Mai 1930 // Artikel
Mao Zedong // Gegen die Buchgläubigkeit

Gegen die Buchgläubigkeit

Mai 1930

I. Wer eine Sache nicht studiert, hat kein Recht mitzureden

Hast du in irgendeiner Frage keine Untersuchungen vorgenommen, dann verlierst du das Recht, darüber mitzureden. Ist das nicht zu barbarisch? Nein, keineswegs! Hast du nämlich den augenblicklichen Stand der Frage und ihre Geschichte nicht geprüft, weißt du nicht, worum es sich in Wahrheit handelt, dann wirst du folglich, wenn du dich zu dieser Frage äußerst, unvermeidlich in den Tag hinein schwatzen. Bekanntlich löst man mit bloßer Faselei keine Fragen. Warum sollte es denn ungerecht sein, wenn dir in diesem Fall das Mitspracherecht entzogen wird? Viele Genossen reden den ganzen Tag lang mit geschlossenen Augen ins Blaue hinein. Für einen Kommunisten ist das eine Schande. Wie kann denn ein Kommunist vor der Wirklichkeit die Augen verschließen, dafür aber den Mund voll nehmen?

Unmöglich!
Ausgeschlossen!
Das Hauptgewicht auf die Untersuchungen legen!
Schluss mit dem Geschwätz!

II. Fragen untersuchen heißt sie lösen

Kannst du eine Frage nicht lösen? Nun gut, dann untersuche doch ihren gegenwärtigen Stand und ihre Geschichte! Kennst du alle diese Umstände so gut wie deine eigene Tasche, dann findest du auch den Weg zur Lösung der Frage. Jede Schlussfolgerung ergibt sich, wenn die Untersuchung einer Situation beendet ist, nicht wenn sie anfängt. Nur ein Tölpel zerbricht sich allein oder in Gemeinschaft mit anderen den Kopf, um ohne Untersuchung der Sachlage „sich eine Methode auszudenken“ oder „auf einen Einfall zu kommen“. Doch wohlgemerkt: Er wird sich überhaupt nicht Rechtes ausdenken, nichts Gescheites einfallen lassen. Mit anderen Worten, er wird ganz gewiss auf eine falsche Methode verfallen, einen falschen Entschluss fassen.

Viele Inspektoren, viele Partisanenführer, viele Funktionäre, die ein neues Amt antreten – sie alle lieben es, kaum dass sie an ihrem Bestimmungsort eingetroffen sind, ihre Meinung über die politischen Maßnahmen zum besten zu geben, und, nachdem sie etwas Äußerliches, etwas Belangloses wahrgenommen haben, reden sie schon, eifrig mit den Händen gestikulierend, daher und erklären, die wäre unrichtig, jenes ein Fehler. Ein solches rein subjektivistisches „Daherreden“ ist doch wirklich abscheulich! Damit kann man der Sache nur schaden, wird man die Unterstützung seitens der Massen verlieren, vermag man keine Frage zu lösen.

Viele führende Funktionäre seufzen nur, wen sie auf eine schwierige Frage stoßen, und können sie nicht lösen. Verärgert bitten sie, ihnen eine andere Arbeit zuzuweisen, den für die gegenwärtige seien sie „weniger geeignet“, sie könnten sie „nicht bewältigen“. So sprechen Feiglinge. Lauft euch doch nur die Beine ab, seht euch überall in eurem Arbeitsgebiet um und lernt von Konfuzius „nach jeder Sache fragen“1. Dann könnt ihr, wie wenig ihr auch geeignet sein möget, die Fragen lösen. Denn solange ihr euch nicht auf den Weg gemacht habt, bleibt es in euren Köpfen leer. Erst nachdem ihr von draußen zurückgekehrt seid, ist in euren Köpfen keine Leere mehr, habt ihr doch alle für die Lösung der Fragen notwendigen Unterlagen mitgebracht. Und so werden denn auch die Fragen gelöst werden. Muss man da unbedingt sich auf den Weg machen? Nicht unbedingt. Man kann auch die Personen, die sich in der Sachlage auskennen, zu einer Arbeitssitzung zusammenrufen, in der die sogenannten schwierigen Fragen geprüft werden, ihre „Herkunft“ eruiert und ihr „gegenwärtiger Stand“ geklärt wird, und eure schwierigen Fragen finden leicht ihre Lösung.

