2. März 1922 // Artikel
Clara Zetkin // Der Kampf der kommunistischen Parteien gegen Kriegsgefahr und Krieg

Der Kampf der kommunistischen Parteien gegen Kriegsgefahr und Krieg

2. März 1922

Bericht auf dem Erweiterten Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale


Clara ZetkinDer Kampf der Kommunistischen Parteien gegen Kriegsgefahr und Krieg, Bericht auf der Konferenz der erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale, Hamburg 1922.
Nachgedruckt in Clara ZetkinAusgewählte Reden und Schriften, Bd.II, Dietz Verlang, Berlin 1960, S.496-569.


Genossinnen und Genossen! Als jene, die sich mit Stolz die zivilisierte Menschheit nennen, unter dem Eindruck der Schecken, Gräuel und Verbrechen des letzten imperialistischen Krieges schauderten, ertönte überall der Schrei: Dieser Krieg muss der letzte gewesen sein. Jetzt sind drei Jahre seit Kriegsende verflossen, zwei Jahre seit den verschiedenen Friedensschlüssen. Und was sehen wir? Die Welt starrt von neuem in Waffen, die Rüstungen und die Gefahren neuer imperialistischer Kriege sind größer als vor 1914. Die Atmosphäre der kapitalistischen Welt und darüber hinaus der Länder, die mehr oder weniger in den Bannkreis dieser kapitalistischen Welt geraten sind, zeigt sich überladen mit Zündstoff an dem sich jederzeit neue Kriege entflammen können: Kriege gewaltiger an Umfang, furchtbarer an Gräueln und weittragender in ihren Folgen als der Krieg von 1914 bis 1918.

Welches sind die Umstände, die dafür sprechen, dass wir uns in gesteigerter Kriegsgefahr befinden? Die weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Gegensätze zwischen den großen kapitalistischen Staaten Europas, die zu dem letzten imperialistischen Raubkriege geführt haben, sind nicht beseitigt worden. Sie bestehen weiter, allerdings in veränderter Form und unter veränderten Umständen. Dazu sind zwischen diesen Staaten in dem Ringen um Weltgeltung und Weltausbeutung neue und noch schwerere Gegensätze entstanden. Damit nicht genug. Während des Krieges haben sich bereits vorhandene weltwirtschaftlichen Gegensätze zwischen England, den Vereinigten Staaten und Japan weiterentwickelt. Sie sind seit Friedensschluss nicht etwa gemildert, sondern noch gesteigert worden. In der Welt der Kolonialvölker, in den Ländern, wo Völker vorkapitalistischer Kultur fürchten müssen, von dem Kapitalismus verschlungen zu werden, zeigt sich andauernde, immer leidenschaftlichere Erregung. Sie entlädt sich in Fremden- und Europäerhass, in Aufständen und Kriegen. Instinktiv oder bewusst empfinden diese Völker in der kapitalistischen „Kultur“, der sie unterworfen sind oder unterworfen werden sollen, den Feind und nicht ihren „Erzieher“.

Sowjetrussland ist durch die Blockade wie auch durch die vom internationalen Imperialismus bezahlten und unterstützten Kriegszüge weißgardistischer Generale vom Weltmarkt abgeschlossen worden. Ungeachtet des gemeinsamen Hasses aller Staaten gegen die Arbeiter-und-Bauern-Republik treten zwischen den einzelnen europäischen Großmächten und den Vereinigten Staaten gegenüber Sowjetrussland ebenfalls Gegensätze zutage. Der Weltkrieg war der Ausdruck der Tatsache, dass sich die Produktivkräfte zu gewaltig entfaltet haben, um bei kapitalistischer Wirtschaft im Rahmen der bürgerlichen Nationalstaaten genügend Spielraum zu finden. Sie bedurften der „größeren Vaterländer“, des Auswirkens auf dem Weltmarkt. Was aber ist im Widerspruch zu dieser Entwicklung geschehen? Auf dem Boden Europas sind eine Reihe neuer kleiner Staaten entstanden. Wir haben die nationalen Republiken, die sich aus dem Zerfall Österreich-Ungarns gebildet haben, dann die sogenannten Randstaaten zwischen Westeuropa und Sowjetrussland. Neue Zollmauern sind damit aufgerichtet worden, die in das Mittelalter passen würden, aber nicht in die Zeit des Imperialismus. Vergegenwärtigen wir uns die angedeuteten weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Gegensätze in ihren groben Linien etwas näher. 

[Imperialistische Gegensätze]

Welches war die stärkste treibende Kraft des Weltkrieges von 1914 bis 1918? Es war nicht der Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland, sondern zwischen England und Deutschland Es ging für diese beiden gewaltigen Industriestaaten um die Weltmachtstellung, die Herrschaft auf dem Weltmarkt, über große geschlossene Ausbeutungsgebiete. Der deutsche Imperialismus liegt heute zerschmettert am Boden. Aber Englands Stellung zu Deutschland ist damit zwiespältig, widerspruchsvoll geworden. Der englische Imperialismus muss bestrebt sein, Deutschland in so harten Fesseln zu halten, dass es ihm nie wieder als Konkurrent um Weltausbeutung und Weltherrschaft gefährlich werden könnte. Aber gleichzeitig bedarf die englische Industrie für ihre Waren eines kaufkräftigen Deutschlands. Dieses Bedürfnis verträgt sich nicht mit der schrankenlosen Ausplünderung Deutschlands durch den Ententeimperialismus.

Der französische Imperialismus muss danach trachten, alle Kosten des Krieges Deutschland aufzubürden, alle Übel, die der Krieg hinterlassen hat, auf Kosten Deutschlands gutzumachen. Deutschland soll die Mittel liefern, um sowohl die zerrüttete französische Wirtschaft wie auch den am Rande des Bankrotts hin- und herschwankenden französischen Staat wieder zu befestigen und zu erhalten. Das ist nur möglich, wenn Deutschland im buchstäblichen Sinne des Wortes bis zum Weißbluten ausgepresst wird. Nun liegen aber die Dinge so: Deutschland ist tatsächlich durch den Krieg und seine Folgen verarmt. Der Produktionsapparat der deutschen Wirtschaft hat sich infolge der übermäßigen Ausnützung während des Krieges und der ungenügenden Verbesserung seither verschlechtert. Er ist weniger leistungsfähig als vor dem Kriege. Die Produktivität nicht nur der Industrie, sondern auch der Landwirtschaft ist erheblich gesunken. Mit der Verschlechterung des Produktionsapparates hat sich auch die Produktivkraft der Arbeiter vermindert. Diese ist außerdem all diese Jahre über durch unzulängliche Entlohnung und Unterernährung erheblich herabgedrückt worden. Dazu die Geldentwertung, die Inflation, die Ausplünderung durch den französischen Imperialismus. Das hat in Rückwirkung auf England weittragende Folgen. In seiner jetzigen Verarmung ist Deutschland außerstande, einen aufnahmefähigen und kaufkräftigen Markt für englische Waren zu bieten. Die englische Industrie hat sich aber wieder etwas belebt, sie bedarf der Märkte, sucht sie – von Konkurrenz bedrängt – auch in Deutschland und kann sie dort um so weniger finden, je kraftloser die deutsche Wirtschaft am Boden liegt, je tiefer die Mark sinkt.

Noch in anderer Beziehung wirkt Deutschlands Ausbeutung durch den französischen Imperialismus auf Englands Wirtschaft zurück. Deutschland soll die riesigen Reparationsforderungen zahlen. Das kann es nur, wenn es seinen Export außerordentlich steigert. Aber dieser findet unter besonderen Umständen statt: in der Zeit der Inflation, der Valutaschwankungen usw. folgt zumal unter dem Anreiz der ganz entwerteten deutschen Mark, ein Anreiz, der Deutschland bekanntlich in ein großes Ausverkaufslager verwandelt hat. Die deutsche Industrie legt alles auf den ausländischen Markt, was nicht niet- und nagelfest ist, nicht nur Waren, auch Produktionsmittel, Produktionsapparate. An Stelle des Handels ist die wüsteste Spekulation getreten. Sogar der deutsche Boden wird verkauft. Er kann allerdings nicht über die Grenze verschoben werden, aber dafür kommen ausländische Kapitalisten nach Deutschland und erwerben Grundbesitz, Häuser usw. In dieser Situation überschwemmen billige und billigste deutsche Waren alle Auslandsmärkte. Sie sind eine furchtbare Schmutzkonkurrenz. Die Grundlage dafür ist die ungeheure Ausbeutung des deutschen Proletariats, sind dessen Hungerlöhne. Die deutsche Ware schlägt alle anderen Waren auf dem Weltmarkt, nicht etwa, weil sie hochwertigste Ware wäre, sondern weil sie weltwirtschaftlich betrachtet unterwertig ist. Sie enthält über den Durchschnitt gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. Der deutsche Arbeiter wird miserabel entlohnt … Gegen die Schmutzkonkurrenz der deutschen Waren sind alle Zölle, alle Antidumping- Gesetze machtlos. Die englische Industrie wird dadurch nicht bloß auf den Auslandsmärkten zurückgedrängt, sondern sie verliert sogar einheimische Absatzgebiete. Nach wie vor herrschen also schärfste weltwirtschaftliche Gegensätze zwischen England und Deutschland. Die Schwächung des deutschen Imperialismus hat keine Stärkung Englands zur Folge gehabt, sondern eine Schwächung und Bedrohung. Obendrein ist Deutschlands Schwächung erfolgt Hand in Hand mit einer sehr großen Machtstärkung des französischen Imperialismus.

Der Krieg ist für die wirtschaftliche Entwicklung Frankreichs von einschneidendster Bedeutung gewesen. Die französische Industrie hat dank seinem Ausgang einen neuen, starken Anstoß erhalten: einen veränderten Charakter. Frankreich ist heute nicht mehr der Rentnerstaat, der aller Welt leiht, es ist nicht mehr vor allem die Werkstatt für die Produktion von feinen Handschuhen, Parfüms, künstlichen Blumen, Luxusartikeln aller Art, usw. Im steigenden Maße wird es mit Erzeugnissen der Schwerindustrie konkurrierend auf den Weltmarkt kommen. An Stelle des Bankkapitals spielt auch in Frankreich mehr und mehr das Finanzkapital die entscheidende Rolle.

Frankreich hat im Weltkriege behalten, was der deutsche Imperialismus holen wollte: die reichen Erzgebiete von Longwy und Briey. Sein Reichtum an Erzlagern ist vermehrt worden durch die Zurückeroberung von Elsaß-Lothringen und damit der so vorzüglichen lothringischen Minette. Dicht vor Frankreich liegt das kleine Luxemburg mit seinen großartigen Hüttenwerken, produktionstechnisch modernste, fortgeschrittenste Typen ihrer Art. In Luxemburgs Hüttenindustrie ist viel französisches Kapital angelegt. Frankreich beherrscht in Wirklichkeit politisch das kleine Land. Frankreich verfügt so über die größten Eisenerzlager von Europa, und vor seinen Toren ist Deutschland mit dem größten Kohlenreichtum des Kontinents. Vereinigung von Eisenerz und Kohle in einer Hand bedeutet ungeheure wirtschaftliche Macht, die Verfügungsgewalt die beiden wichtigsten Urstoffe der Produktion Europas.

Es ist deshalb kein Zufall, kein bloßer militärischer Gloirekitzel, dass Frankreich immer und immer wieder nach dem Besitz des Ruhrgebietes mit seinen reichen Kohlenlagern drängt. Ebenso erklärt es sich, dass England der Gier des französischen Imperialismus danach in den Arm fällt, dass es aber die Gegensätze zwischen Deutschland und Frankreich lebendig und wirksam zu halten sucht. Denn ob die Vereinigung von Erz- und Kohlenlagern erfolgt durch Annexion oder durch Verträge, das ist gehupft wie gesprungen. Die Verfügungsmacht über die beiden Urstoffe der Produktion vereinigt, würde ein tödlicher Schlag für Englands Wirtschaft, für seine Stellung auf dem Weltmarkt sein.

Aber auch ohne diese Zusammenfassung ist ein kraftvoller Aufschwung der französischen Industrie zu erwarten, gefördert durch die Kohle des Saargebietes und die deutschen Reparationskohlen. Diese Kohlenund Koksmengen begünstigen die Entwicklung der französischen Industrie – kennzeichnend dafür sind die großen Kapitalanlagen in der Industrie, die großzügigen Kanalisationspläne – und bedeuten schon jetzt eine schwere Konkurrenz gegen die englische Kohle. Frankreich ist außerdem bestrebt, sich die Ausbeutung noch weiterer Kohlenlager zu sichern. In der Tschechoslowakei und in Polen nimmt französisches Kapital steigenden Anteil an der Kohleproduktion. Gleichzeitig drängt es den englischen Einfluss bei der Gewinnung eines anderen wichtigen Heizmaterials für die Industrie zurück: bei der Gewinnung des Petroleums. In Ostgalizien und Rumänien haben französische Kapitalistengruppen einen großen Teil der Petroleumquellen unter ihren Einfluss gebracht. Frankreichs politische und militärische Beziehungen zu der Kleinen Entente wie zu den baltischen Randstaaten werden immer enger und fester. Es ist geradezu unumschränkter Herr in Polen, das wirtschaftlich und politisch vor allem von seiner Gnade existiert. In allen diesen Ländern wird in der Politik und auf den Märkten Englands Stellung durch Frankreich erschüttert und bedroht. Jedoch das Verhältnis zwischen Frankreich, der Kleinen Entente, Polen und den Randstaaten schließt noch mehr in sich. Den offenen, gesicherten Weg für das französische Kapital zur Ausbeutung der Balkanländer und Sowjetrusslands auf Kosten Englands. Gleichzeitig aber auch die Aufrichtung eines Walls, der Deutschland von Sowjetrussland abschnürt.

Frankreich hat weiter England gegenüber dank seiner Kolonien eine starke Position. Frankreichs Kolonialgebiete – wenigstens die wichtigsten, Marokko und Algerien – liegen sehr günstig, nicht weit vom Mutterland. Sie sind wertvolle Stützpunkte der französischen Herrschaft auf dem Mittelmeer. Durch den Angora-Vertrag mit der Türkei hat Frankreich Englands Macht über das Schwarze Meer und in Kleinasien erheblich geschwächt, seine eigene Machtstellung dort befestigt und namentlich an politischem Einfluss in den mohammedanischen Gebieten gewonnen, für die der Bestand eines türkischen Staates auch von großer religiöser Bedeutung ist. Frankreich hat festen Fuß in Syrien gefasst.

So zeigen sich zwei Gebiete scharfer weltwirtschaftlicher, weltpolitischer Interessenkonflikte zwischen dem französischen und dem englischen Imperialismus. Das eine Gebiet ist Deutschland, das andere der nahe Orient. Die Regierungen Deutschlands, wie sie auch immer seit dem Novemberumsturz zusammengesetzt sind, haben rat- und haltlos jederzeit und immer wieder auf den Interessengegensatz zwischen Frankreich und England gegenüber Deutschland spekuliert. Sie haben gewähnt, dass dieser Gegensatz England dazu führen müsse, die harten Bedingungen des Versailler Vertrages zu mildern. Aber, Genossen, der politische Blick der Regierungen unter Ebert ging nie über ihre Nasenspitze hinaus, nämlich nicht über die deutsche Grenze. Die Herren haben nie in Erwägung gezogen, dass der Interessenkonflikt zwischen dem französischen und englischen Imperialismus in Vorderasien weit größer und in seinen Auswirkungen viel weittragender für die Weltstellung Englands ist als der Gegensatz der beiden Mächte im Verhältnis zu Deutschland.

Jedes Mal hat sich erwiesen, dass Deutschland für England nichts anderes ist als ein Kompensationsobjekt. Man denke nur an die oberschlesische Frage. Als sie akut wurde, war die deutsche Bourgeoisie voll gläubiger Hoffnungsseligkeit. Sie redete sich ein, die oberschlesische Frage müsse zugunsten Deutschlands gelöst werden, dank Englands Interesse an einer gewissen Blüte der Wirtschaft des Reiches. Es ist ganz anders gekommen. England kam Frankreichs Ansprüchen in Oberschlesien entgegen, um dafür wertvolle Konzessionen Frankreichs in Kleinasien zu erschachern. Englands Interessen im Nahen Orient überragen bei weitem seine Interessen in Deutschland.

Wie liegen die Dinge? In Südosteuropa, in Klein- und Vorderasien geht es für den englischen Imperialismus um mehr als nur um die Ausbeutung von Minen und Eisenbahnen und geschlossene Ausbeutungsgebiete. Es geht dort auch um den sichersten kürzesten Weg nach Indien, Großbritanniens wichtigstem Kolonialbesitz, dem Eckstein des englischen Weltmachtbaues. Die Sicherheit dieses Weges im Westen ist durch die Feste Gibraltar gegeben, sie begreift in sich die freie Fahrt englischer Handels- und Kriegsschiffe auf dem Mittelmeere, in dem Malta ein fester militärischer Stützpunkt ist. Nicht minder wichtig, unerlässlich ist Englands Macht am Schwarzen Meer, an den Dardanellen, in Ägypten und damit am Suezkanal. Von da an soll der Weg zu Lande nach Indien gesichert werden durch ein arabisches Reich, das zwar der Form nach selbständig, aber in Wirklichkeit vollständig von England abhängig ist. Ihm hätten sich anzureihen starke Positionen Englands in Mesopotamien, Persien und Afghanistan. Die Sicherung des Weges nach Indien wird für den englischen Imperialismus immer bedeutsamer in dem Maße, als fast ständig revolutionäre Bewegungen Indien erschüttern. England muss damit rechnen, rasch große Truppenmassen, Munition usw. nach dort senden zu können. Das Ringen um Weltmacht und Weltausbeutung häuft zwischen Frankreich und England reichen Konfliktstoff an, der sich in neuen Kriegen entladen kann.

Noch von anderer Seite her ist jedoch heute Englands Weltmachtstellung hart bedrängt. Während des Krieges haben sich die Vereinigten Staaten wirtschaftlich geradezu riesig entwickelt. Wir kannten sie vor dem Kriege vor allem als Lieferanten von Rohstoffen und Lebensmitteln; die Kapitalisten Europas schätzten sie als Abnehmer von Fertigfabrikaten. Was sehen wir jetzt? Die Vereinigten Staaten sind während des Krieges Lieferanten größten Stils von Industrieerzeugnissen geworden. Der produktionstechnische Apparat der amerikanischen Industrie hat einen fabelhaften Umfang erreicht, aber vor allen Dingen auch erheblich an Vervollkommnung gewonnen. Es ist nicht ohne Interesse, dass zum Teil auch gerade deutsche Techniker, deutsche Chemiker, deutsche Ingenieure dazu beigetragen haben, dass die Industrie der Vereinigten Staaten aus grober Quantitätsproduktion zu hochwertiger Qualitätsproduktion geworden ist. Eine Illustration des Patriotismus, der den guten Bürger aller Länder ausrufen lässt: „Wo es mir gut geht, ist mein Vaterland.“ In Deutschland hatten die Prozent- und Bierbankpatrioten aufgerechnet, dass nach dem Kriege die deutsche Industrie so im Handumdrehen die alten Auslandsmärkte wieder erlangen werde, namentlich auch in den Vereinigten Staaten. Man verließ sich darauf, die deutsche Qualitätsware könne auf dem Weltmarkt nicht entbehrt werden. Und jetzt? Nicht nur die deutsche, sondern auch die englische Qualitätsproduktion mancher Industriezweige hat in den amerikanischen Waren gefährliche Konkurrenten gefunden und wurde zum Teil von ihnen verdrängt. Das aber nicht bloß von den Märkten der Vereinigten Staaten selbst, Zentral- und Südamerikas usw., vielmehr auch von den europäischen Märkten.

