1921 // Bücher
Alexandra Kollontai // Die Situation der Frau in der gesellschaftlichen Entwicklung

Die Situation der Frau in der gesellschaftlichen Entwicklung

1921

Vierzehn Vorlesungen vor Arbeiterinnen und Bäuerinnen an der Swerdlow-Universität 1921


Nach der 3. neu gefassten Auflage, Frankfurt am Main 1977.
Übersetzung aus dem Schwedischen von Claudia Sternberg.


Vorwort

Die vierzehn Vorlesungen dieses Buches hielt ich im Frühjahr 1921 (April, Mai, Juni) an der Leningrader Swerdlow-Universität vor Studentinnen, die später in den Frauenabteilungen arbeiten sollten. Ein Teil der Vorlesungen war mitstenographiert worden, einen Teil stellte ich selbst mit Hilfe meiner eigenen Aufzeichnungen im Herbst 1921 zusammen.

Mit meinen Vorlesungen wollte ich den Studentinnen sowohl einen grundlegenden Überblick über den marxistischen Standpunkt in der Frauenfrage geben, und zwar in leicht zugänglicher Form, als auch – in den letzten vier Kapiteln – die Revolutionierung der Lebensbedingungen und die neue Stellung der Frau im Arbeiterstaat, worunter ich ihre Anerkennung als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft verstehe, demonstrieren. Die neue Stellung der Frau führte nicht nur zu einer positiven Neueinschätzung ihrer politischen und gesellschaftlichen Rechte sondern auch zu einer gründlichen Veränderung der Beziehungen zwischen Mann und Frau. Dies wurde im Jahre 1921, als die Revolution mit dem Übergang vom Kriegskommunismus zur Neuen Ökonomischen Politik (NEP) vor einem Wendepunkt stand, besonders deutlich. Der Entwicklungsstand des Befreiungsprozesses von den Traditionen der bürgerlichen Gesellschaft zeigte sich aufgrund der Folgen, die die Neue Ökonomische Politik in der Sowjetunion hatte, deutlicher als früher. Während der drei Revolutionsjahre, in denen die sozioökonomischen Grundpfeiler der bürgerlichen Gesellschaft zertrümmert wurden und man beharrlich versuchte, so schnell wie möglich das Fundament für die kommunistische Gesellschaft zu errichten, herrschte nämlich eine Atmosphäre, in der überholte Traditionen mit unglaublicher Geschwindigkeit abstarben. An ihrer Stelle keimten vor unseren Augen Ansätze zu ganz neuen Formen menschlicher Gemeinschaft. Die bürgerliche Familie war nicht mehr unentbehrlich. Die Frau wurde aufgrund der gemeinsamen, obligatorischen Arbeit für die Gesellschaft und in dieser mit völlig neuen Lebensformen konfrontiert. Sie wurde gezwungen, in ihrer Arbeit nicht mehr nur ausschließlich für die eigene Familie da zu sein, sondern auch für das Arbeitskollektiv. Neue Lebensbedingungen und auch neue Formen der Ehe entstanden. Das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern änderte sich. Bereits 1921, in diesem so entscheidenden Jahre, zeigten sich die ersten Ansätze einer neuen Gesinnung, neuer Sitten, einer neuen Moral und vor allem die neue Rolle der Frau und ihre Bedeutung fürs Kollektiv und den Sowjetstaat mit besonderer Schärfe. Unter dem Donner der Kanonen, die unsere revolutionäre Arbeiterrepublik an zahlreichen Fronten verteidigten, zerfielen die Traditionen der tödlich getroffenen bürgerlichen Welt.

Viele Lebensgewohnheiten, Ideen und Moralgesetze sind heute entweder schon ganz verschwunden oder aber in einem Zustand der allgemeinen Auflösung. Die Neue Ökonomische Politik war nicht imstande, Veränderungen von Familie und Ehe zu verzögern, sie konnte auch nicht die Stellung der Frau in der sowjetischen Wirtschaft schwächen. Im Augenblick haben aber die neuen Lebensformen, wie sie die Arbeiterinnen in den Frauenabteilungen der Partei bis zum Jahre 1921 erlebten, keine Auswirkung auf die große Mehrheit der Frauen. Die neuen sozialen Verhältnisse und somit auch die Situation der Frau sind unauflöslich mit der Struktur und Organisation des ökonomischen Systems verbunden. Die Entwicklung einer sozialistischen Produktion verursacht die Auflösung der traditionellen Familie und ermöglicht dadurch eine zunehmende Gleichberechtigung und freiere Stellung der Frau in der Gesellschaft. Wie unumgänglich ein Umweg oder eine Verzögerung beim Aufbau unserer kommunistischen Gesellschaft auch immer sein mag, so bedeutet dies logischerweise, dass der umfassende Emanzipationsprozess der Frau zeitweilig stagnieren kann. 1 Die Situation und der politische Einfluss der werktätigen Frauen sind heute nicht mehr vergleichbar mit den Bedingungen, die im Jahre 1921 vorherrschten. Zwar haben unsere Arbeiterinnen und Bäuerinnen mit Hilfe der Kommunistischen Partei die Errungenschaften der ersten Revolutionsjahre erfolgreich verteidigt und haben, wenn auch mit unterschiedlichen Erfolgen, die Rechte der arbeitenden Frauen erweitert und abgesichert. Es herrscht kein Zweifel darüber, dass jene gesellschaftlichen Kräfte, die die allgemeine Arbeitspflicht für Frauen aus allen Schichten durchgesetzt haben und dadurch die objektiven Bedingungen für die Umwandlung von Familie und Lebensgewohnheiten geschaffen haben, zur Zeit wesentlich geschwächt sind. Dies ist eindeutig eine Folge der Neuen Ökonomischen Politik. Ökonomische und politische Veränderungen werden heute nicht mehr durch den Druck der mobilisierten Massen durchgesetzt, sondern in wesentlich verzögertem Tempo unter der bewussten Führung der Kommunistischen Partei Russland verwirklicht. Leider heißt das aber in der Praxis, dass von der Partei Veränderungen nur dann durchgesetzt werden, wenn die revolutionären Errungenschaften von der Bourgeoisie bedroht werden.

Ich habe mich dazu entschlossen, diese Neuausgabe meiner Vorlesungen weder zu korrigieren noch zu erweitern. Eine Neubearbeitung, die mehr den heutigen Verhältnissen gerecht würde, hätte die Vorlesungen nämlich ihres bescheidenen Wertes beraubt, der darin besteht, dass sie die Arbeitsatmosphäre jener Jahre wiedergeben, dass sie Tatsachen und Ereignisse aus dem wirklichen Leben schildern, die die Reichweite der Revolution und die Lage der werktätigen Frauen in der Arbeiterrepublik charakterisieren. Ich bin mir zwar im Klaren darüber, dass mein Buch nur ein unvollständiges Bild von der Lösung der Frauenfrage in einem ganz bestimmten Stadium der Revolution vermittelt. Ich habe mich dennoch dazu entschlossen, die Vorlesungen in ihrer ursprünglichen Form zu veröffentlichen. Ich bin fest davon überzeugt, dass ein Studium und Verständnis der Vergangenheit, – d. h. in diesem Falle eine historische Untersuchung der Stellung der Frau im Verhältnis zur ökonomischen Entwicklung – zu einem besseren Verständnis unserer aktuellen Aufgaben und zur Stärkung der keimenden Saat der kommunistischen Weltanschauung beiträgt. Dies wiederum ist natürlich eine Hilfe für die Arbeiterklasse bei der Suche nach dem kürzesten Weg zur vollständigen und allseitigen Befreiung der arbeitenden Frauen.