Eine Frage untersuchen heißt gleichsam „neun Monate schwanger gehen“; die Frage lösen heißt gleichsam „an einem Tag gebären“. In der Untersuchung der Frage liegt ihre Lösung.

III. Gegen die Buchgläubigkeit

Was in einem Buch steht, sei immer richtig – so empfinden noch bis auf den heutigen Tag kulturell rückständige chinesische Bauern. Wer hätte aber gedacht, dass es auch Kommunisten gebe, die bei Diskussionen in der Partei immer wieder sagen: „Her mit den Büchern!“ Wenn wir sagen, die Weisungen der übergeordneten Organisation seien richtig, so keineswegs deshalb, weil sie eben von der „übergeordneten Organisation“ kommen, sondern deshalb, weil der „Inhalt dieser Weisungen“ mit der objektiven und subjektiven Kampflage übereinstimmt und ein Erfordernis des Kampfes darstellt. Weisungen blind folgen, ohne sie der Realität entsprechend zu diskutieren und zu überprüfen, wäre eine formalistische Haltung, die einfach auf der Konzeption der „Unterordnung“ beruht, wäre daher durchaus falsch. Wenn die taktische Linie der Partei noch immer nicht in den Massen festen Fuß gefasst hat, so liegt das daran, dass der Formalismus in den Köpfen spukt. Die Weisungen der Leitung blind durchzuführen und den Anschein erwecken, als hätte man überhaupt keine Einwände, bedeutet nicht, sie wirklich zu befolgen. Im Gegenteil: Das ist die geschickteste Methode, sich ihnen zu widersetzen oder sie zu sabotieren.

Auch in der gesellschaftswissenschaftlichen Forschung ist die buchgläubige Methode ungemein gefährlich. Ja, sie kann sogar dazu führen, dass man den Weg der Konterrevolution beschreitet. Wenn in China viele Kommunisten, die sich mit gesellschaftswissenschaftlichem Studium befassten, um vom Buchwissen ihr Leben zu fristen, haufenweise zu Konterrevolutionären geworden sind, so ist das der klarste Beweis dafür. Wenn wir sagen, dass der Marxismus richtig ist, so folgt daraus absolut nicht, dass Marx ein „Allwissender“ gewesen wäre, sondern meinen wir, dass sich seine Theorie in unserer Praxis, in unseren Kämpfen bewahrheitet hat. Für unseren Kampf brauchen wir den Marxismus. Wie haben diese Theorie freudig begrüßt, denken aber nicht im entferntesten daran, sie als etwas „Heiliges“ oder gar als eine Art Mysterium zu betrachten. Viele Menschen, die „die Bücher“ des Marxismus gelesen hatten, wurden zu Verrätern an der Revolution; aber Arbeiter, die Analphabeten sind, können oft sehr gut den Marxismus handhaben. „Die Bücher“ des Marxismus sollen studiert werden, doch muss das im Zusammenhang mit der konkreten Situation unseres Landes geschehen. Wie brauchen „die Bücher“, müssen aber mit der von der realen Situation losgelösten Buchgläubigkeit aufräumen.

Wie kann man mit der Buchgläubigkeit aufräumen? Nur dadurch, dass man die wirklichen Verhältnisse untersucht.

