1892 // Broschüren
Hermann Teistler // Der Parlamentarismus und die Arbeiterklasse

Der Parlamentarismus und die Arbeiterklasse

1892

Als Broschüre 1892 im Verlag „Der Sozialist“ (Berlin) erschienen.
Die Rechtschreibung wurde modernisert.


Vorwort

Seit Beginn der sozialdemokratischen Bewegung bildete der Parlamentarismus ein stehendes Thema in den Erörterungen der Partei. Auf Kongressen, in den Versammlungen, in der Presse usw. wurde die Frage immer von neuem ventiliert. Man war sich darüber einig, dass der Parlamentarischen Tätigkeit bestimmte Grenzen zu ziehen seien. Schritt für Schritt näherte sich indessen die Parteimehrheit dem praktisch-reformerischen Standpunkte. Nach den erfolgreichen Februarwahlen von 1890 wurde die positive Mitarbeit zu endgültigen Grundlage der sozialdemokratischen Parlamentstätigkeit. Man hielt jetzt die Frage für erledigt, die Erörterung des Themas für erschöpft. Auf den folgenden Kongressen wurde die praktische Mitarbeit sanktioniert. Und damit war die Sache für die Parteimehrheit abgemacht.

Durch die von Tag zu Tag anschwellende Bewegung der unabhängigen Sozialisten ist die Frage des Parlamentarismus wieder in den Vordergrund der öffentlichen Diskussion gerückt worden. Die Stellungnahme zu der gesetzgeberischen Mitarbeit spielte von vornherein eine wichtige Rolle in der sozialistischen Opposition. Das parlamentarisch-reformatorische Auftreten der Partei war überhaupt eine der Ursachen, die zur Entstehung der oppositionellen Bewegung und dann gelegentlich des Erfurter Kongresses zur Spaltung führten. Seitens der „nörgelnden“ Minderheit wurde schon damals gegenüber dem Parlamentarismus eine mehr oder weniger ablehnende Haltung eingenommen; jedenfalls fand die Art und Weise, wie sich die Reichtagsfraktion praktisch an der Gesetzgebung beteiligte, auf der ganzen Linie einmütigen Widerspruch. Die Vertreter der Parteimehrheit dagegen suchten die Notwendigkeit und Nützlichkeit der parlamentarischen Taktik darzulegen.

Nachdem in Erfurt die Spaltung eingetreten ist und die Oppositionellen sich als „unabhängige Sozialisten“ zu einer selbstständigen Bewegung organisiert haben, sind auf dieser Seite die Anschauungen über den Parlamentarismus zur völligen Klärung gelangt. Man tritt den gesetzgebenden Körperschaften des Klassenstaates prinzipiell ablehnend gegenüber und verwirft die Teilnahme des Proletariats an diesen Institutionen.

Die Rührigkeit, mit der die unabhängigen Sozialisten für ihre Grundsätze Propaganda machen, hat die Sozialdemokratie mehr und mehr veranlasst, durch Wort oder Schrift den anti-parlamentarischen Bestrebungen entgegenzuwirken und die Zweckmäßigkeit der gesetzgeberischen Beteiligung zu erweisen. Es sind allerdings nur schwächliche Versuche, die in dieser Beziehung von den Parteivertretern unternommen werden; aber es scheint dennoch geboten, unsererseits ausführlicher darauf einzugehen.

Nachstehende Aufsätze sind bestimmt, die sozialdemokratischen Argumente zu widerlegen und den Standpunkt der unabhängigen Sozialisten positiv zu begründen. Sie wurden zunächst im „Sozialist“ veröffentlicht. Den unmittelbaren Anstoß zur Niederschrift gab ein Artikel, der zu Anfang dieses Jahres in der „Berliner Volks-Tribüne“ erschien. Daraus erklärt es sich, dass in den ersten Abschriften die Polemik speziell gegen jenes Blatt gerichtet ist. Ich habe an der Form nichts geändert, weil sie dem Inhalte sowohl, wie dem Ursprunge der Artikel entspricht. Gerade diese Form trägt zur Erhöhung des aktuellen Wertes bei und tut dem allgemeinen Interesse an dem Gegenstande durchaus keinen Abbruch. Alles, was sich zunächst gegen die „Volks-Tribüne“ richtet, gilt im Weiteren der Sozialdemokratie überhaupt. Denn der fragliche Artikel gibt nur die Gedanken der Partei wieder.

Vorliegende Separat-Ausgabe erfolgt auf vielfachen Wunsch. Die einzelnen Artikel sind zu diesem Zwecke zusammenhängend geordnet worden. Einige Bemerkungen über das Wesen des Staates wurden vorausgeschickt, weil der Staatsbegriff maßgebend ist für die Beurteilung der parlamentarischen Institution, die ja nur ein Instrument des Staates bildet.

Friedrichshagen, am 25. März 1892.

Hermann Teistler.

Vom Wesen des Staats

Für die politische Tätigkeit der Arbeiterklasse muss die Auffassung vom Wesen des Staates bestimmend sein und ist es lange Zeit hindurch gewesen. Wer aber das Verhalten der heutigen Sozialdemokratie genauer und unbefangener beobachtet, der gelangt unvermeidlich zu dem Schluss, dass entweder die offiziellen Vertreter des Proletariats ihrer besseren Erkenntnis zuwiderhandeln, oder dass man die Auffassung vom Wesen des Staates total geändert hat. Die jetzige Taktik der Partei, ihrer gesetzgeberischen Illusionen sind nur möglich aufgrund eines falschen Staatsbegriffes. Man nehme die Frage nach dem Charakter des Staates nicht so leicht und betrachte sie nicht als rein akademische. Von ihrer Beantwortung hängt vielmehr in hohem Grade das Schicksal der Arbeiterklasse ab. Die Art, wie man neuerdings von sozialdemokratischer Seite den Staat zu behandeln beginnt, muss für das Proletariat geradezu verhängnisvoll werden. Sie verleitet die Arbeiter zu falschen Hoffnungen und Maßnahmen; zu einer Politik, die schließlich in das Verderben führt. Sie zieht die Bewegung vom Boden des Klassenkampfes auf das glatte Parkett des Parlaments, wo sie früher oder später zu Falle kommt. Eine Frucht dieser Art sind die staatssozialistischen Anwandlungen, die seit einiger Zeit in der Partei Platz gegriffen haben. Wie verheerend derlei Strömungen in den Reihen des Proletariats wirken müssen, ist klar. Nicht genug, dass auf diese Weise die revolutionäre Energie der Massen abgestumpft und gebrochen, die Tatkraft in nutzloser Kleinarbeit vergeudet wird – man gefährdet durch solche Taktik überhaupt die Befreiung der Arbeiterklasse.

Was ist denn der Staat? Konfuse Köpfe haben ihn als „Gemeinschaft des Volkes“ definiert – als einen Verband, der im Interesse Aller zustande gekommen. Man verfiel dann auf den Staatsvertrag, der Rechte und Pflichten auf alle Glieder der Gesellschaft gleichmäßig verteile. Schutz des Rechtes und Sicherung der allgemeinen Wohlfahrt sollten Staatszweck sein. Was in Wirklichkeit ein brutaler Polizeistaat war, wurde zum „Rechtsstaat“ auszuputzen gesucht. In philosophischer Begriffsverwirrung langte man endlich beim „Ausdruck der sittlichen Idee“ und sonstigem Unsinn an. Aber trotz all’ diesem Gerede funktionierte der Staat als das, was er immer gewesen, ruhig weiter: als ausgesprochenes Werkzeug zu Herrschaftszwecken. Selbst die bürgerlichen Staatsrechtslehrer heben jetzt zwei Extreme als das Charakteristische des Staates hervor: Regierung und Regierte. Wer sind die Regierenden? Immer die Inhaber des Besitzes! Und wer wird regiert? Natürlich die Besitzlosen!

In einer Zeit, die noch kein Privateigentum kannte, konnte es auch keinen Staat geben. Er entstand erst, als das Privateigentum die alte Gesellschaft in zwei feindliche Klassen zerriss: in Reiche und Arme. Nur diesen Gegensätzen hat der Staat seine Existenz zu verdanken. Er war notwendig, um den Besitz zu schützen; man bedurfte einer Macht, um die Verletzung des Privateigentums zu bestrafen; man bedurfte eines Mittels, um die Besitzlosen niederzuhalten und sich dienstbar zu machen. Früher hatten die Bande der Verwandtschaft und des gemeinsamen Interesses genügt, um die Gesellschaft zusammenzuhalten – jetzt, nachdem die Gemeinschaft gesprengt, brauchte man eine besondere Exekutivgewalt, um die soziale Organisation vor dem Auseinanderfallen zu schützen. Und diese Gewalt steht nicht über den beiden Gesellschaftsklassen, sondern innerhalb derselben; sie ist vom Besitz selbst geschaffen und hat schon aus diesem Grunde dessen Dienst zu vertreten. So behalten Marx und Engels Recht, wenn sie definieren: der Staat ist die Organisation der Besitzenden zur Beherrschung und Knechtung der Besitzlosen. Im Stile Lasalle’s kann man den Staat auch ganz zutreffend als „Nachtwächter der Eigentumsklasse“ anreden.

Wie sehr sich auch die Formen des Staates im Laufe der wirtschaftlichen Entwicklung verändert haben mögen – das Wesen der Institution blieb immer dasselbe. Der antike, der feudale und der moderne Staat; sie alle sind Einrichtungen der jeweilig besitzenden und darum herrschenden Klasse; sie alle richten sich gegen das besitzlose und ausgebeutete Volk. Und dies sowohl in Republiken, wie in Monarchien. In der Feudalzeit war die Eigentumsklasse durch den Adel repräsentiert, und darum war dieser im Staate ausschlagend. Heute spielt die Bourgeoisie im Wirtschaftsleben die erste Geige, und darum gelten ihre Interessen als oberstes Staatsgesetz. Nie und nirgends hat das besitzlose Volk, das heute durch die Arbeiterklasse repräsentiert wird, entscheidenden Einfluss im Staate. Dies wäre mit dem Wesen des Staates absolut unvereinbar; er kann sich unmöglich nach dem Willen derjenigen richten, die zu beherrschen und niederzuhalten seine Bestimmung ist. Denn damit würde er sich selbst aufgeben. In dem Augenblicke, wo beispielsweise die Arbeiterklasse aufgrund ihrer Stärke im Staate maßgebend sein könnte, wäre diese Einrichtung samt der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt gefallen. Solange aber die Zersetzung noch nicht derartig fortgeschritten ist, dass der Staat stürzen muss, solange wird er dem Proletariat Herrschaft der Besitzenden aufzwingen und dieser Klasse auf seine Geschäfte oder Maßregeln keinerlei Einfluss gestatten. Wenn er den Forderungen der Arbeiter einigermaßen entgegenkommt, so tut er es entweder nur in eigensten Interesse der Bourgeoisie, oder weil es dieser keine Opfer auferlegt, ihr aber den Schein der Arbeiterfreundlichkeit verleiht.

So sieht es im modernen State aus. Auf ihn die Hoffnungen der Arbeiter zu bauen, das ist angesichts dieser Sachlage eine Täuschung, die, je länger sie währt, desto verhängnisvoller werden muss. Kann man es verantworten, das nach Erlösung ringende Proletariat auf seinen Todfeind zu vertrösten? Wie bringt man es über das Herz, die Arbeiter glauben zu machen, dass die soziale Frage auf parlamentarischem Wege, also mit Hilfe des Staates – des Beauftragten der Bourgeoisie – zu lösen sei? Die Emanzipationsbestrebungen des Proletariats vom revolutionären Boden abzulenken, um sie dem „Wohlwollen“ des Staates auszuliefern – das erscheint uns geradezu als Verrat an der Arbeitersache. Und dies geschieht seitens der sozialdemokratischen Parteiführer keineswegs bloß vereinzelt, sondern fortgesetzt. Systematisch drillt man der Arbeiterschaft den Glauben an den Staat wieder ein – einen Glauben mit dem sie instinktiv schon mehr oder weniger gebrochen hatte. Zwar heißt es in den Parteiprogrammen, die Befreiung müsse das Werk der Arbeiterklasse selbst sein; in Wirklichkeit aber tritt man diesen Bestrebungen durch Wort und Tat entgegen und raubt so dem Proletariat das Vertrauen auf seine eigene revolutionäre Kraft. Dafür wird die staatliche Regelung, das staatliche Eingreifen, die staatliche Reform als Anfang und Ende aller Weisheit gepriesen. Der Staat hinten, der Staat vorne; wohin man blickt und hört: überall etwas Staatliches als Ideal – es wird einem ganz wirr im Kopfe vor lauter Staatlichkeit und Staatsmännertum! Diesem Staatsdusel wird ein trauriges Erwachen, eine bittere Enttäuschung folgen – hoffen wir im Interesse der beteiligten Arbeiter, dass es dann nicht zu spät ist.

Wir werden es immer für unsere Pflicht erachten, vor verderblichen Staatswege zu warnen, und je weiter sich die offizielle Sozialdemokratie auf demselben verirrt, desto lauter werden wird unsere Mahnung wiederholen: Nicht die Hilfe, sondern die Beseitigung des Staates ist das Ziel des Sozialismus! Das Proletariat kann die Befreiung nur von der eigenen Kraft – nicht von seinem Feinde erwarten!

Das Parlament als Herrschaftseinrichtung

Die „Berliner Volks-Tribüne“ veröffentlichte einen Aufsatz, der den Parlamentarismus zu verteidigen und die von uns dagegen vorgebrachten Argumente zu widerlegen sucht. Nachdem der Verfasser das Parlament in seiner Weise rehabilitiert hat, kommt er ganz konsequent zu dem Schluss, dass es für die Arbeiterklasse durchaus notwendig und nützlich sei, in dieser Einrichtung vertreten zu sein.

Um die parlamentarische Beteiligung des Proletariats rechtfertigen zu können, greift der Artikelschreiber zunächst die Grundlage unserer Beweisführung an. Er behauptet, wir hätten eine ganz falsche Auffassung vom Wesen des Parlamentarismus. Insbesondere sei es verkehrt und unvernünftig, das Parlament als eine Einrichtung zu betrachten, die ihrer Natur nach im Dienste der herrschenden Klasse steht. Tatsächlich berührt der Verfasser damit den Kernpunkt der Sache. Maßgebend in der ganzen Diskussion ist auch für uns die Beantwortung der Frage, ob das Parlament als eine Herrschaftsinstitution aufgefasst werden muss oder nicht. Wäre das Parlament seinem Wesen nach keine Einrichtung, die der jeweilig machthabenden Gesellschaftsklasse als Herrschaftsmittel dient, dann würde die Beteiligung auch für das Proletariat unbedingt geboten sein. Ist aber das Parlament nichts als ein Herrschaftsinstrument der besitzenden Klasse, so wäre es für die Arbeiter mindestens zwecklos, an der Einrichtung teilzunehmen.