Alexandra Kollontai
Oslo 1925

1. Die Stellung der Frau im Urkommunismus

Wir beginnen heute mit einer Vorlesungsserie, die folgende Frage behandeln wird: Die unterschiedliche Stellung der Frau, bezogen auf die Entwicklung verschiedener ökonomischer Gesellschaftsformen. Die Stellung der Frau in der Gesellschaft bestimmt jeweils ihre Stellung in der Familie. Dieser enge und unauflösliche Zusammenhang besteht auf allen Zwischenstufen der sozioökonomischen Entwicklung. Da Eure zukünftige Arbeit darin besteht, die Frauen von Arbeitern und Bauern für den Aufbau der neuen Gesellschaft und ein Leben in dieser zu gewinnen, müsst Ihr diesen Zusammenhang verstehen. Ihr werdet bei Eurer Arbeit sehr oft dem Einwand begegnen, eine Veränderung der Stellung der Frau und ihrer Lebensbedingungen sei unmöglich. Man wird behaupten, diese seien durch die Eigenart ihres Geschlechts bedingt. Wenn Ihr gegen die Unterdrückung, unter der die Frauen leiden, ankämpft, wenn Ihr sie vom Joch des heutigen Familienlebens befreien wollt, wenn Ihr mehr Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern anstrebt, so wird man Euch die altbekannten Argumente servieren: Die Rechtlosigkeit der Frau und ihre mangelnde Gleichberechtigung gegenüber dem Manne sei durch die Geschichte geheiligt und könne deshalb nicht abgeschafft werden. Die Abhängigkeit der Frau, ihre untergeordnete Stellung zum Mann hätten seit eh und je existiert, daran werde sich auch in Zukunft nichts ändern. „So haben unsere Vorväter gelebt, und so werden auch unsere Enkel leben“. Den besten Einwand gegen solche Argumente liefert die Geschichte selbst; die Geschichte über die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft; die Kenntnis über die Vergangenheit und wie sich die Verhältnisse in ihr nun wirklich gestalteten. Wisst Ihr erst mal über die Lebensbedingungen Bescheid, wie sie vor vielen tausend Jahren herrschten, so werdet Ihr Euch selbst davon überzeugen, dass die mangelnde Gleichberechtigung der Frau gegenüber dem Manne, dass ihre sklavenhafte Unterordnung nicht seit eh und je existiert haben. Es gab Perioden, in denen die Frau als dem Manne völlig gleichwertig betrachtet wurde. Ja es gab sogar Perioden, in denen der Mann der Frau in gewissem Maße die führende Stellung zuerkannte.

Wenn wir nun die sich häufig verändernde Stellung der Frau in den verschiedenen Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung näher betrachten, so werdet Ihr einsehen, dass die zur Zeit herrschende Rechtlosigkeit der Frau, ihre mangelnde Selbständigkeit, ihre beschränkten Rechte in Familie und Gesellschaft sich keineswegs durch irgendwelche angeborenen spezifisch weiblichen Eigenschaften erklären lassen. Noch lassen sie sich damit erklären, dass die Frau einen geringeren Verstand als der Mann habe. Nein, die rechtlose und abhängige Stellung der Frau und die fehlende Gleichberechtigung lassen sich nicht durch irgendwelche „natürlichen“ Eigenschaften erklären, sondern durch den Charakter der Arbeit, die ihr in einer bestimmten Gesellschaft zugeteilt wird. Ich fordere Euch auf, gewissenhaft die ersten Abschnitte in Bebels Buch »Die Frau und der Sozialismus« zu lesen. Bebel beweist die Richtigkeit der These, die auch unserem Gespräch zugrunde liegen wird: Es besteht ein äußerst enger und organischer Zusammenhang zwischen den Einsätzen der Frau in der Produktion und ihrer Stellung in der Gesellschaft. Eine Art sozioökonomische Gesetzmäßigkeit, die Ihr Euch am besten gründlich einprägt. Es wird Euch dann nämlich wesentlich leichter fallen, alle jene Probleme zu begreifen, die mit der Arbeit für die allseitige Befreiung der Frau zu tun haben. Viele glauben, dass die Frau in jenen Urzeiten, als sich die Menschheit noch in einem Zustand der Wildheit und Barbarei befand, noch schlimmer gestellt war als heute, ja, in der Tat ein Sklavendasein führte. Das ist nicht richtig. Es wäre falsch, anzunehmen, die Befreiung der Frau sei von der Entwicklung der Kultur und Wissenschaft abhängig; je zivilisierter ein Volk sei, desto freier lebten die Frauen. Nur die Repräsentanten der bürgerlichen Wissenschaft können derartiges behaupten. Wir wissen jedoch, dass nicht Kultur und Wissenschaft die Frau befreien, sondern jenes ökonomische System, in dem die Frau nützliche und produktive Arbeit für die Gesellschaft ausführt. Der Kommunismus ist solch ein ökonomisches System.

Die Stellung der Frau ist immer ein Resultat derjenigen Arbeitsaufgaben, die ihr in dem jeweiligen Entwicklungsstadium eines ökonomischen Systems zugeteilt werden. Unter dem Urkommunismus – Ihr habt darüber in den Vorlesungen über die sozioökonomische Entwicklungsgeschichte der Gesellschaft gehört –, zu jener für uns unbegreiflich lang zurückliegenden Zeit also, in der das Privateigentum unbekannt war und die Menschen in kleinen Herden umherzogen, existierte keinerlei Unterschied zwischen der Stellung des Mannes und der der Frau. Die Menschen ernährten sich von dem, was die Jagd und das Sammeln von wildwachsenden Früchten und Kräutern ihnen gaben. In dieser Periode der Entwicklung des Urmenschen, vor Zehn- ja Hunderttausenden von Jahren, unterschieden sich die Pflichten und Aufgaben des Mannes und der Frau nicht. Die Nachforschungen gelehrter Anthropologen haben ergeben, dass auf den niedrigen Entwicklungsstufen der Menschheit, d. h. dem Stadium der Jäger und Sammler, keine größeren Unterschiede zwischen den körperlichen Eigenschaften der Frau und des Mannes, ihrer Stärke und Gelenkigkeit, bestanden; eine interessante und wichtige Tatsache. Viele für die Frau so charakteristische Züge, wie z. B. stark entwickelte Brüste, schlanke Figur, runde Körperformen und schwache Muskeln, entwickelten sich erst bedeutend später, seit nämlich die Frau Generation um Generation mit ihrer Rolle als „Weibchen“ die Fortpflanzung des Geschlechtes zu garantieren hatte. Es ist sogar heute noch schwer, auf größeren Abstand bei Naturvölkern zwischen Mann und Frau zu unterscheiden, da ihre Brüste nur schwach entwickelt, ihre Becken schmäler und ihre Muskeln kräftig gebildet sind. So war es auch unter dem Urkommunismus, als sich die Frau nur unbedeutend vom Manne unterschied, was Körperkraft und Zähigkeit betrifft.

Das Gebären von Kindern führte nur zu einem kurzen Abbruch ihrer gewöhnlichen Beschäftigung: der Jagd und dem Sammeln von Früchten gemeinsam mit den anderen Mitgliedern des ersten Kollektivs, des Stammes. Die Frau war genauso wie ihre übrigen Kameraden in der menschlichen Herde, wie ihre Brüder, Schwestern, Kinder und Eltern aus reinem Selbsterhaltungstrieb gezwungen, dem Stamm bei der Abwehr von Angriffen des meist gefürchteten Feindes jener Zeit, des Raubtiers, zu helfen und wie der übrige Stamm suchte und sammelte sie Früchte.

Während dieser Periode existierten weder Abhängigkeit der Frau vom Manne noch etwa unterschiedliche Rechte. Die Voraussetzungen hierfür fehlten, da zu jener Zeit Gesetz, Recht und Eigentumsverteilung unbekannte Dinge waren. Einseitige Abhängigkeit vom Manne gab es nicht, da dieser ja selbst völlig auf das Kollektiv, den Stamm, angewiesen war. Der Stamm fasste Beschlüsse und bestimmte. Wer sich nicht dem Willen des Kollektivs unterordnen wollte, ging unter, verhungerte oder wurde von Raubtieren zerrissen. Nur durch festes Zusammenhalten im Kollektiv war der Mensch imstande, sich vor dem mächtigsten und schrecklichsten Feinde jener Periode zu schützen. Je fester zusammengeschweißt ein Kollektiv war, desto besser ordneten sich die einzelnen Mitglieder dem Willen des Kollektivs unter. Das bedeutete, dass sie mit größerer Einheit gegen den gemeinsamen Feind antreten konnten. So war der Kampf erfolgreicher und das Durchhaltevermögen des Stammes besser. Gleichheit und natürliche Solidarität, diese den Stamm zusammenhaltenden Kräfte, waren somit also auch die besten Waffen der Selbstverteidigung. Darum also war es in der allerersten Periode der ökonomischen Entwicklung der Menschheit unmöglich, dass ein Stammesmitglied einem anderen untergeordnet oder von diesem einseitig abhängig war. Die Frau kannte unter dem Urkommunismus weder Sklaverei, noch soziale Abhängigkeit oder Unterdrückung. Und die Menschheit jener Periode wusste nichts von Klassen, Ausbeutung der Arbeit oder Privateigentum. So lebte die Menschheit Tausende, ja, womöglich Hunderttausende von Jahren.