Dieser Stand der Dinge ist für die englische Industrie höchst bedrohlich. Er wirkt auch auf das Verhältnis der Klassen zueinander zurück. Die englischen Unternehmer verlieren die Neigung und – kapitalistisch gerechnet – auch die Möglichkeit, die Arbeiter durch Konzessionen einzulullen, die Klassengegensätze schärfen sich und werden von den Proletariern bewusster empfunden. Wer in dem Konkurrenzkampf zwischen England und den Vereinigten Staaten auf dem Weltmarkt Sieger bleibt, ist noch nicht entschieden. Bezeichnend ist der Konkurrenzkampf zwischen der englischen und der amerikanischen Kohle. England beherrschte in der Vorkriegszeit mit seiner Kohle den Weltmarkt. Es wurde durch Amerika von dort verdrängt. Erst in letzter Zeit hat die englische Kohle wieder angefangen, sich Märkte in der ganzen Welt und auch in Amerika selbst zurückzuerobern. Die Konkurrenz in den Osthäfen der Vereinigten Staaten ist bereits derart heiß, dass der Präsident Harding die Eisenbahngesellschaften aufgefordert hat, ab 1. Januar dieses Jahres die Transportkosten für amerikanische Kohle um 5 Cent pro Tonne herabzusetzen, damit sie leichter die englische Konkurrenz bestehen könne.

Jedoch noch ein anderes Heizmittel für die Industrie kann, ja wird in steigendem Maße zur schärfsten Konkurrenz zwischen England und Amerika treiben und Konfliktgebiete zwischen beiden schaffen. Das ist das Petroleum. Die Verwendung von Petroleum gewinnt in der Industrie immer größere Bedeutung Das Petroleum ist der Kohle an Heizkraft überlegen, und die Heizwirkung tritt rascher ein als bei der Kohle. Das Petroleum lässt sich leichter handhaben, leichter transportieren und ist reinlicher als Kohle, seine Verwendung bedeutet eine erhebliche Ersparnis an Arbeitszeit und Arbeitskraft. Gegenwärtig findet das Petroleum schon eine starke Verwendung in der Industrie, insbesondere zur Kesselheizung und zum Antrieb bestimmter Motoren. Ganz besonders wichtig ist es für die Maschinenbeheizung der Kriegsschiffe; der rationellste technische Betrieb der Kriegsschiffe ist aber allein schon eine Lebensfrage für den englischen Imperialismus. Sehr wichtig sind auch die Petroleumprodukte, vor allem das Benzin.

Die Vereinigten Staaten verfügen über 62 Prozent des Petroleumreichtums der ganzen Welt; dazu kommen noch 25 Prozent dieses Reichtums in Mexiko, auf die die Vereinigten Staaten die Vorhand haben. England besitzt Petroleumquellen in Indien, auf der Insel Trinidad, auf Borneo. Es trachtet einen steigenden Einfluss zu gewinnen, die Hand zu legen auf die reichen Naphthavorräte in der Gegend von Baku, in Mesopotamien und Persien. Der Kampf um die Herrschaft über die Petroleumquellen zwischen England und den Vereinigten Staaten wird in der Zukunft höchstwahrscheinlich ein sehr heißer sein.

Die Vereinigten Staaten konnten dank der Lage während des Krieges ihre eigenen Schulden in Europa zahlen und den alliierten Mächten Riesensummen leihen. Sie sind heute der große Gläubiger der europäischen Staaten. Deren Kriegsschulden bei ihnen betragen über zehn Milliarden Dollar, zusammen mit den rückständigen Zinsen rund zwölf Milliarden Dollar. Ein Goldstrom ist ihnen zugeflossen. Mehr als die Hälfte des Goldschatzes der Welt befindet sich in den Vereinigten Staaten, und noch jetzt häuft sich dort mit jedem Tage mehr Gold an. Wie bereits erwähnt, sind die Produktionsmittel der nordamerikanischen Industrie außerordentlich vervollkommnet worden. Heute leisten zwei amerikanische Arbeiter ebensoviel wie fünf englische. Riesige Produktionskräfte verlangen Betätigung, das heißt bei kapitalistischer Wirtschaft: Profitmöglichkeit. Der Imperialismus der Vereinigten Staaten strebt danach, dem Kapital die größten Ausbeutungsobjekte zu erschließen und zu sichern. Die Konkurrenzfähigkeit, ja die Herrschaft auf den Märkten Zentral- und Südamerikas genügt dem Ausdehnungs- und Ausbeutungsbedürfnis des Kapitalismus der Vereinigten Staaten nicht mehr. Die Monroe-Doktrin veraltet, überlebt sich. Aber auch Europa erscheint als ein zu winziger Spielraum für die riesenhaften Produktivkräfte der Vereinigten Staaten. Sie fordern das gewaltigste Wirtschaftsgebiet der Welt: China und daneben Ostsibirien, wohin der Bevölkerungsüberschuss des himmlischen Reiches der Mitte abströmen wird.

Es kommt augenscheinlich dem Kapitalismus der Vereinigten Staaten nicht bloß darauf an, dort gute und sichere Absatzmärkte zu gewinnen, die reichen Naturschätze des Landes, wie Kohle, Erze usw., auszubeuten. Er ist vielmehr bestrebt, Ausbeutungsgewalt über die Arbeitskraft des chinesischen Volkes selbst zu erhalten. China umfasst ein Viertel der Gesamtbevölkerung der Erde. Das chinesische Volk ist anspruchslos, durch vieltausendjährige alte Kultur zu höchster Arbeitsdisziplin und Arbeitsleistung erzogen. Es scheint den Kapitalisten der Vereinigten Staaten geradezu prädestiniert dafür, in die Tretmühle der Profitpresserei gesperrt zu werden. Der Imperialismus der Vereinigten Staaten ist bis jetzt nicht darauf ausgegangen, abgeschlossene Ausbeutungsgebiete in China zu erobern, wie dies der Natur des Imperialismus entspricht und wie es die europäischen Staaten dort getan haben. Er hat sich in der Hauptsache begnügt, auf den Märkten Chinas erobernd vorzudringen. Aber die friedliche Eroberung des Landes wird ihm erschwert, ja unmöglich gemacht durch die Positionen und die geschlossenen Ausbeutungsgebiete, die die europäischen Staaten – in erster Linie England – ihren Kapitalisten in China gesichert haben.

Jedoch zu dem englischen Wettbewerb um Ausbeutungsgewalt in China ist ein neuer außereuropäischer getreten. Während des Weltkrieges hat sich auch die Industrie. Japans riesig entwickelt. Und der junge japanische Kapitalismus hat schon jetzt die ausgesprochenen Züge eines eroberungstollen Imperialismus. In Japan ruht die politische Herrschaft trotz der geschaffenen Karikatur eines bürgerlichen Parlamentarismus in den Händen einer feudalen militärischen Adelskaste. Machthunger und Tradition haben zur raschesten Entwicklung eines modernen Militarismus getrieben. Japan wurde – wie es hieß – „das Preußen Ostasiens“. In der Wirtschaft des Landes herrscht die Bourgeoisie. Ihm Drang nach Erweiterung ihres Ausbeutungsgebietes und die Sehnsucht der Militärkaste nach Ruhm und Eroberungen vereinigen sich in der imperialistischen Politik Japans, die das verhältnismäßig kleine Reich zu einem bedeutenden Machtfaktor werden ließ.

Japans Industrie hat die Situation während des Krieges ausgenutzt. Sie hat sich sprunghaft erweitert. Sie eroberte Märkte in Südamerika, an den Küsten des Stillen Ozeans, in China und in Australien. Viele Japaner sind im Westen der Vereinigten Staaten, namentlich in Kalifornien eingewandert. Nicht nur als Industriearbeiter, nicht nur als Händler mit japanischen Industrieerzeugnissen, sondern auch als Bauern. In Kalifornien zum Beispiel gibt es über zehntausend japanische Farmer. Die Wirtschaft der Japaner soll ertragreicher sein als die Farmen der Amerikaner. Dieser Umstand verschärft den Rassenhass gegen die „kleinen gelben Männer“. So kommt die Stimmung ganzer Bevölkerungskreise den Absichten der Imperialisten entgegen, die sich durch Japans steigende wirtschaftliche und weltpolitische Bedeutung beunruhigt fühlen. Japan hat auf den Inseln des Stillen Ozeans wichtige Positionen besetzt und zu militärischen Stützpunkten ausgebaut. Für die Ausbreitung des amerikanischen Handels und den sogenannten „Schutz“ der Interessen der Vereinigten Staaten bedeutet das Hemmnisse, Erschwerungen. Dazu kommt, dass Japan erobernd die Hand auf große und wichtige Teile Chinas gelegt hat. Während des Krieges hat es sich die Provinz Schandung mit der früheren deutschen Pachtung Kiautschou zusprechen lassen. Von Korea hat es sich in den Besitz der Mandschurei gesetzt. Es hat versucht, große Gebiete Ostsibiriens sich anzugliedern, es ist mehrmals in der Mongolei vorgedrungen. Es stößt nicht mehr wie in der Vorkriegszeit auf den mächtigen Gegner, den russischen Imperialismus. Erst seit kurzem begegnet sein Eroberungsdrang einem Hindernis: dem Widerstand der Republik des Fernen Ostens. Die aufgezeigte Entwicklung hat zur Folge, dass dem Ausdehnungsbedürfnis der Vereinigten Staaten Schranken gezogen werden, die sich immer mehr zu verengen drohen. Der Konfliktstoff zwischen der nordamerikanischen Union und Japan wächst mit der Entwicklung beider Staaten.

England hat das wirtschaftliche wie das politische Vordrängen Japans, hat sogar die Besetzung chinesischen Gebiets geschehen lassen. Es hat sich mit Japans imperialistischer Ausdehnung friedlich-schiedlich abgefunden. Es hat in Südchina, dessen Entwicklung fortschrittlicher und schon stark vom europäischen Kapitalismus beeinflusst ist, wertvolle Konzessionen und Monopole errungen. Englische Kapitalisten verfügen über Eisenbahnen, sie können Erz- und Kohlenbergwerke ausbeuten, sie unterhalten größere Industrie- und Handelsunternehmungen, kurz, die Anfänge modernen Wirtschaftslebens in Südchina stehen vorwiegend unter englischem Einfluss. Aber dafür hat England bisher Nordchina so gut wie kampflos dem japanischen Imperialismus überlassen. Japan hat dort ein sehr günstiges und sicheres Hinterland für seine weitere industrielle und politische Ausdehnung; Gebiete, reich an Arbeitskräften, an Lebensmitteln, an Erzen, Kohle usw. Ferner schuf es sich dort starke strategische Stützpunkte. England hat diese Entwicklung mit einem heiteren und mit einem nassen Auge verfolgt. Mit einem nassen Auge, soweit durch Japans Vordringen der eigenen Entwicklung Schranken drohten; mit einem heiteren, soweit dadurch dem Imperialismus der Vereinigten Staaten in China und in Ostsibirien ein Gegner erstand. Englands Stellung kommt in dem Vertrag mit Japan zum Ausdruck, der bis vor kurzem bestanden hat.

Allein, Englands auswärtige Politik ist sowohl den Vereinigten Staaten wie Japan gegenüber keineswegs frei. Infolge des Weltkrieges hat sie bestimmte Bindungen erhalten. Die Geister, die England rief, wird es nicht los. Um die zur Führung des Krieges nötigen finanziellen Mittel wie auch Mannschaften von seinen Dominions zu bekommen, musste es diesen auf der Reichskonferenz das Recht einräumen, die auswärtige Politik mitzubestimmen. Die wichtigsten der Dominions haben jedoch kein Interesse daran, die Stellung Japans den Vereinigten Staaten gegenüber zu stärken. Sie fühlen sich vielmehr mit diesen und ihrer Entwicklung verbunden. Das englische Südafrika ist vorwiegend noch Bauernland. Seine Farmer verspüren nicht die geringste Neigung, Gut und Blut in einem Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und England zu opfern. Die australische Föderativrepublik steht in schärfstem wirtschaftlichen und politischen Gegensatz zu Japan und fühlt sich durch dessen wirtschaftliche Konkurrenz bedroht wie auch durch die Festsetzung Japans auf den Inseln in der Nachbarschaft. Kanada ist wirtschaftlich wie kulturell mit den Vereinigten Staaten viel enger als mit England verbunden. Es ist nur eine Frage der Zeit und der Umstände, ob dieses Dominion sich nicht ganz von England loslösen wird.

Der Gegensatz zwischen dem Mutterland und den Dominions kam auf der Konferenz des Empire zum Ausdruck. Es erfolgte dort ein Protest gegen das Bündnis zwischen England und Japan. Englands Stellung den Vereinigten Staaten gegenüber ist also keineswegs die überlegene Stärke. Das wirkt auf das weltpolitische Verhältnis zwischen England und Frankreich zurück. Frankreichs Machtstellung wird dadurch gestärkt. Der französische Imperialismus wird der gesuchte Bundesgenosse der beiden großen angelsächsischen Mächte, die um die Vorherrschaft am Stillen Ozean ringen. Es kann die Rolle der Zunge der Waage spielen. Wie die Dinge liegen, suchen die Vereinigten Staaten, Japan und England einander mit den gewaltigsten Flottenrüstungen zu überbieten. 

[Rebellion in den Kolonialländern]

Die steigende Rebellion in den Kolonialländern rüttelt ebenfalls schwächend an Englands alter Machtstellung. Besonders bedeutsam ist der Kampf um die Unabhängigkeit Irlands. Es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass der Freiheitskampf der lrländer finanziell und moralisch in weitgehender Weise von den Vereinigten Staaten her unterstützt worden ist. Nicht etwa nur, weil Irland seit vielen Jahrhunderten einen mächtigen Strom von Auswanderern dorthin gesandt hat, so dass heute ein großer Teil der Bevölkerung der Union irischer Abstammung. Ein selbständiges Irland, in Sympathie oder wohl auch durch Verträge mit den Vereinigten Staaten verbunden, wäre ein starker imperialistischer Vorposten Amerikas in Europa. Und dieser Vorposten würde seine Spitze vor allem gegen England kehren. Der Konflikt zwischen England und Irland ist aber mit der Erklärung der „grünen Insel“ zu einer Republik nicht beendet. Die revolutionären Kämpfe dauern dort fort. Mit ihren nationalen wirken soziale und religiöse Triebkräfte zusammen. Unüberbrückbar scheinen die Interessengegensätze zwischen der bäuerlichen und katholischen Bevölkerung Irlands im Süden und den protestantischen industriellen Schichten im Nordosten, in Ulster. In den fortdauernden Kämpfen kommt zum Ausdruck, dass breite Massen der irischen Werktätigen das Land auch nicht als Republik und Dominion von der englischen Bourgeoisie auspowern lassen wollen. Das Verlangen voller nationaler Unabhängigkeit paart sich mit proletarischer Rebellion gegen kapitalistische Klassenherrschaft. Das Banner der „freien genossenschaftlichen Arbeiterrepublik“ wird gehißt.

In den außereuropäischen Kolonien, die sich zum Teil während des Kriegs industriell stark entwickelt haben, kann sich England der Aufstände kaum noch erwehren. Seit Jahren ist der Boden der englischen Herrschaft in Ägypten erschüttert. Immer häufiger werden die Rebellionen von Fellachen wider ihre Ausplünderung in der Getreidewirtschaft und in den Baumwollplantagen. Die nationalen Unabhängigkeitsbewegungen ziehen Nahrung und Kraft aus dem Klassengegensatz zwischen ausgebeuteten Einheimischen und ausbeutenden Fremden, sie gewinnen an Umfang, an Einheitlichkeit, an Bedeutung. In Ägypten ist aber nicht allein ein ergiebigstes Ausbeutungsgebiet des englischen Kapitals bedroht, sondern auch die Landverbindung mit dem südafrikanischen Kolonialreich; vor allem aber: In Ägypten beherrschen englische Kanonen den Suezkanal, von dort aus können englische Truppen rasch über Vorderasien nach Indien geschickt werden. Ägypten ist ein Hauptstützpunkt zur Sicherung der englischen Herrschaft über Indien.

Indien selbst ist ein Feuerherd nationaler Aufstände. Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts ist dieser Brand kaum je völlig erloschen. Millionen rebellieren in Indien gegen die englische Kolonialmacht, die gleichbedeutend ist mit Ausplünderung und Unterdrückung. Auch hier ist der Klassengegensatz zwischen dem auswuchernden und herrschenden Fremdling und dem ausgesaugten, getretenen und geschundenen Eingeborenen die letzte und stärkste Wurzel des nationalen Gegensatzes des Nationalhasses. Religiöse Motive verschlingen sich damit, zumal auch bei der mohammedanischen Bevölkerung. England hat versucht, abwechselnd mit Zuckerbrot und Peitsche der Rebellionen Herr zu werden, manchmal auch mit beiden zugleich. Was haben Konzessionen an die bevorzugten Kasten des Riesenreichs, an die indische Bourgeoisie gefruchtet? So gut wie nichts. Einige Persönlichkeiten, kleine Gruppen haben ihren Frieden mit England gemacht. Die schwelende, bald hier und bald da in hellen Flammen auflodernde Empörung dauert weiter. Von dem Boykott englischer Waren und englischer Prinzen – man denke an die Potemkinsche Reise des Prinzen von Wales – bis zur Steuerverweigerung, bis zum Streik größten Umfangs und leidenschaftlichen Charakters, bis zum bewaffneten Aufstand, in dem Tausende fallen.

Besondere Beachtung verdient es, dass immer zahlreicher reine Klassenkämpfe zwischen Proletariern und der Bourgeoisie auftreten. In Madras, in Bombay, in all den Städten, wo sich eine umfangreiche moderne Industrie entwickelt hat, kommt es zu Streiks, die breiteste Massen erfassen. Nationale und soziale Gärung wachsen unaufhaltsam. Die Zeiten scheinen für immer vorbei, wo der englische Kapitalismus seinen Lohnsklaven in der Heimat auf Kosten der erhöhten Ausplünderung Indiens Brosamen zuwerfen konnte, und in England gibt es heute ein Heer von über zwei Millionen Arbeitslosen, denen Hunger und Obdachlosigkeit den Glauben an die Vortrefflichkeit und Ewigkeit der bürgerlichen Ordnung ausprügeln.

Jedoch die revolutionäre Stimmung in den Ländern in Übersee beschränkt sich keineswegs auf Indien, nicht auf Gebiete, die englischer Kolonialbesitz sind oder unter englischer Oberhoheit stehen. Gewitterschwül lagert sie über den Völkern vor kapitalistischer Kultur von West- und Südafrika bis Ostasien. Und die Gärung richtet sich gegen alle Kolonialmächte, gegen den Kapitalismus selbst. Sie ist Rebellion der Völker alter, primitiver, bäuerlicher Kultur gegen die kapitalistische „Kultur“ Europas und der Vereinigten Staaten. Es ist etwas an dem, was nationalistische Zeitungen in den verschiedenen Ländern wehmütig oder auch wütend bejammern. Nämlich, dass der imperialistische Krieg mit seinen Gräueln die Autorität der Weißen über die Farbigen schwer erschüttert, ins Wanken gebracht habe. Die Gegensätze, Zettelungen und Intrigen zwischen den europäischen Kolonialstaaten nähren und steigern die Stimmung der Auflehnung. Es sei erinnert an die Auswirkung des Interessengegensatzes zwischen dem französischen und spanischen Imperialismus in Marokko, an die Rolle, die Engländer und Franzosen in den kriegerischen Unternehmungen der einheimischen Prätendenten für die Herrschaft über Arabien spielen.

