Rede in der chinesischen Kommission des EKKI
30. November 1926
Zeitschrift „Kommunistitscheski Internazional” (Die Kommunistische Internationale) Nr. 13 (71), 10. Dezember 1926.
Quelle: J. W. Stalin – Gesammelte Werke, Band 8
Genossen! Bevor ich zur Frage selbst komme, halte ich es für notwendig, zu erklären, dass das Material zur chinesischen Frage, das mir zur Verfügung steht, nicht erschöpfend genug ist, um ein vollständiges Bild der Revolution in China entrollen zu können. Daher sehe ich mich gezwungen, mich auf einige allgemeine Bemerkungen prinzipiellen Charakters zu beschränken, die mit der Frage nach der Hauptrichtung der chinesischen Revolution in direktem Zusammenhang stehen.
Mir stehen die Thesen Petrows, die Thesen Mifs, zwei Referate Tan Ping-schans und die Bemerkungen von Rafes zur chinesischen Frage zur Verfügung. Ich glaube, dass alle diese Dokumente trotz ihrer Vorzüge mit dem einen großen Mangel behaftet sind, dass sie nämlich eine ganze Reihe grundlegender Fragen der Revolution in China umgehen. Ich glaube, dass man das Augenmerk vor allem auf diese Mängel richten muss. Daher werden meine Bemerkungen zugleich kritischen Charakter tragen.
I. Der Charakter der Revolution in China
Lenin sagte, dass für die Chinesen bald ihr Jahr 1905 kommen wird. Manche Genossen haben das so aufgefasst, als ob sich bei den Chinesen haargenau das gleiche wiederholen müsse, was sich bei uns in Rußland im Jahre 1905 abgespielt hat. Das ist falsch, Genossen. Lenin hat keineswegs gesagt, dass die chinesische Revolution eine Kopie der russischen Revolution von 1905 sein werde. Lenin hat lediglich gesagt, dass für die Chinesen ihr Jahr 1905 kommen wird. Das bedeutet, dass die chinesische Revolution außer den mit der Revolution des Jahres 1905 gemeinsamen Zügen noch ihre eigenen spezifischen Besonderheiten aufweisen wird, die der Revolution in China ihr besonderes Gepräge geben werden.
Was sind das für Besonderheiten?
Die erste Besonderheit besteht darin, dass die chinesische Revolution, die eine bürgerlich-demokratische Revolution ist, zugleich auch eine nationale Befreiungsrevolution ist, die mit ihrer Spitze gegen die Herrschaft des fremdländischen Imperialismus in China gerichtet ist. Dadurch unterscheidet sie sich vor allem von der Revolution in Rußland im Jahre 1905. Die Sache ist die, dass die Herrschaft des Imperialismus in China nicht nur in seiner militärischen Macht zum Ausdruck kommt, sondern vor allem darin, dass die Hauptfäden der Industrie in China, die Eisenbahnen, die Fabriken und Werke, die Bergwerke, die Banken usw., sich in der Verfügungsgewalt oder unter der Kontrolle der fremdländischen Imperialisten befinden. Hieraus folgt aber, dass die Fragen des Kampfes gegen den fremdländischen Imperialismus und seine chinesischen Agenten eine bedeutsame Rolle in der chinesischen Revolution spielen müssen. Dadurch wird die chinesische Revolution unmittelbar mit den Revolutionen der Proletarier aller Länder gegen den Imperialismus verknüpft.
Die zweite Besonderheit der chinesischen Revolution besteht darin, dass die nationale Großbourgeoisie in China äußerst schwach ist, dass sie unvergleichlich schwächer ist als die russische Bourgeoisie der Periode von 1905. Das ist auch verständlich. Wenn die Hauptfäden der Industrie in den Händen fremdländischer Imperialisten zusammenlaufen, so kann die nationale Großbourgeoisie in China nicht anders als schwach und rückständig sein. In dieser Hinsicht ist Mifs Bemerkung über die Schwäche der nationalen Bourgeoisie in China als eins der charakteristischen Kennzeichen der chinesischen Revolution völlig richtig. Daraus folgt jedoch, dass die Rolle des Initiators und Führers der chinesischen Revolution, die Rolle des Führers der chinesischen Bauernschaft, unvermeidlich dem chinesischen Proletariat und seiner Partei zufallen muss.