Das Bild änderte sich jedoch in der nächsten Phase der menschlichen Entwicklungsgeschichte. Die ersten Ansätze produktiver Arbeit und wirtschaftlicher Haushaltung waren das Resultat eines langwierigen Prozesses, unter dem die Menschheit eifrig nach der besten Art und Weise ihrer Existenzsicherung gesucht hatte. Aus klimatischen und geographischen Gründen, je nach dem ob er nun in waldiges Gebiet oder Steppe geriet, wurde der eine Stamm sesshaft, während der andere zur Viehzucht überging. Dies ist das nächste Stadium der ökonomischen Entwicklung, das dem ursprünglichen Jagd- und Sammler-Kollektiv folgt. Gleichzeitig mit dieser neuen Form der Haushaltung entstehen neue Formen sozialer Gemeinschaft. Wir werden nun die Stellung der Frau in zwei Stämmen der gleichen Epoche untersuchen, d. h. Stämme, die zwar zur gleichen Zeit, jedoch in verschiedenen Formen der Haushaltung lebten. Die Mitglieder des einen Stammes, der sich in einem waldigen Gebiet mit kleinen offenen Feldern niederließ, wurden sesshafte Bauern. Ein anderer Stamm, der von der Jagd auf Steppengebieten mit großen Büffel-, Pferde- und Ziegenherden lebte, ging zur Viehzucht über. Noch haben diese beiden Stämme den Urkommunismus bewahrt, noch kennen sie kein Privateigentum. Jedoch, die Stellung der Frau in diesen beiden Stämmen unterscheidet sich bereits voneinander. In dem Stamm, der Landwirtschaft betrieb, war sie nicht nur völlig gleichberechtigt, sondern nahm zeitweilig sogar eine führende Position ein. Bei den nomadisierenden Viehzüchtern jedoch verschlechterte sich in zunehmendem Maße die untergeordnete, abhängige und unterdrückte Stellung der Frau.

Innerhalb der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung herrschte lange Zeit die Auffassung, dass die Menschheit notwendigerweise immer und überall sämtliche Etappen, alle ökonomischen Entwicklungsstufen durchlaufen habe: jeder Stamm habe sich also zuerst mit Jagd, dann mit Viehzucht, schließlich mit Ackerbau und erst später mit Handwerk und Handel beschäftigt. Neueste soziologische Untersuchungen zeigen jedoch, dass Stämme häufig vom ursprünglichen Jäger- und Sammlerstadium direkt zum Ackerbau übergingen, also das Stadium der Viehzucht übersprangen. Entscheidend waren die geographischen und natürlichen Voraussetzungen, unter denen eine bestimmte Volksgruppe zu leben gezwungen war.

Das heißt also, dass sich unter unterschiedlichen natürlichen Bedingungen in der gleichen Epoche zwei grundverschiedene Haushaltsformen entwickelten: Ackerbau und Viehzucht. Es ist bewiesen, dass die Frauen der Landwirtschaft betreibenden Stämme wesentlich mehr Gleichheit genossen. Einige Bauernstämme hatten sogar ein matriarchalisches System (Matriarchat ist ein griechisches Wort, das die Vorherrschaft der Frau bezeichnet – es ist die Mutter, die den Stamm erhält). Das Patriarchat jedoch, d. h. die Vorherrschaft des Vaterrechts die Machtstellung des Stammesältesten –, entwickelte sich bei den viehzüchtenden Völkern, den Nomaden. Warum war das so und was zeigt es uns? Der Grund war natürlich die Rolle der Frau in der Ökonomie. Bei den Ackerbau betreibenden Völkern war die Frau der Hauptproduzent. Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass sie es war, die zuerst auf die Idee des Ackerbaus kam, sie war der „erste Arbeiter in der Landwirtschaft“. Eine Menge interessanter Tatsachen über die Rolle der Frau in den frühesten Formen der Haushaltungen finden wir in Marianne Webers Buch Das Mutterrecht. Die Autorin ist keine Kommunistin. Ihr Buch ist jedoch sehr informativ. Leider ist es nur auf deutsch zugänglich.

Auf die Idee des Ackerbaus kam die Frau folgendermaßen: Mütter mit Säuglingen wurden für die Zeit der Jagd zurückgelassen, da sie nicht imstande waren, mit den anderen Stammesmitgliedern Schritt zu halten und weil außerdem die Kinder die Jagd behinderten. Der Stamm ließ also die Mutter mit ihrem Kind allein zurück. Diese war gezwungen, zu warten, bis die anderen mit der Beute zurückkehrten.

Es war nicht einfach, neue Nahrung zu beschaffen, und oft musste sie lange warten. Sie hatte keine Lebensmittel vorrätig, sie war also gezwungen, diese durch eigene Arbeit zu beschaffen, um sich und die Kinder ernähren zu können. Daraus haben Wissenschaftler gefolgert, dass es mit größter Wahrscheinlichkeit die Frau war, die mit dem Ackerbau begann. Wenn der Vorrat an Früchten an der Stelle, an der sie die Rückkehr des Stammes abwartete, aufgebraucht war, musste sie nach Gras mit essbaren Samen suchen. Dies aß sie selbst und fütterte ihre Kinder damit. Während sie das Korn zwischen ihren Zähnen – den ersten Mühlsteinen – zermahlte, wurde ein Teil des Kornes dabei auf dem Boden verschüttet. Als die Frau nach geraumer Zeit an dieselbe Stelle zurückkehrte, entdeckte sie, dass das verschüttete Korn zu keimen begonnen hatte. Sie kennzeichnete diese Stellen. Sie wusste nun, dass es für sie vorteilhaft war, zurückzukommen, wenn das Gras reifte: Die Suche nach Nahrung würde sie weniger Anstrengung kosten. Sie wusste, wo sie in Zukunft die reichste Nahrung sammeln konnte. Durch Erfahrung lernten die Menschen also, dass Korn, das auf die Erde fiel, zu wachsen begann. Auf Grund der Erfahrung begriffen sie auch, dass die Ernte besser war, wenn sie den Boden vorher gelockert hatten. Doch diese Erfahrung wurde häufig wieder vergessen, da individuelles Wissen erst dann Stammeseigentum werden konnte, wenn es an das Kollektiv vermittelt worden war. Es musste erst weitergereicht werden an kommende Generationen. Die Menschheit musste eine unglaublich mühsame Denkarbeit leisten, bevor sie sich diese, für uns einfachen und leicht fassbaren Dinge verständlich gemacht und angeeignet hatte. Um dieses Wissen jedoch im Bewusstsein des Kollektivs verankern zu können, musste es zur Gewohnheit werden.

Die Frau war daran interessiert, dass der Klan oder Stamm an die alte Raststelle, wo das von ihr gesäte Gras wuchs, zurückkehrte. Aber sie war nicht imstande, ihre Stammesgenossen von der Richtigkeit dieses Haushaltsplans zu überzeugen. Sie konnte ihre Stammesgenossen nicht mündlich agitieren und sie auf diese Weise überzeugen. Statt dessen trug sie dazu bei, dass solche Regeln, Gewohnheiten und Vorstellungen, die ihre eigenen Pläne förderten, eingeführt wurden. Folgende Gewohnheit wurde zur Regel erhoben: hatte der Klan Mütter und Kinder bei Vollmond auf einem Feld in der Nähe eines Baches zurückgelassen, so befahlen ihm die Götter, nach einigen Monaten zum gleichen Feld zurückzukehren. Wer dies unterließ, wurde von den Geistern bestraft. Da der Stamm entdeckte, dass die Kinder schneller starben, wenn man nicht auf diese Regel achtete, d. h. nicht an den „Grasplatz“ zurückkehrte, so begann man schließlich, diese Sitten streng zu befolgen und glaubte an die „Weisheit“ der Frauen. Da die Frau an dem größtmöglichen Ertrag bei kleinstmöglichem Arbeitseinsatz interessiert war, entdeckte sie folgendes: je poröser der Boden bei der Aussaat, desto besser die Ernte. In Hockstellung ritzte sie mit Hilfe von Ästen, Hacken und Steinen Furchen in den ersten Acker. Es sollte sich zeigen, dass dies dem Menschen größere Geborgenheit gab als das Umherschweifen in Wäldern auf der Suche nach Früchten und beständig der Gefahr ausgesetzt, von Raubtieren zerrissen zu werden.

