihre Auf­lösung in der Erkenntnis, dass das Göttliche weltlich und das Weltliche göttlich ist, dass sich die Seele zum Leibe, der Geist zum Fleische, das Denken zum Sein, der Ver­stand zu den Sinnen ganz so verhält wie die Einheit zur Mannigfaltigkeit oder wie das Allgemeine zum Besonderen. Die Philosophie hat mit der irrtümlichen Voraussetzung begonnen, dass aus der Eins, als dem Ersten, die Zwei, Drei, Vier, das Mannigfaltige als Nachfolgendes hervor­gegangen sei. Sie resultierte mit der Erkenntnis, dass die Wahrheit oder Wirklichkeit diese Voraussetzung auf den Kopf setzt, dass die vielgestaltige Wirklichkeit, die sinn­liche Mannigfaltigkeit, das Besondere das Erste ist, aus welchem nachträglich die menschliche Hirnfunktion den Begriff der Einheit oder Allgemeinheit ableitet.

Kein Ergebnis der Wissenschaft steht im Vergleich zu dem Aufwand an Genie und Scharfsinn, welche diese eine kleine spekulative Frucht gekostet hat. Aber auch keine wissenschaftliche Neuerung findet so alte tiefgewurzelte Hindernisse ihrer Anerkennung. Alle mit dem Ergebnis der Philosophie unbekannten Köpfe beherrscht der alte Glaube an die Wirklichkeit eines echten, wahren, all­gemeinen Heils, dessen Entdeckung alle unechten, schein­baren, besonderen Heiligtümer zu Schanden mache, wäh­rend uns die Erkenntnis des Denkprozesses das gesuchte Heil als Hirnprodukt kennen lehrt, das eben, weil es ein allgemeines, d. h. abstraktes Heil sein soll, kein sinnliches oder wirkliches, d. h. besonderes Heil sein kann. In dem Glauben an einen totalen Unterschied zwischen echtem und unechtem Heil manifestiert sich die Unwissenheit über den Hergang geistiger Operationen. Pythagoras setzte die Zahl als das Wesen der Dinge. Hätte der Grieche dies Wesen der Dinge als Kopf- oder Vernunftding erkennen können und die Zahl dann als das Wesen der Vernunft, als den gemeinschaftlichen oder abstrakten Inhalt alles gei­stigen Tuns bestimmt, so wären all die Zänkereien erspart worden, welche man seither um die verschiedenen Formen der absoluten Wahrheit, um die „Dinge an sich“ geführt hat.

Raum und Zeit sind die allgemeinen Formen der Wirk­lichkeit, oder die Wirklichkeit existiert bekannterweise im Raume und in der Zeit. Infolgedessen ist jedes wirkliche Heil räumlich und zeitlich und jedes räumliche und zeit­liche Heil wirklich. Die verschiedensten Heilsamkeiten sind, insoweit sie heilsam sind, nur ihrer Weite und Breite, dem Quantum ihrer Ausdehnung, nur der Zahl nach ver­schieden. Jedes Heil, sowohl das wahre wie das vermeint­liche, ist uns durch das sinnliche Gefühl, durch die Praxis, nicht durch die Vernunft gegeben. Die Praxis aber gibt ver­schiedenen Menschen und verschiedenen Zeiten die wider­sprechendsten Dinge als heilsam. Was hier Heil, ist dort Unheil und umgekehrt. Der Erkenntnis oder Vernunft bleibt dabei kein weiteres Geschäft, als diese durch sinn­liche Empfindung gegebenen Heilsamkeiten, je nach den verschiedenen Personen und Zeiten, an welchen, oder je nach den verschiedenen Graden der Intensivität, in welchen sie erscheinen, zu zählen und also das Kleine vom Großen, das Unwesentliche vom Wesentlichen, das Besondere vom Allgemeinen zu unterscheiden. Die Vernunft vermag uns das wahre Heil nicht autokratisch vorzuschreiben, sondern nur aus einem sinnlich gegebenen Quantum Heilsamkeiten das der Zahl nach häufigste, größte oder allgemeinste auf­zuzählen. Das aber ist nicht zu vergessen, dass die Wahr­heit einer solchen Erkenntnis oder Zählung auf bestimmter, gegebener Voraussetzung beruht. Also, vergeblich das Be­mühen, das wahre Heil überhaupt suchen zu wollen! Prak­tisch, erfolgreich wird die Forschung nur, wenn sie sich bescheidet, das bestimmte Heil einer bestimmten Partiku­larität zu erkennen. Das Allgemeine ist nur möglich inner­halb gesetzter Schranken. Darin aber stimmen die ver­schiedenen Bestimmungen des Heils überein, dass es über­all heilsam ist, das Kleine dem Großen, das Unwesentliche dem Wesentlichen zu opfern, und nicht umgekehrt. In­sofern diese Maxime recht ist, ist es ferner recht, dass wir für den guten Zweck des großen Heils das schlechte Mittel eines kleinen Unheils anwenden oder ertragen; dass der Zweck die Mittel heiligt.