Auch die dritte Besonderheit der chinesischen Revolution darf nicht übersehen werden, die darin besteht, dass neben China die Sowjetunion existiert und sich entwickelt, deren revolutionäre Erfahrungen und deren Hilfe den Kampf des chinesischen Proletariats gegen den Imperialismus und gegen die mittelalterlich-feudalen Überreste in China erleichtern müssen.
Das sind die grundlegenden Besonderheiten der chinesischen Revolution, die ihren Charakter und ihre Richtung bestimmen.
II. Der Imperialismus und die imperialistische Intervention in China
Der erste Mangel der unterbreiteten Thesen besteht darin, dass sie die Frage der imperialistischen Intervention in China umgehen oder unterschätzen. Wenn man die Thesen aufmerksam liest, könnte man meinen, im Grunde genommen finde in China gegenwärtig gar keine imperialistische Intervention statt, sondern lediglich ein Kampf der Bewohner des Nordens gegen die Bewohner des Südens beziehungsweise einer Gruppe von Generalen gegen eine andere Gruppe von Generalen. Dabei ist man geneigt, unter Intervention einen Zustand zu verstehen, wo die Tatsache vorliegt, dass fremdländische Truppen in chinesisches Gebiet einmarschieren, und wenn diese Tatsache nicht vorliegt, so handle es sich auch nicht um eine Intervention.
Das ist ein schwerer Irrtum, Genossen. Eine Intervention erschöpft sich keineswegs mit dem Einmarsch von Truppen, und der Einmarsch von Truppen stellt keineswegs die wesentliche Besonderheit der Intervention dar. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen der revolutionären Bewegung in den kapitalistischen Ländern, da ein direkter Einmarsch fremdländischer Truppen eine Reihe von Protesten und Konflikten hervorrufen kann, trägt die Intervention elastischeren Charakter und nimmt verkapptere Form an. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen zieht es der Imperialismus vor, durch Organisierung eines Bürgerkriegs im Innern des abhängigen Landes zu intervenieren, durch Finanzierung der konterrevolutionären Kräfte gegen die Revolution, durch moralische und finanzielle Unterstützung seiner chinesischen Agenten gegen die Revolution. Den Kampf Denikins und Koltschaks, Judenitschs und Wrangels gegen die Revolution in Rußland wollten die Imperialisten als einen ausschließlich inneren Kampf hinstellen. Aber wir alle wussten, und nicht nur wir, sondern die ganze Welt wusste, dass hinter diesen konterrevolutionären russischen Generalen die Imperialisten Englands und Amerikas, Frankreichs und Japans standen, ohne deren Unterstützung ein ernsthafter Bürgerkrieg in Rußland ganz unmöglich gewesen wäre. Dasselbe gilt auch für China. Der Kampf Wu Pei-fus und Sun Tschuan-fangs, Tschang Tsolins und Tschang Tsun-tschans gegen die Revolution in China wäre einfach unmöglich, wenn diese konterrevolutionären Generale nicht von den Imperialisten aller Länder inspiriert, wenn sie nicht von ihnen mit Geld, Waffen, Instrukteuren, „Beratern” usw. versorgt würden.
Worin besteht die Stärke der Kantoner Truppen? Darin, dass sie in ihrem Kampf um die Befreiung vom Imperialismus von einer Idee, von Pathos beseelt sind, darin, dass sie China die Befreiung bringen. Worin besteht die Stärke der konterrevolutionären Generale in China? Darin, dass die Imperialisten aller Länder, die Besitzer von Eisenbahnen, Konzessionen, Fabriken und Werken, Banken und Handelshäusern in China, hinter ihnen stehen.
Daher kommt es nicht allein, oder nicht einmal so sehr auf den Einmarsch fremdländischer Truppen an, sondern auf die Unterstützung, die die Imperialisten aller Länder der Konterrevolution in China zuteil werden lassen. Eine Intervention mit fremden Händen – das ist jetzt das Wesen der imperialistischen Intervention.
Daher ist die imperialistische Intervention in China eine unbestreitbare Tatsache, gegen die auch die chinesische Revolution mit ihrer Spitze gerichtet ist.
Wer daher die Tatsache der imperialistischen Intervention in China umgeht oder unterschätzt, der umgeht oder unterschätzt das Wichtigste und Wesentlichste in China.