Auf Grund ihrer Mutterschaft nahm die Frau unter den Mitgliedern des Stammes eine besondere Stellung ein. Ihr verdankt die Menschheit die Entdeckung des Ackerbaus, einer neuen Kraft, die ihre ökonomische Entwicklung stark vorantrieb. Und es war diese Entdeckung, die für einen langen Zeitabschnitt die Rolle der Frau in der Gesellschaft und Wirtschaft bestimmte und sie an die Spitze dieses Landwirtschaft betreibenden Stammes stellte. Viele Wissenschaftler sind der Ansicht, dass auch das Feuer als wirtschaftliches Hilfsmittel der Frau zu verdanken ist.

Jedes Mal, wenn der Stamm zum Jagen oder Kriegen auszog, wurden diejenigen Frauen, die Mütter waren, zurückgelassen. Sie waren gezwungen, sich und ihre Kinder vor Raubtieren zu schützen. Junge Mädchen und kinderlose Frauen zogen mit den übrigen Stammesmitgliedern. Durch eigene Erfahrung wusste der Urmensch, dass Feuer den besten Schutz gegen Raubtiere gewährte. Bei der Bearbeitung von Steinen für die Herstellung von Waffen oder ersten Hausgeräten hatte man gelernt, Feuer zu machen. Zum Schutz für Kinder und Mütter wurde also, bevor der Stamm auf Jagd zog, ein Lagerfeuer gemacht. Für die Mütter war es eine heilige Pflicht, dieses Feuer, das die Raubtiere verscheuchte, am Brennen zu erhalten. Für die Männer war Feuer eine furchtbare, unbegreifliche, heilige Kraft. Die Frauen jedoch, die ständig damit umgingen, lernten die Eigenschaften des Feuers kennen und konnten diese deshalb zur Erleichterung und Einsparung eigener Arbeit einsetzen. Am Feuer versengte die Frau Federreste gerupfter Fasane, brannte ihre Tongefäße, um sie haltbarer zu machen, briet Fleisch, das sie so konservierte. Die Frau, durch ihre Mutterschaft un die Feuerstelle gebunden, bändigte das Feuer und machte es zu ihrem Diener. Aber die Gesetze der ökonomischen Entwicklung änderten dieses Verhältnis. Die Flamme des ersten häuslichen Herdes versklavte die Frau und verwandelte sie auf lange Zeit zu einer unterwürfigen und rechtlosen Dienerin am Küchenherd.

Die Vermutung, die erste Hütte sei von Frauen errichtet worden, um sich und die Kinder gegen stechende Hitze und Regen zu schützen, ist nicht ganz unberechtigt. Aber die Frauen errichteten nicht nur Wohnstätten, bearbeiteten den Boden, säten und ernteten Getreide usw., sie waren auch die Ersten, die begannen, Handwerk zu betreiben. Spinnen, Weben und Töpfern waren weibliche Erfindungen. Und jene Linien, die sie als Verzierung in die Tongefäße ritzten, waren die ersten künstlerischen Versuche der Menschheit, das erste Vorstadium der Kunst. Die Frauen sammelten Kräuter und lernten deren Eigenschaften kennen: Unsere Urmütter waren die ersten Ärzte. Diese, unsere Vorgeschichte, ist in alten Sagen und im Volksglauben bewahrt. In Griechenland, einer Kultur, die vor 2.000 Jahren ihre Hochblüte erlebte, wurde nicht der heidnische Gott Äskulap, sondern dessen Mutter Koronis als der erste Arzt angesehen. Zuvor waren Hekate und Diana als Göttinnen der Heilkunst betrachtet worden, bei den alten Wikingern war es die Göttin Eir. Auch heute finden wir noch in entlegenen Dörfern häufig alte Frauen, die als besonders klug gelten, ja denen sogar Zauberkräfte zugeschrieben werden. Das Wissen unserer Urmütter war deren Männern verschlossen, da diese sich beständig auf Jagd oder Kriegszügen befanden oder andere Tätigkeiten ausführten, die besondere Muskelstärke erforderten. Sie hatten ganz einfach keine Zeit zum Nachdenken und zu geduldigen Beobachtungen. Es war ihnen deshalb nicht möglich, wertvolle Erfahrungen über das Wesen der Natur zu sammeln und zu überliefern. „Vedunja“, die Zauberin, wird hergeleitet von „vedatj“, wissen. Wissen war also zu jener Zeit eine Eigenschaft der Frau, die vom Manne respektiert und gefürchtet wurde. Die Frau war deshalb in der Periode des Urkommunismus – der Morgenröte der Menschheit – dem Manne nicht nur gleichgestellt, sondern aufgrund einer Reihe von Erfindungen und Entdeckungen, die der gesamten Menschheit nutzten und die ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung vorantrieben, sogar überlegen. In bestimmten Perioden der Menschheitsgeschichte hat also die Frau für die Entwicklung der Wissenschaften und der Kultur eine wesentlich wichtigere Rolle gehabt, als die bürgerliche Wissenschaft mit all ihren Vorurteilen es heute zugeben kann. So haben zum Beispiel die Anthropologen, die sich mit der Lehre über die Entstehung der Menschheit befassen, die Rolle verschwiegen, die das Weibchen bei der Entwicklung unserer affenähnlichen Vorfahren zum Menschen gehabt haben muss. Die Menschen haben nämlich ihren aufrechten Gang, also den Übergang vom Vierbeiner zum Zweibeiner, weitgehend der Frau zu verdanken. Denn in Situationen, in denen unsere vierbeinige Urmütter sich gegen feindliche Angriffe wehren musste, lernte sie, sich mit dem einen Arm zu verteidigen, während sie mit dem anderen Arm ihr Junges festhielt, das sich an ihren Hals festklammerte. Dieser Anforderung konnte die Frau aber nur gerecht werden, indem sie halb aufrecht ging, was aber auch andererseits die Entwicklung des menschlichen Gehirns förderte. Der Preis, den die Frauen dafür bezahlten, war jedoch teuer, denn der weibliche Körper war nicht für den aufrechten Gang geeignet. Bei unseren vierbeinigen Verwandten, den Affen, sind Geburtsschmerzen völlig unbekannt. Die Geschichte von Eva, die vom Baume der Erkenntnis Früchte pflückte und dafür mit den Schmerzen des Gebärens bestraft wurde, hat also durchaus einen historischen Hintergrund.

Wir wollen jetzt aber erst einmal die Rolle der Frau in der Ökonomie der ackerbautreibenden Stämme etwas genauer untersuchen. Ursprünglich reichten die Erzeugnisse der Landwirtschaft für die Ernährung der Bevölkerung nicht aus, und deshalb wurde die Jagd auch weitergeführt. Durch diese Entwicklung entstand eine natürliche Arbeitsteilung. Der sesshafte Teil des Stammes, also die Frauen, übernahm die Landwirtschaft, während die Männer weiter auf die Jagd gingen oder in den Krieg zogen, d. h. also die benachbarten Stämme ausplünderten. Da jedoch der Ackerbau einträglicher war als die Jagd und die Ernteerträge von den Stammesmitgliedern mehr geschätzt wurden als der äußerst riskante Ertrag, den Jagd und Raubzüge ergaben, begann der Stamm mit dem Ackerbau als dem Fundament für seine ökonomischen Kalkulationen zu rechnen. Wer war in dieser Periode der Hauptproduzent der auf Ackerbau basierenden Ökonomie? Die Frauen! Es war deshalb ganz natürlich, dass der Klan die Frau respektierte und ihre Arbeit hoch bewertete. Es gibt selbst in unseren Tagen noch einen Ackerbau treibenden Stamm in Zentralafrika, die Balondas, in dem die Frau das am meisten „geschätzte“ Mitglied des Kollektivs ist. Der bekannte englische Forschungsreisende Livingstone berichtet: „Die Frauen sind im Rat der Ältesten vertreten. Zukünftige Ehemänner müssen in das Dorf ihrer zukünftigen Ehegefährtin umziehen und dort leben. Nach Abschluss des Ehevertrages verpflichtet sich der Mann, seine Schwiegermutter bis zu deren Tod zu versorgen. Nur die Frau hat das Recht, eine Scheidung zu verlangen, wonach sämtliche Kinder bei ihr bleiben. Ohne Erlaubnis der Ehefrau darf der Mann keinerlei Verpflichtung gegenüber Dritten eingehen, diese mögen noch so unbedeutend sein.“ Die verheirateten Männer wehren sich nicht, da sie sich mit ihrer Stellung abgefunden haben. Die Ehefrauen bestrafen ihre widerspenstigen Männer mit Prügel und Ohrfeigen oder durch Essensentzug. Sämtliche Mitglieder der Dorfgemeinschaft sind gezwungen, jenen, die „allgemeine Hochachtung“ genießen, zu gehorchen. Livingstone meint, dass im Balonda-Stamm zweifelsohne Gynäkokratie, das heißt Weiberherrschaft, ausgeübt wird. Doch dieser Stamm ist keineswegs eine Ausnahme. Auch andere Forscher behaupten, dass in jenen afrikanischen Stämmen, wo die Frauen die Äcker pflügen und besäen, Hütten bauen und ein aktives Leben führen, diese nicht nur völlig unabhängig, sondern auch dem Manne intellektuell überlegen sind. Die Männer dieser Stämme lassen sich durch die Arbeit ihrer Frauen versorgen, werden verweichlicht und schlapp. „Sie melken die Kühe und tratschen“, so haben es zahlreiche Forscher berichtet.