Im Gegensatze zu dem Artikel der „Volks-Tribüne“ halten wir nun daran fest, dass das Parlament seiner Natur nach tatsächlich eine Institution ist, durch welche die zu Zeiten machthabende Klasse ihre Herrschaft über die Besitzlosen ausübt. Alles, was von dem Verfasser vorgebracht wurde, hat unseren Standpunkt nicht zu erschüttern vermocht. Vollständig überflüssig und nutzlos war des Artikelschreibers Kampf gegen Schlussfolgerungen, die wir weder ausgesprochen, noch angedeutet haben und die sich auch keineswegs logisch aus unserer Grundauffassung ergeben. Er selbst scheint sich derlei Konsequenzen willkürlich konstruiert zu haben, um für seine Polemik geeignete Angriffspunkte zu schaffen.

Nie und nirgends haben wir das Parlament selbst als Macht betrachtet, die vom allgemeinen Willen ganz unabhängig sei. Am allerwenigsten erscheint es uns als ein Faktor, der sich durch irgendeine Schicksalsfügung außer der Norm gebildet hat und über der Gesellschaft steht. Im Gegenteil: gerade wir behaupten, dass das Parlament in jeder Beziehung vom sozialen Leben abhängig ist und stets dem jeweiligen Charakter der Gesellschaft entspricht. Es wurzelt direkt in den Besitz- und Machtverhältnissen, die sich zu dieser oder jener Zeit innerhalb der sozialen Organisation entwickelt haben. Das alles hindert uns aber keineswegs das Parlament als Herrschaftsinstrument der besitzenden Klasse anzusehen. Vielmehr beweisen die angeführten Grundlagen des Parlamentarismus gerade, dass wir es in der Tat mit einem Herrschaftsmittel zu tun haben.

Wie bereits angedeutet, liegt die Macht selbst allerdings nicht ursächlich in der parlamentarischen Einrichtung, sondern in der Gesellschaft begründet. Das Parlament ist eben nur ein Werkzeug, mit dessen Hilfe die gesellschaftlichen Machtverhältnisse in der Gesetzgebung und Verwaltung zum Ausdruck kommen. Mehr braucht es nicht zu sein und wird es niemals sein. Und weil dies so ist, darum wird das Parlament immer und überall Herrschaftszwecken dienen. Nun wird aber der Artikelschreiber zugeben, dass dieHerrschaft von einer zerklüfteten Gesellschaft nicht gemeinsam ausgeübt werden kann. Er wird einräumen, dass sich die Macht nie auf alle Gesellschaftsschichten gleichmäßig verteilt, sondern immer auf eine einzelnen Klasse beschränkt. Und endlich wird er wissen, dass aufgrund dieser ungleichen Machtverteilung die eine Klasse die andere beherrscht. Macht und Herrschaft aber stützen sich auf den Besitz, oder richtiger: sie entspringen demselben. Solange es also eine Gesellschaft gibt, in der sich eine besitzende und eine besitzlose Klasse gegenüberstehen, ebenso lange werden die Besitzenden die Macht in den Händen haben und über die Besitzlosen herrschen. Aufgrund ihrer Macht hat die begüterte Klase natürlich auf alle sozialen und staatlichen Einrichtungen entscheidenden Einfluss: sie kann dieselben nach Belieben ihren Zwecken dienstbar machen, Wenn nun eine Gesellschaftsklasse die Macht besitzt, so ist es doch selbstverständlich, dass sie diese Macht im Parlament zur Geltung bringt und zu ihren Gunsten anwendet. Dies umso mehr, als ja das Parlament für die bürgerliche Gesellschaft der wichtigste Ort zur Vertretung ihrer Interessen ist. Hier konzentrieren sich all‘ ihre Angelegenheiten, mögen dieselben nun politischer, wirtschaftlicher oder sozialer Natur sein. Von hier aus erfolgt deren Leitung und Regelung. Und was die Hauptsache ist: hier haben die Besitzenden Gelegenheit, selbst über ihr Wohl und Wehe zu bestimmen.

Es ist somit klar, dass die parlamentarische Einrichtung tatsächlich nur im Dienste der jeweilig machthabenden Klasse steht und demgemäß als Herrschaftsinstrument funktioniert. Wir können dies bemerken, wenn wir die Parteiverhältnisse in den legislativen Körperschaften betrachten. Überall setzt sich die Mehrheit aus Vertretern der besitzenden Klasse zusammen. Da im modernen Staate die Bourgeoisie den Ausschlag gibt, so bildet sie auch die parlamentarische Majorität. Es bestreitet wohl Niemand, dass diese das Parlament benutzt, um ihrer kapitalistischen Interessen zu wahren, ihren Besitzstand zu verteidigen, ihre soziale Stellung zu sichern und die Ausbeutung der Arbeiterklasse aufrecht zu erhalten. Wir sind vollauf berechtigt, der hinsichtlich der kapitalistischen Gesellschaft zu sagen: „das Parlament ist eine Institution, durch welche die Bourgeoisie ihre Herrschaft über das Proletariat ausübt.“ So wird es auch bleiben, bis die bürgerliche Gesellschaft mitsamt dem Parlamentarismus verschwindet.

Inzwischen wird die parlamentarische Institution immer mehr den Zwecken der Reaktion zu dienen haben. Natürlich wirkt das Parlament nicht darum schon reaktionär, weil es ein Parlament ist. Vielmehr wird es erst zum Organ der Reaktion, weil die in ihm zum Ausdruck kommende Klassenherrschaft gegenüber den Emanzipationsbestrebungen des Proletariats notwendig reaktionär auftreten muss. Der Verfasser des bekämpften Artikels würde sagen: weil die Reaktion der Charakter des sozialen Körpers ist. Da nun die Klassengegensätze immer klaffender werden und die soziale Bewegung immer stärker anschwillt, so wird die Bourgeoisie das Parlament ausnützen. In einer Einrichtung, die derartigen Zwecken dient, kann die Arbeiterklasse begreiflicherweise nichts erzielen. Sie bleibt ihr am besten fern.

Ob das Parlament als solches, d.h. seiner Natur nach eine Institution der Herrschaft ist oder ob es nur von der zur Zeit machthabenden Klasse als Werkzeug benutzt wird – das ist für die praktische Bedeutung des Parlamentarismus gleichgültig. In dem einen wie dem anderen Fall wirkt es als Herrschaftsmittel. Und zwar solange, wie es in der Gesellschaft eine herrschende und eine unterdrückte Klasse gibt. Für den Geknechteten wird es zu jeder Zeit bedeutungslos sein, ob die im Parlament zum Ausdruck kommende Macht von diesem selbst oder von der Gesellschaft ausgeht. Es wird eben die auf ihn wirkende Macht als Herrschaft empfinden und nach deren Beseitigung streben. In diesem Streben freilich ist es wichtig, sich über die Quelle der Macht klar zu sein. Da gilt es, dem Proletariat zu sagen, dass es nicht mit dem Sturze des Parlamentarismus, sondern erst mit der Überwindung des Bürgertums von der Herrschaft befreit wird.

Die Bourgeoisie könnte allerdings auf das Parlament als Herrschaftsinstrument verzichten, ohne dadurch ihre Existenz in Frage zu stellen. Sie würde ebenso gut im Stande sein, mit einem anderen Mittel ihre Macht zur Geltung zu bringen. Selbst bei direkter Gesetzgebung durch Volksbeschluss, wie in der Schweiz, könnte das Bürgertum seine Herrschaft sehr wohl aufrecht erhalten, solange es in der Gesellschaft die Macht besitzt. Aber trotz alledem entspricht das Parlament doch mehr, als jede Einrichtung, dem Charakter der bürgerlichen Gesellschaft. Es ist in seiner modernen Form mit der Bourgeoisie entstanden und wird auch mit ihr zu Grunde gehen.

Das geschichtlich bezeugte Vorhandensein revolutionärer Parlament beweist nichts gegen unsere Behauptung, dass die Institution im Dienste der jeweilig herrschenden Klasse stehe. Vielmehr bestätigen selbst derartige Fälle die Richtigkeit unsere Auffassung. In dem Artikel der „Volks-Tribüne“ wird zunächst auf den französischen Nationalkonvent Bezug genommen, der in der großen französischen Revolution tätig war. Gewiss trug dieses Parlament einen außerordentlich revolutionären Charakter. Aber woher kam dies? Die revolutionierende Bourgeoisie hatte eben als soziale Klasse die Herrschaft erlangt und rückte daher auch dem Nationalkonvent diesen Charakter auf! Nicht anders verhält es sich mit der Pariser Kommune, die der Verfasser als Haupttrumpf gegen unsere Argumente ausspielt. Hier hatte das Proletariat als Klasse die Macht über das Bürgertum erlangt, wenn auch nur vorübergehend. Darum erhielt das Parlament einen revolutionär-sozialistischen Charakter. Zu Herrschaftszwecken dienten aber all‘ diese Revolutionsparlamente. Durch sie herrschte eben die jeweilig zur Macht gelangte Gesellschaftsklasse. Wäre die Kommune von Bestand gewesen, so würde deren parlamentarische Einrichtung als Herrschaftsmittel freilich bald verschwunden sein. Dies schon darum, weil die definitive Konstituierung der Kommune das Ende der Klassenherrschaft bedeutet haben würde. Für künftige Erhebungen des Proletariats ist natürlich das Beispiel des Kommuneparlaments keineswegs maßgebend. Wir glauben vielmehr, dass sich die allgemeine soziale Revolution ohne parlamentarische Einrichtungen abwickeln wird.

Wenn sich innerhalb der Gesellschaft die Machtverhältnisse verschieben, so wird sich diese Wandlung auch im Parlament bemerkbar machen. Hierauf beruft sich insbesondere die sozialdemokratische Partei, wenn es gilt ihre parlamentarische Beteiligung zu rechtfertigen. Man vergisst dabei nur eins. Solange die Sozialdemokratie noch nicht die Mehrheit der Abgeordneten bildet, kann sie in den gesetzgebenden Körperschaften nichts ausrichten. Und wenn sie zur Majorität gelangt, so müsste die Gesellschaft bereits derartig zersetzt sein, dass die Bourgeoisie nur noch eine Minderheit zu Stande bringen könnte. In diesem Falle aber wäre die parlamentarische Aktion überhaupt nicht mehr nötig; das Proletariat würde die Parlamentseinrichtung in das Altertumsmuseum packen und die Expropriation viel besser direkt vollziehen.

Die praktische Mitarbeit im Parlament

Wir haben im vorherigen Artikel gezeigt, dass die parlamentarische Einrichtung lediglich im Dienste der jeweilig herrschenden Klasse steht. Damit war die Stellung schon gekennzeichnet, welche das Proletariat dem Parlamentarismus gegenüber einzunehmen hat. In einer Institution, die notorisch als Werkzeug der herrschenden Klasse funktioniert, muss das Auftreten der Arbeiter naturgemäß erfolglos sein. Am allerwenigsten ist an eine „praktische“ oder „positive“ Tätigkeit zu denken. Aber gerade auf derlei Tätigkeit legen die parlamentarischen Sozialdemokraten das Hauptgewicht. Auch der Verfasser des bekannten Artikels in der „Berliner Volks-Tribüne“ glaubt verstohlen an die Möglichkeit, im Parlament praktisch mitarbeiten zu können. Man gibt sich da einer verhängnisvollen Täuschung hin und verkennt gänzlich den Charakter der parlamentarischen Einrichtung.

Mitarbeiten! Mit wem? Nun, mit den Vertretern der besitzenden Klasse! Glaubt man denn aber, dass die Interessen der Bourgeoisie und des Proletariats so übereinstimmender Natur seien, um ein positives Zusammenarbeiten der beiden Klassen zu ermöglichen? Wohl kaum! So schroff, wie sich Ausbeuter und Ausgebeutete im wirtschaftlich-sozialen Leben gegenüberstehen, wird dies auch im Parlament der Fall sein. Hier wie dort müssen die gleichen Gegensätze zusammenstoßen, dieselben Kämpfe sich entwickeln. Denn jede Klasse wird selbstverständlich ihre eigenen Interessen vertreten. Diese Konflikte werden umso heftiger sein, je einschneidender die im Parlament gerade zur Diskussion stehende Frage ist. Und schließlich gibt doch das Interesse der Besitzenden den Ausschlag. Letztere bilden ja noch immer die parlamentarische Mehrheit. Sie werden jede Maßregel verhindern, die nicht zugleich ihrer Klasse nützt; und es wird alles Gesetzeskraft erlangen, sobald es Bedürfnis und Sicherheit des Besitzes erheischen. Wir könnten für unsere Darstellung hundertfache Beispiele anführen. Es möge jedoch nur auf einen typischen Fall Bezug genommen sein: auf der Beratung des Arbeiterschutzgesetzes im deutschen Reichstage. Das Gesetz kam genau so zustande, wie es den Interessen der Bourgeoisie entsprach. Nicht ein Deut vermochten die Sozialdemokraten daran zu ändern! Und so geht es ohne Ausnahme. Nach langem Redekampf werden die Abgeordneten des Proletariats einfach überstimmt, wenn man sie nicht schon vorher niedergeschrieen hatte. Alles Debattieren hat nichts genutzt. Zeit und Kraft sind zwecklos verschwendet worden.