Man sagt, es seien gewisse Anzeichen dafür vorhanden, dass die japanischen Imperialisten den Kantonern und der chinesischen Revolution überhaupt „Wohlwollen” entgegenbringen. Man sagt, dass die amerikanischen Imperialisten in dieser Hinsicht den japanischen nicht nachstehen. Das ist Selbstbetrug, Genossen. Man muss verstehen, zwischen dem Wesen der Politik der Imperialisten, darunter auch der japanisch-amerikanischen, und der Maskierung dieser Politik zu unterscheiden. Lenin hat des Öfteren gesagt, dass man Revolutionären mit dem Knüppel, mit der Faust schwer beikommen kann, dass sie aber mitunter auf Liebenswürdigkeiten sehr leicht hereinfallen. Diese von Lenin ausgesprochene Wahrheit sollte man nie vergessen, Genossen. Jedenfalls ist klar, dass die japanisch-amerikanischen Imperialisten die Bedeutung dieser Wahrheit recht gut kapiert haben. Daher muss man streng unterscheiden zwischen Liebenswürdigkeiten sowie Komplimenten an die Adresse der Kantoner und der Tatsache, dass gerade die Imperialisten, die am freigebigsten mit Liebenswürdigkeiten sind, sich am zähesten an „ihre” Konzessionen und Eisenbahnen in China klammern, die sie um keinen Preis aufzugeben gewillt sind.
III. Die revolutionäre Armee in China
Die zweite Bemerkung zu den unterbreiteten Thesen betrifft die Frage der revolutionären Armee in China. Die Sache ist die, dass die Frage der Armee in den Thesen umgangen wurde oder unterschätzt wird. (Zwischenruf: „Richtig!”) Darin liegt der zweite Mangel der Thesen. Das Vordringen der Kantoner nach Norden wird gewöhnlich nicht als weitere Entfaltung der chinesischen Revolution betrachtet, sondern als Kampf der Kanton-Generale gegen Wu Pei-fu und Sun Tschuan-fang, als Kampf um die Vorherrschaft der einen Generale gegenüber den anderen Generalen. Das ist ein schwerer Irrtum, Genossen. Die revolutionären Armeen in China bilden den wichtigsten Faktor im Kampf der chinesischen Arbeiter und Bauern um ihre Befreiung. Ist es etwa ein Zufall, dass die Situation in China bis Mai oder Juni dieses Jahres als Herrschaft der Reaktion gewertet wurde, die nach der Niederlage der Armeen Feng Yu-hsiangs einsetzte, dass aber dann, im Sommer dieses Jahres, die siegreichen Kantoner Truppen nur nach dem Norden vorzudringen und Hupe zu besetzen brauchten, und schon änderte sich das Bild von Grund aus zugunsten der Revolution? Nein, das ist kein Zufall. Denn das Vordringen der Kantoner bedeutet einen Schlag gegen den Imperialismus, einen Schlag gegen seine Agenten in China, es bedeutet Versammlungsfreiheit, Streikfreiheit, Pressefreiheit, Freiheit der Organisierung für alle revolutionären Elemente in China überhaupt und für die Arbeiter im besonderen. Darin liegen die Besonderheit und die gewaltige Bedeutung der revolutionären Armee in China.
Früher, im 18. und 19. Jahrhundert, begannen die Revolutionen gewöhnlich so, dass das Volk, größtenteils unbewaffnet oder schlecht bewaffnet, sich erhob und mit der Armee des alten Regimes zusammenstieß, einer Armee, die es zu zersetzen oder wenigstens teilweise auf seine Seite herüberzuziehen versuchte. Das ist die typische Form der revolutionären Explosionen in der Vergangenheit. Dasselbe spielte sich auch bei uns in Rußland im Jahre 1905 ab. In China haben die Dinge einen anderen Verlauf genommen. In China steht den Truppen der alten Regierung kein unbewaffnetes Volk gegenüber, sondern ein bewaffnetes Volk, vertreten durch seine revolutionäre Armee. In China kämpft die bewaffnete Revolution gegen die bewaffnete Konterrevolution. Das ist eine der Besonderheiten und einer der Vorzüge der chinesischen Revolution. Darin liegt eben auch die besondere Bedeutung der revolutionären Armee in China.
Daher ist die Unterschätzung der revolutionären Armee ein nicht zu duldender Mangel der unterbreiteten Thesen.
Daraus aber folgt, dass die Kommunisten Chinas der Arbeit in der Armee besondere Aufmerksamkeit zuwenden müssen.