IV. Verzicht auf konkrete Untersuchungen führt zu idealistischer Einschätzung der Klassen und idealistischer Anleitung der Arbeit, was entweder Opportunismus oder Putschismus zur Folge hat

Wenn man auf konkrete Untersuchungen verzichtet, dann gelangt man zu einer idealistischen Einschätzung der Klassen und zu einer idealistischen Anleitung der Arbeit, was entweder Opportunismus oder Putschismus zur Folge hat. Glaubst du nicht dieser Schlussfolgerung? Die Tatsachen werden dich zwingen, sie anzuerkennen. Wie die Einschätzung der politischen Lage und die Anleitung zur Durchführung der Kampfaufgaben nicht hohl und idealistisch, wenn du einmal versuchst, auf konkrete Untersuchungen zu verzichten? Werden dann diese hohle idealistische Einschätzung der politischen Gegebenheiten und eine ebensolche Anleitung der Arbeit etwa nicht zu opportunistischen oder putschistischen Fehlern führen? Selbstverständlich werden sie das. Nicht weil man es verabsäumt hätte, vor seinen Handlungen einen sorgfältigen Plan zu machen, sondern weil man, wie dies in den Partisanenabteilungen der Roten Armee oft vorgekommen ist, nicht vor der Ausarbeitung des Plans die realen gesellschaftlichen Verhältnisse sorgfältig untersucht hat. Es gibt Offiziere, die, wenn Soldaten etwas angerichtet haben, in der Art eines Li Kui2 unbesehen und unbedacht gleich mit Strafen bei der Hand sind. Infolgedessen kommen die Soldaten nicht zur Einsicht ihrer Fehler, es entstehen zahlreiche Zwistigkeiten, und auch die führenden Personen büßen zur Gänze ihr Ansehen ein. Trifft man derartiges nicht des öfteren in der Roten Armee an?

Man kann die Aufgabe, die Massen zu gewinnen, den Feind zu besiegen, erst dann vollbringen, wenn der Geist des Idealismus beseitigt und jedweder Fehler des Opportunismus und des Putschismus vermieden wird. Der idealistische Geist kann aber erst beseitigt werden, nachdem man viel Mühe für konkrete Untersuchungen aufgewendet hat.

V. Sozialökonomische Untersuchungen dienen dazu, eine richtige Einschätzung der Klassen zu gewinnen und sodann eine richtige Kampftaktik festzulegen

Warum ist es nötig, sozialökonomische Untersuchungen vorzunehmen? Wir antworten: Weil wir eine richtige Einschätzung der Klassen gewinnen und sodann eine richtige Kampftaktik festlegen wollen. Deswegen haben unsere sozialökonomischen Untersuchungen die verschiedenen Gesellschaftsklassen und nicht vereinzelte gesellschaftliche Erscheinungen zum Gegenstand. In jüngster Zeit haben wir zwar im allgemeinen die Genossen der 4. Armee der Roten Armee einer solchen Untersuchungsarbeit Beachtung geschenkt,3 doch arbeiten viele von ihnen nach einer falschen Methode. Infolgedessen gleicht das Ergebnis ihrer Untersuchungen dem, was einer laufend in ein Kassabuch eingetragen, oder was ein Bäuerlein an Neuigkeiten auf der Straße aufgeschnappt oder was jemand von einem hohen Berg aus in der Stadt wahrgenommen hat. Solche Untersuchungen sind von geringem Nutzen, mit ihnen können wir nicht zu unserem Hauptziel gelangen. Unser Hauptziel besteht darin, uns in der politischen und wirtschaftlichen Lage aller Klassen der Gesellschaft zurechtzufinden. Das Ergebnis, zu dem wir bei den Untersuchungen kommen wollen, soll Blüte und Verfall, Ruhm und Schmach der verschiedenen Klassen, in Gegenwart und Vergangenheit, zeigen. Wenn wir zum Beispiel die soziale Lage der Bauern untersuchen, dann wollen wir nicht nur ihre Gruppierung hinsichtlich der Eigentums- und Pachtverhältnisse wissen, d.h. erfahren, wieviele von ihnen auf eigenem Boden wirtschaften, wieviel Halbbesitzer und wieviel Pächter es gibt, sondern wir wollen vor allem ihre klassen- oder schichtenmäßige Differenzierung kennenlernen, die Zahl der reichen, der mittleren und der armen Bauern erfahren. Wenn wir die soziale Lage der Händler studieren, wollen wir nicht nur ihre Gruppierung nach Branchen wissen, d.h. erfahren, wieviele Kaufleute mit Getreide bzw. mit Bekleidungsartikeln, Pharmazeutika usw. Handel treiben, sondern wollen vor allem ermitteln, wieviele von ihnen kleine Händler sind, wieviele mittlere und wieviele Großkaufleute. Wir wollen nicht bloß die Sachlage hinsichtlich der einzelnen Geschäftszweige untersuchen, sondern vor allem die inneren Klassenverhältnisse in den verschiedenen Zweigen studieren. Wir wollen nicht allein die Wechselbeziehungen zwischen den Branchen, sondern vor allem die Wechselbeziehungen zwischen den Klassen untersuchen. Die Hauptmethode, der wir uns bei dieser Arbeit bedienen, ist die Bloßlegung der Anatomie der verschiedenen Gesellschaftsklassen, und das Endziel, das wir damit verfolgen, ist, die Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Klassen zu erkennen und zu einer richtigen Einschätzung der Klassen zu gelangen, damit wir dann eine richtige Kampftaktik ausarbeiten und feststellen können, welche Klassen die Hauptkräfte im revolutionärem Kampf bilden, welchen Klassen wir als Verbündete gewinnen sollen, welche Klassen wir niederschlagen müssen. Einzig und allein hierin liegt unser Ziel.