So liegt die Sache. Angesichts dieser Umstände muss man sich wundern, dass das Proletariat von der Sozialdemokratie noch immer hartnäckig auf den parlamentarischen Weg verwiesen wird. Die Erfahrung sollte doch gerade den Arbeitervertretern deutlich genug gezeigt haben, worin das Wesen des Parlaments besteht. Wo man auf theoretischem Wege nicht zur Erkenntnis dieser Einrichtung gelangte, da hätte dies sicher auf dem Wege der Praxis geschehen müssen. Und trotzdem wird der Parlamentarismus als das Universalheilmittel für alle Krankheiten der Gesellschaft gepriesen! Demgegenüber betonen wir wieder und wieder, dass für das Proletariat auf dem parlamentarischen Wege nichts erreicht werden kann. Will man dennoch praktisch mitarbeiten, so wird die Partei naturnotwendig in das possibilistische Fahrwasser gedrängt. Die Tatsachen haben dies gerade in Deutschland gelehrt. Man sucht die Forderungen so zu stellen, dass sie von den herrschenden Klassen akzeptiert werden können. Der Abgeordnete Singer hat es im Reichstage klipp und klar ausgesprochen – und dazu im Namen der Partei! Damit wird die Sozialdemokratie auf das Niveau einer simplen Reformbewegung herabgedrückt. Man begnügt sich mit sozialer Quacksalberei und sucht Schäden der Gesellschaft durch Flickarbeit auszubessern. Auf diese Weise kommt man dahin, für eine Sozialreform einzutreten, die von der besitzenden Klasse in ihrem Interesse vorgeschlagen wird. Es tritt hier tatsächlich ein, was Engels im Vorwort zu seiner „Wohnungsfrage“ sagt: Man kann je nach Umständen selbst mit den reaktionärsten Bestrebungen zur sogenannten „Hebung der arbeitenden Klasse“ sympathisieren! Von den großen Zielen der proletarischen Bewegung ist dann keine Rede mehr. Die Emanzipationsbestrebungen werden verdunkelt, in den Hintergrund gedrängt oder gar erstickt. Der revolutionäre Gedanke der Massen wird eingelullt durch den Glauben an den Parlamentarismus.

Und was springt bei dieser ganzen possibilistisch-reformerischen Parlamentsarbeit der Sozialdemokratie heraus? Gar nichts! Sie bietet für das Proletariat nicht einmal einen Augenblicksvorteil, obwohl dies so oft behauptet wird. Man feilscht und bettelt um kleinlich Dinge; man sucht den Gegnern die Nützlichkeit dieser oder jener Maßregel plausibel zu machen; um ein Almosen zu erlangen, kommt man den Repräsentanten des Besitzes entgegen und zeigt sich zu Konzessionen bereit. Und das Ende vom Lied? Die Gegner haben sich weder durch die Reden, noch durch die Versprechungen der Sozialdemokratie belehren lassen – sie machen, was ihnen gefällt! Wenn Vertreter der herrschenden Klasse wirklich einmal auf sozialdemokratische Anträge oder Vorschläge eingehen, so tun sie es gewiss nur im eigenen Interesse – nicht um der Sozialdemokratie willen und nicht aus Sympathie für die Arbeiter. Meist glaubt die besitzende Klasse, durch scheinbares Entgegenkommen dieser Art den „Plebs“ zufrieden und gefügig zu erhalten. Bei all’ der Reformerei muss das Proletariat schließlich von Glück sagen, wenn seine Lage nicht schlimmer wird. Es bleibt nach wie vor eine ausgebeutete, unterdrückte und darbende Klasse. So wird der Bankrott der praktischen Mitarbeit veranschaulicht!

Zu den geschilderten Konsequenzen muss die praktische Tätigkeit in den gesetzgebenden Körperschaften unabwendbar führen. Die Abgeordneten mögen die besten Absichten haben, die ehrlichsten Männer sein, ihrer parlamentarische Mitarbeit wird sie unfehlbar in den kleinbürgerlich-possibilistischen Sumpf treiben. Wir haben nie den Glauben gehegt, dass beispielsweise Bebel, Liebknecht usw. infolge persönlicher Schlechtigkeit ihren revolutionären Prinzipien von ehedem untreu geworden seien. Nein, ihre praktische Tätigkeit im Parlament hat sie korrumpiert! Und in dieser Weise wird es weiter gehen, so lange das Proletariat noch Abgeordnete wählt. Man sieht also, welche Gefahr in der positiven Mitarbeit liegt. Grund genug, die Arbeiterklasse davon frei zu halten. Wirksam verhindert kann die Gefahr aber nur werden, wenn man auf jede parlamentarische Beteiligung überhaupt verzichtet.

Diesen Verzicht wird man um so eher leisten können, als ja das Proletariat von der Tätigkeit im Parlament in keinem Falles einen praktischen Nutzen hat: weder von einem radikalen, noch von einem gemäßigten, reformerischen Auftreten der Abgeordneten. An der Klassenlage der Arbeiter wird so und auch nur so nichts geändert. Um hier Wandel zu schaffen, müssen ganz andere Wege beschritten werden.

Wir stehen mit unserer Zurückweisung der positiven Tätigkeit keineswegs vereinzelt da. Selbst Leute, die in sozialdemokratischen Kreisen unbestritten als Autoritäten gelten, teilen unseren Standpunkt. Karl Marx, der so oft gegen uns zitiert wird, hat beispielsweise nirgends der praktischen Politik das Wort geredet. Er war sich über den Charakter des Parlaments viel zu klar, als dass er den gesetzgeberischen Weg hätte empfehlen können. Vielmehr setzte er alles auf die soziale Revolution. Den Parlamentarismus betrachtete er lediglich als Agitationsmittel. Hätte er aber gesehen, wohin die deutsche Sozialdemokratie auf dem parlamentarischen Wege geraten ist, dann würde er mit uns jede Beteiligung am Parlament bekämpft haben. Und Friedrich Engels hat sich vollends in nicht misszuverstehender Weise gegen die positive Mitarbeit ausgesprochen. Für ihn hat die allgemeine Wahlbeteiligung überhaupt nur den Zweck, die Reife der Arbeiterklasse zahlenmäßig festzustellen – nichts weiter.1 Was heute praktische Tätigkeit genannte wird, bezeichnet er schlechtweg als kleinbürgerlichen Sozialismus, als soziales Flickwerk usw. Das erwähnte Vorwort zur „Wohnungsfrage“ schrieb er, nachdem im Jahre 1885 der sozialdemokratische Arbeiterschutzgesetz-Entwurf im Reichstage eingebracht worden war und die Fraktion mancherlei andere Streiche verübt hatte. Die Stelle, auf welche wir schon oben anspielten, lautet vollständig: „In der Sozialdemokratischen Partei selbst, bis in die Reichstagsfraktion hinein, findet ein gewisser kleinbürgerlicher Sozialismus seine Vertretung. Und zwar in der Weise, dass man zwar die Grundanschauungen des modernen Sozialismus und die Forderung der Verwandlung aller Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum als berechtigt anerkennt, aber ihre Verwirklichung nur in entfernter, praktisch unabsehbarer Zeit für möglich erklärt. Damit ist man denn für die Gegenwart auf bloßes soziales Flickwerk angewiesen und kann je nach Umständen selbst mit den reaktionärsten Bestrebungen zur sogenannten „Hebung der arbeitenden Klasse“ sympathisieren.“ In diesen Worten liegt ein vernichtendes Urteil über die praktische Mitarbeit im Parlament. Wir brauchen ihnen nichts mehr hinzuzufügen!

Noch schärfer hat sich Liebknecht in seinen guten Jahren gegen die positive Mitarbeit ausgesprochen. Seine im Jahre 1869 erschienene Broschüre bekämpft sogar den Parlamentarismus in jeder verkappten Gestalt. Aber wir sehen von diesem Parteiführer völlig ab, da er – seiner eigenen Erklärung zufolge – nötigenfalls an einem Tage vierundzwanzig Mal die Taktik ändert.

Es wurde oben dargetan, wie aussichtslos die ganze praktische Mitarbeit sei. Hier möge noch auf einen weiteren Umstand hingewiesen werden. Der Sozialdemokratie fehlen zur Zeit alle Mittel, proletarische Forderungen auf dem politischen Wege wirklich zur Durchführung zu bringen. Die staatliche Macht steht im Dienste der besitzenden Klasse und wird, solange sie vorhanden ist, sozialistische Reformen zu vereiteln wissen. Schon der Bundesrat bildet einen festen Damm gegen eine derartige Gestaltung der Dinge. Er steht über dem Reichstage und lässt dessen Beschlüsse einfach in den Papierkorb verschwinden, sobald sie ihm nicht gefallen. Würde also ein sozialdemokratischer Antrag aus irgendwelchen Ursachen wirklich angenommen, so könnte er nimmermehr Gesetzeskraft erlangen, wenn ihn der Bundesrat nicht billigt. Das dürfte aber allen Beschlüssen passieren, die dem Proletariat tatsächlich nützen und eine andere Gesellschaftsklasse beeinträchtigen. Selbst eine sozialdemokratische Reichstagsmajorität könnte auf diese Weise wirkungslos gemacht werden – abgesehen davon, dass der Staat und herrschende Klasse hierzu noch ganz andere Mittel zur Verfügung hätten, so beispielsweise die Kompanie Soldaten, von der Liebknecht in seiner bekannten Broschüre redet. Ehe der parlamentarische Weg für die Arbeiter nutzbar werden könnte, müssten somit erst der Staat und die Klassenherrschaft beseitigt sein. Man stünde vor der Notwendigkeit, zur Revolution zu greifen, die aber doch von der Sozialdemokratie feierlich abgeschworen ist. Und wäre jener Zweck schließlich dennoch durch eine revolutionäre Erhebung erreicht worden, dann würde man bei der Neuausrichtung der Gesellschaft überhaupt nicht mehr dem alten Parlamentarismus fragen.

Aus alledem geht hervor, dass dem Parlament in der ganzen proletarischen Entwicklung eine entscheidende oder auch nur einflussreiche Rolle nicht zufallen wird. Alle diesbezüglichen Gesellschaftsumwälzungen werden sich ohne parlamentarische Intervention vollziehen.

In sozialdemokratischen Kreisen versteigt man sich aber tatsächlich zu der ungeheuerlichen Illusion, auf dem Wege des Parlamentarismus in die sozialistische Gesellschaft zu gelangen. Man träumt von einer Reichtstagsmehrheit, die einfach den Sozialismus dekretieren wird. Es sind allerdings nur wenige naive Köpfe, die an diesen Unsinn glauben und es sei hier ausdrücklich betont, dass der Artikelschreiber der „Volks-Tribüne“ nicht zu ihnen gehört. Aber man muss zugeben, dass derartige Erwartungen notwendig aus der positiv-parlamentarischen Tätigkeit hervorgehen. Gerade hierin liegt die größte Gefahr der praktischen Mitarbeit im Parlament.

Allerdings wird die Gefahr der praktischen Tätigkeit im Laufe der Zeit immer geringer werden. Denn die Möglichkeit der positiven Mitarbeit schwindet umsomehr, je weiter die kapitalistische Entwicklung fortschreitet. Die Klassengegensätze spitzen sich stetig zu; der Interessenwiderstreit führt unaufhaltsam zu sozialen Kämpfen von nie geahnter Heftigkeit. Dann wird eine friedlich-parlamentarische Unterhandlung zwischen den sich drohend gegenüberstehenden Gesellschaftsklassen von selbst zur Unmöglichkeit. Das Proletariat muss notgedrungen auf die positive Mitarbeit verzichten. Es wird ausschließlich auf den Boden des Klassenkampfes gedrängt. Und es wird die Entscheidung fallen – hier wird es siegen!

Parlamentarische Propaganda

Die Unmöglichkeit im Parlament „positiv mitarbeiten“ zu können, steht nach dem früher Gesagten fest. Es fragt sich nun, ob es geboten ist, dass die Arbeiterklasse trotzdem an dieser Einrichtung teilnimmt. Von Vielen, welche schon längst nicht mehr an die praktische Politik glauben, wird diese Frage nach wie vor bejaht. Nachdem sie einsehen, dass auf dem Wege der positiven Tätigkeit nichts zu erreichen ist, wollen sie es mit der Negation versuchen. Um „negieren“ zu können, müssen die Abgeordneten in der bisherigen Weise ihre parlamentarischen Sitze einnehmen Nur sollen sie sich dort auf Kritik des Staates und der Gesellschaft beschränken. Sie sollen gegen Gesetze und Maßnahmen protestieren, die das Proletariat schädigen oder in seiner Bewegungsfreiheit beeinträchtigen. Überhaupt sollen sie gegen den Bestand der ganzen bürgerlichen Staats- und Gesellschaftsordnung Protest erheben und sich dabei strikte auf den Boden des Sozialismus stellen. Man glaubt, dass auf diese Weise das Prinzip am reinsten gewahrt und dem Paktieren mir den anderen Parteien am sichersten vorgebeugt werde.

Wenn man von dieser Taktik bessere Resultate erhoffte als, von der praktischen Mitarbeit, so ist dies wiederum eine Täuschung. Die herrschende Klasse wird sich an die Proteste ebenso wenig kehren, wie an die positiven Vorschläge. Sie wird auch fernerhin ihre eigenen Wege gehen, solange keine zwingende Gründe vorliegen, davon abzuweichen. Ein diesbezüglicher Zwang aber kann nicht im Parlament ausgeübt werden, sondern nur auf wirtschaftlichem Gebiete, wo die Interessen der Besitzenden direkt getroffen werden. Und wenn man sich von seiner negierenden Haltung keine praktischen Erfolge verspricht, sondern bloß Protest als Endzweck betrachtet, dann braucht man überhaupt nicht ins Parlament zu gehen. Um gegen die kapitalistische Gesellschaft und ihre Einrichtungen zu protestieren, Mißstände zu geißeln und das Banner des Sozialismus aufzupflanzen – dazu gibt es doch wahrhaftig andere Mittel und Wege genug. Hier wirken, wie später noch näher auszuführen werden, Presse und Versammlungen weit unmittelbarer und nachhaltiger auch wenn die Schreib- und Redefreiheit noch beschnitten wäre.

Nun behauptet man freilich, das Parlament sei in der Tat ein vorzügliches Agitationsmittel, und schon darum müsse es beschickt werden. Insbesondere liege der propagandistische Wert in der negierenden und kritischen Tätigkeit. Die breiten Massen des Volkes, die von der sozialen Bewegung noch unberührt geblieben, sollen dadurch aufgeklärt und für die sozialistischen Ideen gewonnen werden. Man sucht die Sache so hinzustellen, als würden die Parlamentsreden gewissermaßen zum Fenster hinaus gehalten und in die verstecktesten Winkel der Erde getragen. In Wirklichkeit liegen die Dinge leider etwas anders.