Erstens müssen die Kommunisten Chinas die politische Arbeit in der Armee auf jede Weise verstärken und erreichen, dass die Armee zum wirklichen und mustergültigen Träger der Idee der chinesischen Revolution wird. Das ist besonders deshalb notwendig, weil sich den Kantonern jetzt alle möglichen Generale zugesellen, die mit der Kuomintang nichts gemein haben, die sich ihnen als der Kraft zugesellen, die die Feinde des chinesischen Volkes zerschmettert, und die, indem sie sich den Kantonern zugesellen, Zersetzung in die Armee tragen. Man kann solche „Bundesgenossen” nur neutralisieren oder zu wirklichen Kuomintanganhängern machen, wenn man die politische Arbeit verstärkt und eine revolutionäre Kontrolle über sie organisiert. Ohne das kann die Armee in die schwierigste Lage geraten.
Zweitens müssen die chinesischen Revolutionäre, darunter auch die Kommunisten, unmittelbar darangehen, das Kriegswesen zu studieren. Sie dürfen das Kriegswesen nicht als etwas Untergeordnetes betrachten, denn das Kriegswesen in China bildet jetzt den wichtigsten Faktor der chinesischen Revolution. Die chinesischen Revolutionäre, also auch die Kommunisten, müssen das Kriegswesen studieren, um allmählich aufzurücken und in der revolutionären Armee diese oder jene führenden Posten bekleiden zu können. Darin liegt die Gewähr dafür, dass die revolutionäre Armee in China den richtigen Weg geht, dass sie direkt zum Ziele schreiten wird. Ohne das können Schwanken und Wanken in der Armee unvermeidlich werden.
IV. Der Charakter der zukünftigen Macht in China
Die dritte Bemerkung bezieht sich darauf, dass die Frage nach dem Charakter der zukünftigen revolutionären Macht in China in den Thesen nicht oder nicht genügend berücksichtigt worden ist. Mif ist in seinen Thesen dicht an diese Frage herangekommen, und das ist sein Verdienst. Aber nachdem er einmal dicht herangekommen war, bekam er es mit der Angst zu tun und traute sich nicht, die Sache zu Ende zu führen. Mif glaubt, die zukünftige revolutionäre Macht in China werde eine Macht des revolutionären Kleinbürgertums unter Führung des Proletariats sein. Was bedeutet das? Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre waren zur Zeit der Februarrevolution 1917 ebenfalls kleinbürgerliche Parteien und in gewissem Grade revolutionär. Bedeutet dies, dass die zukünftige revolutionäre Macht in China eine sozialrevolutionär-menschewistische Macht sein wird? Nein, das bedeutet es nicht. Warum? Weil die sozialrevolutionär-menschewistische Macht dem Wesen der Sache nach eine imperialistische Macht war, während die zukünftige revolutionäre Macht in China nichts anderes als eine antiimperialistische Macht sein kann. Hier besteht ein grundlegender Unterschied.
Die MacDonald-Regierung war sogar eine „Arbeiter“macht, aber sie war zugleich eine imperialistische Regierung, denn sie beruhte auf der Aufrechterhaltung der imperialistischen Macht Englands, sagen wir, in Indien und Ägypten. Die zukünftige revolutionäre Macht in China wird gegenüber der MacDonald-Regierung den Vorzug haben, dass sie eine antiimperialistische Macht sein wird.
Es handelt sich nicht nur um den bürgerlich-demokratischen Charakter der Kantoner Regierung, die den Keim der zukünftigen allchinesischen revolutionären Macht bildet, sondern es handelt sich vor allem darum, dass diese Macht eine antiimperialistische Macht ist und gar nichts anderes sein kann, dass jedes weitere Vordringen dieser Macht einen Schlag gegen den Weltimperialismus bedeutet, folglich auch einen Schlag zugunsten der internationalen revolutionären Bewegung.
Lenin hatte recht, als er sagte, dass, wenn früher, vor Anbruch der Epoche der Weltrevolution, die nationale Befreiungsbewegung ein Teil der allgemeindemokratischen Bewegung war, die nationale Befreiungsbewegung jetzt, nach dem Siege der Sowjetrevolution in Rußland und nach Anbruch der Epoche der Weltrevolution, ein Teil der proletarischen Weltrevolution ist.
Diese Besonderheit hat Mif nicht berücksichtigt.
