1. Juni 1913 // Artikel
Amadeo Bordiga // Ein Programm: Das Milieu

Ein Programm: Das Milieu

1. Juni 1913

„Un programma: l’ambiente“: L’Avanguardia, Nr. 289, Juni 1913.


Wir haben lange die Absicht jener bekämpft, die der sozialistischen Jugendbewegung eine kulturelle Orientierung zu geben suchten. Eine solche Orientierung, sagten wir, mag einer demokratischen Schulungsarbeit entsprechen, nicht aber der revolutionären Vorbereitung.

Unser theoretisches Hauptargument ist stets gewesen, dass die politischen Ansichten nicht auf abstrakte Ideen oder philosophische und wissenschaftliche Erkenntnisse zurückgehen, sondern auf das Milieu, in dem man lebt, und auf das, was dieses Milieu unmittelbar erforderlich macht. Das ist unsere materialistische These, so wie Marx sie begriff, die jedweder idealistischen Anschauung entgegen gesetzt ist und vom bürgerlichen und auch nicht-bürgerlichen Revisionismus kaum erschüttert werden konnte. Sie mag nicht von allen Genossen akzeptiert werden, doch wir halten daran fest, dass es daneben keine Möglichkeit gibt, der sozialistischen Haltung und dem sozialistischen Widerstand eine Grundlage zu geben. Wir denken vor allem, dass die Tatsachen sie immer mehr bestätigen werden, wenn man diese jenseits der Fälschungen seitens der bürgerlichen Kultur – ohne intellektualistischen Spielereien zu frönen – zu untersuchen versteht.

Wie jedes soziale Milieu wird das Arbeitermilieu, also das, in dem der Sozialismus spontan aufkommt, von gemeinsamen ökonomischen Interessen bestimmt und begünstigt. Da wir diese Tatsache bestätigt sehen, und sie uns beständig den Weg bei der Lösung der politischen und sozialen Fragen weist, haben wir nie daran gedacht, das Bestehen von „Gefühlen“ zu leugnen, und auch nicht die Existenz von „Idealen“ – verstanden als Bewusstsein eines im Interesse aller zu erreichenden realen Ziels, das in bestimmten Momenten des Kampfes Opfer nötig macht (wir wiederholen das oft, aber ganz bewusst). Ja, wir sehen in der politischen Ansicht eher eine Sache des „Gefühls“ als ein Ergebnis philosophischer und wissenschaftlicher Bildung. Nur wir legen dem sozialistischen Gefühl ökonomische Bedingungen zugrunde, statt geltend zu machen, dass der Sozialismus aufkommt, weil sich aufgrund des „veränderten Gerechtigkeitssinns“ die ökonomische Frage aufdrängt.

Wir glauben nicht – das ist der eigentliche Punkt! –, dass die Fehler, die Schwächen und der Verrat mancher Genossen dem Mangel an Kultur und Bildung zuzuschreiben sind, sondern der Tatsache, sich nach und nach vom sozialistischen Milieu wegbewegt und das sozialistische „Gefühl“ verloren zu haben. An „Bekehrungen“ mögen die Pfaffen glauben – wir nicht. So wird auch der Tatsache, dass die Fehler gerade von Arbeitergruppen, und nicht von bestimmten Arbeitervertretern, begangen wurden, nicht durch die Kultur abzuhelfen sein, wenn nicht dafür gesorgt wird, eine vom sozialistischen Milieu geprägte Atmosphäre in diesen Gruppen zu schaffen.

Die „Kulturisten“ sind besorgt, weil bestimmte Berufszweige nicht mehr sozialistisch im wirklichen Wortsinn sind und den Klassenkampf verraten, sobald sie einige Privilegien errungen haben. Sie möchten dieser beklagenswerten, doch leider folgerichtigen Tatsache mit Hilfe der „Kultur“ Einhalt gebieten. Wir indes denken, dass die Herausbildung solch privilegierter Milieus zu vermeiden ist, indem die Arbeiter mit den anderen Berufszweigen zusammengebracht werden, sie außerhalb ihrer Ortsgruppen tätig sein müssen, um das Verständnis dafür zu fördern, sich nicht nur für die eigene Gewerkschaft einzusetzen, sondern für all ihre von der Bourgeoisie ausgebeuteten Arbeitergenossen. Das aber ist keine Sache der Kultur, sondern der „Bildung des Milieus“. Diese Arbeit ist der Sozialistischen Partei vorbehalten, weshalb wir auch die revolutionäre Aufgabe der Partei viel höher stellen als die der Gewerkschaften,gleich zu welchem Glauben sich die Gewerkschaftssekretäre auch bekennen mögen.

Da nun die „Kulturarbeit“ dem Klassenverrat abhelfen soll, sehen wir uns dieses traurige Phänomen etwas genauer an. Beginnen wir damit, zwischen sozialistischen Arbeitern und sozialistischen „Intellektuellen“ zu unterscheiden.

Der Arbeiter, der anfängt, seine Lage nicht mehr als besondere, sondern als mit den anderen gemeinsame zu begreifen, wird sozialistisch; wir haben schon oft gesagt, dass dies die Folge seiner wirtschaftlich leidvollen Stellung ist, angesichts derer ihn sein Erhaltungsinstinkt nach Abhilfe suchen lässt. Bei diesem Bemühen um Verbesserung seiner Lage erkennt er schließlich, dass das bestehende Wirtschaftssystem bis ins Mark getroffen werden muss, und dafür der Kampf auf das politische Terrain zu verlagern, er also gegen die bestehenden Institutionen zu führen ist.