Die Urzeit bietet uns genug Beispiele von Frauenherrschaft. Teilweise wird bei den Ackerbau treibenden Stämmen die Abstammung der Kinder nicht vom Vater, sondern von der Mutter gerechnet. Und dort, wo Privateigentum entstanden ist, erben die Töchter und nicht die Söhne. Überbleibsel dieses Rechtssystems finden wir auch heute noch bei bestimmten kaukasischen Gebirgsvölkern. Die Autorität der Frau bei den ackerbautreibenden Stämmen wuchs ständig. Sie war es, die Sitten und Bräuche bewahrte und schützte, das heißt also, dass sie der wichtigste Gesetzgeber war. Die Befolgung dieser Sitten und Bräuche war eine absolute Lebensnotwendigkeit. Ohne sie wäre es äußerst schwierig gewesen, alle Stammesmitglieder zur Befolgung jener Bestimmungen zu bewegen, die sich aus den wirtschaftlichen Aufgaben ergaben. Die Menschen jener Periode waren nicht imstande, logisch und wissenschaftlich zu erklären, warum der Stamm zu einem bestimmten Zeitpunkt säen und ernten musste. Es war deshalb wesentlich einfacher zu sagen: „Bei uns herrscht diese Sitte, geschaffen von unseren Vorfahren, deshalb müssen wir das tun. Wer sich nicht daran hält, ist ein Verbrecher.“ Die Bewahrung dieser Sitten und Bräuche war die Aufgabe der Dorfältesten, der Frauen und Mütter, der lebenserfahrenen Greisinnen. Die Arbeitsteilung der sowohl Ackerbau als auch Jagd betreibenden Stämme führte dazu, dass die für Produktion und Haushaltung an den Wohnstätten zurückbleibenden Frauen ihren Verstand und ihre Beobachtungsfähigkeit entwickelten, während die Männer auf Grund ihrer Arbeitsaufgaben, der Jagd und der Kriegsführung ihre Muskeln stählten, körperliche Geschicklichkeit und Stärke entwickelten. In diesem Entwicklungsstadium war die Frau dem Mann intellektuell überlegen. Im Kollektiv hatte sie ganz selbstverständlich die leitende Stellung, das Matriarchat.

Hierbei dürfen wir nicht vergessen, dass man zu jener Zeit nicht fähig war, Vorräte anzulegen. Die Arbeitshände waren deshalb die „lebende Arbeitskraft“ und die natürliche Quelle für Wohlstand. Die Bevölkerung nahm nur langsam zu, die Geburtenzahlen waren niedrig. Deshalb wurde die Mutterschaft sehr hoch bewertet, und die Frau nahm als Mutter in den Urstämmen einen Ehrenplatz ein. Die niedrigen Geburtenzahlen lassen sich teilweise durch Inzest und Ehen zwischen Verwandten erklären. Dass Ehen zwischen Blutsverwandten die Geburtenziffern senken und damit die normale Entwicklung der Familie hemmen, ist ja bewiesen.

Während der Sammler- und Jägerperiode spielte die Größe des Arbeitskraftreservoirs innerhalb eines Stammes keine Rolle. Im Gegenteil, sobald ein Stamm zu groß wurde, entstanden Versorgungsschwierigkeiten. Solange sich die Menschheit von eingesammelten Früchten und von zufälligen Erträgen der Jagd ernährte, war also die Mutterrolle der Frau nicht besonders geschätzt.

Kinder und Greise waren eine schwere Belastung. Man versuchte, sie irgendwie loszuwerden, und es kam vor, dass man sie ganz einfach verspeiste. Jene Stämme jedoch, die sich durch produktive Arbeit versorgten, d. h. die ackerbautreibenden Stämme, benötigten Arbeiter. Bei ihnen gewann die Frau eine neue Bedeutung, diejenige nämlich, die neue Arbeitskräfte, Kinder, produzierte. Die Mutterschaft wurde religiös verehrt. In vielen heidnischen Religionen ist der höchste Gott weiblichen Geschlechts, so z. B. die Göttin Isis in Ägypten, Gäa in Griechenland, d. h. die Erde, die in der Urzeit als Quelle alles Lebens aufgefasst wurde.

Bachofen, bekannt durch seine Untersuchungen über das Matriarchat, hat nachgewiesen, dass das Weibliche in den Religionen der Urzeit über das Männliche dominierte, ein Beweis für die Bedeutung der Frau bei jenen Völkern. Die Erde und die Frau waren die wichtigsten und ursprünglichsten Quellen jedes Reichtums. Die Eigenschaften von Erde und Weib wurden als identisch dargestellt. Beide erzeugten und schenkten Leben. Wer es wagte, eine Frau zu kränken, kränkte gleichzeitig die Erde. Kein Verbrechen wurde als so schwer angesehen wie das, das sich gegen eine Mutter richtete. Die erste Priesterschaft, d. h. die ersten Diener der heidnischen Götter, waren Frauen. Es waren die Mütter, die über ihre Kinder bestimmten, und nicht die Väter, wie es in anderen Produktionssystemen üblich ist. Reste dieser Frauenherrschaft finden wir in den Sagen und Bräuchen der Völker des Orients und Abendlandes überliefert. Es war jedoch nicht ihre Bedeutung als Mutter, die ihr bei den ackerbautreibenden Stämmen zu jener dominierenden Stellung verhalf, sondern ihre Rolle als Hauptproduzent in der dörflichen Ökonomie. So lange die Arbeitsteilung dazu führte, dass sich der Mann nur mit der Jagd, einem Nebengewerbe, beschäftigte, während die Frau die Äcker bebaute – das wichtigste Gewerbe jener Zeit –, war es völlig undenkbar, dass sie sich dem Manne unterordnen würde oder in Abhängigkeit geraten könnte. Es ist also die Rolle der Frau in der Ökonomie, die ihre Rechte in Ehe und Gesellschaft bestimmt. Dies wird besonders deutlich, wenn wir die Stellung der Frau eines ackerbautreibenden Stammes mit der Stellung der Frau eines viehzüchtenden und nomadisierenden Stammes vergleichen. Beachtet nun, dass das gleiche Phänomen, die Mutterschaft, d. h. eine natürliche Eigenschaft der Frau, unter verschiedenen ökonomischen Verhältnissen entgegengesetzte Folgen hat. Durch eine Schilderung von Tacitus ist uns das Leben der heidnischen Germanen jener Zeit bekannt. Diese waren ein ackerbautreibender, gesunder, starker und kriegerischer Stamm. Sie schätzten ihre Frauen sehr und hörten auf ihren Rat. Bei den Germanen war es die Frau, auf deren Schultern die landwirtschaftliche Arbeit ruhte. Genau so geachtet war die Frau bei den tschechischen Stämmen, die Ackerbau betrieben. Es gibt eine Legende über die Weisheit der Fürstentochter Libussa, in der berichtet wird, dass die eine Schwester Libussas sich mit der Heilkunst beschäftigt habe, während eine andere Städte baute. Als Libussa an die Macht kam, wählte sie zwei kluge Jungfrauen, die besonders in rechtlichen Fragen bewandert waren, zu ihren Beratern. Diese Fürstin regierte demokratisch und befragte das Volk in allen wichtigen Angelegenheiten. Libussa wurde später von ihren Brüdern gestürzt Diese Legende gibt uns eine Vorstellung darüber, wie deutlich die Herrschaft einer Frau im Gedächtnis der Völker bewahrt blieb. Die Frauenherrschaft, das Matriarchat, wurde in der Phantasie des Volkes zum glücklichsten und gerechtesten Zeitalter, da der Stamm in jener Periode ja ein kollektives Dasein und Leben führte.