Wäre man liberal genug, jeden nach seiner Façon selig werden zu lassen, würden sich die Gegner unserer An­schauung leicht von ihrer Wahrheit überzeugen. Aber statt dessen folgt man dem gewöhnlichen Wege der Kurzsichtig­keit und macht seinen Privatstandpunkt zum universellen. Das eigene Heil nennt man das allein wahre und das Heil anderer Völker, Zeiten und Verhältnisse ein Mißverständ­nis, wie jede Kunstrichtung ihren subjektiven Geschmack für objektive Schönheit ausgibt, verkennend, dass die Ein­heit nur Sache der Idee, des Gedankens, aber die Sache der Wirklichkeit Mannigfaltigkeit ist. Das wirkliche Heil ist mannigfaltig und das wahre Heil nur eine subjektive Aus­wahl, das, wie die schnurrige Geschichte, anderswo auch einen andern Eindruck machen, ein unwahres Heil sein kann. Wenn Kant oder Fichte oder sonst ein philosophischer Partikulier weit und breit die Bestimmung des Menschen abhandelt und die Aufgabe dann zu seiner und seines Auditoriums vollster Zufriedenheit löst, so sind wir heute doch erfahren genug zu wissen, dass man auf dem Wege spekulativer Forschung wohl seinen eigenen Begriff von der Be­stimmung des Menschen definieren, aber kein unbekanntes verborgenes Objekt entdecken kann. Dem Gedanken, dem Verstande muss das Objekt gegeben sein, seine Arbeit ist das Urteil, die Kritik; er mag unterscheiden zwischen wahrem und unwahrem Heil, aber sich auch seiner Grenze erinnern, sich erinnern, dass, wie er selbst, so auch diese Unterscheidung persönlich ist, die nicht länger und weiter gilt, als andere von demselben Gegenstand denselben Ein­druck empfangen.

Die Menschheit ist eine Idee, der Mensch aber ist allemal eine besondere Persönlichkeit, die ihr eigentümliches Leben nur in ihrem eigentümlichen Element findet, des­halb nur aus persönlichen Motiven sich dem allgemeinen Gesetz unterwirft. Das Opfer der Ethik ist wie das Opfer der Religion nur eine scheinbare Selbstverleugnung zum Zweck vernünftiger Selbstsucht, eine Ausgabe mit der Absicht größeren Gewinns. Die Sittlichkeit, die ihren Namen verdient und nicht besser Gehorsam benannt wäre, kann nur durch die Erkenntnis ihres Wertes, ihrer Heil­samkeit, ihres Nutzens zur Ausübung kommen. Aus der Verschiedenheit der Interessen folgt die Verschie­denheit der Parteien, aus der Verschiedenheit des Zwecks die Verschiedenheit der Mittel. Bei minder wichtigen Fragen bezeugen das auch die Vertreter der absoluten Moral.

Thiers erzählt in seiner Geschichte der französischen Revolution von einer besonderen Situation aus dem Jahre 1796, wo den Patrioten die öffentliche Gewalt und den Royalisten die revolutionäre Agitation gehörte, dass da die Parteigänger der Revolution, welche Partisanen der unbeschränkten Freiheit sein mussten, Repressionsmittel verlangten, und die Opposition, die insgeheim mehr der Monarchie als der Republik zuneigte, für unbeschränkte Freiheit votierte. „So sehr werden die Parteien von ihren Interessen regiert“, heißt seine schließliche Bemerkung dazu, als sei das eine Anomalie und nicht der natürliche, notwendige, unumgängliche Lauf der Welt. Wenn es sich dagegen um die fundamentalen Gesetze der bürgerlichen Ordnung handelt, sind die moralischen Vertreter der herrschenden Klasse eigennützig genug, die Abhängigkeit derselben von ihrem Interesse zu leugnen und sie als ewige metaphysische Weltgesetze, die Stützen ihrer besonderen Herrschaft als ewige Stützen der Menschheit, ihre Mittel als die allein heiligen und ihren Zweck als den endgültigen darzustellen.

Es ist eine unheilvolle Betrügerei, ein Diebstahl an der menschlichen Freiheit, ein Versuch zur Stagnation der ge­schichtlichen Entwicklung, wenn eine Zeit oder Klasse so ihre aparten Zwecke und Mittel für das absolute Heil der Menschheit ausgibt. In der Sittlichkeit dokumentiert man ursprünglich die Interessen, wie in der Mode den Geschmack, um dann nachträglich, wie hier das Gewand, so dort die Handlung dem vorgesetzten Muster anzupassen. Die Macht übt dabei notwendig, um des eigenen Lebens willen, die Gewalt aus und zwingt die Widerspenstigen zur Unterwerfung. Interesse und Pflicht sind, wenn nicht ge­rade synonyme, so doch nah verwandte Ausdrücke. Beide gehn in den Begriff des Heils auf. Das Interesse ist mehr das konkrete, gegenwärtige, handgreifliche Heil; die Pflicht dagegen das erweiterte, auch auf die Zukunft bedachte, allgemeine Heil. Wenn das Interesse nach der nächsten faßlichen klingenden Wohlfahrt des Geldbeutels fragt, ver­langt die Pflicht dagegen, dass wir nicht nur einen Teil, auch das Ganze, nicht nur das gegenwärtige, nächste, auch das entfernte, künftige, nicht nur das leibliche, auch das geistige Wohl im Auge halten. Die Pflicht kümmert sich auch um das Herz, um die sozialen Bedürfnisse, die Zukunft, das Seelenheil, kurz um die Interessen im Großen und Ganzen und schärft uns ein, dem Überflüssigen zu ent­sagen, um das Notwendige zu erlangen und zu erhalten. So ist deine Pflicht dein Interesse und dein Interesse deine Pflicht.