Sollen die indifferenten Massen als überzeugte Kämpfer für den Sozialismus herangezogen werden, so wären prinzipielle Reden die wichtigste Vorraussetzung. Aber gerade damit sieht es windig aus. In Wahrheit will man das Volk nicht durch prinzipielle Erörterungen, sondern durch demagogische Kniffe gewinnen. Wie es in dem bekannten Artikel der „Volks-Tribüne“ heißt, sollen im Parlament Fragen aufgeworfen werden, welche das gegenwärtige Leben des Volkes betreffen sich auf seine tägliche Existenz beziehen – Fragen, von denen Leiden und Wohlsein abhängt und die selbst auf jene schwerfälligen Intelligenzen Eindruck machen, welche sozusagen nur den Instinkt, zu leben, besitzen. Dieses Vorhaben wäre ja an und für sich sehr löblich. Aber man hat dabei nicht das Interesse der betreffenden Volksschichten im Auge; man will nur deren Sympathie erwerben, deren Aufmerksamkeit auf sich lenken – vom Parlament aus eine große Volksbewegung ins Leben rufen. Nicht allein, dass dies tatsächlich demagogisch ist; es ist auch geradezu gefährlich. Nehmen wir an, es käme auf diese Weise wirklich eine große Volksbewegung zustande. Wie würde sie aussehen? Die Masse, lediglich bei ihren Trieben gepackt und festgehalten, wäre sich über das eigentliche Ziel der Bewegung nicht klar. Man hätte wohl in gewissem Sinne Herdenvieh, das mitläuft, soweit es seinem Instinkte entspricht – aber es fehlten die überzeugten Kämpfer, auf die im entscheidenden Moment mit Sicherheit gerechnet werden könnte.

Noch ein weiterer Umstand kommt bei derartigen Verfahren in Betracht. Die Masse erwartet, dass die Erörterung jener unmittelbaren Lebensfragen zu einer Verbesserung ihrer Lage führe. Nur durch diese Hoffnung ist sie von der Bewegung angelockt worden. Teilweise hat man ihr sogar ausdrücklich dahingehende Versprechungen gemacht. Nun wissen wir aber, dass weder bei der positiven, noch bei der negativen Tätigkeit im Parlament für die Arbeiter etwas herausspringt. Schließlich kommen selbst die indifferenten Massen dahinter, dass die ganze Parlamentsarbeit nichts nützt, dass trotz des sozialdemokratischen Wählens die äußere Lage unverändert bleibt. In dieser Beziehung die Erfolglosigkeit der Sozialdemokratie einsehend, werden sie sich überhaupt abwenden und wieder in Stumpfsinn und Gleichgültigkeit versinken. Mit der großen Volksbewegung wäre es alsdann vorbei.

Freilich versprechen sich die sozialdemokratischen Parlamentarier von der Erfolglosigkeit ihrer Arbeit eine entgegengesetzte Wirkung. Sie sagen Folgendes: Wenn unsere positiven Vorschläge oder unsere Proteste unbeachtet bleiben, dann wird das Volk über den wahren Charakter der Mehrheitsparteien aufgeklärt werden; es wird erkennen, wo seine Freunde und seine Feinde zu suchen sind. Je öfter die Gegner uns also niederstimmen, desto besser für uns, desto leichter die Agitation! Das ist der gewöhnliche Gedankengang. Man vergisst dabei nur, dass diese günstige Wendung erst mit Hilfe anderer Mittel eintritt – und wieder sind es Presse und Versammlungen, welche vorwiegend hierzu beitragen. Wäre man lediglich auf die Tribüne des Parlaments angewiesen, so würde der bezeichnete Rückschlag in der Bewegung tatsächlich sehr bald bemerkbar werden.

Wie die zur Gewinnung des Volkes bestimmte Politik aussieht, wie wenig sie mit den Prinzipien zu tun hat – davon liefert uns der Artikelschreiber der „Volks-Tribüne“ unbewusst ein bescheidenes Pröbchen. Er meint, wenn sich die Sozialisten nicht an den parlamentarischen Arbeiten beteiligten, so würden andere kommen und praktisch in Reformen tätig sein. Auf diese Weise würden die letzteren sicher die Aufmerksamkeit des Volkes auf sich ziehen. Die Sozialisten dagegen würden unbekannt bleiben und bei der Masse keinen Einfluss erlangen. Das Volk werde in der Regel denjenigen für seinen Freund halten, der auf der Tribüne eine Verminderung der Steuern oder billigen Preis für das Brot fordere – nicht den Theoretiker. So habe beispielsweise

Clemenceau in Frankreich den Enthusiasmus des Volkes erweckt durch einen einfachen Antrag auf Lohnerhöhung. Aber die wirklichen Sozialisten, die nicht im Parlament vertreten sind, seien unbekannte geblieben.

Daraus schließt nun der Artikelschreiber die agitatorische Bedeutung des Parlaments! Für uns beweisen seine Ausführungen gerade das Gegenteil. Die Beispiele, welche er aufzählt, haben mit dem sozialistischen Prinzip nicht das Geringste zu tun. Sie lehren höchstens, wie leicht sich das Volk von gewissenlosen Demagogen nasführen lässt. Für eine derartige „Propaganda“ würden wir uns bedanken. Gäbe es keinen anderen Weg der Agitation, so würde das Volk nie fähig werden, die soziale Umwälzung zu vollziehen und seine geschichtliche Mission zu erfüllen. Und könnte den Sozialisten durch gegnerische Reformarbeit der Wind aus den Segeln genommen werden, dann wäre es besser, sie verschwänden vor der Zeit! Zum Glück steht es nicht so schlimm. Wir brauchen nicht zu fürchten, dass uns die Gegner die gute Gesinnung der Menge rauben könnten, weil wir uns nicht am Parlamentarismus beteiligen. Es stehen uns andere Mittel zur Verfügung, um den bürgerlichen Parteien die Maske vom Gesicht zu reißen und ihre erbärmliche Komödie zu enthüllen. Wir brauchen nicht erst hinzugehen, um zu zeigen, dass wir es besser machen würden, wenn man uns nur gewähren ließe. Was wir zu tun haben, liegt eben auf ökonomischem Gebiete; das Parlament könnte uns dabei höchstens im Wege sein. Unsere Pflicht ist es, das Proletariat über Wesen und Wirkung der parlamentarischen Institution aufzuklären. Dann wird es von selbst verzichten, dorthin seine Vertreter zu entsenden.

Wollte man auf die oben charakterisierten Mittel zur Volksgewinnung verzichten und sich im Parlament auf die rein prinzipielle Propaganda verlegen, so würden wir den Wert der parlamentarischen Tätigkeit noch keineswegs höher veranschlagen. Und zwar darum nicht, weil die Parlamentsreden allein ihre Wirkung gänzlich verfehlen und weil die Agitation mitten in der Menge weit zweckmäßiger und einfacher ist. Jener Artikel der „Volks-Tribüne“ verkennt die Tatsachen völlig, wenn er meint, dass die Stärke und Reife der sozialistischen Bewegung von dem Grade der parlamentarischen Beteiligung abhängig seien. Wir können mit Bestimmtheit behaupten, dass die Tätigkeit im Parlament auf die Entwicklung der Arbeiterpartei ohne Einfluss gewesen ist. Die soziale Bewegung hat ganz andere Ursachen; sie ist die notwendige Konsequenz bestimmter Wirtschaftszustände. Es ist bekannt, dass sich die Arbeiter zu regen und zu organisieren begannen, ehe noch an eine politische Teilname zu denken war. Die parlamentarische Vertretung des Proletariats ist erst die Folge der sozialen Bewegung. Welch’ großartige Rolle die sozialistischen Arbeiter spielen können ohne im Parlament zu sitzen, lehren uns ja Belgien, Österreich, Amerika usw. in der unzweideutigsten Weise. Auch die Entwicklung des deutschen Proletariats würde sich ohne parlamentarische Beteiligung nicht anders vollziehen, als sonst. Ohne Parlamentarismus würde sich die Arbeiterbewegung sogar gesünder und zielbewusster entwickeln. Denn die parlamentarische Mitarbeit führt erfahrungsgemäß zur Versumpfung, und korrumpierte Vertretung des Proletariats kann die ganze Bewegung irreleiten – vorausgesetzt eben, dass die Abgeordneten auf die Massen wirklichen Einfluss ausüben können.

Es ist daher reine Ironie, wenn behauptet wird, dass zahlreiche Revolutionen in dem energischen Auftreten der Abgeordneten eines Parlaments ihren Anfang gehabt hätten. Der Artikelschreiber der „Volks-Tribüne“ sucht uns zwar glauben zu machen, dass er mit diesbezüglichen Beispielen ganze Spalten füllen könne; wollte er aber gewissenhaft sein, so würde er uns keinen einzigen Fall aufweisen können. Entstehung und Verlauf der Revolutionen sind bedingt durch gewisse Gesellschaftszustände; sie werden entschieden durch soziale Mächte. Der Ausgangspunkt einer Volkserhebung muss aus diesem Grunde in der Gesellschaft selbst liegen – nicht im Parlament, das ja bloß das Spiegelbild der Gesellschaft sein soll. Wenn Abgeordnete im Parlament revolutionär auftreten, so ist die Revolution in der Gesellschaft entweder bereits ausgebrochen oder doch im Anzuge. Nimmermehr aber geben die parlamentarischen Vertreter den Anstoß dazu. Im Gegenteil, sie haben gewöhnlich die Revolution verraten. Auch mit der Pariser Kommune verhielt es sich nicht anders, als eben dargelegt. In Wirklichkeit war hier die revolutionäre Bewegung unter der masse schon längst im Gange, als die sozialistischen Abgeordneten der Hauptstadt in jener mannhaften Weise auftraten. Das Parlament war auch in diesem Falle nur ein Reflex des vorhandenen Gesellschaftszustandes; in den Abgeordneten kam der revolutionäre Geist des Volkes zum Ausdruck – den Ausschlag gaben sie nicht.

Zu all’ den Ungeheuerlichkeiten kommt der Autor in dem Artikel der „Volks-Tribüne“ nur, weil er die agitatorische Bedeutung des Parlamentarismus maßlos überschätzt. Und dieser Überschätzung liegt der Gedanke zu Grunde, dass es außer dem Parlament überhaupt kein Mittel gäbe, um agitatorische auf Massen zu wirken. Das wäre ein verhängnisvoller Irrtum. Hat der Verfasser die Bedeutung der Vollversammlungen und die Presse ganz übersehen? Alles, was er der parlamentarischen Einwirkung zuschreibt, kann durch unmittelbare Propaganda unter der Menge mindestens ebenso gut erreicht werden. Die Ausbreitung und Vertiefung der sozialen Bewegung ist bis zu einem gewissen Grade die Frucht der Versammlungen, nicht des Parlamentarismus. Wo die Masse zusammenströmt, da ist der Ort, um sie zu packen und aufzurütteln. Und hier kann man zu dem Volke über Fragen sprechen, die Wohl und Wehe desselben betreffen – Fragen der unmittelbaren Existenz. Hier ist die Gelegenheit, um zu Tagesereignissen Stellung zu nehmen; hier ist der Boden für eine rein prinzipielle Propaganda, für die Entfaltung des revolutionären Geistes; hier muss man die Gesellschaft kritisieren und ihre Einrichtungen zergliedern; hier entlarvt man die bürgerlichen Parteien, die Repräsentanten des Volkes. An diesem Orte wirkt das gesprochene Wort direkt auf die Menge – sein Erfolg ist sicher. Von hier aus erhält die Bewegung den Anstoß, hier bekommt sie ihre Impulse – auf diesem Boden vereinigen sich schließlich auch die Massen zur entscheidenden Tat. Das Wichtigste ist, dass hier das Proletariat selbst an den Verhandlungen teilnimmt, in die Diskussionen eingreift und sich über seine Angelegenheiten ohne Mittelsmänner verständigt. Mit einem Wort: hier handelt die Masse selbst! Es darf also keine Gelegenheit versäumt werden, um die Arbeiter zusammenzubringen; durch Demonstrationen und Versammlungen muss die Masse beständig in Fluss gehalten werden. Wo das Volk zu packen ist, muss es geschehen. Darum werden wir gerade die Zeiten der Wahlen propagandistisch ausnützen. Aber nicht im Sinne der Wahlbeteiligung! Vielmehr wird unser Streben dahingehen, das Volk zu einem demonstrativen Protest gegen den Klassenstaat und seine Einrichtungen zu vereinigen. So wird das Proletariat fähig werden für seine großen Aufgaben der Zukunft – aber auch nur so!

Und was wäre der Parlamentarismus selbst ohne Versammlungen? Zunächst sind schon die Wahlerfolge größtenteils das Resultat der Versammlungstätigkeit. Und dann sind es wiederum Versammlungen, durch welche die Parlamentsverhandlungen agitatorische ausgenützt werden.

Von gleicher Bedeutung hierbei ist die Presse. Wie die günstigen Wahlresultate zum Teil ihr Werk sind, so dringen auch erst durch sie die Parlamentsreden ins Volk. Wenn also das parlamentarische Auftreten wirklich geeignet wäre, eine agitatorische Wirkung auszuüben, so geschähe dies lediglich vermittels der Presse.

Ohne Zuhilfenahme des Presse- und Versammlungswesens würden die Vorgänge im Parlament auf die Masse völlig wirkungslos bleiben. Wenn nun die parlamentarische Tätigkeit ohne diese Mittel einen agitatorischen Wert nicht besitzt – wozu dann überhaupt noch die Parlamentsbeteiligung? Zur Agitation genügen Presse und Versammlungen allein vollständig; sie besitzen ihren propagandistischen Wert auch ohne den parlamentarischen Hintergrund. Doch wir hören schon Einwände: Eine wirkungsvolle Propaganda kann nur durch Zeitungen und Versammlungen erfolgen, die den proletarischen Charakter an der Stirn tragen. Aber derlei Blätter und Zusammenkünfte werden von der indifferenten Masse ebenso gemieden, wie vom Bürgertum. Wie soll man nun diese Kreise mit den sozialistischen Ideen bekannt machen? Das kann nur durch Vermittlung des Parlaments geschehen; die Reden werden auch von der bürgerlichen Presse mitgeteilt und dringen auf diesem Wege in Kreise, die uns sonst verschlossen blieben.

Das klingt scheinbar plausibel. Nur hat die Geschichte ein Loch! Die bürgerliche Presse wird aus den sozialistischen Reden nur die unverfänglichen Stellen veröffentlichen; sie wird alles streichen, was einen agitatorischen Charakter trägt. Und dann wäre der auf Gewinnung der Indifferenten abzielende Zweck der Parlamentstätigkeit verfehlt! Ausführlich würden propagandistische Reden höchstens von der Arbeiterpresse wiedergegeben. Da dieselbe aber nur in bereits aufgeklärte Kreise dringt, so würde auch hier der eigentliche Zweck nicht erreicht werden; die Leser sind schon aufgerüttelt!

Unter diesen Umständen ist der agitatorische Wert des Parlamentarismus gleich null – ganz abgesehen noch davon, dass die Abgeordneten den propagandistischen Zweck ihrer Reden mehr oder weniger außer Acht lassen. Man muss sich wieder klar, dass Versammlungen und Presse unsere wichtigsten und einzigen Mittel sind, um auf die Masse Einfluss zu gewinnen. Natürlich darf man nicht warten, bis die Masse von selbst kommt; man muss sie aufsuchen, um zunächst durch Flugschriften und sonstige Presserzeugnisse agitatorisch auf sie zu wirken. Dann muss man die Gewonnenen durch Versammlungen in Fluss halten und sie zu gemeinsamen Handeln befähigen. Nur so kommt eine wirkliche Massenbewegung zustande; nur als Masse kann das Proletariat sich selbst befreien!