Welche Gesellschaftsklassen müssen wir bei den Untersuchungen ins Auge fassen? Es sind dies folgende:

Industrieproletariat
Handwerksarbeiter
Landarbeiter (Knechte)
arme Bauern
Stadtarmut
vagierendes Volk
Handwerker
kleine Händler
Mittelbauern
reiche Bauern
Grundherrenklasse
Handelsbourgeoisie
Industriebourgeoisie

Bei unseren Untersuchungen müssen wir unser Augenmerk auf die Lage aller dieser Klassen (beziehungsweise Schichten) lenken. In den Gebieten unserer augenblicklichen Tätigkeiten fehlen nur das Industrieproletariat und die Industriebourgeoisie, während die übrigen Klassen und Schichten hier immer anzutreffen sind. Auf diese zahlreichen Klassen und Schichten bezieht sich eben unsere Kampftaktik.

Die Untersuchungen, die wir früher angestellt hatten, wiesen noch einen weiteren großen Mangel auf: Wir wandten nämlich unsere Aufmerksamkeit einseitig nur den Dörfern zu und ließen die Städte aus den Augen. Infolgedessen war vielen Genossen bezüglich der Stadtarmut und der Handelsbourgeoisie einzuschlagende Taktik von Anfang bis Ende unklar. Mit der Entwicklung des Kampfes sahen wir uns veranlasst, vom Gebirge in die Ebene hinabzusteigen4; körperlich haben wir wohl das Gebirge schon längst verlassen, geistig aber sind wir noch immer droben geblieben. Wir müssen das Dorf kennen, aber auch die Stadt, andernfalls werden wir den Erfordernissen des revolutionären Kampfes nicht gerecht werden.

VI. Der Sieg im revolutionären Kampf Chinas hängt davon ab, dass sich unsere Genossen in den chinesischen Verhältnissen auskennen