Wo die kapitalistische Wirtschaft sich einzunisten begann, unter Gruben-, Fabrik- und Plantagenarbeitern brechen immer häufiger Streiks aus. So kam es in diesen Wochen in Südafrika – Johannesburg – zu einem großen Ausstand der Arbeiter, der von beiden Seiten mit der Zähigkeit und Leidenschaftlichkeit eines Krieges geführt wurde. Das religiöse Moment gewinnt in den fremdenfeindlichen Bewegungen an Kraft. Von der Westküste des Atlantischen Ozeans bis nach China ist die Welt des Islams in leidenschaftlicher Erregung, sieht frommer, fanatischer Glaube die Fahne des Propheten im heiligen Kriege den Völkern voranflattern. Und was eine besondere Beachtung verdient: In den Ländern des Nahen und Fernen Ostens sind die Frauen in Bewegung geraten, die Frauen, die durch Traditionen, Sitten und religiöse Satzungen von Jahrtausenden gebunden sind. Ich denke dabei nicht an die kleine Schicht besitzender Frauen des Orients, Bahnbrecherinnen ihres Geschlechts, die sich an den Universitäten Europas und der Vereinigten Staaten Wissen, ja Gelehrsamkeit und moderne Kultur holen. Mir sind vielmehr gegenwärtig die vielen Tausende und aber Tausende von Kleinbäuerinnen und Arbeiterinnen auf den Reisfeldern und Baumwollplantagen, in der Tabak- und Textilindustrie, bei der Petroleumgewinnung etc., die sich in der Türkei, in Turkestan, in Korea, Japan, in der Mongolei, in Indien gegen das Doppeljoch der Mannes- und der Kapitalsherrschaft zu empören beginnen. Kurz, in den Gebieten, die unter kapitalistischer Kolonialherrschaft stehen oder von ihr bedroht sind, ein Rütteln an Ketten, ein Aufbäumen Geknechteter, Unterdrückter, Ausgesogener. Das aber nicht bloß gegen die modernen kapitalistischen Formen der Herrschaft und Ausbeutung, sondern oft genug auch wider die uralten überlieferten Bindungen, die noch bis vor kurzem heilig dünkten. Es ist, als ob eine ganze Welt von rechtlosem, gefesselten, missbrauchtem Menschentum rechts- und freiheitshungrig gegen Unrecht und Sklaverei aufstünde. Perspektiven von gigantischem Ausmaße tun sich auf.

Kein Zweifel: Die Bewegung, ja Rebellion der Kolonialvölker, der Völker vorkapitalistischer Kultur, hat einen gewaltigen Antrieb durch die russische Revolution erhalten. Sie war diesen Völkern der gewaltige Anschauungsunterricht darüber, dass die scheu, furchtsam, gleich einem Wunder angestaunten Riesenmächte der kapitalistischen Ausbeutung und Herrschaft nicht unverletzlich und unüberwindbar sind, dass sie von den Kleinen, den Verachteten und Ausgepowerten zerschmettert werden können. Und diese Mühseligen und Beladenen schlussfolgerten daraus, dass auch andere Knechtschafts- und Ausbeutungsverhältnisse nicht von ewiger Dauer sein müssen. Wie Sowjetrussland sich im Ringen mit den gegenrevolutionären Heeren siegreich behauptet hat, sein kämpfendes Dasein ist eine Quelle moralischer Kraft, ist politische Stärkung der nationalen, religiösen, sozialen Bewegungen und Rebellionen, die in den exotischen Ländern auftreten. Neues, Unerwartetes für die meisten Europäer ist dort in Fluss gekommen. Was will das werden? Die Phantasie des Dichters wird lieber darüber prophezeien als der Politiker.

So viel scheint indessen sicher: Der Kapitalismus Europas und der Vereinigten Staaten verliert die letzte Möglichkeit, sein Ausdehnungs- und Ausbeutungsbedürfnis zu befriedigen, verliert die letzten Reserven seiner Lebenskraft und Lebensdauer, wenn sich der Rest der Welt vor ihm verschließt. Ein Ende der Kolonialherrschaft an Stelle ihrer Befestigung und Ausdehnung, und die Kapitalisten der verschiedenen Staaten sind außerstande, die nationalen Interessengegensätze untereinander durch „Verteilung der Welt“ auf Kosten unterdrückter und ausgeplünderter Völker nichtkapitalistischer Länder auszugleichen. Ein Ende der Kolonialherrschaft an Stelle ihrer Befestigung und Erweiterung, und die Kapitalisten jedes einzelnen Landes sind außerstande, durch Konzessiönchen und Reformen die wirtschaftlichen und sozialen Interessengegensätze zwischen sich und den Proletariern auf Kosten ausgebeuteter und verknechteter Fremdvölker zu verkleistern. Mit der Kolonialherrschaft der kapitalistischen Staaten fällt die Reformfähigkeit der bürgerlichen Welt, erlischt für die Bourgeoisie die Möglichkeit, die Existenz ihrer Lohnsklaven entsprechend dem gewohnten standard of life und mit Aussicht auf kulturelle Hebung zu sichern. Die kapitalistischen Großmächte – allen zur Zeit England voran – rüsten daher, sind bereit, sich im Kampf um Kolonialbesitz zu zerfleischen und im Kampfe um die Aufrechterhaltung ihrer Kolonialherrschaft selbst die Erde mit den größten Blutströmen zu überschwemmen. 

[Sowjetrussland]

Interessengegensätze schärfster Art zwischen den kapitalistischen Großmächten treten auch gegenüber Sowjetrussland in Erscheinung. Die Industrie der Vereinigten Staaten verlangt wie diejenige Englands nach der Erschließung russischer Absatzmärkte. Ein kraftvoller Aufschwung der Landwirtschaft in Sowjetrussland würde sehr vorteilhaft für die Versorgung Englands mit Lebensmitteln und manchen Rohstoffen sein. Für die Vereinigten Staaten dagegen hätte er eine Schwächung der Position zur Folge. Er machte England für Lebensmittel usw. unabhängig von der nordamerikanischer Union und stellte dieser überdies auf dem Weltmarkt einen mächtigen Konkurrenten zur Seite. Die Wirtschaft Englands hat ein großes Interesse an der Annäherung Sowjetrussland, an Handelsbeziehungen und Handelsverträgen mit einem aufblühenden Staat. Beunruhigt, feindselig betrachten dagegen die englischen Imperialisten den starken und wachsenden Einfluss der Arbeiter-und-Bauern-Republik auf die werktätige Bevölkerung in Mittel- und Südasien, in der Mandschurei und Mongolei, in Korea, China, Japan und Indien, ihre angebahnten politischen Beziehungen zu den Regierungen mancher dieser anderer östlicher Länder. Wenn auch Sowjetrussland frei ist von imperialistischen Tendenzen, so fühlt sich England doch nach den Stand der Dinge in seiner kolonialen Machtposition bedroht; ihm muss ungeheuer viel daran gelegen sein, bei Kämpfen in Asien wenigstens Sowjetrusslands „Neutralität“ zu gewinnen. Der Handelsvertrag, der zwischen den beiden Ländern geschlossen wurde, zeigt das deutlich.

Die Vereinigten Staaten dagegen sehen die Möglichkeit einer Bedrohung Englands mit Vergnügen in Hinblick auf ihren eigenen Gegensatz zu dem englischen Imperialismus in China. Das Ringen zwischen England und Frankreich um die Vormacht in Vorderasien und am Schwarzen Meer beeinflusst die Stellung der Mächte zu Sowjetrussland und die Einschätzung seiner Beziehungen zu der Türkei. Deutschland ist wie kein anderer Staat auf die engste wirtschaftliche und politische Verbindung mit Sowjetrussland angewiesen. Allein, die kleinbürgerlichen Illusionen über die Segnungen des „demokratischen“ Ententeimperialismus“ und noch mehr die Furcht vor „Export des Bolschewismus“, die seine verschiedenen Regierungen seit dem November 1918 geleitet haben, verhinderten bisher die entsprechende deutsche Auslandspolitik, die die Interessengegensätze zu Frankreich und England auswerten würde. Das ist symptomatisch.

Wie groß auch immer die weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Gegensätze zwischen den kapitalistischen Staaten untereinander sonst wo auf dem Erdball und auch Sowjetrussland gegenüber sind, in ihrer Stellung zu diesem finden sich doch alle Mächte des Kapitalismus in einer großen Gemeinschaft zusammen, der Gemeinschaft des Kampfes gegen Sowjetrussland, gegen den „Bolschewismus“, das heißt die proletarische Revolution. Die Blockade, die sich wie ein würgender Ring um den Staat der proletarischen Revolution legte, und die gegenrevolutionären Kriegszüge sperrten Sowjetrussland von der Weltwirtschaft ab. Sie steigerten gleichzeitig die ungeheuren Schwierigkeiten der geschichtlich gegebenen Umstände, unter denen das russische Proletariat die politische Macht ergriff und seine Diktatur in der Sowjetordnung aufrichtete, um seine Befreiung durch den Kommunismus zu verwirklichen.

Die russischen Arbeiter und Bauern vollbrachten das Wunder, mit der zerrütteten Wirtschaft des Landes die Millionen der Roten Armee auszurüsten und drei Jahre lang im Kampfe gegen Heere zu unterhalten und siegen zu machen, deren Bedarf von den fortgeschrittensten Industrien der Welt gedeckt wurde. Allein, dieses Wunder erschöpfte vollends die schwachen Kräfte. Von Feinden an allen Grenzen umringt, den Bürgerkrieg im Innern, ohne Verbindung mit der Weltwirtschaft konnte die Sowjetmacht nicht das noch größere Wunder vollbringen, die verelendende und zerfallende Wirtschaft neu aufzubauen und kommunistisch umzuwälzen. In der kurzen Spanne weniger Jahre konnte unmöglich mit der bösen Hinterlassenschaft des Zarismus und Kapitalismus aufgeräumt und die um Jahrhunderte rückständige Entwicklung des Produktionsapparates und der Arbeitsdisziplin, Leistungsfähigkeit usw. der Menschen nachgeholt werden.

Man vergesse dabei nicht die Wirkung der langen chronischen Unterernährung und Überanstrengung, der Nervenaufpeitschung und Nervenzerrüttung durch außergewöhnliche Verhältnisse auf den Rückgang der Arbeitsleistung, der Produktivität. Von einem hochfahrenden Nasenrümpfen über die geringe Leistungsfähigkeit der russischen Proletarier müsste schon allein die erheblich gesunkene Produktivität der deutschen und englischen Arbeiter abhalten, die Generation nach Generation durch die grausame Zuchtschule des Kapitalismus gegangen sind. Doch zurück zur Hauptfrage: In Sowjetrussland, wo 80 Prozent der Bevölkerung Bauern sind, von denen die meisten noch mit Urväterbetriebsmitteln nach Urväterbetriebsweise den Boden bestellen und Viehzucht treiben, hätte der wirtschaftliche Aufbau nur unter einer Bedingung in gerader Linie und konsequent in der Richtung zum Kommunismus durchgeführt werden können, wenn die proletarische Weltrevolution rasch fortgeschritten wäre und Sowjetstaaten auf höchster Stufe der Produktion die wirtschaftliche Entwicklung Sowjetrusslands solidarisch unterstützt und gefördert hätten.

Das heldenmütige russische Proletariat blieb in seinem Kampfe gegen den Kapitalismus allein. Die Sowjetmacht musste mit der sogenannten Neuen Ökonomischen Politik dem Kapitalismus des russischen Mittelbauern und Kleinbürgers sowie dem Kapitalismus des Auslandes Zugeständnisse machen. Aber die gesicherten Konzessionen zu profitreicher Beteiligung ausländischer Kapitalisten an der Wirtschaft in Sowjetrussland genügen nicht der Bourgeoisie verschiedenster Nationalitäten. Sie will bei der Ausplünderung von Naturschätzen und Menschen nicht durch die Gesetze eines Proletarierstaates eingeschränkt sein, sie begehrt die „goldene Freiheit“, die ihr Profitinteresse meint. Sie kann sie in dem russischen Riesenreich nicht erhalten, solange dort die proletarische Diktatur besteht, und sie fühlt sich in ihren außerrussischen Herrschaftsgebieten bedroht, solange Sowjetrussland existiert. Sowjetrusslands bloße Existenz ist für alle kapitalistischen Staaten der größte Stein des Anstoßes und Ärgernisses. Sie ist der große lebendige Beweis, dass die Macht der ausbeutenden Bourgeoisie, dass die bürgerliche Ordnung nicht ewig ist, dass sie durch wissende, wollende, kämpfende proletarische Massen gestürzt werden kann. Sowjetrussland ist für den Kapitalismus der stets erklingende Gruß der Trappisten: „memento mori“, „gedenke des Todes“. Sie ist für das Proletariat der ganzen Welt die dauernde Mahnung zur Revolution und der starke Hort ihres Ringens zur Überwindung des Kapitalismus.

Genossinnen und Genossen, Das Schwert der internationalen Gegenrevolution wider Sowjetrussland war bisher der französische Imperialismus. Er hat das Land Milliarden über Milliarden vergeuden machen, um die Verwüstungszüge der Tschechoslowaken, der Denikin, Judenitsch, Koltschak, Wrangel und des weißgardistischen Polens zu unterhalten, die Einfälle der Petljura und anderer Bandenführer. Er war mit Gold, diplomatischer und politischer Hilfe an den Verschwörungen der Gegenrevolutionäre innerhalb und außerhalb Sowjetrusslands beteiligt, an sehr vielen, wenn nicht an den meisten Verschwörungen und Attentaten der Sozialrevolutionäre. Er hat den Militarismus Polens und der Kleinen Entente gerüstet und unterhält ihn als Landsknecht gegen den Proletarier- und Bauernstaat. Für die Unterstützung Polens allein sind zwei Milliarden Franc offiziell gebucht, aber dieser Betrag erschöpft bei weitem nicht die Summen, die der „polnische Wall gegen den Bolschewismus“ und die kriegerischen Unternehmungen Polens gegen Sowjetrussland Frankreich gekostet haben. Der französische Imperialismus hoffte, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Sowjetrussland die Milliarden abzupressen, die in der Vorkriegszeit aus Frankreich nach Russland als Darlehen geflossen sind, um den bluttriefenden Zarismus zu erhalten. Die französischen Banken haben dabei glänzende Geschäfte gemacht. Man schätzt, dass Frankreich vor dem Kriege rund 50 Milliarden Franc im Ausland verliehen hatte, davon etwa ein Drittel an Russland. Des weiteren wähnten die französischen Imperialisten, mit Hilfe ihrer weißgardistischen Söldnerscharen aus Polen usw. als internationaler Retter der bürgerlichen Geschäft die Sowjetmacht zu vernichten.

Die Siege der Roten Armee und insbesondere die zerschmetternde Niederlage Wrangels auf der Krim haben die französischen Imperialisten darüber belehrt, was sie aus der Geschichte Frankreichs wissen müssten. Nämlich, dass ein Volk unbezwinglich ist, wenn es mit fester Entschlossenheit und grenzenlosem Opfermut die Revolution verteidigt. In Frankreich beginnt man, die Aussichtslosigkeit des Beginnens einzusehen Sowjetrussland militärisch niederzuwerfen. Eine anders orientierte Politik hat eingesetzt. Jedoch ihr Ziel ist augenscheinlich das alte, nur dass es auf „friedlichem Wege“ zu erreichen versucht wird. Deshalb wird der französische Imperialismus auch weiterhin das Gut und Blut des Volkes verschwenden, um gegen Sowjetrussland zu rüsten und den Militarismus der Tschechoslowakei, Rumäniens, Polens, der baltischen Randstaaten kriegsbereit gegen den Rätestaat zu halten. Der Vertrag zwischen Frankreich und der Tschechoslowakei, den Transport von Heeresbedarf usw. durch diesen jungen Nationalstaat betreffend, waren Beneš’ Reise nach Paris und seine Reden, der vorbereitete Vertrag zwischen Polen und Finnland und anderes sind deutliche Anzeichen dafür.

Sind aber gegen Sowjetrussland erst die von französischen Offizieren gedrillten Soldknechte des französischen Imperialismus vorgestoßen, so wird dieser seine „Bundespflicht“ erfüllen. Waffen, Munition, Heeresbedarf jeder Art und auch Truppen werden aus Frankreich an die Front gehen. Deutschlands „Neutralität“ wird kein Hindernis dagegen sein. Das haben die Ereignisse im Sommer 1920 bewiesen, als der räuberische Überfall Polens Sowjetrussland zum Kriege zwang. Solange in Deutschland die Bourgeoisie herrscht – ganz gleich unter welcher Firma -, wird Auslandspolitik im Schlepptau des Ententeimperialismus laufen, wird sie vom Hass gegen die Sowjetrepublik und von der Furcht vor der proletarischen Revolution im eigenen Lande beseelt und bestimmt sein. So wird sich die formale Neutralität sehr leicht in tatsächliche Kriegsbegünstigung, Kriegsbereitschaft und Kriegsbeteiligung verwandeln. Ludendorff und Compagnie möchten ihren stark zerbeulten und verblassten Ruhm in einem Krieg gegen den „Bolschewismus“ auffrischen. Sie hetzen in Deutschland zum Krieg wider Sowjetrussland, sie hetzen den Ententeimperialismus dazu und haben ihm, waschechte Patrioten wie sie sind, ihre treudeutschen Säbel dafür angeboten. Einzig und allein der revolutionäre Kampf der deutschen Proletarier kann verhindern, dass Deutschland in den blutigen Wirbel eines ententeimperialistischen Krieges gegen Sowjetrussland gerissen wird.

Der russische Arbeiter-und-Bauern-Staat, dessen Ziel die Überwindung des Kapitalismus ist und der das Selbstbestimmungsrecht der Völker aus einer bürgerlichen Phrase zur Wirklichkeit gemacht hat, verwirft und bekämpft grundsätzlich den Imperialismus. Er bedürfte aller Kräfte des Landes für den Aufbau der Wirtschaft, einer neuen, höheren Kultur. Wie die Dinge liegen, kann er trotz alledem nicht abrüsten, darf er nicht abrüsten. Er muss verteidigungsfähig, kampfstark bleiben. Nicht bloß im Hinblick auf Sowjetrusslands Freiheit und Selbständigkeit, auf den Schutz der russischen Revolution, nicht minder auch um der proletarischen Weltrevolution willen. 

[Kapitalismus und Krieg]

Genossinnen und Genossen! Nur drei Jahre sind verflossen, seit die Kanonen nicht mehr auf den großen imperialistischen Schlachtfeldern in Mitteleuropa brüllen; zwei Jahre sind es her, dass der Friede in Verträgen feierlich beschworen wurde. Und schon wieder drohen Kriege, die an Umfang, an Furchtbarkeit, an entsetzlichen Auswirkungen den imperialistischen Krieg von 1914 bis 1918 übertreffen werden, obgleich dieser schon jedem Fühlenden und Denkenden ein Inferno dünkte. Die Rüstungen haben nicht ab- sondern zugenommen. 1914 standen rund 7 Millionen Männer in Waffen, Anfang 1921 dagegen 11 Millionen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Deutschland und Österreich „entwaffnet“ sind, dass Deutschland statt seines früheren Heeres 800.000 die Reichswehr mit „nur“ 100.000 Mann hat. Dafür hatte 1921 das französische Heer über eine Million Mann; die Jahresbestände betrugen für Italien 300.000, für die Tschechoslowakei 200.000, für Rumänien mehr als 223.000 und für das bettelarme, wirtschaftlich durch und durch verlotterte Polen über 400.000 Mann. Das nennt sich der „bewaffnete Friede“. Bewaffnet: ja; Friede: nein!