Ich glaube, dass die zukünftige revolutionäre Macht in China ihrem Charakter nach im Allgemeinen der Macht ähneln wird, von der bei uns im Jahre 1905 die Rede war, das heißt, sie wird eine Art demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft sein, mit dem Unterschied jedoch, dass sie eine vorwiegend antiimperialistische Macht sein wird.
Sie wird eine Übergangsmacht sein, die zur nichtkapitalistischen oder, genauer gesagt, zur sozialistischen Entwicklung Chinas hinüberleitet.
In dieser Richtung muss die Revolution in China verlaufen.
Dieser Entwicklungsweg der Revolution wird durch drei Umstände erleichtert:
erstens dadurch, dass die Revolution in China als nationale Befreiungsrevolution mit ihrer Spitze gegen den Imperialismus und seine Agenten in China gerichtet sein wird;
zweitens dadurch, dass die nationale Großbourgeoisie in China schwach ist, schwächer, als die nationale Bourgeoisie in Rußland in der Periode von 1905 war, was die Sache der Hegemonie des Proletariats, die Sache der Führung der chinesischen Bauernschaft durch die proletarische Partei erleichtert;
drittens dadurch, dass die Revolution in China sich unter Verhältnissen entwickeln wird, die es ermöglichen, die Erfahrungen und die Hilfe der siegreichen Revolution in der Sowjetunion auszunützen.
Ob dieser Weg ganz bestimmt und unbedingt zum Siege führen wird – das hängt von vielen Umständen ab. Eins ist jedenfalls klar, dass der Kampf gerade für diesen Weg der Entwicklung der chinesischen Revolution die Hauptaufgabe der chinesischen Kommunisten ist.
Daraus ergibt sich die Aufgabe der Kommunisten Chinas hinsichtlich der Stellung zur Kuomintang und zur zukünftigen revolutionären Macht in China. Man sagt, die chinesischen Kommunisten müssten aus der Kuomintang austreten. Das wäre falsch, Genossen. Der Austritt der chinesischen Kommunisten aus der Kuomintang wäre gegenwärtig der größte Fehler. Der ganze Verlauf der chinesischen Revolution, ihr Charakter, ihre Perspektiven sprechen eindeutig dafür, dass die chinesischen Kommunisten in der Kuomintang verbleiben und dort ihre Arbeit verstärken müssen.
Kann aber die chinesische Kommunistische Partei an der zukünftigen revolutionären Regierung teilnehmen? Sie kann nicht nur, sie muss sogar an ihr teilnehmen. Der Verlauf der Revolution in China, ihr Charakter, ihre Perspektiven sprechen beredt dafür, dass sich die chinesische Kommunistische Partei an der zukünftigen revolutionären Regierung Chinas beteiligen muss.
Das ist eine der Garantien, die notwendig sind, damit die Hegemonie des chinesischen Proletariats in der Tat verwirklicht wird.
V. Die Bauernfrage in China
Die vierte Bemerkung betrifft die Frage der Bauernschaft in China. Mif glaubt, dass man sofort die Losung der Bildung von Sowjets, und zwar von Bauernsowjets im chinesischen Dorf aufstellen müsse. Ich denke, das ist ein Fehler. Mif eilt voraus. Man kann auf dem flachen Lande keine Sowjets ins Leben rufen und die Industriezentren Chinas dabei umgehen. Indes steht die Frage der Organisierung von Sowjets in den Industriezentren Chinas jetzt nicht auf der Tagesordnung. Außerdem darf nicht außer acht gelassen werden, dass die Sowjets nicht außerhalb des Zusammenhangs mit der Gesamtsituation betrachtet werden dürfen. Sowjets, in diesem Fall Bauernsowjets, könnten nur dann organisiert werden, wenn China eine Periode des maximalen Aufschwungs der Bauernbewegung durchmachte, die das Alte zerbricht und eine neue Macht schafft, und unter der Voraussetzung, dass die Industriezentren Chinas den Damm bereits durchbrochen haben und in die Phase der Bildung der Sowjetmacht eingetreten sind. Kann man sagen, dass die chinesische Bauernschaft und die chinesische Revolution überhaupt in diese Phase bereits eingetreten sind? Nein, das kann man nicht. Jetzt von Sowjets sprechen heißt daher vorauseilen. Daher muss man jetzt nicht die Frage der Bildung von Sowjets, sondern die Frage der Bildung von Bauernkomitees stellen. Ich meine von den Bauern gewählte Bauernkomitees, die imstande sind, die Grundforderungen der Bauernschaft zu formulieren, und die alle Maßnahmen ergreifen werden, um die Verwirklichung dieser Forderungen auf revolutionäre Weise durchzusetzen. Diese Bauernkomitees müssen den Kern bilden, um die sich die Revolution im Dorfe entfalten wird.