Derselbe Erhaltungsinstinkt, der ihn auf diesen Weg drängt, hält ihn dann offensichtlich im entscheidenden Augenblick vom revolutionären Handeln ab; aus Furcht davor, zu viel zu riskieren und nichts zu gewinnen, arrangieren sich die Arbeiter schließlich meistens mit den gegebenen Umständen. Steigern jedoch besondere wirtschaftliche Zustände ihre Unrast, werden sie nicht länger zögern und sich in den revolutionären Kampf stürzen.

Die Sozialistische Partei, der es darum zu tun ist, diesen Prozess zu beschleunigen, will nun den Arbeiter von der Notwendigkeit überzeugen, diesen Kampf zu entfalten, dem einzigen Mittel, die soziale Frage im Interesse des Proletariats zu lösen. Der davon fest überzeugte Arbeiter ist ein guter Sozialist. Wie soll also vorgegangen werden, um zu dieser Überzeugung zu kommen? Mit Hilfe der theoretischen Beweisführung, der Kultur? Demnach brauchten wir noch ein paar Jahrhunderte Geduld, um das Proletariat zu „schulen“!

Nein, verdammt, das Mittel der Verbreitung ist nicht die Theorie, sondern das Gefühl – das die physischen Bedürfnisse der Menschen in ihrem Nervensystem spontan widerspiegelt.

Wenn wir die eigennützige Unschlüssigkeit des Arbeiters überwinden wollen, müssen ihm die Lebensumstände aller Seinesgleichen vor Augen geführt werden, muss er in einem Milieu sein, das ihm die

„Klasse“, und deren Zukunft, wahrnehmen lässt. Unter dem Einfluss dieses Milieus läuft er nicht Gefahr, zum Renegaten zu werden. Und das dies nicht an der Kultur liegt, zeigt der Fall der Intellektuellen, die ziemlich leicht „abtrünnig“ werden, obschon sie doch theoretisch beschlagen sind, etwas, was die Arbeiter kaum erreichen können.

Sie kommen aus einem nicht sozialistischen Milieu zu uns, aus Zufall, vielleicht aus Instinkt, meistens aber, weil sie im Milieu, das sie hinter sich lassen, verletzt worden, an „Kanten“ gestoßen sind, doch fast nie in der bewussten Absicht, sich ein politisches Piedestal zu geben, denn dieses kommt erst danach.

Die wahre Überzeugung bildet sich dann im Allgemeinen im Kontakt mit dem Arbeitermilieu, das man mit dem hinter sich gelassenen vergleicht… Auf die Gefahr hin, von Idealisten und Kulturanhängern, von „Philosophie“ oder „Wissenschaft“ Schwärmenden gesteinigt zu werden, sagen wir noch einmal: Die politische Ansicht ist nicht Ergebnis eines Denkvorgangs. Ich kenne so manche, die in der Theorie Sozialisten, und in der Politik Reaktionäre sind. Manchmal mag es auch… umgekehrt sein! Da jedoch beide, der Intellektuelle wie der Arbeiter, oftmals an die politische Überlegenheit der gebildeten Menschen glauben, finden sich letztendlich beide auf verschiedenen Ebenen wieder; der Arbeiter gewöhnt sich daran, im Intellektuellen ein höheres Wesen, mit sehr viel größeren Handlungsmöglichkeiten, zu sehen… er macht schließlich ein Idol aus ihm, der dann auch nicht mehr zum Arbeitermilieu passt. Und so beginnt die nächste Entwicklungsstufe der sozialistischen Bourgeois, die von der bürgerlichen Gesellschaft wieder integriert werden. Es ist ein fast zwangsläufiger Prozess: Das Proletariat bringt einige revolutionäre, fortschrittliche, Individuen aus der bürgerlichen Klasse auf seine Seite und nutzt sie für seine Sache, solange die Bourgeoisie sie nicht wieder in ihre Reihen ziehen kann. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen, das dem Sozialismus keinen großen Schaden zufügen würde, wenn jene Intellektuellen, die sich wieder von ihm abwenden, nicht eine persönliche Gefolgschaft von Arbeitern hinter sich gebracht hätten. Der Feind, den wir in diesem Phänomen vor uns haben, der Urheber der Abtrünnigkeit von Arbeitern und Nicht-Arbeitern aus unseren Reihen ist immer derselbe: der „Individualismus“. Er ist das Abbild des bürgerlichen Gesellschaftsmilieus, dessen Ursprung in der ökonomischen Ordnung des Privateigentums und der Konkurrenz liegt. Er ist ein Feind gegen den wir kämpfen müssen. Niedergerungen sein wird er erst, wenn die kommunistische Ordnung begründet wird, doch wir müssen ihn bereits heute angreifen.

Das ganze bürgerliche Milieu führt zum Individualismus. Unser sozialistischer, anti-bürgerlicher Kampf, unsere revolutionäre Vorbereitung müssen sich darauf richten, die Grundlagen des neuen Milie-uszu schaffen.

Das also ist es, worin wir ein ganzes Programm der Jugendbewegung sehen: Die Ausbildung des Charakters dem ausschließlichen Einfluss der gegenwärtigen Gesellschaft zu entziehen; zusammen zu sein, wir jungen Arbeiter und Nicht-Arbeiter, wobei wir eine andere und bessere Luft atmen; die Brücken abzubrechen, die uns mit dem nicht-sozialistischen Milieu verbinden; die Verbindungen zu kappen, durch die das Gift des Egoismus, der Konkurrenz, in unser Blut gelangen; mit einem Wort, diese niederträchtige Gesellschaft zu sabotieren, revolutionäre Oasen zu schaffen, die eines Tages fähig sein werden, sie zu stürmen, und Minen zu vergraben, die fähig sein werden, sie in ihren Grundfesten zu erschüttern…

Doch der Artikel ist bereits zu lang geworden, um zum „konkreten“ Teil zu kommen. Wir werden ein anderes Mal darauf zurückkommen.