Der französische Staat weiß kaum noch, wie er durch festeres Anziehen der Steuerschraube sein Defizit decken soll. Er verausgabt jedoch 5 Milliarden Franc für das Heer; für die soziale Gesetzgebung hat er nur eine lumpige halbe Milliarde. Von den Einnahmen werden über die Hälfte von der Zinszahlung der Kriegsschulden verschlungen, und 42 Prozent der übrigen Ausgaben entfallen auf Heereszwecke. Im verflossenen Jahre hat die Mobilisierung der Jahresklasse 1919 für den Einmarsch in das Ruhrrevier 1½ Milliarden Franc verpulvert. Diese Zahlen erscheinen erst in ihrer vollen Ungeheuerlichkeit, wenn man sich vergegenwärtigt, dass auch der Siegerstaat Frankreich hart Rande des Bankrotts steht, dass die Bilanzierung seines Budgets eine rein fiktive ist, in der Hauptsache beruhend auf der Einsetzung und Einstellung von Steuererträgen, die unmöglich eingehen können. Wie Militarismus und Imperialismus Frankreich ausplündern, sei durch einige Zahlen beleuchtet. Es wurde geschätzt, dass Frankreich in der Vorkriegszeit 50 Milliarden alleine im Auslande verliehen hatte; jetzt hat es dort 35 Milliarden Franc Staatsschulden, nach dem Stand der Valuta Anfang 1922 macht das 80 Milliarden, dazu 20 bis 30 Milliarden Bons und Renten, die von Ausländern gezeichnet sind. Seine gesamte Schuldenlast beträgt 329 Milliarden Franc.

Auch in den anderen kapitalistischen Ländern ist der Militarismus ein Nimmersatt. Nach dem Votum des Senats der Vereinigten Staaten sind die Ausgaben für die Kriegsflotte von 396 Millionen Dollar auf 494 Millionen im laufenden Jahr erhöht worden. Englands Budget für Heeres- und Marinezwecke betrug im Vorjahre 106.315.000 Pfund Sterling. Für den Unterhalt der englischen Kriegsflotte waren heuer 82½ Millionen Pfund Sterling vorgesehen, 6,7 Prozent der Staatseinnahme. Diese Summe mutet bescheiden an neben den rund 75 Millionen Pfund Sterling, gleich 32 Prozent der gesamten Staatseinnahme die Japan für seine Seestreitmacht ins Jahresbudget eingestellt hatte. Immerhin wird in England die Rüstungslast so schwer empfunden, dass die Kommission des englischen Parlaments, die auf Sparsamkeit im Staatshaushalt hinwirken soll, Rüstungseinschränkungen vorschlug, die zu einem Konflikt in der Regierung führten. Die Kommission forderte nämlich, dass die drei Ministerien für den See-, Land- und Luftkrieg zu einem einzigen Landesverteidigungsministerium zusammengefasst werden sollten, ferner, dass die Heeresstärke um 55.000 Mann, die Marinetruppen um 50.000 und der Betrag für die neuen Flottenrüstungen um 20 Millionen Pfund Sterling herabgemindert würden. Das kleine Belgien verausgabt für seinen Militarismus die Riesensumme von 1,217 Milliarden Franc. Das hungernde, von Frankreich ausgehaltene Polen hat 1921 nicht weniger als 65 Milliarden polnischer Mark für das Heer vergeudet.

In allen kapitalistischen Staaten verschlingen die Rüstungen die Mittel, die wenigstens einen Teil der himmelschreienden sozialen Übel heilen könnten, die der Krieg geschaffen oder maßlos gesteigert hat. Die bürgerliche Ordnung ist zu arm, um der entsetzlichen Wohnungsnot, dem schauerlichen Arbeitslosenelend zu steuern, um für die Opfer des Krieges, die Invaliden der Arbeit zu sorgen, um Müttern und Kindern Fürsorge zu sichern, um die Volksbildung zu heben, um aufzubauen, wo der Krieg verwüstete. Sie hat Mittel die Hülle und Fülle, verschwendet Riesenreichtümer, um die vollkommensten Mordwerkzeuge anzuschaffen, um Massenmord und Massenverwüstung vorzubereiten. Als wären die blut- und schmutztriefenden Jahre von 1914 bis 1918 nicht gewesen!

Wie ist das möglich? Sollen Widersinn und Wahnsinn weiter herrschen? Genossinnen und Genossen! Die Antwort ist für uns klar. Der Widersinn und Wahnsinn hat Methode! Die Methode der kapitalistischen Wirtschaft, der bürgerlichen Ordnung. Rüstungen, Kriegsgefahr, Kriegswüten, all das ist geblieben, weil seine Ursache geblieben ist: der Kapitalismus, die Klassenherrschaft der Bourgeoisie. Die Weltrevolution hat noch nicht als das geschichtliche Weltgericht über den Kapitalismus, den großen Kriegsschuldigen von 1914, ihres Amtes zu Ende gewaltet. In der russischen Revolution nahm sie einen ersten kühnen, glänzenden, verheißungsvollen Anlauf. Seither ist ihr Gang schleppend, stockend geworden. Trotz der großen Reife der objektiven Verhältnisse für die proletarische Revolution hat in keinem Lande alter, fortgeschrittener kapitalistischer Entwicklung die Arbeiterklasse gewagt, dem russischen Beispiel zu folgen, die politische Macht zu erobern. In den besiegten Ländern wie in den siegreichen Staaten hat sie es geschehen lassen, ja, wie in Deutschland, dazu geholfen, dass die Bourgeoisie ihre wankende Macht wieder befestigte und drauf und dran ist, Wirtschaft und Staat auf der alten, kapitalistischen Grundlage herzustellen. Was aber besagt das?

Nichts anderes, als dass all die Widersprüche weiterbestehen und wirksam sind, die unter der bürgerlichen Ordnung unaufhaltsam zu Rüstungen und Kriegen treiben:

der Widerspruch, der in der Wirtschaft den Krieg aller wider alle bedeutet: nämlich der Widerspruch zwischen den Profitinteressen der einzelnen Kapitalisten untereinander – national wie international;

der Widerspruch zwischen dem planmäßig organisierten Einzelbetrieb und der wilden Planlosigkeit, der Anarchie der gesellschaftlichen Wirtschaft – national und international;

der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der großen Produktionsmittel und ihrem Verbleib in Privateigentum und damit der individuellen Aneignung des Produktionsertrags;

der Widerspruch zwischen der märchenhaften Ergiebigkeit der modernen Produktionsmittel und Produktivkräfte und der geringen Konsumfähigkeit, das heißt der schwachen Kaufkraft der breitesten schaffenden Massen;

der Widerspruch zwischen dem Verlangen der riesenhaften Produktivkräfte – deren Entfaltung die große historische Leistung der Bourgeoisie ist – nach weltenweitem und schrankenlosem Spielraum und dem Begehren der führenden Kapitalistengruppen der einzelnen Länder nach Zollmauern, nach Absperrung neuer, größerer Ausbeutungs- und Herrschaftsgebiete;

von anderen Widersprüchen und Übeln zu schweigen – und sie alle übergipfelnd, sie alle zusammenfassend der Widerspruch der Widersprüche, ihr klassischer historischer Ausdruck: der Klassengegensatz zwischen ausgebeutetem Proletariat und ausbeutender Bourgeoisie.

Der Krieg und seine Auswirkungen haben die Widersprüche und Gegensätze der bürgerlichen Ordnung ungeheuerlich verschärft. Die Anarchie der kapitalistischen Wirtschaft hat sich national und international in ein heilloses Chaos verwandelt. Wohin wir blicken, ist das notdürftig aufrechterhaltene wirtschaftliche, soziale, politische Gleichgewicht der kapitalistischen Welt zerstört. Steigerung der Widersprüche und Gegensätze des Kapitalismus auch als unabwendbare Folge des Bestrebens der Bourgeoisie, die Unsummen der Kriegskosten, die zermalmenden Lasten der Wiedergutmachung der Kriegsverwüstung und des Wiederaufbaus der Wirtschaft den Hand- und Kopfarbeitern, dem werktätigen Volk allein aufzubürden. Dieses Bestreben bedeutet höchste Ausbeutung und Verknechtung des Proletariats, schließt in sich Steuerraubzüge gegen die Armen und Kleinen, Wucherpreise des Lebensbedarfs, Verlängerung der Arbeitszeit, Herabsetzung des Lohnes und Gehaltes, Verschlechterung der Arbeitsschutzgesetze, Knebelung des Streikrechtes und als Krönung die blutige Klassendiktatur der Bourgeoisie unter der Maske der Demokratie.

Aug in Auge mit Teuerungspreisen, bei sinkender Kaufkraft des Lohnes haben 1921 in England 6½ Millionen Arbeiter eine Herabsetzung ihres Lohnes erfahren, nur 130.000 konnten Lohnsenkungen durchsetzen. Reden diese trockenen Zahlen nicht Bände von der gestiegenen Ausbeutung, dem vermehrten Elend des Proletariats! Und das in England, dessen Wirtschaft und Staat von allen Ländern Europas am wenigsten unter dem Krieg gelitten haben, am wenigsten von ihm erschüttert worden sind. Wie erst in Deutschland, in der Tschechoslowakei, in Italien, in Frankreich und den übrigen kapitalistischen Staaten, wo das Jahr 1921 ebenfalls im Zeichen der Teuerung und der Lohn- und Gehaltssenkungen gestanden hat, weil das Unternehmertum die Generaloffensive zur stärkeren Ausplünderung der Arbeiter und Angestellten ergriffen hat. Das alles, während eine kleine kapitalistische Schicht aus dem Blut und der Verwüstung des Weltkrieges und aus dem wilden Chaos der Nachkriegszeit, des angeblichen Wiederaufbaus der Wirtschaft, fabelhafte Reichtümer gewonnen, ergaunert hat.

Die Zuspitzung des Klassengegensatzes zwischen einer ausbeutenden Minderheit und der ausgebeuteten ungeheuren Mehrzahl muss zu vermehrten Rüstungen führen. Sie diktiert der Bourgeoisie die Losung: größte Kriegsbereitschaft gegen den inneren Feind. Es ist eine Binsenwahrheit, dass im kapitalistischen Staat der Militarismus nicht nur die Interessen der Besitzenden und Herrschenden dem Ausland gegenüber verfechten soll dass seine Aufgabe vielmehr auch ist, den „inneren Feind“ der Bourgeoisie niederzuhalten und niederzuwerfen: das Proletariat. Die Arbeiter würden aber wahrhaftig die über ihnen geschwungene Hungerpeitsche, würden die ihnen zugedachten schweren Ketten verdienen, wollten sie sich nicht mit äußerster Energie gegen das Beginnen der Kapitalisten wehren, ihnen die Kosten des imperialistischen Raubkrieges und die Lasten des Wiederaufbaus der kapitalistischen Raubordnung aufzuerlegen. Unwiderstehlich, elementar ziehen große leidenschaftliche Klassenkämpfe der Ausgebeuteten wider ihre Ausbeuter und Peiniger herauf. Die bewaffnete Gewalt wird in ihnen häufiger und skrupelloser die ultima ratio der Bourgeoisweisheit, die Gerechtigkeit und Vernunft der Kapitalisten und ihres Staates sein.

Doch die Verschärfung des Klassengegensatzes zwischen den beiden Nationen, die nach Disraeli innerhalb jedes Staates vorhanden sind, wird auch vermehrte Rüstungen und Kriegsgefahr nach außen zur Folge haben. Sie stachelt das Drängen der Bourgeoisie der einzelnen Länder nach imperialistischer Ausdehnung an. National herausgeputzte kapitalistische Ausbeutungs- und Herrschaftsgewalt über fremde Gebiete und fremde Völker soll – wie bereits dargelegt –, den proletarischen Klassenkampf in der Heimat abstumpfen, soll bewirken, dass dieser mächtige Strom der geschichtlichen Entwicklung in den Niederungen bürgerlicher Sozialreform und chauvinistischer Einstellung versumpft, versandet, statt dem Ozean der sozialen Revolution entgegenzubrausen. Sie wird zwangsläufig umschlagen in die Befestigung der Bourgeoismacht über das Proletariat des eigenen Landes und in eine verschärfte Auspressung der Armen und Kleinen.

Gewiss: Es gibt in der bürgerlichen Gesellschaft auch Tendenzen gegen Rüstungen und Kriegsgefahren. Die Kreise des Handelskapitals und der Fertigwarenproduktion schwärmen im allgemeinen nicht für den Militarismus und Imperialismus. Es scheint ihnen sicherer und einträglicher, ihre Profite im Auslande zu holen auf Grund der Politik „der offenen Tore“, unter der Flagge des Friedens und Freihandels. Kleinbauernschaft, Klein- und Mittelbürgertum sind wenigstens in großen Teilen Rüstungen und Kriegen abgeneigt wegen der Gut- und Blutopfer, die sie fordern. Heute schaudern wohl in allen sogenannten Kulturstaaten die weitaus meisten Menschen beim Ausblick auf neues Völkermorden. Sicherlich fürchtet auch die große Mehrheit der Regierenden die drohenden imperialistischen Kriege und möchte sie vermeiden. Aber ebenso sicher ist, dass alle Regierenden für diese Kriege rüsten und sie vorbereiten.

Rasch verstummt im Rausch der nationalen Phrase das Gepolter der Bauern und anderen „kleinen Leute“ gegen die Geld- und Menschenverwüstung der Rüstungen und Kriege. Hat doch die Janitscharenmusik der „Landesverteidigung“ sogar im sozialdemokratischen Proletariat den Sang der „Internationale“ zum Schweigen gebracht. Handelskapital und Fertigwarenindustrie sind heute in Wirtschaft und Staat der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder nicht führend. Kraftlos sind die friedenheischenden Tendenzen, die sich auf dem Boden der bürgerlichen Welt halten, die schönen moralischen Erwägungen über Recht und Unrecht, über Kultur und Barbarei. Führend und entscheidend sind Schwerindustrie und Finanzkapital, beide oft eng miteinander verbunden. Heeres- und Marinelieferungen, Monopole für Kohle- und Erzgewinnung, für Anlage und Betrieb von Eisenbahnen, Gewalt über geschlossene Ausbeutungsgebiete sind Lebens-, Entwicklungsnotwendigkeiten für sie. Schwerindustrie und Finanzkapital sind rüstungs- und eroberungsgierig, sind Träger des kapitalistischen Imperialismus. Sie rüsten nicht bloß für Kriege, sie treiben zu Kriegen.

Vergessen wir außerdem nicht, dass Rüstungen und Kriege noch in anderer Weise, als bereits aufgezeigt, dem Weiterbestehen des Kapitalismus dienen. Sie sind Sicherheitsventile, die für die kapitalistische Wirtschaft die nämliche Rolle spielen wie die Krisen. Gleich diesen wirken sie der Gefahr entgegen, die für die kapitalistische Wirtschaft dadurch entsteht, dass das Privateigentum an den Produktionsmitteln weder eine planmäßige Leitung und Ausnutzung der neuzeitlichen gigantischen Produktivkräfte erlaubt, noch eine Verteilung des Produktionsertrags im Interesse des Wohls und der Kultur aller Schaffenden. Es ist die Gefahr, dass der Kapitalismus, eingeengt durch die Schranken seines Wesens, in dem von ihm erzeugten Reichtum erstickt. Wie die Krisen so lähmen auch zeitweilig Rüstungen und Kriege in großem Umfange Produktivkräfte, schalten sie aus, lenken ihr Auswirken auf unproduktive Zwecke und vermindern und verwüsten dadurch den gesellschaftlichen Reichtum. Die Rüstungen verwandeln gegenwärtig elf Millionen leistungsfähiger junger Männer aus Mehrern in Verzehrer sozialer Werte. Gewaltigste sachliche Produktivkräfte, vollkommenste Produktionsmittel, Millionen Menschenhände dienen nicht der Lebenserhaltung und Lebenserhöhung, sondern bereiten Tod und Zerstörung im Riesenmaßstab vor. Mit unendlich verstärkter Wucht wirken so die imperialistischen Kriege. Vor 1914 triumphierten die Theoretiker und Praktiker der bürgerlichen Ordnung – und ihr Echo im Lager des Proletariats: die Revisionisten –, die „Anpassungsfähigkeit“ des Kapitalismus werde die Krisen beseitigen oder wenigstens ungefährlich machen. Der Weltkrieg widerlegte sie. Er kam als Generalkrise, als Weltkrise des Kapitalismus.

Die Grenzen des bürgerlichen Nationalstaats sind zu eng geworden für das Weben und Walten der modernen Produktivkräfte. Diese verlangen als Tätigkeitsfeld die ganze Welt. Solange ihr Drängen sich durchsetzt auf dem Boden der bürgerlichen Ordnung, müssen sie wider Schranken stoßen. Solche sind gegeben durch das Privateigentum an den Produktionsmitteln, das das Profitinteresse der einzelnen Kapitalisten und der einzelnen Kapitalistengruppen zu der letzten treibenden Kraft der Produktion macht und deren Anarchie erzeugt. Der Imperialismus kann zwar Staatsgrenzen erweitern, aber nicht Schranken der bürgerlichen Ordnung aufheben. Sie müssen niedergebrochen werden durch das revolutionäre Proletariat, das die Staatsmacht erobert und die Produktionsmittel in Gesellschaftseigentum überführt. Bis sich nicht diese Umwälzung vollzogen, werden Rüstungen, Kriegsgefahren und Kriege typische Wesensäußerungen der bürgerlichen Ordnung bleiben. Und das um so unvermeidlicher, je stärker die bürgerliche Ordnung von dem Zusammenprall der Widersprüche erschüttert wird, die sich in ihr auswirken, je verzweifelter die Bourgeoisie sich an die Hoffnung klammert, durch den Imperialismus die proletarische Revolution abzuwenden.

[Abrüstungskonferenzen]

Die Finger beider Hände reichen nicht hin, um all die Konferenzen aufzuzählen, die seit Kriegsende stattgefunden haben, um national und international die kapitalistische Wirtschaft wieder in „normalen“ Gang zu bringen und trotzdem den Frieden zu sichern – Konferenzen von Staatsweisen und Staatsgewaltigen, von klug rechnenden Industriefürsten, verwegen spekulierenden Finanztechnikern und pazifistischen Träumern. Alle diese Zusammenkünfte und Beratungen sind ergebnislos geblieben. Ihr Ausgang war in dem Schicksal des Völkerbundes vorgezeichnet. Während des Krieges wurde er als Erretter von allen politischen Kindern und Bettlern gepriesen, die hoffnungsvolle Narren sind. Die hervorragendsten Gewerkschaftsführer aller Länder schworen auf ihn, um den Sozialismus und das Proletariat verraten und der Bourgeoisie dienen zu können. Karl Kautsky gab Marx preis, bekannte sich zu Wilson und erklärte Lenin in den Bann. Heute ist kaum noch jemand über das imperialistische Wesen und die völlige pazifistische Ohnmacht dieser politischen Spottgeburt im Zweifel. Der Oberste Rat der Alliierten, der Ententeimperialismus, hat unbeschränkt das Wort.

In jüngster Zeit war die Washingtoner Konferenz das abschreckende Beispiel für die Wertlosigkeit der üblichen Wiederaufbau- und Abrüstungskonferenzen. Monatelang war Washington das Mekka aller Friedenssehnsüchtigen und Friedensgläubigen. Die Pazifisten organisierten mit höchster Energie, mit leidenschaftlichem Eifer Kampagnen, nutzten jede Gelegenheit, um das von der Konferenz erhoffte Friedenswerk zu fördern. Nachdem die Berge gekreißt hatten, wurde eine Maus geboren, eine sehr kleine Maus.