Der Parlamentarismus eine Quelle der Korruption

In den bisherigen Abschnitten konnte die korrumpierende Wirkung des Parlamentarismus nur im Vorbeigehen gestreift werden. Wir stützen unsere ablehnende Haltung gegenüber der parlamentarischen Tätigkeit auch gar nicht auf die Korruptionsgefahr. Für uns genügt hierbei die einfache Erkenntnis vom Wesen des Parlaments – umsomehr, als die aufgestellten Theorien fast täglich durch neue Beispiele erhärtet werden können. Wenn man einmal überzeugt ist, dass die Arbeiterklasse auf dem gesetzgeberischen Wege nichts erlangen kann, so ist dies allein schon zureichender Grund, der Institution überhaupt fern zu bleiben. Dennoch wollen wir nicht unterlassen, auch die demoralisierenden Folgen des Parlamentarismus in den Kreis unserer Betrachtungen zu ziehen. Vielen dürfte erst dadurch die in der parlamentarischen Beteiligung liegende Gefahr in ihrem vollen Umfange zum Bewusstsein kommen.

Wir stellten fest, dass das Parlament eine Einrichtung sei, in welcher sich die Klassenherrschaft betätigt. Durch diese Institution schafft und gestaltet sich die besitzende Klasse diejenigen Mittel, welche sie jeweilig zum Schutz ihrer Interessen für nötig hält – Mittel, die sich naturgemäß gegen das Proletariat und dessen revolutionäre Bestrebungen richten. Das Proletariat dagegen sucht die Klassenherrschaft zu beseitigen und die Besitzenden zu enteignen. Indem es die herrschende Klasse bekämpft, negiert es all’ deren politische und soziale Einrichtungen, die ihr zu Ausübung der Herrschaft dienen. Schon deshalb müsste die Arbeiterklasse dem Parlament fernbleiben. Am allerwenigsten dürfte sie sich zur positiven Mitarbeit hergeben. Als revolutionäre Klasse sollte das Proletariat vielmehr jedes Zusammengehen mit den Besitzenden ablehnen, auf jede gemeinsame Tätigkeit in den Herrschaftsinstitutionen der letzteren verzichten – selbst wenn praktische Erfolge zu erzielen wären. Mit dem Feinde paktiert man eben nicht! Und was bedeutet denn die positive Politik in Wirklichkeit? Wie wir gesehen haben, nichts anderes, als: ein Mitwirken an Maßregeln und Einrichtungen, welche die Klassenherrschaft befestigen und die proletarische Befreiungsbewegung hemmen. Und das ist doch wohl nicht revolutionär! Man macht sich also schon dadurch einer Inkonsequenz schuldig, dass man überhaupt nach dem Parlament geht, um praktisch mitzuarbeiten. Es ist der Anfang der Korruption.

Im Parlament selbst wird der Verrat an den sozialistisch-revolutionären Prinzipien vollendet. Die Arbeitervertreter müssen ganz unabwendbar dahin gelangen, sobald sie praktische Politik treiben. Würden sie ihre Grundsätze wahren, so könnten sie eben nicht positiv mitarbeiten. Ihre Tätigkeit soll von Erfolg gekrönt sein; man will, dass für die Wähler ein tatsächlicher Nutzen herausspringt. Wenn man aber Derartiges bezweckt, so muss man sich streng auf dem Boden der bestehenden Gesellschaftsordnung halten. Andernfalls hätten die Anträge und Vorschläge keine Aussicht auf Annahme – und angenommen sollen sie doch werden, sonst bedürfte es ja der positiven Mitarbeit überhaupt nicht! Was hat nun aber Aussicht auf Annahme? Wir wissen: wenn dem Proletariat etwas gewährt werden soll, so muss es zugleich für die Besitzenden von irgendwelchem Nutzen sein. Was dabei für die Arbeiter wirklich herauskommt, darüber sind wir uns schon an früherer Stelle klar geworden. Das Proletariat würde ohne derartige Konzessionen füglich nicht schlimmer bestellt sein! Wenn also die sozialdemokratischen Abgeordneten mit ihren Anträgen nicht durchfallen wollen, so müssen sie sich auf unbedeutende Sächelchen, auf kleinliche Flickerei beschränken und immer die Interessen der herrschenden Klasse im Auge behalten. Sie müssen in ihren Forderungen so gemäßigt auftreten, wie irgendein bürgerlicher Abgeordneter. Mit einem Wort: sie sinken zu Possibilisten und Sozialreformern herab! Einmal auf diesem Boden angelangt, arbeiten sie mit den Vertretern des Besitzes gemeinsam an der sogenannten Hebung der Arbeiterklasse. Man schließt die unwürdigsten Kompromisse: man paktiert mit dem Gegner und macht ihn allerlei Konzessionen, um nur einige Brosamen von den Tischen der Begüterten zu erhalten. Es entwickelt sich ein Schacher ohne Ende; es geschehen Dinge, die jeden ehrlichen Menschen mit Ekel erfüllen. Wegen eines Almosens wird das Prinzip, ja die gesamte Arbeiterklasse zehnfach verraten! Tut man es nicht, bleibt man seiner Gesinnung getreu, nun, so wäre die ganze Parlamentstätigkeit für die Katz’ – und man will doch Erfolge haben. Die Korruption zeigt sich in ihrer ganzen Scheußlichkeit!

Dass man dabei die Ziele der Arbeiterbewegung immer mehr aus dem Auge verliert, ist selbstverständlich. Die Betonung des revolutionären Standpunktes könnte ja die praktische Politik nur gefährden. Vielmehr wird alles aufgeboten, um die Bestrebungen des klassenbewussten Proletariats so harmlos als möglich hinzustellen und die Prinzipien zu verschleiern. Auf den Tribünen der Parlamente schwört man der Revolution feierlichst ab und redet bei jeder Gelegenheit von einer friedlichen Entwicklung. Man bringt in seinen Zukunftsplänen den Staat wieder zu Ehren und schließt seinen Frieden mit Thron und Altar. Von der praktischen Politik befangen, verlieren die Abgeordneten des Proletariats schließlich jedes Verständnis für dessen Ziele. Oder sie denken nur an die Gegenwart und vergessen dabei die Zukunft überhaupt. Bewusst oder unbewusst werden die sozialdemokratischen Parlamentarier zu Renegaten der gefährlichsten Art – um so gefährlicher, als sie äußerlich den Schein der Prinzipientreue aufrecht erhalten.

Selbst von den Anhängern des Parlamentarismus wird zugegeben, dass viele Abgeordnete im Parlament ihre revolutionäre Natur verlieren und demoralisiert werden. Dieses Eingeständnis macht insbesondere der Verfasser des „ Tribüne“-Artikels. Er bestreitet aber, dass die Korrumpierung vom Parlament ausgegangen sei. Die betreffenden Abgeordneten hätten ihre Verräterei entweder schon zuvor begangen oder doch den Keim dazu von vornherein in sich getragen. So wird die ganze Korruption zu einer Folge von Charakterschwäche gestempelt! Wir beurteilen den Menschen und seine Handlungsweise dann doch etwas materialistischer. Für uns liegen die Motive des menschlichen Handelns zum weitaus größten Teil in den Verhältnissen, in welchen das Individuum sich befindet. Und davon macht der Parlamentarier keine Ausnahme. Wir haben gesehen, dass die positive Mitarbeit ganz notwendig zur Verleugnung des revolutionären Charakters führt, ja, dieselbe sogar zur Voraussetzung hat. Es ist also ein missglückter Versuch, die Demoralisation der Abgeordneten aus inneren Ursachen herzuleiten. Nur und lediglich das Parlament, beziehungsweise die praktische Tätigkeit in demselben ist die Ursache. Muss doch sogar die „Volks-Tribüne“ zugeben, dass die Korruption der bürgerlichen Gesellschaft ihr Gift auch zu der erhöhten Szene des Parlaments hinschwemmt und dadurch die proletarischen Vertreter demoralisiert werden. Wie kann es da der Verfasser noch verantworten, bei den Arbeitern für die Beschickung der gesetzgeberischen Körperschaften zu plädieren? Dass die Korruption nach seiner Auffassung aus der Gesellschaft stammt und nicht in der parlamentarischen Einrichtung selbst erzeugt wird – dieser Umstand macht doch die Gefahr nicht geringer! Oder sollen wir deshalb, weil die bürgerliche Gesellschaft korrumpiert ist, auch die Vertreter des Proletariats korrumpieren lassen?

Übrigens bestreiten wir, dass die Korruption lediglich aus der Gesellschaft in das Parlament getragen wird. Vielmehr wurzelt die Gefahr für das Proletariat zum Teil in der parlamentarischen Institution. Die Korruption entsteht eben in dem Augenblicke, in welchem die Arbeitervertreter positiv an der Gesetzgebung teilnehmen, also mit der herrschenden Klasse gemeinsame Sache machen und ihre revolutionären Prinzipien für kleine Konzessionen mehr oder weniger preisgeben. Daher ist die Gefahr der Demoralisierung durch den Parlamentarismus auch nur für die Arbeiterklasse vorhanden – nicht so sehr für das Bürgertum.

Die vereinzelten Fälle, dass sozialistische Abgeordnete ihren revolutionären Charakter bewahrten, ändert nichts an der Größe der Korruptionsgefahr. Ein Delescluze, ein Cambon, ein Nieuwenhuis würden der Korruption sicher verfallen sein, wenn sie mit den bürgerlichen Parteien positiv zusammengearbeitet hätten. Auch in Zukunft wird jeder dem demoralisierenden Einfluss erliegen, sobald er praktisch an der Gesetzgebung teilnimmt.

Schon der kollegiale Verkehr, den die parlamentarische Tätigkeit zwischen den Arbeitervertretern und den bürgerlichen Abgeordneten zur Folge hat, ist für die ersteren gefährlich. Sie bewegen sich notgedrungen in Kreisen, die mit der vertretenen Volksklasse nichts gemeinsam haben. Unwillkürlich eignen sie sich dabei Lebensanschauungen, Gewohnheiten und Bedürfnisse an, die der arbeitenden Klasse unbekannt sind. Die früheren Proletarier entwickeln sich in Form und Auftreten, oft sogar in ihren Ideen zu Bourgeois. So entfremden die dem Volke immer mehr; sie verlieren das Verständnis für die Interessen und Bedürfnisse der Arbeiterklasse vollends. Dafür fühlen sie sich heimisch in den Kreisen des Bürgertums und schätzen sich glücklich, wenn vornehme Herren ein wohlwollendes Wort an sie richten, oder wenn man ihre praktischen Vorschläge anerkennt. Mit einem Wort: sie buhlen um Gunst und Beifall der herrschenden Klasse. Dass beispielsweise die Sozialdemokraten im deutschen Reichstage jetzt so respektvoll behandelt werden, das liegt keineswegs an einem veränderten Urteil der Mehrheit, sondern an dem gemäßigten, rücksichtsvollen, reformerisch-kleinbürgerlichen Auftreten der parlamentarischen „Kämpfer“ des Proletariats.

Und welch egoistische Interessen von den „Volksmännern“ zuweilen verfolgt werden, das kann der Eingeweihte nur allzu oft beobachten. Ehrgeiz und Strebertum machen sich breit – auf Kosten des Proletariats, unter dem Deckmantel der Volksfürsorge. Spricht man dich sogar davon, dass sich sozialdemokratische Abgeordnete mit Ministergedanken tragen!

Man könnte die Gefahr dieser ganzen Korruption geringer anschlagen, wie sie auf die Abgeordneten beschränkt bliebe. Das ist aber keineswegs der Fall. Man vergegenwärtige sich nur, welche Rolle die sozialdemokratischen Abgeordneten spielen. So herzlich unbedeutend die Fähigkeiten eines Genossen sein mögen – sobald er in das Parlament gewählt ist, gilt er überall als Autorität und es wäre Hochverrat, ihm die Qualifikation dazu abstreiten zu wollen. Was er tut und spricht, wird als Orakel aufgefasst und bedingungslos fügt man sich seinen Anschauungen. So kommt es, dass schließlich nicht die Abgeordneten ein der Partei entsprechendes Verhalten zeigen, sondern dass umgekehrt die Partei ihr Auftreten dem Betragen der Abgeordneten anpasst. Auf diese Weise kann also eine korrumpierte Parlamentsvertretung die ganze Arbeiterbewegung zur Versumpfung führen, die ganz Sache ruinieren.

Die Autoritätszüchterei ist überhaupt eine der bedenklichsten Seiten des Parlamentarismus. Es wird dadurch die Entwicklung der Masse zu eigenem und selbstständigem Handeln verhindert. Man glaubt, durch die Wahl eines parlamentarischen Vertreters für die Sache genug getan zu haben. Der Abgeordnete wird schon alles machen – natürlich so machen, wie es gut und richtig ist. So braucht sich der sozialdemokratische Michel um nichts weiter zu kümmern. Er braucht nicht einmal die Tätigkeit es Vertreters zu kontrollieren und zu prüfen – er kann ruhig die Schlafmütze auf fünf Jahre über die Ohren ziehen! Und wenn innerhalb der Fraktion und der Leitung die heilloseste Korruption zu Tage tritt: er merkt nichts davon; er lässt sich zuversichtlich in den Sumpf führen, bis er darin erstickt. Dass sich mit einer solchen Masse die Befreiung des Proletariats nicht vollziehen lässt, ist ohne weiteres einleuchtend. Die Bewegung würde total verkommen, wenn es in der bisherigen Weise fortging. Darum fort mit der Autoritätenzüchterei, hinweg mit dem Parlamentarismus! Die Masse soll selbst denken, selbst handeln; sie soll wissen, was sie zu tun hat, und sich in keiner Beziehung bevormunden lassen.

Welch’ unheilvolle Wirkungen der Parlamentarismus auf die große Menge ausübt, das möge noch an einem Beispiele veranschaulicht werden. Wie die Abgeordneten die Bedeutung der parlamentarischen Tätigkeit maßlos überschätzen und teilweise die ganze zukünftige Gestaltung der Gesellschaft auf diesem Wege bestimmen zu können meinen – so wird dieser Auffassung in noch verschrobener Form auch von der Masse gehuldigt. Ein großer Prozentsatz glaubt überhaupt, dass die gegenwärtige parlamentarische Reformarbeit das Endziel der sozialistischen Bewegung sei. Diese Tatsache ist bezeichnend dafür, wie wenig unter der parlamentarischen Ära für die prinzipielle Aufklärung geschieht und welche Verwirrungen durch die einseitige Betonung der gesetzgeberischen Tätigkeit angerichtet werden. Und man bedenke wiederum die Folgen! Die Masse wird abgelenkt vom revolutionären Boden; ihre Bewegungsenergie erschlafft und geht schließlich im parlamentarisch-reformerischen Sumpfe zu Grunde.