Das Ziel unseres Kampfes ist der Umschlag der demokratischen Revolution in die sozialistische Revolution. Der erste Schritt bei der Durchführung unserer Aufgabe besteht darin, die demokratische Revolution zu vollenden, indem wir die Mehrheit der Arbeiterklasse für uns gewinnen, die Massen der Bauern und die Stadtarmut in Bewegung setzen, die Grundherrenklasse niederringen, den Imperialismus schlagen und das Kuomintang-Regime stürzen. Aus der Entwicklung dieses Kampfes geht die Aufgabe hervor, anschließend die sozialistische Revolution durchzuführen. Diese grandiosen revolutionären Aufgaben zu lösen ist keine einfache und leichte Sache, der Erfolg hängt in jeder Hinsicht davon ab, dass die politische Partei des Proletariats eine richtige und entschlossene Kampftaktik hat. Wenn ihre Kampftaktik falsch oder zögernd oder schwankend ist, wird die Revolution einer zeitweiligen Niederlage nicht entgehen können. Man darf nicht vergessen, dass auch die politischen Parteien der Bourgeoisie Tag für Tag über ihre Kampftaktik diskutieren, darüber, wie sie einen reformistischen Einfluss auf die Arbeiterklasse ausüben können, damit diese betrogen wird und sich von der Führung durch die Kommunistische Partei lossagt, wie die reichen Bauern dafür zu gewinnen seien, dass sie die Rebellion der armen Bauern niederschlagen, wie man Banden organisiert, welche die Revolution unterdrücken sollen, usw. usf. Unter diesen Umständen, da die scharfen Auseinandersetzungen im Klassenkampf täglich näherrücken, muss sich das Proletariat, wenn es siegen will, vollends darauf verlassen können, dass die Kampftaktik seiner Partei – der Kommunistischen Partei – richtig und entschlossen ist. Eine richtige und unerschütterliche Kampftaktik der Kommunistischen Partei wird niemals von einigen wenigen Personen am grünen Tisch ausgearbeitet; sie kann erst im Verlaufe des Kampfes der Massen entstehen, also nur aus den praktischen Erfahrungen hervorgehen. Deshalb müssen wir uns jederzeit bezüglich der Lage, in der sich die Gesellschaft befindet, auskennen, jeweils konkrete Untersuchungen vornehmen. Jene Genossen, die starr, konservativ, formell und sorglos-optimistisch zu denken pflegen, meinen, dass die jetzige Kampftaktik die allerbeste wäre, dass durch die Herausgabe des „Buches“ über den VI. Parteitag5 der Sieg für alle Ewigkeit gewährleistet würde, dass man nur nach einer festgelegten Methode zu handeln brauchte, um stets den Sieg zu erringen. Eine solche Denkweise ist völlig falsch, sie entspricht absolut nicht der ideologischen Linie der Kommunisten, wonach man durch den Kampf eine neue Situation schafft, sie ist eine durch und durch konservative Linie. Wenn man diese konservative Linie nicht restlos aufgibt, kann sie der Revolution großen Schaden zufügen beziehungsweise den betreffenden Genossen selbst zum Nachteil gereichen. Augenscheinlich gibt es in der Roten Armee manche Genossen, die, ohne sich in Einzelheiten zu vertiefen, den bestehenden Zustand zufrieden hinnehmen und mit unbekümmerten Optimismus die falsche Ansicht, „das Proletariat sei eben so“, propagieren, sich den ganzen Tag den Magen vollstopfen und in ihren Büros schlummern, sich jedoch nie vom Fleck rühren, um hinaus, unter die Massen zu gehen und einmal Untersuchungen anzustellen. Sie wiederholen stets die alten Plattheiten, deren die Menschen schon überdrüssig sind. Wie wollen diese Genossen wachrufen:

Macht schnell Schluss mit eurer konservativen Denkweise!
Ersetzt sie durch die fortschrittliche, kämpferische Denkungsart der Kommunisten!
Auf in den Kampf!
Geht unter die Massen und nehmt konkrete Untersuchungen vor!

VII. Die Technik der Untersuchungen

1. Arbeitssitzungen sind einzuberufen, um Untersuchungen in Form von Diskussionen vorzunehmen.

Nur so kann man der Wahrheit näherkommen und entsprechende Schlussfolgerungen ziehen. Geht man nach der Methode vor, dass nur ein einziger auf Grund seiner eigenen Erfahrungen redet, ohne dass man Sitzungen einberuft und die Fragen durch Diskussionen prüft, dann begeht man leicht Fehler. Wenn man nur wann es einem gerade einfällt und wie es einem beliebt herumfragt, statt die Kardinalprobleme in Sitzungen zur Diskussion zu stellen, dann ist das eine Methode, mit der man nicht zu möglichst richtigen Schlussfolgerungen gelangen kann.