Was sollte die Washingtoner Konferenz schaffen? Eine Verständigung der drei Mächte – Englands, der Vereinigten Staaten und Japans -, für die es im Wettbewerb um Ausbeutung und Herrschaft in Ostasien immer unaufhaltsamer hart auf hart gegeneinander gehen wird. Die Konferenz hatte „die ostasiatischen Fragen“ zu regeln, mit anderen Worten Ostasien als Beute zwischen den drei Mächten aufzuteilen. Sie sollte in Verbindung damit eine erhebliche Abrüstung herbeiführen, von der eine günstige Einwirkung auf den Wiederaufbau des Kapitalismus in Europa erwartet wurde. Die Abrüstung würde dafür – so wurde gerechnet – in England und namentlich in der nordamerikanischen Union größte Mittel flüssig machen. Was ist bei der Konferenz herausgekommen ? Es ist schwer genau zu sagen. Die vielwöchigen Beratungen, die Beschlussfassungen verteilten sich auf öffentliche Sitzungen und geheime Kommissionsberatungen. Die Presse veröffentlichte weit mehr Meinungsäußerungen einzelner Staatsmänner und Politiker, Mutmaßungen, Auslegungen, Prophezeiungen über die Konferenz als positive genaue Ergebnisse ihrer Arbeit. Nach Berichten und Artikeln aus den letzten Tagen dürfte sich das Ergebnis also zusammenfassen lassen:

Obgleich Frankreich keine unmittelbaren Interessen in den umstrittenen Ausbeutungsgebieten Ostasiens hat, nahm Briand an den Washingtoner Verhandlungen teil. England wie die Vereinigten Staaten mussten danach trachten, den französischen Imperialismus zu binden, zu verhindern, dass er im Falle eines Konfliktes zwischen ihnen sich als Bundesgenosse auf die eine oder die andere Seite schlagen würde. So kam es zu einem Viermächtevertrag über Ostasien, der später durch den Anschluss Italiens zu einem Fünfmächtevertrag geworden ist, und zu einem Neunmächteabkommen über China. Der Vierbeziehungsweise Fünfmächtevertrag sichert den beteiligten Staaten ihren bisherigen Besitzstand in Ostasien und gilt für die Dauer von zehn Jahren. Falls einer der Vertragsmächte während dieser Zeit in Ostasien ein Konflikt droht, sollen alle Vertragsstaaten zu Beratungen zusammentreten und den Konflikt zu verhindern suchen. Nach dem Neunmächteabkommen soll Japan Schandung an China zurückgeben und China Japan die Schandungbahn abkaufen.

Beide Abkommen sind reichlich unbestimmt, sie wurden in Wirklichkeit ohne Chinas entscheidende Mitwirkung abgeschlossen und ohne dass Sowjetrussland und die Fernöstlichen Republiken zu den Beratungen hinzugezogen worden wären, obgleich doch in Ostsibirien ihre Interessen gegen die Erringungsund Beutegelüste des imperialistischen Japans stehen. Höchstwahrscheinlich existieren neben ihnen Geheimverträge zwischen England und Japan – das alte Bündnis musste offiziell gelöst werden – wie zwischen Frankreich und Japan. Die Abkommen verraten wie die Furcht der großkapitalistischen Staaten vor den künftigen Weltkriegen so ihre Ohnmacht, sie zu bannen. Sie werden wie Spinngewebe zerrissen, wenn das Ringen um Macht und Gold in Ostasien die Vertragschließenden in Riesenmetzeleien gegeneinander und gegen die Völker treibt, die sie sich ausbeutungspflichtig machen wollen.

Denn was ist’s mit der Abrüstung? Auf die Dauer von zehn Jahren sollen in den fünf Vertragsstaaten keine Großkampfschiffe gebaut werden. Der Gesamttonnengehalt der Großkampfschiffe ist für jeden der fünf Staaten festgesetzt. Es müssen zerstören: England und Japan je 24 Schlachtschiffe, die Vereinigten Staaten 30. Offen scheint die Frage zu sein, wie viel Schiffe Frankreich und Italien zu vernichten haben, und zwar erst von 1930 und 1931 an. Dem Stärkeverhältnis für künftige Neubauten von Großkampfschiffen soll dieser Schlüssel zugrunde liegen: England 5, die Vereinigten Staaten 5, Japan 3, Frankreich 1,75 und Italien 1,75. Großkampfschiffe von mehr als 31.000 Tonnen dürfen nicht mehr gebaut werden. Von der Verständigung über einige unwesentliche Einzelheiten abgesehen, kam die Konferenz zu keiner Einigung über die Einschränkung des Bestandes und des Baues der Unterseeboote. Aber das gerade ist für das äußerst dürftige Ergebnis der Seekriegabrüstung entscheidend.

Die Zerstörung und der eingeschränkte Bau von Großkampfschiffen besagen nicht viel angesichts der Tatsache, dass angesehenste Fachmänner einmütig der Auffassung sind, die Zeit der Dreadnoughts sei vorüber. In den Seekriegen der Zukunft werde das Großkampfschiff eine verschwindende Bedeutung haben, ausschlaggebend würden vielmehr sein das Unterseeboot und technisch höchstwertige Mord- und Vernichtungswerkzeuge ähnlicher Art, die zum Teil schon erfunden seien oder deren Erfindung bevorstehe. Es war Briand, der sich mit äußerster Energie einer Einschränkung der Unterseeboote widersetzte. Die furchtbare Seerüstung Frankreichs, die er als unabweisbare „Sicherheitsmaßregel“ erklärte, wird in England allgemein als schwerste Bedrohung empfunden, als Gefahr eines Überfalls auf seine Küsten.

An Briands Widerstand scheiterte auch der schüchterne Versuch zu einer Herabminderung der Heeresbestände. Der französische Imperialismus, der Imperialismus überhaupt besteht auf seinem Schein. Auch die Luftrüstungen wurden nicht eingeschränkt. Und das, obgleich kein Zweifel daran ist, dass der Luftkrieg künftig alles Dagewesene an Schrecken und Barbarei überbieten wird. Von Luftfahrzeugen aus können mit einem Schlag fliegende Torpedos ganze Städte zerstören, können furchtbare Kriegsgifte und Kriegsgase viele Zehntausende Männer, Frauen und Kinder morden, blühende Landstriche in Wüsteneien verwandeln. In den chemischen Staatslaboratorien der nordamerikanischen Union sind entsprechende Erfindungen gemacht worden so teuflischer Art, dass das Blut stockt, wenn man über ihre Wirkungen liest. Das nennt sich „Errungenschaften“ der Wissenschaft und Technik! Die Washingtoner Konferenz hat gehalten, was Hughes ihr als Weisung gab: keine Ermutigung für den radikalen Pazifismus zu sein. Sie hat bestätigt, was alle Konferenzen und Verständigungen kapitalistischer Staaten vor ihr lehren: Die Abkommen und Verträge zwischen den Imperialisten verschiedener Länder sind keineswegs Friedensbürgschaften, sie sind Kriegsdrohungen und Kriegsvorbereitungen.

Genossinnen und Genossen! Eine weitere internationale Konferenz liegt vor uns: die Wirtschaftskonferenz zu Genua. Sie soll die Frage des Wiederaufbaus und des Friedens der kapitalistischen Welt gleichsam vom anderen Ende her anpacken. Auf der Tagesordnung steht nicht die Friedens- und Abrüstungsfrage, sondern die Frage des Aufbaus der Wirtschaft Europas. Doch der innere Zusammenhang der Dinge liegt auf der Hand. Ohne Frieden keine Aufbaumöglichkeit. Das Wirtschaftliche schlägt in das Politische um. Die Verständigung der Staaten über die Wiederherstellung der kapitalistischen Wirtschaft, über ihr internationales Zusammenwirken zu diesem Ziel, bedingt auch politisches Handinhandgehen. Die Konferenz zu Genua soll vom Kapitalismus das Geschick abwenden: Weltkrieg oder proletarische Weltrevolution. Die weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Gegensätze zwischen Siegern und Besiegten im letzten Kriege, zwischen Frankreich und England, zwischen den kapitalistischen Staaten Europas überhaupt sollen zurücktreten hinter dem großen gemeinsamen Interesse der in ihnen ausbeutenden und herrschenden Bourgeoisie, den dahinsiechenden Kapitalismus wieder lebenskräftig, blühend auf die Beine zu stellen. Die Konferenz zu Genua hat die Aufgabe, zu diesem Zwecke die in den europäischen Staaten vorhandenen nationalen Kräfte, einheitlich und planmäßig organisiert, international zusammenzufassen. Um den Zweck zu erreichen, soll auch die politische Blockade gegen den „Bolschewismus“ aufgehoben werden. Sowjetrussland wird an den Genueser Beratungen teilnehmen, denn ohne seine Eingliederung in die Wirtschaft Europas ist deren Gesundung unmöglich. Davon haben sich die Lloyd George und Poincare überzeugen müssen. Gelingt in Genua die Verständigung über den wirtschaftlichen Aufbau zwischen den Staaten Europas, so hofft man, dass ihn die in Reichtum erstickende amerikanische Union durch Riesenanleihen usw. unterstützen wird.

Die nackte Tatsache, dass die Konferenz einberufen wurde, hat ihren Wert. Mit welch tönenden Phrasen es auch verhüllt wird, die Einberufung ist das unfreiwillige Eingeständnis, dass der Pakt zu Versailles, dass alle Verträge, die den Weltkrieg beendet haben, nicht Friedensverträge sind, sondern „Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln“. Sie verfolgen die Ziele, die er verfolgt hat. Deshalb ist es ein Ding der Unmöglichkeit, dass sie den Wiederaufbau der Wirtschaft in Europa sichern. Umgekehrt: Sie tragen zu deren weiterer Zerrüttung und Verarmung bei. Die wirtschaftliche und finanzielle Lage aller europäischen Staaten ist der Beweis dafür. Die Verträge sind unhaltbar geworden.

Die Einberufung der Konferenz ist weiter das Eingeständnis, dass die Bourgeoisie der einzelnen Länder außerstande ist, aus dem vom Krieg hinterlassenen Trümmerhaufen der Wirtschaft einen klug gefügten, festen Bau aufzurichten. Die Riesenhaftigkeit der Aufgabe und die dabei in Betracht kommenden wirtschaftlichen Verknüpfungen schließen allein schon das aus. In Frankreich wie in England, in Deutschland wie in der Tschechoslowakei usw., auch in den neutralen Staaten sind die Anläufe vergeblich, dem Leben in Wirtschaft und Staat den geordneten Gang der Vorkriegszeit zurückzugeben. Geringe oder gar sinkende Produktivität der Wirtschaft, wütende oder drohende Krise, Teuerungspreise, Papiergeldfluten, tolle Valutaschwankungen, der Pleitegeier über den öffentlichen Kassen, der Abbau sozialer Einrichtungen; dazu darbende Arbeiter und Angestellte, ins Proletariat versinkende Beamte, Mittelbürger jeder Art, Arbeitslose, Obdachlose und das Gegenstück: schlemmende Schieber und Protzen – das sind in fast allen Staaten Europas die Zeichen der Zeit. Der Bau der bürgerlichen Ordnung bricht noch nicht, jedoch er kracht.

Die Vernichtung und Verwüstung zu überwinden, die der Krieg geschaffen; die Wirtschaft Europas vollkommen, reicher aufzubauen, als sie war, ein Ausdruck erhöhter sozialer Einsicht und Verantwortlichkeit, gewaltigeren Könnens, kurz, fortgeschrittener Kultur: das ist ein Titanenwerk, das auch bei weitem die Kräfte der vereinigten Bourgeoisie von Europa und den Vereinigten Staaten übersteigt. Der Verlauf und das Ergebnis der Konferenz zu Genua werden helles Licht darauf werfen. Denn die Aufbaubestrebungen der bürgerlichen Regierungen dort werden darauf gerichtet sein, die kapitalistische Wirtschaft als Grundlage der Bourgeoisherrschaft zu erhalten: Kapitalismus und Bourgeoisherrschaft besagen aber Fesselung, Lähmung, Vergeudung und Verwüstung gesellschaftlicher Kräfte. Vorbedingung für einen kulturwürdigen gesellschaftlichen Aufbau ist, dass das Proletariat aller kapitalistischen Staaten in revolutionärem Kampfe die Klassenherrschaft der Bourgeoisie niederwirft. Indem es die Ketten seiner Lohnsklaverei bricht, sich von kapitalistischer Ausbeutung und Herrschaft befreit, entfesselt es alle heute gebundenen Kräfte der Hand- und Kopfarbeit zertrümmert es die Schranken, die die kapitalistische Profitwirtschaft ihrem Ausleben wie der Auswirkung der verfügbaren gewaltigen sachlichen Produktivkräfte setzt.

Seit dem Sommer 1921 hat sich die Weltwirtschaftslage, wie sie in den Thesen des III. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale umrissen worden ist, im wesentlichen nicht geändert. Zwar haben sich in den Vereinigten Staaten und anderwärts einige Industriezweige etwas belebt, so die Baumwollwarenfabrikation, die Roheisenproduktion usw. Dafür ist in anderen Wirtschaftszweigen der Pulsschlag noch schwächer unregelmäßiger geworden. Alles in allem ist die große Krise des Weltkapitalismus nicht überwunden. In den Vereinigten Staaten gibt es noch immer sechs Millionen Arbeitslose, Aussperrungen und Streiks bald in dem, bald in jenem Erwerbsgebiet, eine rasch wachsende Farmerbewegung, die ihre Spitze gegen das Großkapital richtet. Die politischen Hüter der Bourgeoisherrschaft in England zittern vor dem Zweimillionenheer der Arbeitslosen, vor den Erschütterungen der Wirtschaft durch Aussperrungen und Ausstände. Die Arbeitslosen machen mit ihren Familien gegen fünf Millionen der Bevölkerung aus. Das besagt, dass mehr als ein Achtel davon auf Unterstützung angewiesen ist. Die Finanzkrise Frankreichs verschärft sich unaufhörlich. In Deutschland lebt die ausbeutende Minderheit zwar in unerhörtem Luxus und häuft Reichtümer über Reichtümer an, aber der Ertrag der Wirtschaft ist nicht groß genug, um neben dieser Leistung den Reparationsforderungen des Ententeimperialismus zu genügen, akkumulieren zu lassen und die Lohnsklaven des Kapitals nach dem standard of life der Vorkriegszeit zu erhalten; er ist nicht groß genug, um in der gewohnten Weise die Kosten des Staatshaushalts zu decken. Der Eisenbahnerstreik war das unzweideutige Anzeichen, dass das bürgerliche Deutschland seinen Staatssklaven nicht mehr den „standesgemäßen“ Lebensunterhalt zu sichern vermag. Dem Weltkapitalismus als Ganzem ist es seit dem formalen Kriegsende nicht gelungen, sich wirtschaftlich zu befestigen.

Auf einem Boden, der zerklüftet, schwankend und mit Ruinen besät ist, soll die Konferenz zu Genua die Wirtschaft Europas wiederherstellen, festigen und verbessern. Dazu gehört vor allem, dass ihr ein Kunststück gelingt: die Beziehungen zwischen Deutschland und der Entente so zu regeln, dass der französische Imperialismus der deutschen Wirtschaft nach Bedürfnis Blut abzapfen kann und dass diese Wirtschaft trotzdem lebenskräftig, blutvoll genug bleibt, um keine Schmutzkonkurrentin der englischen Industrie, sondern die vielkaufende, zahlungsfähige Abnehmerin zu werden. Die Lloyd George, Poincaré und ihre „Fachmänner“ dürften sich in Genua mit Wirth, Rathenau und Stinnes über die Lösung der Aufgabe „verständigen“. Die Kapitalisten Deutschlands und der Entente werden gemeinsam in Internationalität der Ausbeutung „das Geschäft des Wiederaufbaus machen“ – auf Kosten der deutschen Proletarier, der Proletarier aller Länder. Denn diese sind in einer unlösbaren Schicksalsgemeinschaft miteinander verbunden. Das deutsche Proletariat kann nicht durch verschärfte Ausbeutung und Unterdrückung in die tiefsten Tiefen des Elends, der Kulturarmut gestoßen werden, ohne dass sein Los auch den Absturz seiner Brüder in den anderen Ländern nach sich zieht. Kulilöhne der deutschen Arbeiter und Arbeiterinnen führen zur Schmälerung des Brotes der ausländischen Brüder und Schwestern, schlagen vielen von ihnen das Brot ganz aus der Hand.

Dies entspricht nur kapitalistischem Wesen, dass die Lasten des Wirtschaftsaufbaus mit den Proletariern der ganzen Welt zusammen der einzige Staat der Welt tragen soll, in dem die Proletariat die politische Macht der Bourgeoisie niedergeworfen haben. Diesen Preis muss Sowjetrussland für seine Kühnheit zahlen, die ersten großen siegreichen Schlachten der proletarischen Weltrevolution geschlagen zuhaben; lange muss es dafür opfern, dass die Proletarier der kapitalistisch fortgeschrittenen Länder ihre Befreiung von der ausbeutenden Bourgeoisherrschaft bis nun nicht zu wollen, nicht zu erkämpfen wagten. Es kann nicht als abgeschlossener Staat bestehen, es bedarf für das ungeheure beispiellose Werk seines wirtschaftlichen Aufbaus des Zusammenwirkens mit internationalen Kräften, der Unterstützung durch Produktionsmächte, die über der Entwicklungsstufe seiner eigenen Gütererzeugung stehen.

Ohne Sowjetordnung in anderen Ländern bedeutet Räterusslands Wiedereingliederung in die Weltwirtschaft: Wiedereingliederung in die Weltwirtschaft des Kapitalismus. Dieser aber wäre nicht er selbst, wenn er das vorliegende Problem von höchster geschichtlicher und kultureller Tragweite unter einem anderen Gesichtswinkel betrachten würde als dem des nackten Profits, des Gewinns. Im Hintergrunde lauern die Hoffnung, der Wille der internationalen Bourgeoisie weiter, auf wirtschaftlichem Wege zu versuchen, was bisher auf militärischem misslungen ist: nämlich die Vernichtung des „Bolschewismus“, der Rätemacht, Herabdrückung Sowjetrusslands zu einem Kolonialgebiet internationaler kapitalistischer Ausbeutung. Das wäre das Ideal der Bourgeoisie aller Länder, die sich für das „Selbstbestimmungsrecht“ der Nationen begeistert.

Wirtschaftlich findet das Sinnen und Trachten des Weltkapitalismus nach der „Erschließung“ Sowjetrusslands, das heißt nach seiner Ausplünderung, in der Frage ihren Ausdruck: Soll ein einziges internationales Mammutsyndikat von Kapitalisten sich am Aufbau der russischen Wirtschaft beteiligen, oder sollen an ihm mehrere, viele internationale Kapitalistenorganisationen mitwirken? Politisch kommt es in der Formel zum Ausdruck Soll die Sowjetregierung von den Regierungen der großen kapitalistischen Staaten in aller Form anerkannt werden? Wie immer die Antwort darauf lautet, sie wird gegeben werden von Wegelagerern, die sich darüber verständigen wollen, wie sie das auserkorene Opfer ausrauben, wie sie untereinander die Beute verteilen. Und darüber ist noch keine Einigkeit vorhanden.

Wohl ist die Bourgeoisie Europas einig in der Absicht, ihre weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Interessenkonflikte auf Kosten Sowjetrusslands auszugleichen als eines neuen, gemeinsamen Koloniallandes. Jedoch so groß sind diese Interessenkonflikte, dass sie immer wieder aufs neue die Einigkeit des Weltkapitalismus gefährden und sprengen. Das lassen die Vorbereitungen der Konferenz zu Genua deutlich erkennen, die Gutachten der Sachverständigen verschiedener Nationalität, die Reden der Staatsmänner und Regierungshäupter, die Meinungen und Mutmaßungen in der Presse und die Ränke „einflussreicher Kreise“ vor und hinter den Kulissen. Insbesondere die Gegensätze zwischen dem französischen und dem englischen Imperialismus in der russischen Frage treten mit jedem Tage schärfer hervor. Wenn heute eine Verständigung und Annäherung zwischen den Ansichten von Lloyd George und Poincaré in der Stellungnahme zu Sowjetrussland gemeldet wird, so verzeichnen die Blätter morgen schon neue Meinungsverschiedenheiten.