Ich weiß, dass es unter den Kuomintangleuten und selbst unter den chinesischen Kommunisten Leute gibt, die eine Entfaltung der Revolution im Dorfe nicht für möglich halten, da sie befürchten, dass die Hereinziehung der Bauernschaft in die Revolution die antiimperialistische Einheitsfront untergraben werde. Das ist ein gewaltiger Irrtum, Genossen. Die antiimperialistische Front in China wird umso stärker und mächtiger sein, je schneller und gründlicher die chinesische Bauernschaft in die Revolution hineingezogen wird. Die Verfasser der Thesen, besonders aber Tan Ping-schan und Rafes haben völlig Recht, wenn sie behaupten, dass die sofortige Befriedigung einer Reihe der dringendsten Forderungen der Bauern die unerlässliche Voraussetzung für den Sieg der chinesischen Revolution ist. Ich denke, dass es an der Zeit ist, mit jener Trägheit und „Neutralität” gegenüber der Bauernschaft aufzuräumen, die in der Tätigkeit gewisser Kuomintangelemente zu beobachten sind. Ich denke, dass sowohl die Kommunistische Partei Chinas als auch die Kuomintang, also auch die Kantoner Regierung, unverzüglich von Worten zu Taten übergehen und die Frage der sofortigen Befriedigung der lebenswichtigsten Forderungen der Bauernschaft stellen müssen.
Welche Perspektiven sich in dieser Hinsicht eröffnen und bis zu welcher Grenze man gehen kann und soll – das hängt vom Verlauf der Revolution ab. Ich denke, dass man letzten Endes auf die Nationalisierung des Grund und Bodens hinsteuern muss. Jedenfalls können wir auf eine Losung, wie die Losung der Nationalisierung des Grund und Bodens, nicht ein für allemal verzichten.
Welche Wege und Bahnen haben die chinesischen Revolutionäre einzuschlagen, um die Millionenmassen der Bauernschaft Chinas für die Revolution zu mobilisieren?
Ich denke, dass man unter den gegebenen Verhältnissen nur von drei Wegen sprechen kann.
Der erste Weg – das ist der Weg der Bildung von Bauernkomitees und des Eindringens der chinesischen Revolutionäre in diese Komitees, um auf die Bauernschaft einzuwirken. (Zwischenruf: „Und die Bauernbünde?”) Ich glaube, dass sich die Bauernbünde um die Bauernkomitees gruppieren oder dass die Bauernbünde sich in Bauernkomitees verwandeln werden, die mit diesen oder jenen für die Durchsetzung der bäuerlichen Forderungen notwendigen Machtbefugnissen ausgestattet sind. Über diesen Weg habe ich bereits gesprochen. Aber dieser Weg genügt nicht. Es wäre lächerlich, wollte man glauben, dass es hierfür in China genügend Revolutionäre gäbe. China hat eine Bevölkerung von rund 400 Millionen. Davon sind etwa 350 Millionen Chinesen. Davon sind mehr als neun Zehntel Bauern. Wer da glaubt, einige Zehntausende chinesische Revolutionäre könnten diesen Ozean der Bauernschaft ausschöpfen, der befindet sich in einem Irrtum. Also müssen noch andere Wege eingeschlagen werden.
Der zweite Weg – das ist der Weg der Einwirkung auf die Bauernschaft durch den Apparat der neuen revolutionären Volksmacht. Es steht außer Zweifel, dass sich in den neuen befreiten Provinzen eine neue Macht nach dem Muster der Kantoner Regierung bilden wird. Es steht außer Zweifel, dass diese Macht und der Apparat dieser Macht, wenn sie die Revolution wirklich vorantreiben wollen, auf die Befriedigung der dringlichsten Forderungen der Bauernschaft werden bedacht sein müssen. Die Aufgabe der Kommunisten und der Revolutionäre Chinas überhaupt besteht nun darin, in den Apparat der neuen Macht einzudringen, diesen Apparat den Bauernmassen näher zu bringen und den Bauernmassen zu helfen, mit Hilfe dieses Apparats ihre dringendsten Forderungen zu befriedigen, sei es durch Wegnahme der Ländereien der Gutsbesitzer, sei es durch Herabsetzung der Steuern und des Pachtzinses – je nach den Umständen.