2. Wer soll zu Arbeitssitzungen kommen?

Es sollen jene Personen kommen, denen die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse genau bekannt sind. Den Jahren nach sind ältere Leute dazu am besten geeignet, denn sie verfügen über einen reichen Erfahrungsschatz und kennen nicht nur die gegenwärtige Lage, sondern wissen auch über Ursache und Wirkung Bescheid. Jüngere Menschen mit Kampferfahrung brauchen wir auch, denn sie sind ideologisch fortschrittlich und haben einen scharfen Blick. Dem Beruf nach benötigen wir sowohl Arbeiter wie Bauern, Kaufleute und Intellektuelle, ja mitunter auch Berufssoldaten und Vagabunden. Selbstverständlich erübrigt es sich, dass an dem Studium einer bestimmten Frage Personen teilnehmen, die mit dieser Frage nichts zu tun haben. So ist zum Beispiel bei Untersuchungen über das Handelswesen die Anwesenheit von Arbeitern, Bauern oder Studenten unnötig.

3. Ist eine größere oder eine kleinere Zahl von Teilnehmern an den Arbeitssitzungen vorzuziehen?

Das hängt von den Fähigkeiten des Veranstalters ab. Wer fähig ist, eine solche Sitzung zu leiten, kann zu ihr bis zu einem oder zwei Dutzend Personen einladen. Wenn mehr Leute an einer Sitzung teilnehmen, hat es seine Vorteile: Man könnte dadurch etwa bei statistischen Untersuchungen (z.B. bei der Ermittlung des Prozentanteils der armen Bauern an der gesamten Bauernschaft) und bei der Ziehung von Schlussfolgerungen (z.B. bei der Entscheidung, ob eine gleichmäßige oder eine unterschiedliche Aufteilung des Bodens günstiger sei) zu verhältnismäßig richtigen Ergebnissen kommen. Selbstverständlich hat die Anwesenheit einer größeren Anzahl von Personen auch ihre Nachteile: Ein Veranstalter, der nicht die Fähigkeit hat, eine solche Sitzung zu leiten, wird deren ordnungsgemäßen Verlauf nicht sichern können. Ob mehr oder weniger Personen einer Sitzung beiwohnen sollen, hängt eben letzten Endes von den Fähigkeiten des Veranstalters ab. Doch muss es mindestens drei Anwesende geben, denn andernfalls wird man nur begrenzte und einseitige Informationen erhalten, die der Realität nicht entsprechen.

4. Man muss ein detailliertes Untersuchungsprogramm festlegen.

Zunächst muss ein detailliertes Programm ausgearbeitet werden, damit der Veranstalter punkteweise Fragen stellen und die Teilnehmer sie beantworten können. Das, was nicht klar oder zweifelhaft ist, wird geklärt. Ein „Untersuchungsprogramm“ enthält nicht nur die allgemeine Angabe des Themas, sondern auch dessen ins Einzelne gehende Aufgliederung. Ist beispielsweise das „Handelswesen“ Gegenstand der Untersuchung, dann werden etwa „Textilwaren-“, „Getreide-“, „Gemischtwaren-“ und „Medikamentenhandel“ die Hauptpunkte bilden, wobei der Punkt „Textilienhandel“ sich wieder in die Abschnitte „maschinengewebte Baumwollstoffe“, „handgewebte Baumwollstoffe“ und „Seidengewebe“ unterteilen wird.

5. Man muss persönlich ans Werk gehen.

Vom Vorsitzenden einer Gemeindeverwaltung bis zum Vorsitzenden der Zentralregierung des ganzen Landes, vom Mannschaftsführer bis zum Oberbefehlshaber, vom Sekretär einer Grundorganisation bis zum Generalsekretär der Partei – alle für die Anleitung der Arbeit verantwortlichen Personen müssen sich persönlich mit praktischen sozialökonomischen Untersuchungen beschäftigen und dürfen sich nicht lediglich auf schriftliche Berichte verlassen; denn persönliche Untersuchung und schriftlicher Bericht sind zweierlei Dinge.