Kennzeichnend für die widerspruchsvolle Lage ist auch die Stellung der deutschen Regierung. Sogar vom Standpunkt rein kapitalistischer Interessen aus wäre eine selbständige Politik Deutschlands gegenüber Sowjetrussland ein erheblicher Vorteil, ja mehr noch: eine dringende Notwendigkeit. Aber aus den Gründen, die weiter oben angeführt worden sind, schreckt die deutsche Regierung vor einer solchen Politik zurück. Beim Wiederaufbau der russischen Wirtschaft tritt sie als der getreue, eifrige Handlanger Englands auf. Die Regierung Wirth setzt damit die Tradition ihrer Vorgängerinnen seit dem Novemberumsturz von 1918 fort. Diese waren mit ihrer Auslandspolitik nie etwas anderes als die winselnden und hoffenden Nachläufer der Entente. Unter Berufung auf Kautskys Autorität schlug die Revolutionsregierung der sechs Volksbeauftragten, mit dem Unabhängigen Haase in ihrer Mitte, mit der gepanzerten Faust nach Sowjetrussland und kroch vor dem Ententeimperialismus. In Genua wird Deutschland die Quittung für die Politik der Schwäche und Kurzsichtigkeit seiner Regierung erhalten. Es wird für die Ententeimperialisten nichts sein als ein Objekt der Verhandlungen. Seine Vertreter werden nicht einmal den Mut aufbringen, die Frage einer Revision des Friedensvertrages zu Versailles aufzurollen, obgleich sonnenklar ist, dass ohne eine solche Revision die Wirtschaft Europas auch nicht auf kapitalistischer Grundlage wieder aufgebaut werden kann.

Ungeachtet der Armut und Zerrüttung seiner Wirtschaft tritt Sowjetrussland bei weitem stärker als das ökonomisch überlegene Deutschland an den Verhandlungstisch zu Genua. Die Gegensätze, die in der russischen Frage zwischen den Bourgeoisien, den Regierungen von England, Frankreich usw. bestehen, besagen Schwächung gegenüber Sowjetrussland. Die Frage der Anerkennung der Räteregierung wird die Gegensätze noch vertiefen, die Stellung der kapitalistischen Staaten weiter schwächen. De facto ist die Sowjetregierung bereits anerkannt durch die Einladung zur internationalen Wirtschaftskonferenz wie durch die Handelsverträge mit England und anderen Staaten. De facto bedarf sie keiner Legitimation. Sie ist durch Besseres, Machtvolleres anerkannt als durch irgendwelches Pergament, von Ministern und Diplomaten irgendwelcher kapitalistischer Länder unterzeichnet. Sie hat ihre Legitimität erhalten durch die Revolution, geschrieben mit dem Blut Zehntausender und Zehntausender russischer Arbeiter und Bauern, die im Kampfe für die Aufrichtung des Sowjetstaates und für seine Verteidigung wider die internationale Gegenrevolution gefallen sind.

Die Frage der Anerkennung der Sowjetregierung de jure durch die kapitalistischen Staaten Europas ist keine Frage der Lebensnotwendigkeit für Sowjetrussland. Allein, diese Anerkennung ist nicht ganz belanglos. Sie würde die Wiederherstellung der Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zwischen Sowjetrussland und dem Ausland erleichtern, die Neigung der europäischen Kapitalisten zu Geschäften mit der Räteordnung steigern. Die Auseinandersetzungen der kapitalistischen Gutachter und Politiker über die Anerkennung der Sowjetregierung übertönt bestimmender als alle juristischen, politischen und sonstigen Gründe das wirtschaftliche Gebot der Stunde. Das aber fordert die Anerkennung.

Die Wiedereingliederung Sowjetrusslands in die Weltwirtschaft ist nicht nur dringende Notwendigkeit für die junge Arbeiter- und Bauernrepublik, sondern nicht minder für die Weltwirtschaft selbst. Ohne Aufbau, ohne Entwicklung der russischen Wirtschaft keine Aufbaumöglichkeit für die Wirtschaft Europas, für die Wiederherstellung des Weltmarkts. Das ist die Erkenntnis der sich die Kapitalisten Europas und der Vereinigten Staaten nicht zu entziehen vermögen. „Der Ludergeruch der Revolution“, von dem einst Friedrich Wilhelm IV. von Preußen gesprochen hat, mag der Weltbourgeoisie an Sowjetrussland noch so peinlich auf die Nerven fallen, sie kann des Riesenreiches als Käufer von Industrieerzeugnissen und Produktionsmitteln, als Verkäufer von Lebensmitteln und Rohstoffen, als Verleiher von Konzessionen für Kapitalanlagen nicht länger entraten, sie muss sich mit den „Bolschewisten“ verständigen, die sie noch gestern verfemte.

Die Vertreter Sowjetrusslands wissen genau, was es bedeutet, dass sie unter den Vertretern kapitalistischer Regierungen sitzen werden. Sie kommen daher ohne alle Illusionen als Männer, die mit den europäischen, den internationalen Kapitalisten Handelsgeschäfte abschließen wollen und nüchtern die Bedingungen dafür wägen. Sie sind dabei nicht wie ihre Gegenspieler durch den Zwiespalt imperialistischer Interessen an den verschiedensten Stellen der Erdkugel gefesselt. Da Sowjetrussland selbst frei von imperialistischen Tendenzen ist, kann es nach Möglichkeit die weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Gegensätze der anderen Staaten ausnutzen. Und dieses ist letzten Endes das Entscheidende: Sowjetrussland hat für sich die Macht der proletarischen Revolution. Sie hat die Rote Armee aus dem Boden gestampft, die erst jetzt wieder im Karelischen Feldzug ihre siegreiche Kraft mit einem Heldenmut bewährte, der hinter den glänzenden Taten zur Niederwerfung Wrangels nicht zurücksteht. Sie wird bewirken, dass der Rätestaat auch den wirtschaftlichen Ansturm des Weltkapitalismus erfolgreich zurückschlägt.

Über Sowjetrussland werden die kapitalistischen Regierungen nicht wie über Deutschland verhandeln können, sie werden mit seinen Vertretern verhandeln müssen. Für das Verhandeln aber brauchen diese nicht den Preis von Demütigungen der Räterepublik zu zahlen, Sowjetrussland kann ruhiger als jeder andere Staat der Möglichkeit entgegensehen, dass die Genueser Konferenz nicht zustande kommt oder „auffliegt“. Sein Geschick hängt nicht von dieser Tagung und ihren Beschlüssen ab. Es wird bestimmt durch die Kraft der Selbstbehauptung der Sowjetmacht im Ringen mit dem Kapitalismus auf dem heimischen Boden und durch das Fortschreiten der proletarischen Weltrevolution. Weltkrieg oder proletarische Weltrevolution, das ist die Frage, die die Konferenz von Genua nicht von der Tagesordnung der Geschichte zu streichen vermag, auch wenn dank internationaler Verständigung der Kapitalismus eine „Atempause“ erhalten sollte. 

[Bürgerlicher Pazifismus]

In der gegebenen geschichtlichen Lage könnte eine Bewegung praktische Bedeutung gewinnen, die von den weitaus meisten Politikern bisher als reine Wolkenkuckucksheimerei eingeschätzt worden ist. Es ist der bürgerliche Pazifismus und Antimilitarismus. In der Vorkriegszeit war er die einflusslose Ideologie kleiner bürgerlicher Kreise, meist von Intellektuellen, die über die Philosophie, die Frauenrechtlerei, die Sozialreform oder auch über die Enttäuschungen der „Parteipolitik“ zu den Forderungen des „ewigen Friedens“ gelangten. Ist es ein Zufall, dass der bürgerliche Pazifismus heute zu seinen Vorkämpfern nicht bloß angesehene „Einzelgänger“ zählt, sondern Sozialpolitiker, Finanzmänner, Schriftsteller von Ruf und mit wachsender Gefolgschaft in bürgerlichen und auch in proletarischen Kreisen? Es sei erinnert an Norman Laue Angell, Keynes, Caillaux, Nitti, Vanderlip und viele andere. In dem Umschwung offenbart sich mehr als die psychische, die moralische Reaktion gegen die Verbrechen und die Barbarei des Krieges. Offenbart sich die instinktive oder bewusste Sorge um den Fortbestand der bürgerlichen Ordnung.

Nachdem die nationale Ideologie des kapitalistischen Staates, der bürgerlichen Klassenherrschaft durch den imperialistischen Krieg, seine Begleit- und Folgeerscheinungen, erwiesen hat, dass sie heute nicht gesellschaftserhaltend, vielmehr gesellschaftszerstörend wirkt, würde die Verwirklichung des Pazifismus einen letzten Versuch darstellen, mittels der internationalen Zusammenfassung und Organisierung der gesellschaftlichen Kräfte die bürgerliche Ordnung zu retten. Nach der Auffassung der Pazifisten soll die Ausschaltung und Aufhebung der wirtschaftlichen und politischen nationalen Gegensätze durch kluge und gerechte internationale Organisation, durch Abrüstung und internationale Schiedsgerichte eine feste materielle und kulturelle Grundlage schaffen, auf der sich durch Sozialreform und Volksbildung auch die Klassengegensätze kampflos ausgleichen und überwinden lassen würden. Vorausgesetzt die Kleinigkeit, dass die Besitzenden ohne Rücksicht auf den kapitalistischen Profit „weise und billig“ in Ausnutzung ihrer Ausbeutungs- und Herrschaftsmacht sind und die Proletarier „vernünftig und mäßig“ in ihren Forderungen auf Freiheit und Gleichberechtigung.

Die Gesetze der kapitalistischen Wirtschaft, der geschichtlichen Entwicklung widersprechen diesem Ideal. Nehmen wir an, es würde gelingen, durch internationale Organisation der gesellschaftlichen Kräfte die Grenzen der Produktion zu erweitern, durch Rüstungs- und Kriegsersparnisse die bürgerliche Ordnung etwas wohnlicher für die Ausgebeuteten zu gestalten. Wenn das Privateigentum die Grundlage der Wirtschaft und der kapitalistische Profit die treibende Kraft der Produktion bleiben, so würden auch dann die Widersprüche des Kapitalismus weiter bestehen, die die Klassengegensätze und Klassenkämpfe, die Gegensätze und Kämpfe zwischen den bürgerlichen Nationalstaaten erzeugen; würden auch dann die gewaltig entfesselten Produktivkräfte wider die Schranken der Produktion rennen und in einer furchtbaren Krise diese Schranken zertrümmern Dem Kapitalismus ist keine Rettung gegeben.

Allein, es fragt sich, ob internationale Abrüstung und Schiedsgerichte, ob internationale Verständigung über die Annullierung aller Kriegsanleihen und Kriegsschulden, über den Wiederaufbau der zerstörten Gebiete und die Wiederherstellung der Wirtschaft usw. nicht jetzt Mittel sein könnten, die Lasten und Leiden des letzten Krieges zu mildern, den Lasten und Leiden neuer Kriege vorzubeugen, die durcheinander geworfenen, zerrütteten wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen der einzelnen Staaten, der kapitalistischen Welt wiederherzustellen? Der Pazifismus wird diese Frage unbedingt bejahen. Er rechnet nur mit der Logik menschlicher Gedanken und nicht mit den Widersprüchen der harten Dinge, der wirtschaftlichen, sozialen Tatsachen. Die kurz hervorgehobenen inneren Widersprüche des Kapitalismus, die aufgezeigten Gegensätze zwischen den Kapitalistengruppen der einzelnen Länder, verschärft in den Gegensätzen zwischen den wenigen Siegerstaaten des Weltkrieges und den von ihnen ausgepressten unterlegenen Ländern, lassen sich nicht durch Resolutionen und Beschlüsse versöhnen. An ihnen werden auch die ersten unsicheren Schritte zur Verwirklichung pazifistischer Forderungen scheitern …

Der Pazifismus ist seinem Wesen nach bürgerliche Sozialreform, ist eine spezifische Form bürgerlicher Sozialreform und ebenso ohnmächtig wie diese, die Widersprüche, Gegensätze und Übel des Kapitalismus zu überwinden. Die Aufrollung seiner Forderungen führt aber zu einer Schwächung des Klassenfeindes der Proletarier, der Bourgeoisie. Sie trägt Unruhe, Gärung, Zwiespalt und Unsicherheit in deren Reihen, unter den Massen der Bauern, der Klein- und Mittelbürger.

Die Kommunisten haben diese mögliche Schwächung der Bourgeoisie energisch auszunützen. Obgleich sie wissen, dass Lohnerhöhungen, gesetzlicher Achtstundentag und andere Reformen die Klassenausbeutung und Klassenknechtung des Proletariats durch Bourgeoisie nicht abschaffen, so führen sie doch die Arbeiter in Kämpfe für Lohn- und Reformforderungen, um proletarische Gegenwartsinteressen zu verteidigen und die entscheidenden proletarischen Zukunftskämpfe um die Macht vorzubereiten. Ebenso müssen die Kommunisten pazifistische Anläufe in der bürgerlichen Gesellschaft zum Anlass nehmen, um die Proletarier in den Kampf zu führen, dessen wichtigstes Ergebnis sein wird, sie von jeder pazifistischen Selbsttäuschung zu befreien und dadurch dem Geist des Kommunistischen Manifestes getreu – die Vereinigung des Proletariats als Klasse mit größerer Reife der Erkenntnis, des Willens und der Kampffähigkeit zu schaffen. Nicht der Ausgangspunkt des Kampfes, vielmehr dieses sein wertvollstes, sein positives Ergebnis muss für uns bestimmend sein.

Genossinnen und Genossen! Je bestechender nach den Furchtbarkeiten und Verbrechen des letzten Krieges pazifistische Ziele großen Massen erscheinen können, um so dringender ist es, dass diese durch den Anschauungsunterricht des Kampfes über den Pazifismus belehrt werden. Seine Propaganda trägt die schwere Gefahr in sich, die revolutionäre Kampfenergie Proletariats durch Illusionen zu entnerven und zu lähmen. Ihr gilt es zu begegnen. Der Kampf für einzelne Forderungen der Pazifisten, wie Einschränkung der Rüstungen, internationale Annullierung der Kriegsschulden usw., muss ein Mittel dazu sein, alle pazifistischen Illusionen der schaffenden Massen zu zerstören. Diese und wesensähnliche Forderungen stehen übrigens auch im Programm der Kommunisten. Es kommt darauf an, dass wir sie kämpfend in die richtige geschichtliche Beleuchtung rücken, dass wir die Massen lehren, scharf zwischen bürgerlicher und kommunistischer Wertung zu unterscheiden.

Das Proletariat muss sich klar darüber sein, dass sogar diese bescheidenen Reformforderungen nur durch seinen energischen Klassenkampf erzwungen werden. Solange der Kapitalismus herrscht und ausbeutet, wird das kapitalistische Profit- und Machtinteresse, die Vernunft und Friedensliebe bürgerlicher Kreise in die Knie zwingen. Ohne den kraftvollsten proletarischen Klassenkampf; ohne den Sturz der Bourgeoisherrschaft, des Kapitalismus, durch die Revolution können Militarismus und Imperialismus nicht überwunden, können Kriegsrüstungen, Kriegsgefahr und Kriegsverwüstung nicht von der stöhnenden Menschheit genommen werden.

Das Proletariat darf deshalb nun und nimmer unter dem Einfluss gefühlsseliger pazifistischer Gedankengänge abrüsten, umgekehrt, es muss mit höchster Energie weiterrüsten, es muss mit opferbereiter Entschlossenheit weiterkämpfen. Es muss sich der Tatsache bewusst bleiben, dass die Bourgeoisie herrscht und ausbeutet, weil ihr die Verfügungsgewalt eignet über die Produktionsmittel des Lebens und über die Produktionsmittel des Todes. Ihre Herrschaft über die Produktionsmittel des Lebens hält sie aufrecht, weil sie auch Herrin ist über die Produktionsmittel des Todes. Wenn die Ausgebeuteten und Enterbten ihre Hand ausstrecken nach den Produktionsmitteln des Lebens, ja, auch wenn sie nur einen größeren Anteil von deren Früchten fordern, so wirft die Bourgeoisie ihr Begehren nieder, indem sie die Produktionsmittel des Todes spielen lässt.

Aber, Genossinnen und Genossen, vergessen wir nicht, dass die Bourgeoisie die Produktionsmittel des Lebens und die Produktionsmittel des Todes nur ausnutzen kann, wenn Proletarierhände sie bedienen. Die Proletarierköpfe, die die Proletarierhände lenken, müssen richtig denken lernen. Um sich von der Ausbeutung und Unterdrückung zu befreien, muss die Arbeiterklasse der Bourgeoisie nicht bloß die Produktionsmittel des Lebens entreißen, sondern auch die Produktionsmittel des Todes. Mit Waffengewalt sucht die Bourgeoisie ihre Herrschaftsstellung zu verteidigen, den Werktätigen Freiheit und volles Menschentum vorzuenthalten. Mit Waffengewalt müssen diese daher ihre Lebens- und Menschenrechte erkämpfen.

Gewalt lässt sich nicht wegdisputieren und nicht wegbeten. Gewalt kann nur durch Gewalt gebrochen werden. Das sprechen wir Kommunisten offen aus, nicht weil wir „Anbeter der Gewalt“ sind, wie sanfte bürgerliche und sozialdemokratische pazifistische Gemüter uns beschuldigen. Nein, wir beten die Gewalt nicht an, jedoch wir rechnen mit ihr, weil wir mit ihr rechnen müssen. Sie ist da und spielt ihre geschichtliche Rolle, ob wir wollen oder nicht. Es fragt sich nur, ob wir sie widerstandslos erdulden oder ob wir sie kämpfend überwinden wollen. Die schönsten moralischen und philosophischen Erwägungen ändern an diesem brutalen Tatbestand nichts. Es ist Phrase, dass Gewalt stets und immer ein reaktionärer Faktor in der Geschichte war. Gewalt ist Gewalt, ist weder revolutionär noch reaktionär. Gewalt wirkt aber reaktionär oder revolutionär den geschichtlichen Umständen entsprechend, je nach der Klasse, von der sie gebraucht, und dem Ziel, an das sie gesetzt wird. Die Gewalt wird ein revolutionärer, ein befreiender Faktor in den Händen des Proletariats, das sie gebraucht, um die Gewaltherrschaft der Bourgeoisie zu zerschmettern.

Zu diesem Zwecke muss es wie den politischen, so auch den militärischen Machtapparat den Besitzenden entreißen. Allein, seine Freiheit zu erobern und zu behaupten, genügt es nicht, dass es den einen wie den anderen mit starker Faust ergreift. Das Proletariat muss vielmehr zu diesem Zwecke den militärischen wie den politischen Machtapparat seinen eigenen Bedürfnissen gemäß umformen und gebrauchen. Die Sowjetordnung und ihre Rote Armee sind das klassische geschichtliche Beispiel dafür. In der Tat! Was wäre Sowjetrussland ohne seine Rote Armee? Eine Vergangenheit, nicht lebensvolle, kämpfende Gegenwart.

Die Geschichte der russischen Revolution erweist aber auch schlagend das Illusionäre, die Haltlosigkeit jener bürgerlich pazifistischen Auffassung, die auf proletarische Kreise übergegriffen hat, dass der bürgerliche Antimilitarismus höchst revolutionär, eine Vorbereitung der Revolution sei, dass bürgerlich antimilitaristische Gesinnung Massen über Nacht in geschlossene, gerüstete, schlagkräftige revolutionäre Kämpferheere verwandeln könne. Bei bürgerlich-antimilitaristischer Einstellung hätte das Proletariat Petrograds und Moskaus nie unter Führung der Bolschewiki zu siegen und die Sowjetordnung zu begründen vermocht. Die russische Revolution geht jedoch noch über diese Lehre hinaus. Sie widerlegt den Pazifismus überhaupt.