Welche Stellung hatte nun die Frau in einem Viehzucht treibenden Stamm? Ein Jägerstamm wechselte dann zur Viehzucht über, wenn die natürlichen Voraussetzungen dafür günstig waren (weite Steppengebiete mit reichlicher Grasvegetation, wilde Rinder- oder Pferdeherden) und wenn man über genügend kräftige, mutige und geschickte Jäger verfügte, die nicht nur fähig waren, ihre Beute zu töten, sondern auch lebendig einzufangen. Es waren vor allem die Männer, die über solche körperlichen Eigenschaften verfügten. Die Frauen waren dazu nur zeitlich begrenzt in der Lage, d. h. wenn sie nicht gerade Mutterpflichten hatten. Ihre Mutterschaft versetzte sie in eine besondere Lage und verursachte eine Arbeitsteilung entsprechend der Geschlechtszugehörigkeit. Wenn der Mann zusammen mit der unverheirateten Frau auf die Jagd zog, so wurde die Frau, die Mutter war, zur Bewachung der eingefangenen Herde zurückgelassen. Es war ihre Aufgabe, die eingefangenen Tiere zu zähmen. Aber dieser wirtschaftliche Einsatz hatte nur eine zweitrangige Bedeutung, er war untergeordnet. Sagt selbst: Wen wird der Stamm unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten höher bewerten, den Mann, der eine Büffelkuh einfängt, oder die Frau, die diese Kuh melkt? Selbstverständlich den Mann! Da der Reichtum des Stammes durch die Anzahl eingefangener Tiere bestimmt wurde, wurde logischerweise derjenige, der die Herde vergrößern konnte, als Hauptproduzent und Quelle für den Wohlstand des Stammes betrachtet.

Die ökonomische Rolle der Frau in den viehzüchtenden Stämmen war immer nur die einer Nebenperson. Weil aber die Frau wirtschaftlich gesehen weniger wert und ihre Arbeit weniger produktiv war, d. h. nicht im gleichen Maße den Wohlstand des Stammes förderte, entstand die Auffassung, die Frau sei auch sonst nicht dem Manne gleichwertig. Hier muss außerdem beachtet werden: Die Frau der viehzüchtenden Stämme hatte bei der Durchführung dieser untergeordneten Arbeit, dem Viehhüten, weder die gleichen Voraussetzungen noch das entsprechende Bedürfnis, regelmäßige Arbeitsgewohnheiten zu entwickeln, was bei den Frauen der ackerbautreibenden Stämme der Fall war. Entscheidend war aber, die Frau litt nie unter unzureichenden Vorräten, wenn sie einsam am Wohnplatz zurückgelassen wurde. Dies ist sehr wichtig, denn das Vieh, das sie zu hüten hatte, konnte jederzeit geschlachtet werden. Sie war deshalb nicht gezwungen, andere Arten der Versorgung oder Vorratsspeicherung zu erfinden, was ja bei den Frauen jener Stämme, die sowohl Jagd als auch Ackerbau betrieben, der Fall war. Außerdem war für das Viehhüten weniger Verstand nötig, als bei der komplizierten Arbeit in der Landwirtschaft.

Die Frauen der viehzüchtenden Stämme konnten sich intellektuell auf keine Weise mit den Männern messen und rein körperlich waren sie diesen, was Stärke und Gelenkigkeit betraf, völlig unterlegen. Das verstärkte natürlich die Vorstellung von der Frau als einem minderwertigen Geschöpf. Je reicher der Viehbestand eines Stammes war, um so mehr wurde die Frau zur Magd, wertloser als das Vieh, um so mehr wuchs die Kluft zwischen den Geschlechtern. Die Entwicklung zu Kriegern und Räuberhorden war außerdem typischer bei den nomadisierenden und Viehzuchttreibenden Völkern als bei jenen, die sich durch die Landwirtschaft ernährten. Der Reichtum der Bauern gründet auf friedlicher Arbeit, der des Viehzüchters und Nomaden jedoch auf Raub. Der letztere stiehlt zu Anfang nur Tiere, mit der Zeit jedoch plündert und ruiniert er die Nachbarstämme, zündet deren Vorräte an und macht Gefangene, die er zur ersten Sklavenarbeit zwingt.

Zwangsehe und Brautraub, die gewaltsame Entführung der Frauen aus den Nachbarstämmen, wurden vor allem von den kriegerischen Nomaden-Viehzüchtern praktiziert. Die Zwangsehe prägte eine ganze Epoche in der Geschichte der Menschheit. Sie hat zweifellos dazu beigetragen, die unterdrückte Stellung der Frau zu festigen. Nach einer solchen unfreiwilligen Trennung von ihrem eigenen Stamm fühlte sich die Frau besonders hilflos. Sie befand sich völlig in der Gewalt derjenigen, die sie entführt oder eingefangen hatten. Mit der Entstehung des Privateigentums führte die Zwangsehe häufig dazu, dass der heldenmütige Krieger auf seinen Beuteanteil in Form von Kühen, Pferden oder Schafen verzichtete und stattdessen völliges Besitzrecht über eine Frau, d. h. eine Arbeitskraft forderte. „Ich brauche weder Ochsen, Pferde oder zottige Ziegen. Gib mir nur das volle Besitzrecht über jene Frau, die ich mit eigenen Händen eingefangen habe.“ Selbstverständlich bedeutete für die Frau die Gefangennahme und Entführung durch einen fremden Stamm die Aufhebung ihrer Gleichberechtigung. Sie wurde dadurch in eine untergeordnete, rechtlose Stellung gegenüber dem ganzen Stamme, besonders aber gegenüber jenem, der sie eingefangen hatte – dem Manne –, versetzt. Trotzdem haben jene Forscher nicht recht, die die Ursache der permanenten rechtlosen Stellung der Frau in den Formen der Ehe sehen: Es war nicht die Eheform, sondern vor allem die ökonomische Rolle der Frau, die zu ihrer unfreien Stellung bei den nomadisierenden Hirtenvölkern führte. Die Zwangsehe kam zwar auch bei einzelnen ackerbautreibenden Stämmen vor, doch in solchen Fällen führte das nicht zu einer Verletzung der bei diesen Stämmen fest verankerten Rechte der Frau. Wir wissen durch die Geschichte, dass die alten Römer die Frauen der Sabiner raubten. Damals waren die Römer ein ackerbautreibendes Volk. Obwohl sie die Frauen anderer Völker unter Zwang entführten, wurden die römischen Frauen dennoch sehr respektiert, solange dieses ökonomische System vorherrschte. Auch heute noch gebraucht man, wenn man eine Frau beschreiben will, die die Hochachtung ihrer Familie und ein gewisses Ansehen in der Gesellschaft genießt, die Redewendung „sie ist eine römische Matrone“. Mit der Zeit verschlechterte sich jedoch auch die Stellung der römischen Frau.