6. Man muss den Dingen auf den Grund gehen.

Wer sich zum erstenmal mit Untersuchungsarbeiten befasst, muss wiederholt in tiefschürfender Weise den Dingen auf den Grund gehen, das heißt sich über alle Einzeleinheiten eines bestimmten Ortes (z.B. eines Dorfes, einer Stadt) oder einer bestimmten Frage (z.B. Getreidefrage, Währungsfrage) orientieren. Wenn man einen Ort oder eine Frage gründlich kennengelernt hat, wird man späterhin beim Studium eines anderen Ortes oder einer anderen Frage leicht Aufschluss finden.

7. Man muss persönlich Protokoll führen.

Bei den Untersuchungen ist nicht nur notwendig, selbst den Vorsitz zu führen und dafür Sorge zu tragen, dass sich die Teilnehmer in der Sitzung geschäftsordnungsgemäß verhalten; man muss auch selbst das Protokoll führen und die Ergebnisse der Untersuchungen schriftlich festhalten. Es geht nicht an, dass jemand anderer das für ihn tut.


Anmerkungen

1. Aus den „Gesprächen“ von Konfuzius (Abschnitt 3. Bayi). Der Originaltext lautet: „Konfuzius betritt den Ahnentempel des Kaisers und fragt nach jeder Sache.“

2. Li Kui, ein Held des berühmten Romans „Die Ufergeschichte“ (eine deutsche Übersetzung trägt den Titel „Die Räuber von Liangschan-Moor“), der einen Bauernkrieg in den letzten Jahren der Nördlichen Sung-Dynastie schildert. Li Kui war einerseits schlicht und geradsinnig, der revolutionären Sache der Bauern restlos ergeben, verhielt sich aber andererseits sehr grob zu seinen Aufgaben.

3. Genosse Mao Zedong widmet sich seit jeher der Untersuchungsarbeit große Aufmerksamkeit und betrachtet das Studium der gesellschaftlichen Verhältnisse als erstrangige Aufgabe der Führerschaft und als Grundlage für politische Entscheidungen. Auf Vorschlag des Genossen Mao Zedong hatte sich die Studientätigkeit in der 4. Armee der Roten Armee allmählich entfaltet. Genosse Mao Zedong veranlasste auch, dass eine Bestimmung über soziale Untersuchungen in das Arbeitsreglement aufgenommen wurde. Die Politische Abteilung der Roten Armee legte ein ausführliches Verzeichnis an, in dem die Situation im Kampf der Massen, die Lage bei den Reaktionären, der Zustand des Wirtschaftslebens und die Bodenbesitzverhältnisse der verschiedenen ländlichen Klassen usw. notiert wurden. Jedesmal, wenn die Rote Armee in der Gegend eintraf, machte sie sich vor allem mit den örtlichen Klassenverhältnissen vertraut und stellte daraufhin den Erfordernissen der Volksmassen entsprechende Losungen auf.

4. Mit „Gebirge“ ist hier das Djinggangschan-Gebiet an der Grenze der Provinzen Kiangsi und Hunan, und mit „Ebene“ das Flachland in Südkiangsi und Westfukien gemeint. Im Januar 1929 marschierte die Hauptstreitmacht der 4. Armee der Roten Armee, geführt von Mao Zedong, vom Djinggang-Gebirge aus nach Südkiangsi und Westfukien, wo sie zwei große revolutionäre Stützpunktgebiete gründete.

5. Gemeint sind die Resolutionen des VI. Parteitages der Kommunistischen Partei Chinas vom Juli 1928, darunter eine politische Resolution sowie Resolutionen zu Bauernfragen, zu den Agrarfragen, über den Aufbau der Staatsmacht u.a. Diese Dokumente wurden Anfang 1929 von der Frontkommission der 4. Armee der Roten Armee gesammelt und in Form einer Broschüre unter den Armee- und örtlichen Parteiorganisationen verteilt.