„Frieden“ war das erste Wort der Sowjetrepublik, ihre erste Tat war die Demobilisation. Was hat das kapitalistische Europa darauf geantwortet? Deutschland ließ seine Truppen, darunter viele Tausende klassenbewusster Proletarier – das sozialdemokratische Programm oder auch Kautskys Verherrlichung des „Völkerbundes“ im Tornister – gegen Petrograd marschieren, ließ sie zur Verteidigung der Versklavungs- und Auswucherungsmacht von Junkern, Fabrikanten und Bankiers in den Ostseegebieten, in Finnland und der Ukraine friedens- und freiheitssehnsüchtige Bauern und Arbeiter niederschlagen. Der Ententeimperialismus zahlte dafür, dass weißgardistische Heere und Banden Sowjetrussland verwüsteten. Mit der Schärfe des Schwertes musste der Arbeiter-und-Bauern-Staat seine Existenz verteidigen. Nicht antimilitaristische, pazifistische Deklamation! Die Rote Armee wird auch künftig Sowjetrussland schützen.

Genossinnen und Genossen! Die dargelegte Auffassung macht es uns zur Pflicht, mit aller Schärfe und Bestimmtheit der antimilitaristischen pazifistischen Propaganda entgegenzutreten, wie sie in Frankreich zum Teil auch innerhalb der Kommunistischen Partei betrieben wird. Auf der Frauenkonferenz und dem Kongress der Kommunistischen Partei zu Marseille zeigte sich deutlich, wie verwirrend, wie verseuchend sie wirkt. Die antimilitaristische Propaganda mancher unserer französischen Freunde gebärdet sich sehr revolutionär und geschieht in dem ehrlichen Glauben, wirklich revolutionär zu sein. Bei Licht betrachtet entpuppt sie sich jedoch als gut bürgerlichen Wesens und gut bürgerlicher Wirkung …

Erklärlich ist, dass diese gerade in Frankreich in den werktätigen Massen und auch unter wirklich revolutionär gesinnten Proletariern Wurzel fassen. Infolge des Zweikindersystems hat Frankreich schwerer als jedes andere am Weltkrieg beteiligte Land unter den himmelschreienden Blutopfern des imperialistischen Mordens gelitten. Die Bevölkerung Frankreichs ist in den zehn Jahren, 1911 bis 1921, um 2,1 Millionen zurückgegangen. 1,5 Millionen Männer sind im Kriege gefallen. Sogar wenn man die Bevölkerung des zurückgewonnenen Elsaß-Lothringens mitrechnet, hat Frankreich 1921 noch fast 400000 Einwohner weniger als 1911. Zu den 1,5 Millionen, die der Krieg gemordet, kommen vielen Hunderttausende Krüppel und Kranke, die er hinterlassen hat. Vergegenwärtigen wir uns die Wirkung dieses Tatbestandes auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des schaffenden Volkes in Frankreich, zumal auf die Kleinbauern. Bei dem Zweikindersystem bedeutet der Tod, die Verkrüppelung des Sohnes oder Schwiegersohnes – von dem seelischen Schmerz abgesehen – den wirtschaftlichen Ruin vieler Kleinbauernfamilien. Die wichtigste, wertvollste Arbeitskraft ist dahin. Dazu die riesigen Steuerlasten, die die Rüstungen dem schaffenden Volk auferlegen. Endlich die unbeschreiblichen Verwüstungen, die entsetzlichen Notstände in den Gebieten, in denen der Krieg, der deutsche Militarismus verbrecherisch gehaust haben. In keinem Staate Europas aber ist der Imperialismus gleich kriegerisch eroberungs- und abenteuertoll, also gleich gefahrdrohend wie in Frankreich.

Ist es da ein Wunder, dass den antimilitaristischen, pazifistischen Tendenzen große Kraft eignet? Es ist kennzeichnend, dass Antimilitarismus und Pazifismus nicht nur in anarchistischen, syndikalistischen und opportunistischen Elementen der Arbeiterbewegung leidenschaftliche Vorkämpfer finden, sondern auch bei kommunistischen Organisationen in überwiegend ländlichen Departements. Die Kommunistische Partei Frankreichs hat die Aufgabe, die Tatsachen und Stimmungen, aus denen Antimilitarismus und Pazifismus ihre Kraft saugen, politisch auszunutzen und sie für den revolutionären Kampf des Proletariats fruchtbar zu machen. Sie muss in den werktätigen Massen die antimilitaristischen und pazifistischen Illusionen in ihr Nichts auflösen und die Erkenntnis klären und festigen, dass Militarismus und Imperialismus einzig und allein durch den rücksichtslosesten revolutionären Kampf des Proletariats gegen den Kapitalismus vernichtet werden können. Die drohende Gefahr einer Verwirrung und Abstumpfung des proletarischen Klassenkampfes muss zum starken Ansporn gesteigerter Kampftüchtigkeit und Kampfkraft werden. 

[Arbeiterbewegung und Krieg]

Genossinnen und Genossen, Zum Schluss muss ich Ihre Aufmerksamkeit noch auf einen bedeutsamen Vorgang in der Arbeiterbewegung lenken. Die geschichtliche Stunde voller Kriegsnot und Kriegsdrohung scheint Kräfte zu mobilisieren, die wir bisher nicht auf dem Blachfelde des revolutionären Kampfes gegen den Imperialismus fanden. In der Gefolgschaft der Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale rumort es revolutionär. Große Arbeiterverbände, die ihr angegliedert sind, rufen nach dem Generalstreik, beschließen den Generalstreik als Mittel, Kriegsrüstungen und Kriege zu verhindern. Am 15. und 16. November 1921 hat in Amsterdam, einberufen von der Leitung des internationalen Gewerkschaftsbundes, eine Abrüstungskonferenz der internationalen Verbände der Metall-, Berg- und Transportarbeiter getagt, also der organisierten Proletarier, die besonders berufen sind, mit einem entschlossenen Ruck den Gang der kapitalistischen Wirtschaft zum Stillstand zu bringen. Und diese Abrüstungskonferenz war ausdrücklich veranstaltet worden als proletarisches Gegenstück zur Washingtoner Konferenz der bürgerlichen Regierungen.

Samuel Gompers, eine Prachtsäule des amerikanischen Imperialismus unter der Arbeiterschaft, hatte vorgeschlagen, die Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale möge sich darum bemühen, dass die Regierungen in ihre Delegationen zur Washingtoner Abrüstungskonferenz auch Gewerkschaftsvertreter aufnehmen sollten. Der Internationale Gewerkschaftsbund lehnte die geforderte offene, burgfriedliche Zusammenwirken der organisierten Arbeiter mit den Imperialisten Harding, Briand und Lloyd George ab. Seine Leitung erklärte, kein Vertrauen zu der Tagung der Admirale, Generale und Präsidenten zu haben, sie werde ihre eigene „Abrüstungskonferenz“ einberufen, die gleichzeitig mit der Washingtoner eröffnet werden solle. Diese Stellungnahme entsprach dem Beschluss, den die er der Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale im November 1920 in London gefasst hatten. Er besagte, dass die Gewerkschaftsbewegung „neben ihrer gewöhnlichen Aktion für Verbesserung der Arbeitsbedingungen, national und international, den Kampf führt gegen Kapitalismus und Imperialismus“. Dieser Kampf habe sich vor allem zu richten „gegen Militarismus in allen seinen Formen“, und in ihm sei „die Waffe des Massenstreiks und des internationalen Boykotts … als wirksames und zweckentsprechendes Mittel … anzuwenden. Die Londoner Konferenz der Amsterdamer warnte ausdrücklich vor der Verwechslung der „Bekämpfung aller Kriege durch die internationale organisierte Arbeiterschaft … mit dem Pazifismus der kapitalistischen Bourgeoisie“. 1 Die „Abrüstungskonferenz“ vom November 1921 hat im Geiste dieses Beschlusses beraten und entschieden. Zusammen mit den Leitern des Internationalen Gewerkschaftsbundes nahmen die Vertreter der international organisierten Metall-, Berg- und Transportarbeiter einstimmig diese Resolution an:

„In Anbetracht der Tatsache, dass die reaktionären und militärischen Bestrebungen in der ganzen Welt im Zunehmen sind und ein neuer Krieg unausweichlich ist, wenn nicht die Arbeiterklasse aller Länder in voller Einheit und Einmütigkeit Front macht gegen die von der kapitalistischen Klasse drohende Gefahr, richtet die Konferenz an die Arbeiter aller Länder den dringenden Appell, neben dem gegen die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen gerichteten Abwehrkampf ihre Aufmerksamkeit und alle ihre Energie vor allem der Bekämpfung des Kapitalismus selbst und dem mit ihm unlöslich verbundenen Militarismus zuzuwenden.

Mit Berufung auf die von den internationalen Arbeiterkongressen aufgenommenen diesbezüglichen Resolutionen erwartet die Konferenz von allen dem Internationalen Gewerkschaftsbund angeschlossenen Organisationen, dass sie in ihrem eigenen Lande und unter den eigenen Berufsgenossen stärker und mit größerem Nachdruck als je die Propaganda und Aktion gegen den Militarismus und für die allgemeine Abrüstung führen werden.

Im Hinblick auf diesen Zweck appelliert die Konferenz an die Arbeiter aller Länder, sich zu einer Macht zusammenzuschließen, die imstande ist, im Falle drohender Kriegsgefahr unter der Leitung des Internationalen Gewerkschaftsbundes durch sofortige Proklamation des internationalen Generalstreiks den Ausbruch des Krieges zu verhindern.

In Erwägung der Tatsache, dass ein Krieg ohne das Funktionieren der Transportbetriebe, des Bergbaues und der Metallindustrie nicht geführt werden kann, ist die Konferenz der Meinung, dass es in erster Linie Pflicht der Arbeiter dieser Industriegruppen ist, die Propaganda gegen Reaktion und Militarismus unter dem ganzen Aufgebot ihrer Kräfte zu führen und ihre ganze wirtschaftliche Macht aufzuwenden, um eine Wiederholung der Menschenschlächterei in der Welt zu verhindern.“ 2

Von dem Beschluss der Amsterdamer Abrüstungskonferenz sagten wir: „Gut gebrüllt, Löwe!“ Jedoch die Proletarier dürfen nicht bloß das Gebrüll des stolzen Wüstenkönigs hören, sie müssen sich diesen selbst ansehen. Sie müssen sich vor der Enttäuschung bewahren, dass es wie in Shakespeares lebenssprühendem Lustspiel eines Tages den internationalen Imperialisten entgegenklingt: Fürchtet Euch nicht, liebe Leute, lauft nicht davon. Ich bin kein Löwe, auch keines Löwen Weib. Trotz des Londoner Beschlusses über Massenstreik, internationalen Boykott und bürgerlichen Pazifismus ließen sich im April 1921 drei Amsterdamer Gewerkschaftsführer in die Abrüstungskommission des Völkerbundes delegieren, die sicher um kein Jota besser ist als die Washingtoner Konferenz, dazu aber noch von unübertrefflicher Einflusslosigkeit.

Auf dem Jahreskongress der englischen Gewerkschaft zu Cardiff forderte J.H. Thomas, Vorsitzender des Amsterdamer Internationalen Gewerkschaftsbundes, dass die organisierte Arbeiterschaft Großbritanniens auf der Washingtoner Konferenz vertreten werde. Er begründete es damit, dass diese Tagung berufen sei, eine Verständigung zwischen den drei größten kapitalistischen Staaten der Welt herbeizuführen und der Menschheit den Frieden zu schenken. Der Kongress beschloss dieser Auffassung entsprechend. Nach dem Bericht des „Vorwärts“ wurde anerkannt, dass ein internationaler Streik des Proletariats bei Kriegserklärungen nichts fruchten werde; im Augenblick könne sich die Arbeiterschaft nicht mächtig genug fühlen, durch einen Generalstreik gegen den internationalen Imperialismus etwas auszurichten. Diese Stellungnahme erfolgte auf Anregung des Vorsitzenden der Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale fast zur selben Zeit, da diese eine Vertretung der Gewerkschaften in Washington ablehnte. Das ist nicht alles.

Anfang November wurde dem englischen Unterhaus eine Interpellation und Entschließung vorgelegt, die Washingtoner Abrüstungskonferenz betreffend. In ihr heißt es: „Dieses Haus begrüßt aufs wärmste die internationale Washingtoner Konferenz und hofft, dass die äußerste Anstrengung gemacht werden wird, um Maßnahmen zu vereinbaren, die eine wesentliche und fortschreitende Herabminderung der erdrückenden Rüstungslasten gestatten.“ Die Interpellation wurde eingebracht von Clynes, dem Führer der Gasarbeiter und der parlamentarischen Arbeiterpartei, im Namen seiner Fraktion, der auch Thomas angehört, der Vorsitzende des Internationalen Gewerkschaftsbundes. Vier Tage bevor in Amsterdam die gewerkschaftliche Abrüstungskonferenz zusammentraf, sandte die „Dritte Internationale Arbeitskonferenz zu Genf“ dem Präsidenten der Vereinigten Staaten „ihren ehrerbietigsten Gruß“ und sprach die Hoffnung aus, „dass durch Anwendung der Methode internationaler Zusammenarbeit die Washingtoner Konferenz ein dauerndes und haltbares Werk schaffen kann, um endlich den Weltfrieden herbeizuführen“. Das Telegramm war unter anderem unterzeichnet von Jouhaux, dem Vizevorsitzenden des Internationalen Gewerkschaftsbundes, der eine eigene „Abrüstungskonferenz“ einberief, weil man in den Arbeiterkreisen der Washingtoner Tagung „mit starkem Pessimismus entgegensehe“.

Die Amsterdamer Abrüstungskonferenz der Gewerkschaft hat ihre Fortsetzung gefunden. Das Zentralkomitee des internationalen Metallarbeiterbundes, das Ende Januar in Wien zu Sitzungen zusammentrat, verhandelte auch über die Stellung zu „Krieg und Kriegsrüstungen“. Es beschloss, dem bevorstehenden internationalen Gewerkschaftskongress zu Rom folgende Resolution vorzulegen:

„Der Kongress des Internationalen Gewerkschaftsbundes vom 20. April und die folgenden Tage in Rom beschließt neuerdings, dass die Gewerkschaftsorganisationen alle Kräfte einzusetzen haben, um den Militarismus zu bekämpfen und kriegerische Aktionen und Kriege zu verhindern.

Im besonderen beschließt der Kongress:

1. Kriege sind durch allgemeine Arbeitsniederlegung zu verhindern.

2. Die internationalen Berufsorganisationen werden aufgefordert, in kürzester Frist in ihren angeschlossenen Landesorganisationen nachstehende Bestimmungen durch Kongressbeschlüsse oder Urabstimmung für alle Mitglieder als verbindlich zu erklären.

a) Die Gewerkschaftsmitglieder, die den internationalen Berufsverbänden und dem Internationalen Gewerkschaftsbund mit dem Sitz in Amsterdam angeschlossen sind, haben im Kriegsfall die Arbeit niederzulegen und dadurch die Kriegführung unmöglich zu machen.

b) Die Landesorganisationen und die internationalen Berufsorganisationen haben überall die Kontrolle über Waffen- und Kriegsfabrikation aller Art für Militär- und Zivilgebrauch durchzuführen und die Fabrikation einzuschränken und, wenn nur möglich, auf das Minimum für Zivilgebrauch zu reduzieren.

c) Zur Durchführung der in a) und b) enthaltenen Bestimmungen wird eine internationale Kommission eingesetzt, die die näheren Ausführungsbestimmungen aufzustellen hat und die über die jeweilige Arbeitsniederlegung entscheidet.

d) In dieser Kommission sollen möglichst alle Berufsorganisationen und das Büro des Internationalen Gewerkschaftsbundes vertreten sein.“

Die Frankfurter Zeitung erklärte dazu:

„Das Gewicht dieser Resolution … erleidet freilich von vornherein eine erhebliche Verminderung dadurch, dass der englische Vertreter sie abzulehnen empfahl, weil sie praktisch undurchführbar und überdies der Zustimmung der englischen Arbeiterschaft keineswegs sicher sei. Großbritannien, bemerkte Brownlie, besitzt sechs Regierungswerften, auf denen ausschließlich Kriegsschiffe gebaut werden. Andere Fabriken erzeugen ausschließlich Waffen. Außerdem gibt es Unternehmungen, die mit Kriegsschiffen beschäftigt sind. Viele Werften bauen heute Handelsschiffe und morgen Kriegsschiffe.“

Genossinnen und Genossen, trotz dieser „erheblichen Verminderung des Gewichts der Resolution“ bleibt diese beachtenswert.

Sie ist ein Anzeichen des Gärungs- und Umwandlungsprozesses, der sich in den organisierten Arbeitermassen vollzieht, die dem Internationalen Gewerkschaftsbund angehören. Gewiss, dieser Prozess des geistigen, des politischen Reifens ist noch nicht der Reife der gesellschaftlichen Verhältnisse entsprechend weit genug fortgeschritten. Wäre er es, so würden die organisierten Arbeitermassen besseres tun, als Beschlüsse fassen. Sie würden in Deutschland, Österreich und England, in Frankreich und Italien und anderen Ländern mit ihren Ausbeutern und Herren „russisch reden“. Aber immerhin hat sich die Einstellung der organisierten proletarischen Massen zum Kapitalismus und seinen Wesensäußerungen so weit geändert, dass die Gewerkschaften, die Gewerkschaftsführer der „radikalen Stimmung“ in Beschlüssen Rechnung tragen müssen.

Verflogen ist der nationalistische Rausch der „Landesverteidigung“ und der „heiligen Einheit“, der vier Jahre lang die Proletarier bestimmte, zu Nutz und Frommen des eroberungssüchtigen Imperialismus die Waffen gegeneinander zu kehren, statt sie zum Sturz des Kapitalismus zu verwenden. Zu weichen beginnt auch die Dumpfheit und Stumpfheit dieser Jahre der Kriegszeit. Die Bourgeoisie, für die es um Sein oder Nichtsein ihrer Klassenherrschaft geht, peitscht durch ihre Generaloffensive zur Steigerung der kapitalistischen Ausbeutung und Knechtschaft die Massen auf. Sie fangen an, sich auf sich selbst zu besinnen, als vom Kapitalismus Ausgebeutete und Unterdrückte, sie fangen an, die Notwendigkeit schärfsten Klassenkampfes zu empfinden. Die sich „radikalisierenden“ Massen der Organisierten treiben ihre Führer, wenigstens mit Beschlüssen voranzugehen. Jedoch, vergessen wir nicht, was die schönsten Beschlüsse wert sind, wenn sie auf dem Papier bleiben. Die Spuren schrecken! Die II. Internationale hat auf ihren Kongressen zu Stuttgart, Kopenhagen und namentlich zu Basel treffliche Beschlüsse gefasst, dass das Proletariat aller Länder sich vereint mit höchster Entschiedenheit drohender Kriegsgefahr entgegenwerfen müsse. Illusionsreichen Führern und Massen dünkte es, dass der ewige Friede eingeläutet wurde, als die Vertreter des internationalen Sozialismus unter Glockenschall in das mystische Halbdunkel des Baseler Münsters einzogen. Eine kurze Spanne Zeit und es stellte sich heraus, dass in Basel die Totenglocke der II. Internationale erklungen war. Es kam der August 1914. Die selben Männer, die in Basel heilige Eide geschworen hatten, bei Kriegsausbruch das Proletariat zum Kampf aufzurufen, schworen nun mit heiligen Eiden die Pflicht der „Landesverteidigung“, spannten die Arbeiter vier Jahre lang vor den blut- und schmutztriefenden Kriegswagen des Imperialismus.