Am meisten wird zur Zeit der Wahlagitation gesündigt. Bei dieser Gelegenheit treibt die Korruption ihre hässlichen Blüten. Welche Kompromisse werden da oft geschlossen, wie wird mit den Gegenparteien paktiert und gefeilscht! Wir haben darüber schon so oft geschrieben und so viele Spezialfälle besprochen, dass heute der bloße Hinweis genügt. Und was redet man den Leuten alles vor! Vom Prinzip keine Spur; nichts als Stimmenfang! Über die eigentlichen Bestrebungen der Kandidaten werden die Wähler möglichst im Unklaren gelassen. Man kokettiert mit allen Gesellschaftsschichten; man lügt und fälscht, heuchelt und schmeichelt – nur um einiger Stimmzettel willen! Wir brauchen in dieser Beziehung nur auf das Beispiel des Abgeordneten August Heine zu verweisen. Dieser Herr ist ein Typus der Wahlkorruption!

Gleichzeitig wird innerhalb der Partei ein widerwärtiges Strebertum großgezogen. Es gibt eine hohe Anzahl kleiner Gernegroße, die nichts sehnlicher wünschen, als ein Abgeordnetenmandat. Sie bieten alles auf, um das Ziel ihres Ehrgeizes zu erreichen. Im Interesse ihres Strebens sind sie jeder Charakterlosigkeit fähig. Sie schmarotzen und schweifwedeln vor den einflussreichen Personen, um sich bei denselben beliebt zu machen. Bei Vorgängern, die das Interesse der Sache verletzen, drücken sie ein Auge zu und wagen es nicht, Kritik zu üben. Im Gegenteil, sie vertuschen alles und preisen ihre Gönner himmelhoch. Jedem hervorragenden Abgeordneten steht ein Tross solcher Elemente zur Verfügung. Natürlich gehören gerade diese Streber zu den eifrigsten Vertretern des Parlamentarismus; sie erklären ihn in ihrem eigenen Interesse für den wichtigsten Bestandteil der Sozialdemokratie. Und diese Leute sind es auch, die dann jeden als Hochverräter an der Partei niederschreien, der offen seine Meinung ausspricht und gewissen Dinge kritisiert. Die Knebelung der freien Meinungsäußerung innerhalb der Sozialdemokratie ist zu einem guten Teile das Verdienst des genannten Strebertums, dieser korrupten Frucht des Parlamentarismus!

Noch ein Umstand muss erwähnt werden, der die korrumpierende Wirkung des Parlamentarismus beweist. Wir meinen die Züchtung einer großen Anzahl kleinbürgerlicher  Existenzen innerhalb der Partei. Wenn ein Vertreter als Abgeordneter gewählt wird, so ist es in der Regel mit der simplen Fabrik- oder Werkstattarbeit vorüber. Entweder wird er vom Unternehmertum gemaßregelt und boykottiert, oder er verzichtet freiwillig auf die bisherige Tätigkeit, weil er die gewöhnliche Handarbeit mit der Würde eines Volksvertreters nicht vereinbaren zu können glaubt. Der neugebackene Abgeordnete macht sich dann selbstständig; er gründet sich mit Parteihilfe eine bürgerliche Existenz und spekuliert auf die Arbeitergroschen. Folge dieser allgemeinen Erscheinung ist, dass die Vertreter der Arbeiter Kleinbürger werden, deren Interessen sich nicht mehr mit denen des Proletariats decken. Wenn sich auch dieser Interessengegensatz nicht alsbald geltend macht – er wirkt schließlich doch umgestaltend auf die ganze Denk- und Handlungsweise des Menschen ein. Und auch das gemäßigt-reformerische Auftreten der Sozialdemokratie trug dazu bei, die kleinbürgerlichen Elemente mehr und mehr anzulocken. So erlangte das Kleinbürgertum in der Tat allmählich die führende Rolle über die Arbeiterklasse. Man sehe sich daraufhin nur die sozialdemokratischen Fraktionen in den staatlichen und kommunalen Körperschaften an! Im Reichstage beispielsweise sitzen fast nur kleine Geschäftsleute. Und anderwärts sieht es womöglich noch schlimmer aus.

Das Aufkommen des kleinbürgerlichen Einflusses ist die verderblichste Wirkung des Parlamentarismus. Erst dadurch erreichte die Korruption in der Partei ihren Höhepunkt; erst dadurch ist die ganze Bewegung vom proletarischen Boden abgezogen und dem Possibilismus ausgeliefert worden. Es wird große Anstrengungen der Arbeiterklasse kosten, um hier Wandel zu schaffen.

Wahlbeteiligung oder nicht?

Nachdem wir die Zwecklosigkeit und die Gefahr der parlamentarischen Teilnahme eingesehen, könnte es sich fragen, ob es ratsam sei, überhaupt noch positiv in die Wahlbewegung einzutreten. Dass die Wahlbeteiligung nicht den Zweck haben dürfte, die gesetzgeberischen Körperschaften zu beschicken, das steht für uns von vornherein fest. Wäre es aber nicht trotzdem empfehlenswert, dass die Arbeiterklasse von ihrem Stimmrecht Gebrauch machte? Diese Frage soll im folgenden erörtert werden. Es wird sich zeigen, dass auch in dieser Beziehung das Resultat wieder ein negatives ist.

Für uns hatte die Wahlbeteiligung des Proletariats schon seit langem vorwiegend einen rein statistischen Wert. Wir akzeptierten jenen Standpunkt, welchen Friedrich Engels vertritt; wir erblickten in der Ausübung des allgemeinen Stimmrechts einen Gradmesser für die Reife der Arbeiterklasse. Dass die Wahlbeteiligung einen anderen Wert für das Proletariat überhaupt nicht habe, erklärt Engels ganz ausdrücklich.2 Er fügt aber mit einer gewissen Berechtigung hinzu, dass dies auch genüge. So dachten wir noch bis vor wenig Jahren. Erst die Gestaltung, welche die Sozialdemokratie in neuester Zeit erlangte, machte uns an der Richtigkeit obiger Auffassung irre. Gibt uns denn die sozialdemokratische Wahlbewegung wirklich Aufschluss über die Reife der proletarischen Massen? Und ist das allgemeine Stimmrecht überhaupt dazu angetan, uns in dieser  Hinsicht als zuverlässiges Thermometer zu dienen? Wir müssen das ganz entschieden verneinen. Allüberall haben die Tatsachen gelehrt, dass die Wahlen keinerlei statistisches Material liefern, auf das wir uns mit Sicherheit stützen könnten. Wie sollte dies auch anders sein? Man vergegenwärtige sich doch, in welcher Weise die Wahlen zu Stande kommen!

Die sozialdemokratische Agitation ist allenthalben auf die Gewinnung einer möglichst großen Masse berechnet. Es kommt ihr nur auf die bloße Zahl an. Wie die eroberte Menge aussieht, ob sie den sozialistischen Prinzipien hinlänglich vertraut und für alle Eventualfälle zuverlässig ist – das berücksichtigt man bei alledem nicht. Von solch’ reinem Zahlenstandpunkte wird auch die ganze sozialdemokratische Wahlbewegung beherrscht. Oder besser gesagt: gerade bei dieser Gelegenheit macht sich der Grundsatz, um jeden Preis eine große Masse zu erobern, in der verhängnisvollsten Weise geltend. Und es ist auch keine andere Gelegenheit so verlockend dazu, als eben diese. Hier glaubt man, seine Stärke ziffernmäßig feststellen zu können; hier kommen wenigstens die Größenverhältnisse der feindlichen Scharen zum Ausdruck. Darum geht das Streben jeder Partei dahin, soviel Stimmen als möglich, auf sich zu vereinigen. Die Mittel hierzu sind gleichgültig. In Wirklichkeit läuft also die Wahlagitation auf Stimmenfang hinaus. Und davon macht die Sozialdemokratie keine Ausnahme; im Gegenteil! Man verspricht den indifferenten Massen das Blaue vom Himmel herunter – für den Fall, dass sie sozialdemokratisch wählen. Nicht die historische Mission des Proletariats, nicht der Emanzipationskampf wird betont, sondern die gesetzgeberische Reformarbeit. Und zwar mit notwendiger Konsequenz; denn die parlamentarische Tätigkeit kann sich ja günstigsten Falles nur auf soziale Reformen erstrecken. Dadurch aber wird in der Menge die Hoffnung erweckt, dass ihr Los im Rahmen der heutigen Gesellschaftsordnung verbessert werden könnte. Die eigentlichen Ziele der Arbeiterbewegung bleiben den Leuten unbekannt; sie halten die Parlamentstätigkeit für das wesentliche der Sozialdemokratie. Teilweise bemühen sich die Wahlagitatoren sogar, die revolutionären Bestrebungen des Proletariats den Wählern absichtlich zu verbergen, damit dieselben nicht abgeschreckt werden. Dafür greift man nach echter Demagogenart solche Forderungen auf, welche die unmittelbare Existenz des Volkes berühren. Man weiß, dass die breiten Massen nur mühsam für Zukunftsgedanken zu gewinnen sind, dagegen umso leichter für alles, was ihre gegenwärtige Lage betrifft. Diese halbaufgeklärten Elemente geben dann ihre Stimme auch nur in der Vorraussetzung ab, dass der etwa Gewählte nach dem Parlament geht, um dort in possibilistischer Sozialreform zu machen. Auf diese Weise kann man wohl eine große Stimmenzahl erhalten, aber keine Masse, die zum zielbewussten Handeln fähig ist. Schon hier zeigt sich, dass das Wahlergebnis durchaus keinen Maßstab für die Reife der Arbeiterklasse bildet.

Nun steht es aber um die Qualifikation der sozialdemokratischen Wählermasse noch schlimmer. Zur Zeit der Wahlbewegung liebäugelt man bekanntlich mit anderen Gesellschaftsschichten, dass es seine Art hat. Insbesondere wird auf die kleinbürgerlichen Kreise spekuliert; Handwerker, Kleinhändler und Kleinbauern bilden das Schoßkind der Partei. Auf deren Gewinnung wird die ganze Wahlagitation zugeschnitten. Um diese Elemente nicht abzustoßen, muss man mit den sozialistischen Prinzipien womöglich noch mehr hinter dem Berge halten, als bei den indifferenten Arbeitermassen. Man benutzt die Unzufriedenheit und Notlage des Kleingewerbes, um die dem Untergange Geweihten gegen den Kapitalismus aufzuhetzen. Die Wahlreden erwecken in den bedrückten Kleinbürgern den Glauben, als könne die Sozialdemokratie für sie etwas tun. Es sei nur an die fast unglaublichen Versprechungen erinnert, welche der Reichstagsabgeordnete August Heine seinen kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Wählern in Wort und Schrift gemacht hat! In der Erwartung, dass ihre Lage verbessert werde, geben auch sie ihre Stimme für den Sozialdemokraten ab. Natürlich denken sie ebenfalls an eine Verbesserung im Rahmen der heutigen Gesellschaftsordnung. Sind sie doch im Grunde genommen das konservative Element im Staate; sie hängen mehr denn jeder andere am Bestehenden und sind nichts weniger als revolutionär. Sie träumen davon, mit sozialdemokratischer Hilfe ihre spießbürgerliche Existenz weiterführen zu können; nur behäbiger und gesicherter, als heute. Der zünftlerische Kleinmeister erwartet im Stillen sogar von der Sozialdemokratie – o Ironie der Weltgeschichte! – einen neuen „goldenen Boden“ des Handwerks. Von einer Umgestaltung der Gesellschaft aber wissen diese Leute in der Regel sehr wenig; sie würden sich auch für eine Sozialisierung der Produktion und Konsumtion schönstens bedanken. Und wenn sie wirklich an eine soziale Umformung glauben, so schwebt ihnen ein wunderliches Zerrbild vor, das ihren kleinbürgerlichen Interessen und Meinungen von heute durchaus entspricht. Derartige Elemente und Anschauungen sind aber in der sozialdemokratischen Partei sehr zahlreich vertreten. Unter den anderthalb Millionen Wählern von 1890 bilden sie mindestens die große Mehrheit. Es wäre also total verfehlt, nach jener Zahl die revolutionären Fortschritte des Proletariats beurteilen zu wollen. Vielmehr bilden die kleinbürgerlichen Elemente, durch welche die große Zahl entstanden ist, ein Hemmnis in der Entwicklung zum Sozialismus. Hier bedeutet also die Ziffer gerade das Gegenteil eines Maßstabes für die Reife der Arbeiter; sie beweist das Dominieren der kleinbürgerlichen über die proletarischen Elemente und damit die Unreife der revolutionären Bewegung.

Außerdem gibt es zu jeder Zeit unter den bürgerlichen Klassen eine Anzahl Missvergnügte und Unzufriedene. Sie sind aus irgend einem Grunde dauernd oder vorübergehend mit der Gesellschaft zerfallen; vielleicht fühlen sie sich im Widerspruch mit einem Ereignis, mit einer politischen Handlung – vielleicht sind auch nur ihre persönlichen Interessen verletzt. Gleichviel, was immer der Grund sein möge: am Wahltage gibt mancher von ihnen seinem Grolle dadurch Ausdruck, dass er einen Stimmzettel für den Sozialdemokraten in den Kasten wirft. Er knüpft an diese Handlungsweise keinerlei Erwartungen – er lässt nur seinem Unwillen freien Lauf, ohne deshalb die Anschauungen der Sozialdemokratie zu teilen. Ein anderer Teil der Wahlberechtigten stimmt indes für den sozialdemokratischen Kandidaten, weil er sich wirklich Erfolg davon verspricht, billigt aber ebenfalls nicht die Ziele der Sozialdemokratie. Hierher gehören insbesondere die kleinen Beamten usw., welche höhere Gehälter erstreben und dies mit Hilfe der Sozialdemokraten erreichen zu können glauben; ferner Gewerbetreibende und Rentiers, die am Fallen der Zölle usw. ein Interesse haben. All’ diese Leute bauschen wohl die sozialdemokratischen Stimmen auf, verdunkeln aber nur das Bild der eigentlichen Bewegung.