Wenn sich unsere Ideen der Wahrheit oder Wirklichkeit und nicht umgekehrt die Wahrheit unseren Ideen oder Ge­danken anpassen soll, so haben wir die Veränderlichkeit dessen, was recht, heilig und sittlich ist, als natürlich not­wendig und wahr zu erkennen und der Persönlichkeit auch theoretisch die Freiheit zu belassen, welche sie praktisch sich nicht nehmen läßt, anzuerkennen dass sie wie bisher so auch ferner frei ist, das Gesetz nach ihrem Bedürfnis und nicht nach vagen, unreellen und unmöglichen Abstrak­tionen, wie Gerechtigkeit oder Sittlichkeit, zu gestalten. Was ist Gerechtigkeit? Der Inbegriff dessen, was man für recht hält, ein individueller Begriff also, der bei verschiedenen Personen verschiedene Gestalt annimmt. In Wirklichkeit sind nur einzelne, bestimmte, besondere Rechte, und dann kommt der Mensch und zieht aus denselben den Begriff der Gerechtigkeit, wie er sich aus den verschiedenen Hölzern den Begriff des Holzes überhaupt genommen hat oder aus den materiellen Dingen die Idee der Materie. So unwahr, obgleich weit verbreitet die Anschauung ist, dass die materiellen Dinge aus oder mittelst der Materie be­stehen, so unwahr ist der Glaube, als seien die moralischen oder bürgerlichen Gesetze aus der Idee der Gerechtigkeit hervorgegangen.

Der sittliche Verlust, den unsere realistische oder, wenn man will, materialistische Betrachtung der Moral mit­bringt, ist so groß nicht, als er aussieht. Wir dürfen nicht fürchten, deshalb aus sozialen Menschen gesetzlose Kanni­balen oder Einsiedler zu werden. Freiheit und Gesetzlich­keit sind eng verbunden durch das Bedürfnis der Genossen­schaft, um deswillen wir genötigt sind, neben uns auch andere leben zu lassen. Wer sich von seinem Gewissen oder anderen spiritualistisch-sittlichen Motiven von gesetz­widrigen Handlungen – gesetzwidrig im weiteren Sinne des Wortes – abhalten läßt, ist entweder nur sehr schwachen Versuchungen ausgesetzt oder ein derart zahmer Charakter, dass die natürlichen und gesetzlichen Strafen mehr wie ausreichen, ihn in vorgeschriebenen Grenzen zu halten. Wo sie ihren Dienst versagen, ist auch die Moral ein Mittel ohne Kraft; sie müßte sonst im ge­heimen auf den Gläubigen dieselbe Restriktion ausüben, mit welcher die Öffentlichkeit den Ungläubigen zurück­hält, während wir in der Tat mehr gläubige Spitzbuben als ungläubige Räuber finden. Dass die Welt, welche wörtlich soviel sozialen Wert auf die Sittlichkeit legt, tatsächlich von unserer Meinung durchdrungen ist, beweist die größere Aufmerksamkeit, die sie dem code pénal und der Polizei schenkt. Auch gilt unser Kampf nicht der Sittlichkeit, selbst nicht einmal einer bestimmten Form derselben, sondern nur der Arroganz, welche ihre bestimmte Form zur absoluten, zur Sittlichkeit überhaupt macht. Wir erkennen die Sittlichkeit als ewig heilig an, insoweit darunter Rück­sichten zu verstehen sind, welche der Mensch sich selbst und seinen Nebenmenschen zum Zweck gegenseitigen Heils schuldig ist. Aber die Art und Weise, den Grad dieser Berücksichtigung zu bestimmen, gehört zur Freiheit des Individuums. Dass dabei die Macht, die herrschende Klasse oder Majorität ihre speziellen Bedürfnisse als vorgeschrie­benes Recht zur Geltung bringt, ist so notwendig, als dem Menschen das Hemd näher ist als der Rock. Dass aber des­halb das vorgeschriebene Recht für absolutes Recht, für eine unübersteigliche Schranke der Menschheit gehalten sei, deucht uns höchst überflüssig und sogar schädlich für die der Zukunft nötige Energie des Fortschritts.