Genossinnen und Genossen! Der Amsterdamer Internationale Gewerkschaftsbund, unter dessen Banner jetzt Beschlüsse vom Generalstreik usw. gefasst wurden, ist Fleisch vom Fleisch und Geist vom Geist der II. Internationale, die die revolutionäre Einheitsfront der Proletarier aller Länder zerschlug, damit die Ausgebeuteten die nationale Einheitsfront mit der ausbeutenden Bourgeoisie schlossen. Lassen wir uns daher nicht an der erfreulichen Tatsache genügen, dass die sich „radikalisierenden“ organisierten Massen ihre Führer zu radikalen Beschlüssen vorwärtstreiben. Tun wir unsere Pflicht, die proletarischen Massen weiter zu „radikalisieren“, ihre Erkenntnis zu klären, damit sie vorandrängen, reif werden, die Beschlüsse in Taten umzusetzen. Die begeisterte revolutionäre Stimmung allein – so hoch ich sie werte, so unentbehrlich sie für den proletarischen Befreiungskampf ist, tut es ebenso wenig wie der papierene Beschluss. Die proletarischen Massen müssen vielmehr ideologisch und organisatorisch planmäßig auf den Kampf gegen Kriegsgefahr und Krieg vorbereitet werden. Entscheidungsschwere Stunden müssen sie gerüstet finden. Nur wenn das der Fall ist, werden selbst die schlauesten Führer nicht mehr „Bremser“, nicht mehr Irreführer und Verführer sein können, werden aber auch die breiten Massen nicht versagen und enttäuschen. Führer und Massen werden einander ebenbürtig sein und als eine fest verbundene Einheit im Kampf gegen Kriegsgefahr und Krieg aufnehmen und mit äußerster Entschlossenheit durchführen. 

[Weltkrieg oder Weltrevolution]

Die Massen der Werktätigen ideologisch und organisatorisch auf diesen Kampf vorzubereiten ist Aufgabe der kommunistischen Parteien, der III. Internationale. Der feste Boden dieser unserer vorbereitenden Tätigkeit ist die Erkenntnis, dass der einzige wirksame Schutz gegen die drohenden Kriege die proletarische Revolution ist. Denn sie stürzt den Kapitalismus und sichert damit einen Aufbau der gesellschaftlichen Wirtschaft, der wie die Gegensätze zwischen den Klassen so auch die Interessengegensätze zwischen den Staaten aufhebt. Die Geschichte stellt vor die Menschheit die Frage: Weltkrieg oder Weltrevolution? Die Antwort darauf muss das Proletariat geben. Diese Erkenntnis müssen wir den Massen vermitteln, ins Bewusstsein einhämmern, damit sie unerschütterlicher Willen und schrankenlose Hingabe wird, den revolutionären Klassenkampf ohne Scheu vor Opfern und ohne Furcht vor Gefahren zu führen. Um die breiten proletarischen Massen für den schärfsten revolutionären Klassenkampf zur Abwendung von Kriegen geistig, politisch wie organisatorisch zu rüsten, schlage ich die folgenden Mittel vor:

  1. Eine planmäßige Aufklärung der werktätigen Massen, namentlich der Jugend, über Ursachen, Charakter usw. der Kriege.
  2. Das Hinaustragen aller Fragen und Entscheidungen der auswärtigen Politik, über Rüstungen usw. vor die breitesten Massen.
  3. Eine aufklärende, gut organisierte legale und illegale Propaganda unter dem Militär und den bewaffneten Formationen aller Art.
  4. Die Einstellung des Willens der Proletarier, im Falle ausbrechender imperialistischer Kriege die Transporte von Heeresbedarf und Truppen mit allen Mitteln und um jeden Preis zu verhindern.
  5. Die Stärkung des revolutionären Willens der breitesten Massen, sich einem ausbrechenden imperialistischen Krieg mit allen sonst noch verfügbaren Mitteln entgegenzuwerfen: mit Straßenkundgebungen, Generalstreik und bewaffnetem Aufstand.
  6. Die Schaffung legaler und illegaler Organe, die für die Durchführung dieser Aufgaben wirken.
  7. Die Schaffung legaler und illegaler Organe und Einrichtungen, die ein einheitliches, energisches internationales Zusammenwirken der Kommunisten jener Länder sichern, unter die Gegensätze am schärfsten sind.

Es scheint mir nach den vorausgegangenen Darlegungen überflüssig, diese Forderungen im einzelnen zu begründen. Die Diskussion und Kommissionsberatung werden sie ergänzen und verbessern. Nur dreierlei sei unterstrichen. Die Werktätigen – zum Teil auch die reformistisch eingestellten Gewerkschaften – stehen den weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Fragen häufig mit der kleinbürgerlichen Auffassung gegenüber, es gehe sie nichts an, „wenn hinten in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen“; das sei „hohe Politik“, bei der sie nicht mitzusprechen hätten. Diese Auffassung gilt es auszurotten. Die Massen müssen begreifen lernen, dass Fragen der äußeren Politik auch Fragen der inneren Politik sind, ihre ureigensten Angelegenheiten, weil sie in der Auswirkung in ihr Leben eingreifen. Deshalb müssen wir alle wichtigen Fragen und Erscheinungen der äußeren Politik aus den Dunkelkammern der Regierungen und Diplomaten und den Diskutierklubs parlamentarischer Ausschüsse und Sitzungen herausholen und vor die breitesten Massen tragen. Die Massen müssen darüber urteilen und entscheiden können, denn sie sind es, die für die Kosten der Entscheidungen zahlen. Marx hat in seiner Inauguraladresse der 1. Internationale ausdrücklich gefordert, dass das Proletariat die auswärtige Politik nicht länger der Bourgeoisie und ihren Regierungen überlasse, sondern mit kräftiger Faust entscheidend eingreife. 3

Die deutsche Sozialdemokratie hat in der Vorkriegszeit jede besondere „Kasernenagitation“ abgelehnt und erst recht die Durchführung solcher Propaganda mit illegalen Mitteln. Die ihr wesensverwandten Parteien der II. Internationale teilten überwiegend diesen Standpunkt. Die leitenden Gedanken der in der III. Internationale zusammengefassten kommunistischen Parteien können nicht der verkörperte Respekt vor der bürgerlichen Gesetzlichkeit sein. Die geschichtlichen Umstände, unter denen sie leben, das heißt arbeiten und kämpfen, verbieten ihnen das. Diese Umstände stehen im Zeichen der Revolution, die Klassenfeinde – Proletariat und Bourgeoisie – stoßen hart miteinander zusammen. Die Bourgeoisie selbst ist es, die den Boden ihrer eigenen Gesetzlichkeit zertrümmert, wenn das Proletariat ihn für seinen Kampf voll ausnutzt. Das Proletariat hat wahrlich keinen Grund, gesetzlicher zu sein als seine Feinde. Gewiss: Es nutzt den Boden der bürgerlichen Gesetzlichkeit bis zur äußerer Grenze der Möglichkeit aus, jedoch es lässt sich durch diese Grenze nicht von dem geschichtlich Notwendigen absperren.

Es darf nicht vergessen, dass die Gesetzlichkeit des Bourgeoisstaats, auch wenn sie einen demokratischen Mantel trägt, nichts ist als in Formen kristallisierte Macht der Besitzenden und Ausbeutenden, die den Ausgebeuteten heilig sein soll, weil sie zum Nutzen jener geschaffen worden ist. Aug in Auge mit dieser Macht hat sich das Proletariat zu berufen auf sein historisches Recht und seine historische Pflicht zur Revolution, die eine neue Gesetzlichkeit entstehen lässt, die sich im Kampfe vorbereitet. Soll damit – auf die vorliegende Frage angewendet – etwa gesagt sein, dass die Kommunisten wahl- und planlos „Verschwörer spielen“, Geheimgesellschaften gründen und in M.P.-Organisierung 4 schwelgen sollen, wie sie unter dem Einfluss des Krieges und des Novemberumsturzes eine Zeitlang in Deutschland Kräfte der revolutionären Vorhut des Proletariats sinn- und nutzlos aufgerieben hat? Keineswegs. Aber die Kommunisten werden bei ihrer Aufklärungs- und Schulungsarbeit unter dem Militär und den bewaffneten Formationen aller Art auch nicht vor jedem Polizeibeamten und jedem Gesetzesparagraphen erstarren, als hätten sie das Haupt der Medusa geschaut. Sie werden ihre Aufgabe auf dem breiten legalen Wege erfüllen, soweit und solange es möglich ist, und sie werden die engen Pfade der Illegalität betreten, wenn das zur Notwendigkeit wird.

Unser revolutionärer Kampf gegen den Krieg heischt dringend, dass besondere internationale Organe und Einrichtungen zur Durchführung geschaffen werden. Es ist nicht ausreichend, Genossinnen und Genossen, dass periodisch internationale Kongresse und Konferenzen der kommunistischen Parteien stattfinden, die gute, die vorzügliche Thesen aufstellen und klingende Beschlüsse fassen, dass ab und zu Kommunistenführer aus den einzelnen Ländern sich über bestimmte Maßnahmen verständigen. Nein, international muss planmäßig dauernd gearbeitet werden, damit in den einzelnen Ländern gewaltige Massen Werktätiger mobilisiert werden, um, statt in den Krieg zu ziehen, in der Revolution vorzustürmen. Das ist unmöglich ohne eigene Organe, die diese Arbeit leisten, und ohne Maßnahmen, die auf Grund internationaler Verständigung gemeinsam verwirklicht werden. Das engste, organisierte internationale Zusammenarbeiten zwischen den Kommunisten tut zumal in den Ländern bitter Not, in denen die Interessenkonflikte der Bourgeoisie und damit die Kriegsgefahren besonders groß sind. Sie ist ferner von höchster Bedeutung in den großen Zentren an der West- und Südostgrenze Deutschlands, wo die kontinentale, ja die europäische Wirtschaft ungeheure Mengen von Urstoffen ihrer Produktion gewinnt, wo internationale Knotenpunkte dieser Wirtschaft liegen. Die Feuerblume der revolutionären Solidarität der Proletarier erwächst aus dem nämlichen historischen Erdreich, das unter den elementaren Stößen der Klassengegensätze zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, der nationalen Kämpfe um Profit und Macht der Bourgeoisie abgrundtief auseinander gerissen wird. Kriegswille und Kriegsfurcht der internationalen Bourgeoisie spielen miteinander diplomatisch bis in den vulkanischen wirtschaftlichen Tiefen der bürgerlichen Gesellschaft sich der Widerstreit der Kräfte in furchtbaren Weltkriegskatastrophen entlädt. Das Proletariat hat dem frivolen Spiel und der sich ankündenden Gefahr seinen ernsten und ehernen Willen zur Revolution entgegenzustellen. Und dieser Wille schließt Revolutionsfurcht wie Revolutionsspielerei aus. Er muss, international fest zusammengeballt, entschlossene Kampfbereitschaft sein.

Genossinnen und Genossen! Die Weltbourgeoisie fordert das Weltproletariat heraus, seine Kampfbereitschaft zu erproben. Auf der Konferenz zu Genua will sie die internationale Einheitsfront schließen für den Wiederaufbau der kapitalistischen Wirtschaft, das besagt: gegen das Proletariat. Das Proletariat muss der Konferenz seine eigene internationale revolutionäre Einheitsfront entgegenstellen. Aufgabe der Kommunisten ist es, die breitesten Massen der Werktätigen aller Länder aufzurufen, diese Einheitsfront zu schließen und selbst wegweisend, richtunggebend in ihr zu stehen. Wiederaufbau der kapitalistischen Wirtschaft! Was begreift das in sich? Kriegsrüstungen und Kriege. Abwälzung der Riesenlasten des letzten Krieges und der Riesenkosten des Wiederaufbaus auf das schaffende Volk allen Ländern und den einzigen Staat des schaffenden Volkes: Sowjetrussland – also Steigerung der Ausbeutung der Massen bis zu ihrem Versinken in das tiefste Elend; also Verschärfung ihrer Unterdrückung bis zur höchsten Sklaverei; also rücksichtsloseste, gewalttätige Klassendiktatur der Bourgeoisie über das Proletariat.

Angesichts dieser Lage muss das Proletariat international in gewaltigen Kundgebungen zum Ausdruck bringen, dass es der Weltbourgeoisie und ihren Regierungen die Fähigkeit und den Willen abspricht, einen höheren, vollkommeneren Wirtschafts- und Gesellschaftsbau aufzurichten, in dem die Menschheit in Kultur und Frieden wohnt. Es muss seine unerschütterliche Entschlossenheit bekunden, durch den schärfsten Klassenkampf sich selbst und Sowjetrussland gegen die Beute- und Machtgier des internationalen Kapitalismus zu schützen. Meines Dafürhaltens sollten folgende fünf Forderungen die Ausgebeuteten und Enterbten aller Länder über die Schranken der Partei- und Gewerkschaftsorganisationen hinweg zum Kampf gegen Rüstungen und Krieg in proletarischer Einheitsfront gegen Genua zusammenfügen:

  1. Aufhebung aller Verträge, die den imperialistischen Krieg von 1914 bis 1918 beendet haben.
  2. Einschränkung der Rüstungen jeder Art.
  3. Abwälzung der Lasten des Krieges, der Reparationen und des Wiederaufbaus auf die Bourgeoisie allein.
  4. Hände weg von der Selbständigkeit Sowjetrusslands und Herstellung normaler Beziehungen zu ihm.
  5. Weitestgehende Unterstützung des wirtschaftlichen Aufbaus von Sowjetrussland durch private Unternehmungen wie durch den Staat.

Auch diese Forderungen sind – so meine ich – bereits genügend begründet. Ich beschränke mich daher darauf, ihnen das Folgende hinzuzufügen:

Das Begehren: Aufhebung der Friedensverträge von Versailles, Saint-Germain, Trianon, Sèvres, Neuilly bedeutet keineswegs Preisgabe des Wiederaufbaus der im Weltkrieg zerstörten Gebiete. In Verbindung mit den anderen Forderungen – Einschränkung der Rüstungen und Abwälzung der Lasten des Krieges, der Reparationen und des Wiederaufbaus auf die Besitzenden allein – bedeutet es die Möglichkeit, reichere Mittel, beste soziale Kräfte an den Wiederaufbau zu setzen. Der Weltkapitalismus, der bisher Nutznießer des verwüstenden imperialistischen Krieges war, soll sühnen, was er verbrochen. Den Kriegsgewinnlern und Kriegswucherern dürfen nicht Wiederaufbaugewinnler und Wiederaufbauwucherer folgen. Ein anderes ist festzuhalten. Mit Sowjetrussland verteidigt das internationale Proletariat sich selbst. Das Schicksal der Ausgebeuteten aller Länder ist unlöslich mit Sowjetrussland verknüpft. Die Weltrevolution schmiedet sie zusammen. Ihr Fortschreiten muss in lebendigster Wechselwirkung gemeinsames Werk sein, gemeinsamer Kampf wider den Weltkapitalismus, gemeinsamer Sieg über ihn. Sowjetrusslands Proletariat hat die Erkenntnis dieses Verknüpftseins mit bewunderungswürdigem Opfersinn und Heldenmut kämpfend zur Tat gemacht. Es war bis jetzt der glorreiche Preisfechter der proletarischen Weltrevolution, bewusst vorwärtstreibende Kraft der Geschichte. Das Proletariat der noch kapitalistischen Welt darf nicht länger die Schmach tragen, nur duldendes Objekt der Geschichte zu sein, ein dürrer, wirrer Blätterhaufen, mit dem die Wolken und Winde der bürgerlichen Klassenherrschaft, des Kapitalismus, spielen. Es muss endlich an Sowjetrusslands Seite treten und seine Pflicht zur Weltrevolution erfüllen. Sein Handeln für die Weltrevolution wird das Zeugnis seiner geschichtlichen Reife für sie sein.

Genossen, an diesem großen Ziel gemessen, sind es bescheidene Forderungen, mit denen die Proletarier aller Länder ihre Schilde gegen Genua erheben sollen und denen im Hinblick auf den wirtschaftlichen Aufbau noch andere hinzuzufügen sind. Die Bedeutung der Forderungen wird beruhen in dem einheitlichen, geschlossenen internationalen Aufmarsch der Ausgebeuteten wider die Weltbourgeoisie, in der internationalen Gemeinsamkeit drängenden Kampfwillens. Die Weltbourgeoisie wird daher diese Gemeinsamkeit des Kampfes mehr fürchten als Forderungen, so unannehmbar auch sie ihr sind. Sie weiß es, der Kampfwille muss über seine Gegenwartsforderungen hinaustreiben, der Weltrevolution entgegen, und die internationale proletarische Einheitsfront wird ihn unwiderstehlich, siegreich machen.

Allein, ist es nicht Verbrechen oder Narrheit, in diesem Augenblick den Willen der proletarischen Massen einzustellen auf die Weltrevolution, also auf die Eroberung der Staatsgewalt und die Aufrichtung der proletarischen Diktatur? Die reformistischen Führer aller Schattierungen und aller Nationalitäten versichern es tagtäglich, in Deutschland nicht am wenigsten laut die reuigen Heimkehrer der Kommunistischen Arbeitsgemeinschaft 5 zur Unabhängigen Sozialdemokratie. Nicht dass sie die Revolution abgeschworen hätten. Sie verwahren sich entschieden dagegen. Sie erblicken die Revolution. Aber wie? In weiter Ferne des geschichtlichen Weltraums, ein schwach blinzelndes Sternlein, das nicht recht leuchten und wärmen kann. Es verblasst vollends vor der aufsteigenden Morgenröte des Kapitalismus. Wir Kommunisten sind außerstande, mit den reformistischen oder reformistelnden Herren an die Gesundung und Lebenskraft der kapitalistischen Wirtschaft und bürgerlichen Ordnung zu glauben. Was ändert es an dem Gesamtbild des Verfalls, dass in diesem oder jenem Land, in dem einen oder anderen Industriezweig die Züge des Kapitalismus weniger hippokratisch sind als vor Monaten? Anderswo verzerren sie sich dafür um so furchtbarer, qualvoller im Wehren des Kapitalismus gegen den Auflösungsprozess. Wohl hat die Bourgeoisie ihre Herrschaft sozial befestigt, trotzdem: Der Weltkapitalismus ist reif für seinen Untergang. Er zeigt nur diese Perspektiven: Weltkrieg oder proletarische Weltrevolution.

Weltkrieg oder proletarische Weltrevolution, nicht etwa als akademische Doktorfrage, als Frage grauer Theorie, über die wir in Gemütsruhe diskutieren und philosophieren dürften. Nein, Genossinnen und Genossen! Als brennende praktische Tagesfrage, für die wir handeln müssen, als Alpha und Omega unseres Aktionsprogramms, das an alle Gegenwartsnöte der Ausgebeuteten anknüpft, aber über sie und ihre Linderung hinauszielen muss.

Der Kampf gegen Kriegsgefahr und Krieg, in den wir die proletarischen Massen führen müssen, ist ein wesentlicher, bedeutsamer Teil des Kampfes gegen den Kapitalismus, ist ein entscheidender Schritt vorwärts zur Weltrevolution Der revolutionäre Klassenkampf des Proletariats ist die Vorfrucht des Weltfriedens. Nur der Sturz des Kapitalismus kann die Menschheit vor der Kriegsfurie retten. Nur die Weltrevolution führt die Menschheit dem Frieden entgegen. Handeln wir, kämpfen wir! Rüsten wir die Massen für den Kampf!


Anmerkungen

1. Bericht über den außerordentlichen Internationalen Gewerkschaftskongress. Abgehalten in London vom 12. bis 27. November 1920“, Amsterdam 1920, S.73.

2. Freiheit, 21. November 1921.

3. Siehe Karl Marx, Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation.

4. Militär-Politische Organisierung.

5. Kommunistische Arbeitsgemeinschaft (KAG): Im Ergebnis der Auseinandersetzungen über die Märzaktion 1921 schieden nach dem Parteitag der KPD in Jena einige Reichstagsabgeordnete (darunter Levi, Däumig, A. Hoffmann) aus der Partei und gründeten die KAG, die sich im Februar 1922 der USPD anschloss.