Wenn man zuverlässiges Zahlenmaterial aus der Wahlbeteiligung gewinnen wollte, so müsste zunächst die Agitation durchaus prinzipiell betrieben werden. Man müsste von allen praktischen Fragen der Gegenwart absehen, auf die positive Mitarbeit im Parlament verzichten usw. Vor allen Dingen dürften aber die Gewählten nicht in den gesetzgeberischen Körperschaften erscheinen. Diejenigen Stimmen, welche unter solchen Bedingungen abgegeben würden, könnten wenigstens ein halbwegs zuverlässiges Bild vom Stande der proletarischen Emanzipationsbewegung bieten. Denn es würden jetzt nur noch Solche für den Kandidaten eintreten, die keine Augenblicksinteressen verfolgen, sondern lediglich das Prinzip im Auge haben. Aber trotzdem glauben wir nicht, dass das auf diese Weise erzielte Wahlresultat wirklich als untrüglicher Gradmesser für die Reife des Proletariats dienen könnte. Man hätte wohl ungefähr die Zahl der zielbewussten, d.h. derjenigen, welche sich über die Bestrebungen der Arbeiterklasse klar sind. Aber was böte Gewissheit, dass diese Zweckbewussten im entscheidenden Moment auch tatsächlich für ihre Ziele entstehen? Was bürgt für ihre Zuverlässigkeit? Das Abgeben eines sozialistischen Stimmzettels ist doch wohl keine hinreichende Garantie! Was hat es denn mit dieser Handlung auf sich? Riskiert etwa der Abstimmende seine Haut dabei? Um ein vielfach zusammengefaltetes Stück Papier in die Urne zu geben, dazu gehört doch wohl wahrlich nicht so viel Mut und Festigkeit – selbst angesichts der zahlreichen Verletzungen des Wahlgeheimnisses! Wenn man sich unbedingt auf diese an der Abstimmung beteiligten Arbeiter verlassen wollte, so würde man wahrscheinlich arge Enttäuschungen erleben. Eine Bewegung, welche sich die Befreiung des Proletariats zum Ziele gesteckt hat, darf nur mit jenen rechnen, die offen für ihre Sache eintreten und kein persönliches Opfer scheuen, weder Strafe, noch Maßregelung. Über Mittel und Gelegenheit zu einer derartigen proletarischen Heerschau werden wir im nächsten Aufsatze sprechen.

Allerdings kann man über die Zweckmäßigkeit der Wahlbeteiligung im statistischen Interesse verschiedener Meinung sein. Ob man sich zwecks Zahlengewinnung in die Wahlbewegung mischt oder nicht, das ist füglich keine prinzipielle Streitfrage; die Entscheidung darüber berührt nicht einmal die Taktik im allgemeinen. Eine Gefahr oder Inkonsequenz könnten wir in einer diesbezüglichen Benutzung des Stimmrechts ebenso wenig erblicken. Daher halten wir es nicht für nötig, diejenigen Genossen zu bekämpfen, welche eventuell in die Wahlbewegung eintreten wollen, um lediglich die Zahl der Gleichgesinnten festzustellen, nicht um das Parlament zu beschicken. Aber warnen möchten wir nochmals, mit dem Zahlenergebnis für alle Fälle zu rechnen. Es kommt eben, wie gesagt, nicht auf die Ziffern an, sondern auf den Geist und die Tatkraft, welche in der Bewegung zu finden sind. Und gerade hierüber gibt uns das Wahlresultat keinerlei Aufschluss. Darum können wir uns mit den statistischen Erhebungen dieser Art überhaupt nicht befreunden – selbst wenn durch sie ein sicheres Bild vom Zielbewusstsein der Arbeiterklasse zu gewinnen wäre. Aus demselben Grunde sind auch die rechnerischen Betrachtungen hinfällig, welche Friedrich Engels jüngst in einem Artikel der „Neuen Zeit“ angestellt hat.3 Statistische Ausnahmen sind auch gar nicht nötig. Wir werden ja noch sehen, dass es zuverlässigere Mittel gibt, um den inneren Zustand des Proletariats zu veranschaulichen.

Zum Schluss noch einige Bemerkungen über den agitatorischen Wert, den man der Wahlbeteiligung gewöhnlich beizulegen pflegt. Nun, wir unterschätzen die Wahlpropaganda keineswegs. Aber wir haben uns auch überzeugt, dass die Agitationsweise der heutigen Sozialdemokratie absolut nicht geeignet ist, prinzipielle Aufklärung und revolutionären Geist zu verbreiten. Wir werden die Zeit der Wahlen besser ausnutzen; bietet sie doch die sicherste Gelegenheit, um propagandistisch auf die Massen einwirken zu können. Und wir werden mit einer prinzipiell negierenden Agitation größere Erfolge erzielen und den Befreiungsbestrebungen des Proletariats einen wichtigeren Dienst erweisen, als die Sozialdemokratie mit ihrer ganzen positiven Wahlbeteiligung! Wir haben dann zwar nicht die Ehre, im Parlament aktiv vertreten zu sein, aber wir können auf eine Masse zählen, die sich bewusst ist, was sie zu tun hat.

Unsere Taktik

Mit gegenwärtigem Aufsatze schließen wir die Artikelserie über den Parlamentarismus. Das bisher Ausgeführte war in der Hauptsache darauf beschränkt, die Arbeiterklasse vor dem parlamentarischen Wege zu warnen. Jetzt handelt es sich darum, diejenigen Mittel zu erörtern, welche an Stelle des Parlamentarismus treten sollen. Wir gehen dabei von folgenden Grundgedanken aus.

In der sozialen Bewegung stehen sich die Interessen zweier Gesellschaftsklassen gegenüber. Bourgeoisie und Proletariat ringen miteinander. Zu Anfang ist freilich die Situation noch nicht recht klar und die eigenen Reihen der beiden Gegner sind durch inneren Widerstreit zerklüftet. Aber je weiter sich die kapitalistische Wirtschaftsform entwickelt, je mehr sie mit allen Zwischengliedern aufräumt, desto deutlicher treten die eigentlichen Gegensätze zutage, desto handgreiflicher kommt den feindlichen Scharen auf jeder Seite die Interessengemeinschaft zum Bewusstsein. Damit hören die Einzelkämpfe auf; der Kampf der Klasse zu Klasse entbrennt. In diesem Stadium der sozialen Bewegung kommt es also auf die Mitwirkung des gesamten Proletariats an. Daher gilt es, die Arbeiter zu großen, allgemeinen Massenbewegungen zu vereinigen. Nur so bilden sie gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft eine Macht. Und je umfangreicher und zielbewusster eine derartige Bewegung in die Erscheinung tritt, umso mehr sieht die Bourgeoisie das unhaltbare ihrer Position an. Doppelt notwendig ist der feste Zusammenschluss aller proletarischen Elemente dann, wenn die Stunde der Befreiung schlägt. Hier erreicht die soziale Bewegung ihre höchste, letzte Phase; der Klassenkampf dreht sich um Sein oder Nichtsein der alten Gesellschaft. Der Sieg des Proletariats wird davon abhängen, ob die Massen zur gemeinsamen Aktion vorbereitet sind.

Den Bestrebungen, die proletarischen Kräfte zu vereinigen, leistet schon die wirtschaftliche Entwicklung Vorschub. Mit der Konzentration des Kapitals werden auch die Arbeitermassen mehr und mehr zusammengezogen. In den großen Werkstätten der modernen Produktionsweise, in den Zentren der Industrie staut sich das Proletariat immer riesenhafter. Tausende und Abertausende sind hier in das gleiche Joch der Knechtschaft gespannt. Sie alle empfinden den Druck des kapitalistischen Systems in derselben Weise; sie alle streben nach der Befreiung oder doch nach Erleichterung. Und diese Gleichheit der sozialen Lage, diese Gemeinschaft des Strebens schweißt die Massen auch innerlich zusammen. Von den einzelnen Zentren ausgehend, zieht dann die Interessensolidarität immer weitere Kreise. In dem Maße, wie sich Produktion, Handel und Verkehr internationaler gestalten, wächst auch die Internationalität des proletarischen Fühlens und Denkens. Schließlich werden auf diese Weise die Arbeiter der ganzen Welt geeint.

So treibt die bürgerliche Gesellschaft tatsächlich selbst darauf hin, das Proletariat zu zentrieren und solidarisch zu verbinden. Diese Tendenz der modernen Wirtschaftsweise sollte für die Taktik der Arbeiterbewegung von ausschlaggebender Bedeutung sein. Insbesondere würde dadurch die Lösung der Organisationsfrage wesentlich gefördert werden. Für uns ergeben sich in dieser Beziehung folgende Schlüsse: Ist das zentralistische Moment durch die Produktionsverhältnisse genügend entwickelt, dann ist jede äußere Zentralisation überflüssig; die Massen sind bereits aufgrund der ökonomischen Bedingungen vereint und werden für alle Fälle durch ihre Interessengemeinschaft zusammengehalten. Hat aber der Wirtschaftsprozess bisher nicht zu einer entsprechenden Konzentration des Proletariats geführt, so lässt sich auch durch keine Zentralorganisation Ersatz schaffen. Überall, wo man solch künstliche Mittel nötig zu haben glaubt, fehlt den Massen zurzeit das natürliche, das innere Band, auf dessen Vorhandensein es doch vor allem ankommt. Eine zentralistische Organisationsform ist schon möglich, wenn die Kräfte noch vereinzelt, über weite zersplittert sind. Ja, viele Zentralvereinigungen gründen gerade hierauf ihre Existenzberechtigung. Was nützt aber eine derartige Zentralisation, wenn sie in den Wirtschaftsverhältnissen keinen Rückhalt hat? Was will eine Organisation, die an den einzelnen Orten über keine aktionsfähige, durch den Industrialismus zusammengeschweißte Masse verfügt? Man sieht, wie unzweckmäßig und hinfällig die zentralistische Organisationsform ist. Sie wird auch tatsächlich überflüssig durch die wirtschaftliche Konzentration und das wachsende Solidaritätsgefühl der Arbeiter.

Je mehr nun das Proletariat durch die Wirtschaftsentwicklung zusammengezogen wird, desto günstiger gestaltet sich der Boden für den Klassenkampf. Vor allem werden dadurch allgemeine Massenbewegungen möglich, die wir oben als Grundlage revolutionärer Taktik bezeichneten. Die in den Wirtschaftszentren angestauten Arbeiter können sich rasch zu gemeinsamen Aktionen vereinigen. Sie sind in der Lage, der Bourgeoisie als Masse gegenüberzutreten und so ihren Forderungen Geltung zu verschaffen. In dieser Gemeinsamkeit der Handelns beruht heute die Stärke der Arbeiterklasse. Die Emanzipationskämpfe des Proletariats finden demnach in der ökonomischen Zentralisation der Massen ihre sicherste Stütze. Und weiter trägt der Zusammenschluss aller Kräfte zur Erhöhung des proletarischen Machtgefühls bei. In dem Bewusstsein, eine gleichstrebende Menge zu bilden, liegt die Siegeszuversicht der Arbeiter. Von größter Wichtigkeit ist schließlich der Umstand, dass bei einer wirklichen Massenbewegung das Proletariat selbst für seine Ziele und Forderungen eintritt. Jeder Teilnehmer kämpft in eigener Person; jeder Einzelne setzt sein ganzes Ich für die Gesamtbestrebungen ein. Dadurch wird das gemeinsame Interesse aller an den sozialen Bewegungen wach erhalten; der Klassenkampf wird auf den Mut und die Tatkraft der Masse selbst gestützt. Wir bekommen damit Gewissheit, dass das Proletariat auch innerlich die Kraft und Fähigkeit besitzt, sich aus den Banden der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu befreien. Soll dagegen der Kampf aufgrund irgend eines Repräsentativ-Systems ausgefochten werden, so bleibt die Masse aktuell unbeteiligt. Sie muss sich im günstigsten Falle mit der passiven Rolle des Zuschauers begnügen. Alles wird von den gewählten Vertretern besorgt. Auf diese Weise stumpft das Interesse der Menge ab und die soziale Bewegung bleibt der Einsicht und der Entschlossenheit weniger Personen überlassen. Schließlich würde die Masse des eigenen, opferfreudigen Handelns so entwöhnt sein, dass sie das Befreiungswerk nicht vollbringen könnte. Diese Gefahr muss namentlich bei der Beurteilung des Parlamentarismus berücksichtigt werden. Schon deshalb betonen wir an Stelle des vertretungsweisen Kampfes die unmittelbare Aktion der Arbeiter selbst. Und wenn dann die Masse durch eigene Tat zu Errungenschaften gekommen ist, wo wird der kleinste Sieg ihr Machtbewusstsein mehr kräftigen, als der größte parlamentarische Erfolg.

Dies unsere Ansicht über den Wert der Massenbewegungen im Allgemeinen. Es fragt sich nun, wie dieses Kampfmittel im einzelnen Falle beschaffen sein soll. Zunächst kommt es darauf an, dass die Aktionen keinen rein lokalen Charakter tragen. Wie der proletarische Emanzipationskampf immer allgemeiner und internationaler geworden ist, so muss auch die ganze Bewegung von großen, einheitlichen Gesichtspunkten beherrscht werden. Die Arbeiter dürfen sich nicht nach Spießbürgerart mit allerlei lokalem Kohl befassen. Was haben kommunale Angelegenheiten, wie Hundesteuer und Straßenbeleuchtung, mit dem Weltproletariat zu tun? Durch derartige Fragen werden die allgemeinen Ziele verdunkelt oder ganz bei Seite geschoben; der internationale Sozialismus sinkt zu einer gewöhnlichen Krähwinkler Dorfangelegenheit herab. Auf den Gang der revolutionären Gesamtbewegung übt diese kleinbürgerliche Kirchenturmspolitik nicht den geringsten Einfluss aus. Und doch sollte die sozialistische Arbeiterschaft ihre Kräfte nur auf Dinge verwenden, die mit der ganzen Bewegung in Zusammenhang stehen; sie sollte erst dann in Aktion treten, wenn dies stärkend und fördernd auf das Gesamtproletariat zurückwirken vermag. Daher müssen in erster Linie solche Fragen aufgeworfen und flüssig gehalten werden, die überall das gleiche Interesse und Verständnis finden. Natürlich darf es sich dabei nur um rein prinzipielle Dinge handeln. So kommt eine Massenbewegung zustande, die das ganze internationale Proletariat umfasst und ihre Wellen über die entlegensten Punkte der Erde verbreitet. Diese Gemeinsamkeit der Aktion wird die Arbeiter aller Länder nur um so enger verbinden; der gleichzeitige Kampf gegen den gemeinsamen Feind wird den prinzipiellen Zusammenhalt festigen und die internationale Solidarität praktisch bekunden.