Die Hirtenstämme kennen gegenüber der Frau keinerlei Achtung. Dort herrscht der Mann, und diese Männerherrschaft, das Patriarchat, existiert heute noch. Wir brauchen uns ja nur die nomadisierenden und Viehzuchttreibenden Stämme in den „Russischen Räterepubliken“ näher anzusehen: die Baschkiren, Kirgisen und Kalmücken. Die Stellung der Frau ist in diesen Stämmen im höchsten Grade beklagenswert. Sie sind Eigentum des Mannes, ein Stück Vieh; er kauft sie genauso, wie er etwa einen Hammel ersteht. Er verwandelt sie zu einem stummen Arbeitstier, einer Sklavin und einem Werkzeug zur Befriedigung seiner Gelüste. Eine Kalmückin oder Kirgisin hat kein Recht auf Liebe, sie wird für die Ehe gekauft. Der Nomaden-Beduine legt vor dem Kauf ein glühendes Eisen in ihre Hand, um festzustellen, wie zäh seine zukünftige Ehefrau ist. Wenn die Frau, die er sich eingehandelt hat, erkrankt, so jagt er sie aus dem Hause und ist überzeugt, dass er sein Geld für nichts verschwendet hat. Auf den Fidschi-Inseln hatte der Mann sogar bis vor kurzem das Recht, seine Frau zu verspeisen. Bei den Kalmücken darf der Mann, unter Berufung auf das Gesetz, seine Frau erschlagen, wenn sie ihn betrügt. Erschlägt jedoch die Frau den Mann, so dürfen ihr Ohren und Nase abgerissen werden.

Bei vielen wilden Stämmen der Vorzeit wurde die Frau so sehr als Eigentum des Mannes betrachtet, dass sie gezwungen wurde, ihm in den Tod zu folgen. Diese Sitte kam sowohl im alten Russland vor als auch in Indien: Die Frauen mussten einen Scheiterhaufen über dem Grabe ihres Mannes besteigen und wurden verbrannt. Dieser barbarische Brauch herrschte lange Zeit unter den amerikanischen Indianern ebenso wie unter den afrikanischen Stämmen und den Ureinwohnern Norwegens sowie den slawischen Nomaden des heidnischen Russlands. Das traf vor allem für jene südlichen Steppengebiete zu, die sich für die Viehzucht eigneten. Bei einer Reihe afrikanischer und asiatischer Völker gibt es feste Preise für den Kauf von Frauen, genauso wie für Schafe, Wolle oder Früchte. Es ist nicht schwierig, sich das Leben dieser Frauen vorzustellen. Ist ein Mann reich, so kann er sich mehrere Frauen kaufen. Diese verschaffen ihm kostenlose Arbeitskräfte und Abwechslung bei seinen sexuellen Vergnügungen. Während der arme Mann im Orient sich mit einer Frau begnügen muss, wetteifert die herrschende Klasse untereinander mit der Anzahl der gekauften Haussklavinnen. Ein Beispiel ist der König des wilden Aschantistammes, der sich 300 Weiber zugelegt hat. Indische Kleinfürsten prahlen mit ihren hunderten von Weibern. So ist es auch in der Türkei und in Persien, wo diese unglücklichen Frauen ihr ganzes Leben eingesperrt hinter Haremsmauern verbringen. Im Orient herrschen nach wie vor solche Verhältnisse. Dort existiert immer noch jenes uralte ökonomische System, das die Frau zu einem Dasein in Zwang und Sklaverei verurteilt. Aber dieser Zustand wird nicht durch die Ehe allein bestimmt. Welche Form die Ehe hat, hängt immer vom sozialen und ökonomischen System und der Rolle der Frau in diesem ab. Dies werden wir noch ausführlich in einer besonderen Vorlesungsserie erörtern. Es verhält sich nämlich folgendermaßen: Alle Rechte der Frau, sowohl die ehelichen, als auch die politischen oder gesellschaftlichen, werden einzig bestimmt durch ihre Rolle innerhalb des ökonomischen Systems.

Lasst mich das an einem aktuellen Beispiel demonstrieren. Es ist beklemmend zu sehen, wie rechtlos die Frau bei den Baschkiren, Kirgisen oder Tataren ist. Aber sobald ein Baschkir oder Tatar sich in einer Stadt niederlässt und sich dort die Frau ein eigenes Arbeitseinkommen verschafft, so sehen wir, dass die Macht des Mannes über die Frau gleichsam vor unseren Augen dahinschmilzt und geschwächt wird.

Um die heutige Vorlesung noch einmal kurz zusammenzufassen: Wir haben also gesehen, dass sich die Stellung der Frau in den zwei verschiedenen Stammesorganisationen der allerersten Entwicklungsstadien der Menschheit entsprechend den verschiedenen wirtschaftlichen Grundformen unterschied. Dort, wo die Frau der Hauptproduzent des wirtschaftlichen Systems war, genoss sie Hochachtung und große Rechte. Wenn ihre Arbeit für das wirtschaftliche System jedoch von untergeordneter Bedeutung war, geriet sie mit der Zeit in eine abhängige und rechtlose Stellung, sie wurde zur Dienerin, ja selbst zur Sklavin des Mannes.

Durch die zunehmende Produktivität der menschlichen Arbeit und durch die Anhäufung von Reichtum wurde das ökonomische System mit der Zeit komplizierter. Dies war das Ende des Urkommunismus und des Daseins in abgekapselten Stämmen. Der Urkommunismus wurde von einem ökonomischen System abgelöst, das auf Privateigentum und zunehmendem Tausch, d. h. Handel, basierte. Die Gesellschaft teilte sich nun in Klassen auf.

Über die Stellung der Frau in diesem System werden wir das nächste Mal reden.

2. Die Rolle der Frau im ökonomischen System der Sklaverei

Genossinnen, das letzte Mal brachen wir unseren Bericht ab, als wir zu jenem Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung gekommen waren, das durch den Übergang zu einem auf Privateigentum basierenden wirtschaftlichen System gekennzeichnet ist. Der Urkommunismus bestand Tausende von Jahren. Dies war ein wesentlich längerer Zeitabschnitt als die darauf folgende Periode, während der das Privateigentum entstand. Die Frau wurde auf Grund ihrer Rolle im wirtschaftlichen System der friedlichen ackerbautreibenden Völker jahrtausendelang geachtet und geschätzt. Während langer Perioden galt das Mutterrecht. Überlieferte Legenden und alte Volksmärchen dokumentierten, welch hohes Ansehen die Frauen jener Zeit genossen, so z. B. alle Erzählungen, die von den Taten der Amazonen handeln. Berichte über Amazonen sind uns unter anderem aus Griechenland, den Ostseeländern, aus Afrika und aus Böhmen bekannt. In einer dieser Sagen ist von 20.000 berittenen Amazonen die Rede, in einer anderen von einem Amazonenheer, das eine ständige Bedrohung Ägyptens, einem der mächtigsten Reiche jener Zeit, gewesen sein soll. Vor 2.000 Jahren griffen die Frauen eines kriegerischen germanischen Bauernstammes während eines Feldzuges der Römer aktiv in die Kämpfe ein und verjagten den Feind. Auch heute noch besteht die fürstliche Leibgarde eines bestimmten Stammes im afrikanischen Staat Dahome aus bewaffneten Frauen. Bei den Kurden, einer kaukasischen Volksgruppe, sind die Frauen für ihre Tapferkeit berühmt und nehmen an allen Kämpfen aktiv teil. All dies beweist eindeutig, dass die Frau in gewissen Phasen der sozioökonomischen Entwicklung nicht nur Produzent, sondern auch Soldat war. Die Mobilisierung aller verfügbaren Kräfte des noch schwachen Kollektivs zur gemeinsamen Verteidigung war damals absolut notwendig.

Letztes Mal kamen wir zu der Feststellung, dass die Frau jener Zeit höchstes Ansehen genoss. Sie wurde dank ihres Einsatzes als Hauptproduzent respektiert. Gleichzeitig war jedoch die Stellung der Frau bei den viehzüchtenden Stämmen eine völlig andere. Aber bevor diese unfreie Stellung der Frau sich allgemein durchgesetzt hatte, vergingen Jahrhunderte, an deren Ende von der Frauenherrschaft nur noch eine Legende übrig geblieben war. Die Vorherrschaft des Mannes, d. h. des Patriarchates und des Vaterrechts, entstand nicht von einem Tag zum anderen. Die alten Volksmärchen zeugen von einem Jahrhunderte währenden Kampf zwischen Matriarchat und Patriarchat. Die heidnischen Göttersagen sind ein gutes Beispiel dafür. Eine griechische Sage über die Abenteuer des riesenhaften Halbgottes Herakles erzählt von einer Reise zu einem Land, das von einem kriegerischen Amazonenstamm beherrscht wird. Der Reisende beschließt, mit der Weiberherrschaft aufzuräumen und die Männer zu befreien. Eine andere Sage schildert, wie die Götter Athens Frauen zum Verlust ihrer Rechte verurteilen, da diese ihr Wahlrecht dazu benutzt hatten, ihre Stadt nach der Göttin Athene, anstatt nach dem Gotte Poseidon zu benennen.