Der dritte Weg ist der Weg der Einwirkung auf die Bauernschaft durch die revolutionäre Armee. Ich habe schon von der gewaltigen Bedeutung gesprochen, die der revolutionären Armee in der chinesischen Revolution zukommt. Die revolutionäre Armee Chinas ist die Kraft, die als erste in die neuen Provinzen eindringt, die als erste mit den breitesten Massen der Bauernschaft in Berührung kommt und aus deren Verhalten der Bauer vor allem Rückschlüsse zieht auf die neue Macht, auf ihre schlechten beziehungsweise guten Eigenschaften. Von der Haltung der revolutionären Armee, von ihrem Verhalten gegenüber der Bauernschaft und gegenüber den Gutsbesitzern, von ihrer Bereitschaft, den Bauern zu helfen, hängt vor allem ab, wie sich die Bauernschaft zur neuen Macht, zur Kuomintang und zur Revolution in China überhaupt stellt. Wenn man berücksichtigt, dass sich nicht wenige zweifelhafte Elemente der revolutionären Armee Chinas angebiedert haben, dass diese Elemente die Physiognomie der Armee verschlechtern können, dann kann man verstehen, welch große Bedeutung die politische Physiognomie der Armee und, ich möchte sagen, ihre Bauernpolitik in den Augen der Bauernschaft haben. Daher müssen die Kommunisten Chinas und überhaupt die Revolutionäre Chinas alle Maßnahmen treffen, um die bauernfeindlichen Elemente der Armee zu neutralisieren, der Armee ihren revolutionären Geist zu bewahren und dafür zu sorgen, dass die Armee den Bauern hilft und sie für die Revolution mobilisiert.
Man sagt, dass die revolutionäre Armee in China mit offenen Armen empfangen wird, dass aber später, wenn die Armee Quartier bezogen hat, eine gewisse Enttäuschung eintritt. Dasselbe war auch bei uns in der Sowjetunion während des Bürgerkriegs der Fall. Das erklärt sich daraus, dass die Armee, wenn sie neue Provinzen befreit und dort Quartier bezieht, gezwungen ist, sich so oder so auf Kosten der dort wohnenden Bevölkerung zu verpflegen. Uns sowjetischen Revolutionären gelang es gewöhnlich, dieses Minus dadurch auszugleichen, das wir bemüht waren, die Bauern mit Hilfe der Armee gegen die Gutsbesitzerelemente zu unterstützen. Auch die chinesischen Revolutionäre müssen lernen, dieses Minus dadurch auszugleichen, dass sie mit Hilfe der Armee eine richtige Bauernpolitik durchführen.
VI. Das Proletariat und die Hegemonie des Proletariats in China
Die fünfte Bemerkung betrifft die Frage des chinesischen Proletariats. Ich denke, dass in den Thesen die Rolle und die Bedeutung der Arbeiterklasse Chinas nicht genügend hervorgehoben werden. Rafes fragt: Auf wen sollen sich die chinesischen Kommunisten orientieren – auf die Linken oder auf das Zentrum der Kuomintang? Sonderbare Frage. Ich denke, die chinesischen Kommunisten müssen sich vor allem auf das Proletariat orientieren und müssen die Führer der Befreiungsbewegung in China auf die Revolution orientieren. Nur dann wird die Frage richtig gestellt sein. Ich weiß, dass es unter den chinesischen Kommunisten Genossen gibt, die die Streiks der Arbeiter für die Verbesserung ihrer materiellen und rechtlichen Lage als unerwünscht ansehen und den Arbeitern abraten, in den Streik zu treten. (Zuruf: „Das war in Kanton und Schanghai der Fall.”) Das ist ein großer Fehler, Genossen. Das ist eine schwerwiegende Unterschätzung der Rolle und des spezifischen Gewichts des Proletariats in China. Das muss in den Thesen als unbedingt negative Erscheinung festgehalten werden. Es wäre ein großer Fehler, wenn die chinesischen Kommunisten die gegenwärtige günstige Situation nicht dazu benutzen würden, um den Arbeitern zu helfen, ihre materielle und rechtliche Lage zu verbessern, und sei es auch durch Streiks. Wozu haben wir denn eine Revolution in China? Ein Proletariat, dessen Söhne bei Streiks von den Agenten des Imperialismus gepeitscht und gefoltert werden, kann nicht die führende Kraft sein. Dieses mittelalterliche Übel muss um jeden Preis ausgerottet werden, um unter den Proletariern Chinas das Kraftgefühl und das Gefühl der eigenen Würde zu entwickeln und sie zur Führung der revolutionären Bewegung zu befähigen. Ohne das ist an einen Sieg der Revolution in China gar nicht zu denken. Daher muss den wirtschaftlichen und rechtlichen Forderungen der Arbeiterklasse Chinas, die auf eine ernstliche Verbesserung ihrer Lage abzielen, in den Thesen ein gebührender Platz eingeräumt werden. (Zuruf: „Davon ist in den Thesen die Rede.”) Ja, davon ist in den Thesen die Rede, aber leider sind diese Forderungen nicht nachdrücklich genug gestellt.