In diesem Sinne ist für uns namentlich die Maifeier von großer Bedeutung. Das haben wir bei jeder Gelegenheit betont. Bedauerlich ist nur, dass die sozialdemokratische Reichstagsfraktion die Maibewegung gleich zu Anfang durch ihr kläglich-reaktionäres Verhalten gestört und aufgehalten hat. Wenn trotz dieser Abwiegelungsversuche die erstmalige Feier auch in Deutschland höchst imposant verlief, so beweist das, wie sehr der Grundgedanke in den Massen gezündet hatte. In zweiten Jahre zeigte sich der unheilvolle Einfluss des sozialdemokratischen Führertums in verstärktem Maße. Die Feier des ersten Mai wurde auf den nächstfolgenden Sonntag verlegt. Dadurch verlor die Bewegung für Deutschland ihren ursprünglichen, demonstrativ-revolutionären Charakter. Aber nicht nur das – auch die Bedeutung der Maifeier in anderen Ländern wurde durch das rückläufige Verhalten der deutschen Sozialdemokratie beeinträchtigt. Denn das wesentlichste Moment fehlte ja nun: das Einheitliche und Gleichzeitige der Bewegung in allen Industriestaaten der Welt.

So hat sich die deutsche Sozialdemokratie schwer gegen die Sache des internationalen Proletariats vergangen. Aufgabe der unabhängigen Sozialisten wird es sein, den Fehler der alten Partei nach Möglichkeit wieder gut zu machen. Im gegenwärtigen Jahre mangelt es freilich an einer praktischen Gelegenheit dazu, denn der erste Mai fällt auf einen Sonntag. Um so mehr wird für die folgenden Jahre in dieser Beziehung getan werden. Die Maifeier muss sich immer vollkommener zu einer internationalen Massenkundgebung ausgestalten. Sie ist die wirksamste und bedeutungsvollste Demonstration des Proletariats gegen die kapitalistische Gesellschaft und deren Einrichtungen. Hier stellen die Massen selbst ihre Forderungen auf. Sie feilschen nicht mit dem Gegner um seine Zugeständnisse; sie fordern nur und protestieren. Statt mit der bürgerlichen Klasse zu unterhandeln, werfen sie ihr rücksichtslose den Fehdehandschuh hin. Und Mann für Mann steht in eigener Person für die Forderungen der sozialistischen Arbeiterschaft ein; es gibt keine Repräsentation und keine Vermittlung. Kurz, das Proletariat tritt hier durchaus als revolutionäre Klasse auf. Es zeigt, dass es entschlossen ist, den Emanzipationskampf selbst und furchtlos auszufechten.

Ihren großartigen Charakter gewinnt die Maifeier insbesondere dadurch, dass zur gleichen Zeit auf dem ganzen Erdball kraft vereinten Wollens die Proletarierarme ruhen und das Räderwerk der Industrie stille steht. In dieser Tatsache liegt für die Arbeiter aller Länder etwas Begeisterndes; ihr Machtbewusstsein wird gewaltig gehoben, ihr Tatendrang kräftig gefördert. Zwar ist es zunächst nur ein einziger Tag, den das Proletariat der Bourgeoisie abringt – aber dieser Erfolg genügt vollauf, um der bürgerlichen Gesellschaft die Stärke der Arbeiterklasse fühlbar zu machen. Wie dann, wenn diese Millionen proletarischer Hände dem Kapitalismus zugleich für immer den Dienst versagen? In diesem Gedanken erbebt das bürgerliche Herz! Keine Wahlbewegung, keine gesetzgeberische Aktion kann je mit so nachhaltiger Kraft wirken, als die internationale Maifeier des gesamten Proletariats.

Gleichzeitig bietet uns die Maibewegung ein sicheres Bild von der inneren Reife, von der zielbewussten Entschlossenheit der Arbeiterklassen. Was die Wahlstatistik niemals erkennen lässt, das haben wir hier leibhaftig vor Augen: die Menge derjenigen, welche mit ihrer ganzen Person, mit ihrer Existenz, mit Leib und Leben für ihre Bestrebungen eintreten. Auf diese Masse darf man im endgültigen Emanzipationskampfe mit absoluter Sicherheit zählen. So ist die Maifeier in der Tat ein Gradmesser für die Bereitschaft des Proletariats – eine internationale Heerschau der sozialistischen Befreiungsarmee.

Zu einer umfangreichen Massenaktion kann auch die Zeit der Wahlen benutzt werden. Wir wiesen schon früher wiederholt darauf hin. Keine Gelegenheit ist ja für unsere Propaganda mehr geeignet, als gerade die Wahlbewegung. Natürlich haben wir nicht die positive Beteiligung im Auge. Vielmehr muss die Wahlagitation durchaus prinzipiell und ablehnend betrieben werden. Die masse sind über Wesen und Wirkung des Parlamentarismus aufzuklären. Es darf kein sozialistisches Mandat aus der Urne hervorgehen, beziehungsweise zur Ausübung gelangen. Man kann bloße Zählkandidaten aufstellen, weiße Zettel abgeben oder welche Form immer wählen – es gilt, die Arbeiterklasse zu einem allgemeinen Protest gegen die kapitalistische Gesellschaft und ihre Herrschaftsinstitutionen zu vereinigen. Von solchen Gesichtspunkten geleitet, wird die proletarische Wahlbeteiligung zu einer großen prinzipiellen Massendemonstration. Sie eint die Arbeiter zu einer gemeinsamen Aktion und schafft aufgrund des gleichen Zieles einen festen Zusammenhalt. Und in diesem Sinne hat die Wahlbeteiligung für den sozialistischen Emanzipationskampf eine wesentliche Bedeutung. Vorraussetzung ist natürlich, dass es sich nicht irgendwelche Gemeinde- und Kirchenratswahlen handelt. Denn diese haben mit der Gesamtbewegung des Proletariats nichts zu tun, sie sind eine kleinbürgerlich-demokratische Lokalangelegenheit. Zu einer Massenaktion mit allgemeinen Gesichtspunkten lassen sich nur die großen Parlamentswahlen ausnützen. Und auch hier bleibt die Bewegung noch immer auf ein einzelnes Land beschränkt, während wir uns doch die Internationalität des Handelns zum eigentlichen Ziele gesteckt haben.

Außerdem kommt es auf dem Boden unseres Wirtschaftslebens fast täglich zu Konflikten, aus denen sich größere und kleinere Bewegungen des Proletariats entwickeln. Wir gelangen damit in den Bereich der Streiks und der Boykotts. In diesen zwei Erscheinungen haben wir es mit Massenaktionen von besonderer Tragweite zu tun. Hier treten sich Bourgeoisie und Proletariat direkt gegenüber. Es entspinnt sich ein rein ökonomischer Kampf, der allerdings auch andere, beispielsweise politische Motive haben kann. Im Streik greift das Proletariat die Grundlage der kapitalistischen Wirtschaftsweise an: die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft. Es verweigert einfach den Dienst und bringt dadurch die Produktion zum Stillstand. Damit wird die Bourgeoisie an der empfindlichsten Stelle getroffen: der Profit ist angegriffen, die Existenz des Kapitalsten bedroht. Gegenüber der wirtschaftlichen Bewegung des Proletariats tritt die Ohnmacht der bürgerlichen Gesellschaft klar zutage. Ein großer, zielbewusst geführter Streik ruft in der ganzen kapitalistischen Welt Panik und Aufregung hervor. Das gesamte Wirtschaftsleben wird durch eine solche Massenaktion außer Rand und Band gebracht. Die Grundlagen der sozialen Organisation schwanken und krachen. Wir erinnern nu an die Kohlenarbeiterstreiks in Deutschland, in Frankreich, in Belgien und gegenwärtig England. Eine Erschütterung der bürgerlichen Gesellschaft tritt selbst dann ein, wenn die Arbeiter äußerlich unterliegen. Man denke an die gewaltigen Wirkungen, welche der jüngste Buchdruckerausstand trotz seines unglücklichen Verlaufes auf das ganze moderne Wirtschaftsgetriebe ausgeübt hat. Und jeder Streik, möge er nun gewonnen oder verloren werden, stärkt das Machtbewusstsein und den Kampfesmut des Proletariats; im Falle des Unterliegens wird dies überdies seitens der Arbeiter ein um so festerer Zusammenschluss die Folge sein. Außerdem werden durch die Streikbewegungen große Massen im Fluss gebracht und im selbstständigen Kampfe gegen das Kapital geschult. Je umfangreicher also ein Ausstand ist, desto nachhaltiger und wichtiger ist seine Bedeutung für den proletarischen Emanzipationskampf. Und dass die Streiks an Ausdehnung und Häufigkeit zunehmen, dafür sorgt schon die Wirtschaftsentwicklung und die damit verbundene Steigerung der sozialen Gegensätze. Namentlich werden in Folge der ökonomischen Zentralisation Massen in Aktion treten, wie nie zuvor.

Für das Proletariat sind die Streiks und Boykotts die einzig wirksamen Mittel – diejenigen Formen des Klassenkampfes, welche allein zum Siege führen. Das ganze soziale und politische Gebäude hat die wirtschaftlichen Verhältnisse zur Grundlage. Eine ökonomische Veränderung zieht ohne weiteres eine solche im gesamten Gesellschaftskörper nach sich. Wenn nun der Arbeiter irgendwelche Besserstellung oder Umwälzung herbeiführen will, so kann er dies lediglich durch Einwirkung auf das Wirtschaftsleben. Tatsächlich sind auch die Kardinalfragen der sozialen Bewegung rein ökonomischer Natur. Daher muss der ganze Emanzipationskampf des Proletariats auf das wirtschaftliche Gebiet übergeleitet werden. Dies schon aus dem Grunde, weil der Arbeiter überhaupt nur ein ökonomischer Faktor ist und einzig als solcher eine Macht repräsentiert. Wie groß diese proletarische Macht im Wirtschaftsleben ist, das haben wir oben veranschaulicht.

Auf dem politisch-parlamentarischen Wege wird die Arbeiterklasse niemals etwas erreichen. Sie besitzt hier als unterdrückte Gesellschaftsschicht keinen Einfluss, so lange die Klassenherrschaft überhaupt besteht. Und ehe die politische Macht der Bourgeoisie gebrochen ist, hat das Proletariat auf wirtschaftlichem Gebiete längst die Oberhand erlangt. Es braucht also nicht erst auf die Erringung des gesetzgeberischen Einflusses zu warten. Übrigens könnte die parlamentarische Macht den wirtschaftlichen Zielen der Arbeiter gar nichts nützen. Denn in Wirklichkeit macht sich die Sache so: Das politische Bauwerk des Klassenstaates stürzt zusammen, sobald das Proletariat die kapitalistische Produktionsform aufhebt. Nicht aber kann durch eine politische Aktion die ganze Wirtschaftsweise von Grund aus verändert werden. Wie wollte man beispielsweise auf dem parlamentarischen Wege das ökonomische Lohngesetz beseitigen oder wirkungslos machen? Gewiss, ein solcher Gedanke wäre albern! Und doch begegnet man in sozialdemokratischen Kreisen nur zu häufig diesem Standpunkt; und zwar unter der Firma: staatliche Lohnregulierung. Der Staat soll einen Minimallohn garantieren. In Wirklichkeit lässt sich das Lohngesetz einzig mit Hilfe wirtschaftlicher Mittel durchbrechen; kraft seiner Organisation muss das Proletariat auf dem Arbeitsmarkte das Verhältnis von Angebot und Nachfrage entsprechend regeln, d.h. die industrielle Reservearmee außer Funktion setzen. Und wie die Gesetzgebung in Sachen Lohnfrage machtlos ist, so auf dem gesamten Wirtschaftsgebiete überhaupt. Nicht einmal in untergeordneten Angelegenheiten kann hier das Parlament die Initiative ergreifen. Die ganze wirtschaftliche Gesetzgebung ist lediglich ein Sanktion, eine Kodifizierung bereits vorhanden Zustände und praktisch geübter Normen. Somit werden die Arbeiter auf dem gesetzgeberischen Wege nur dann etwas zugebilligt erhalten, wenn sie es in praxi schon erworben haben oder wenn es im Interesse der herrschenden Kreise liegt. In jedem Fall ist die soziale Bewegung der treibende Faktor. Es ist daher unverantwortlich, die Arbeiter vom wirtschaftlichen auf das rein politische Gebiet hinüberziehen zu wollen.

Ist nun der Klassenkampf lediglich auf ökonomischem Boden auszufechten, so werden Streik und Boykott natürlich zu den einzigen Waffen des Proletariats. Weitere Mittel sind auch gar nicht nötig. Beide Waffen genügen vollauf, um dem Kapital die Spitze zu bieten. Aber die Streiks und Boykotts sind nicht bloß geeignet, augenblickliche Vorteile zu erringen; sie lassen sich auch als politische Kampfmittel ersten Ranges verwenden. Je mehr sich die anderen Wege als verfehlt erweisen, desto sicherer bricht sich die Bahn, dass schon der Streik allein die bürgerliche Gesellschaft stürzen könne. Die Arbeiter sehen dies auch tatsächlich immer mehr ein. Schon wurde in Belgien der Generalstreik proklamiert, um allgemeine politische Forderungen zu erkämpfen. Und der Gedanke eines Weltstreiks macht bereits die bürgerliche Gesellschaft erschauern. In der Tat: wenn das internationale Proletariat zum Massenstreik greift, dann schlägt die Totenstunde der kapitalistischen Wirtschaft. Vielleicht genügt es hierzu schon, wenn nur ein Teil der menschlichen Arbeitskraft aus dem bürgerlichen Produktionsprozess herausgezogen wird. Denn die Organisation der modernen Wirtschaftsweise gestaltet sich nachgerade so verschlungen, ihre Arbeitsteilung wird so kompliziert, dass sie keines ihrer Glieder entbehren kann.

Die Massenbewegungen zu organisieren, den Klassenkampf zu leiten und den Streik in unserem Sinne zu einem politischen Machtmittel auszugestalten – das wird Aufgabe der Gewerkschaften sein. Zu diesem Zwecke müssen sie mit sozialistisch-revolutionärem Geiste erfüllt werden. Nur so können sie ihre Mission erledigen. Damit erlangen sie aber auch eine großartige, weltgeschichtliche Bedeutung.


Anmerkungen

1. Vgl. Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates.

2. Vgl. Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, S. 139.

3. Vorliegender Aufsatz kann in dieser Beziehung gleichzeitig als Widerlegung der betreffenden Ausführungen dienen.