VII. Die Frage der Jugen in China
Die sechste Bemerkung betrifft die Frage der Jugend in China. Es ist sonderbar, dass diese Frage in den Thesen nicht berücksichtigt worden ist. Indes ist die Frage der Jugend in China jetzt von außerordentlich großer Bedeutung. In den Referaten Tan Ping-schans wurde diese Frage behandelt, aber leider nicht mit genügendem Nachdruck. Die Frage der Jugend ist jetzt in China von erstrangiger Bedeutung. Die studierende Jugend (die revolutionären Studenten), die Arbeiterjugend, die Bauernjugend – sie alle stellen eine Kraft dar, die, wenn man sie unter den ideologischen und politischen Einfluss der Kuomintang (Anmerkung. Unter den damaligen Bedingungen war eine solche Politik richtig, da die Kuomintang damals einen Block der Kommunisten und der mehr oder minder linken Vertreter der Kuomintang darstellte, der eine antiimperialistische revolutionäre Politik durchführte. Späterhin wurde diese Politik aufgegeben, da sie nicht mehr den Interessen der chinesischen Revolution entsprach, weil die Kuomintang der Revolution den Rücken kehrte und später zum Zentrum des Kampfes gegen die Revolution wurde; die Kommunisten brachen mit der Kuomintang und traten aus ihr aus.) bringt, bewirken könnte, dass die Revolution in Siebenmeilenstiefeln voranschreitet. Es darf nicht außer acht gelassen werden, dass niemand das imperialistische Joch so gründlich und so lebhaft verspürt und dass niemand die Notwendigkeit des Kampfes gegen dieses Joch so brennend und so schmerzlich empfindet wie die Jugend in China. Dieser Umstand muss von der chinesischen Kommunistischen Partei und den chinesischen Revolutionären weitgehendst berücksichtigt werden im Sinne einer weitgehendsten Verstärkung der Arbeit unter der Jugend. Die Jugend muss in den Thesen zur chinesischen Frage ihren Platz finden.
VIII. Einige Schlussfolgerungen
Ich möchte einige Schlussfolgerungen ziehen – hinsichtlich des Kampfes gegen den Imperialismus in China und hinsichtlich der Bauernfrage.
Es steht außer Zweifel, dass die chinesische Kommunistische Partei sich jetzt nicht auf die Forderung nach Annullierung der ungleichen Verträge beschränken kann. Für diese Forderung ist jetzt sogar ein solcher Konterrevolutionär wie Tschang Hsüe-liang. Es liegt auf der Hand, dass die chinesische Kommunistische Partei weitergehen muss.
Ferner muss als Perspektive die Frage der Nationalisierung der Eisenbahnen gestellt werden. Das ist notwendig, und darauf muss man hinsteuern.
Ferner muss die Perspektive der Nationalisierung der wichtigsten Fabriken und Werke ins Auge gefasst werden. Dabei erhebt sich vor allem die Frage der Nationalisierung der Unternehmungen, deren Besitzer durch besondere Feindseligkeit und besondere Aggressivität gegenüber dem chinesischen Volke hervortreten. Sodann muss die Bauernfrage vorangebracht und mit der Perspektive der Revolution in China verbunden werden. Ich denke, dass man letzten Endes auf die Enteignung der Gutsbesitzerländereien zugunsten der Bauern und auf die Nationalisierung des Grund und Bodens hinsteuern muss.
Alles Übrige versteht sich von selbst.
Das, Genossen, sind all die Bemerkungen, die ich machen wollte.