In uns bekannten germanischen Sagen, z. B. dem Nibelungenlied, wiederholen sich Erzählungen, in denen geschildert wird, wie mutige Krieger mit nicht weniger kampflustigen und schönen Frauen kämpfen müssen, bevor diese sich unterwerfen und ihre Ehefrauen werden. Die schöne Brunhilde konnte von ihrem Freier Gunther nur mit List besiegt werden. Doch selbst in der Brautnacht ergab sie sich nicht, kämpfte weiter und besiegte ihren Helden, den sie unters Dach hängte, während sie in aller Ruhe schlafen ging. Auch russische Volkslieder schildern, wie frei und gleichberechtigt die Frau nicht nur im Wirtschaftsleben, sondern auch auf dem Schlachtfeld war. So z. B. stößt der Held Dobrynja Nikititsch auf offenem Feld mit einem „fahrenden Ritter, einer stattlichen Frau“, zusammen, eindeutig eine Vertreterin eines Stammes, in dem immer noch das Mutterrecht vorherrschte. Dobrynja beginnt, sich mit ihr zu schlagen. Sie aber packt ihn an seinem lockigen Haar, stopft ihn in eine „große Tasche“ und erklärt ihm, dass sie ihn nur dann heiraten werde, falls es ihr behage. Dieser Lieder- und Märchenschatz gibt uns ein lebendiges Bild von dem Jahrhunderte währenden Kampf der Menschheit um Vater- und Mutterrecht. Dies zeigte sich auch in einer Veränderung der religiösen Vorstellungen. Der Höhlenmensch verehrte die Erde, die mächtige Urmütter, in deren Schoß alles Leben seinen Ursprung hatte. Dies dauerte solange, bis der Mensch aufgrund seiner Erfahrungen einsah, dass die Fruchtbarkeit der Erde auch vom Himmel abhing. Die Erde allein konnte eine gute Ernte nicht garantieren, solange der Himmel nicht mit Sonne und Regen entsprechend dazu beitrug. Genauso wie die Frau ohne männlichen Samen unfruchtbar bleibt, so kann auch die Erde ohne Feuchtigkeit und Wärme nicht grünen und Früchte tragen. Die Verehrung der Erde als einzigem Gott wich der Sonnenanbetung, den Göttern Osiris, Apollo und dem russischen Gott Jarilo. Die Frauenherrschaft, das Mutterrecht, dominierte, solange das Kollektiv durch gemeinsame Interessen verbunden war, und die Frau in diesem Kollektiv mit seiner primitiven Ökonomie als Hauptproduzent fungierte. Das Vaterrecht setzte sich im Zusammenhang mit der Entstehung des Privateigentums und den damit verbundenen Interessenkonflikten zwischen den verschiedenen Stammesmitgliedern durch. Die Zersplitterung des Stammes musste verhindert werden. Und dies nicht wie bisher auf Grund eines instinktiven Zusammenhaltens, vereint am gemeinsamen Herd, an dem die gemeinsame Mutter waltete, sondern auf Grund der Autorität des Stärkeren. Welche Folgen hatte die Entstehung des Privateigentums für die Stellung der Frau? Viele sind der Überzeugung, dass Leibeigenschaft und unmündige Stellung der Frau parallel zur Einführung des Privateigentums entstanden. Das ist nicht richtig. Das Privateigentum trug zwar zur Entmündigung der Frau bei, aber eben nur dann, wenn sie bereits auf Grund der Arbeitsteilung ihre Bedeutung in der Produktion eingebüßt hatte. Nehmen wir z. B. einen ackerbautreibenden Stamm. Dort wurde die Frau nur so lange respektiert, wie das ursprüngliche, ökonomische System noch nicht unter dem Druck sich häufender Reichtümer und wachsender Arbeitsteilung zusammengebrochen war.

Neben der Landwirtschaft, der hauptsächlichen Versorgungsquelle, entstanden in einem bestimmten Entwicklungsstadium verschiedene Berufe wie Töpfer, Gerber, Weber, Soldaten, Opferpriester usw., d. h. Fachleute auf verschiedenen Gebieten. Mit dem Anwachsen und Aufblühen des Handwerks verlor die Arbeit des Bauern mit der Zeit ihre Bedeutung als wichtigster Garant für das Überleben des Stammes. Und mit der Entstehung von Berufen beginnt notwendigerweise auch der Tauschhandel, mit anderen Worten also die Jagd nach Profiten. Der Töpfer, der einen Tonkrug macht, will nicht das Anrecht auf das Produkt seiner Arbeit und damit auf einen eventuellen Gewinn beim Tauschen verlieren. Der Bauer seinerseits versucht, unter geringsten Kosten in den Besitz der Produkte des Töpfers zu kommen. Jetzt strebt man also nicht mehr, wie noch zu Zeiten des Urkommunismus, vor allem danach, die Bedürfnisse des Stammes zu befriedigen. Die Profitjagd wird nun zur wirklich treibenden Kraft der Ökonomie.

In dieser Periode ist die Arbeit des Töpfers, Gerbers oder Webers mehr wert als die des Bauern. Man beginnt, die Arbeit des Bauern als minderwertig zu betrachten. Und dies nicht etwa, weil diese Arbeit nicht mehr das Fundament des wirtschaftlichen Systems gewesen wäre, sondern weil sie einen größeren Arbeitseinsatz erforderte. Hat das Handwerk eines Stammes ein hohes Entwicklungsniveau, so überlässt man die Arbeit in der Landwirtschaft den Sklaven, derer man sich im Krieg bemächtigt hat.

Welche Stellung hat die Frau in einem solchen wirtschaftlichen System? Wird sie nach wie vor respektiert, obwohl die Landwirtschaft, die ihr ursprünglich Respekt und Hochachtung bescherte, als minderwertige Arbeit, gerade noch gut genug für Sklaven, betrachtet wird? Hierfür ein aktuelles Beispiel aus der Geschichte: In Ägypten, einem Land mit sagenhaften Reichtümern und bedeutender Macht, überlebten lange Zeit Reste der ursprünglichen Herrschaft der Frau, des Matriarchats. Zur gleichen Zeit, als die Frauen überall, ja sogar in den hochentwickelten Kulturländern wie Griechenland und dem römischen Reich, abhängig und rechtlos waren, lebte die Ägypterin relativ frei und gleichberechtigt.

Wie lässt sich das erklären? An den überschwemmten Ufern des wasserreichen Nils blühte die Landwirtschaft wie sonst nirgends zu dieser Zeit. Der Stamm, der sich in Ägypten niedergelassen hatte, war also ein Bauernvolk. Wir wissen aber bereits, dass in einer früheren Phase der geschichtlichen Entwicklung die Frauen der Bauernstämme die Hauptproduzenten gewesen sind. Diese Rolle verschaffte der ägyptischen Frau Rechte und Privilegien, die sich über Jahrhunderte hielten, der Entstehung von Privateigentum und Kastenwesen zum Trotz. Erst als sich Handel und Handwerk mehr entwickelt hatten, begannen Kaufleute und Handwerker an Stelle der Bauern die Lebensweise zu prägen. Warum? Der Beruf des Kaufmannes oder Handwerkers lohnte sich eher, da er mehr Gewinn einbrachte als die Arbeit des Bauern. Sobald sich das Privateigentum durchgesetzt hatte, trat die Profitjagd an die Stelle einer Arbeit im Interesse des Gesamtkollektivs. Eine logische Konsequenz dieser Entwicklung war es dann, dass die Frau als Hauptproduzent des wirtschaftlichen Systems auf Grund der neuen Entwicklung ihre bisher geachtete Position einbüßte. Nur die Frauen jener Stämme und Kasten, die sehr alteingesessen und deshalb angesehen waren, konnten ihre Rechte behalten. Die Frauen der übrigen Volksschichten jedoch (von den Sklavinnen ganz abgesehen) waren zu jener Zeit genau so entrechtet und unterdrückt wie die Frauen in anderen Staaten.

Wir haben uns besonders eingehend mit Ägypten beschäftigt, da diese Kultur geradezu ein Musterbeispiel dafür ist, dass die Rechte der Frauen von ihrer ökonomischen Bedeutung abhängen. Außerdem sieht man daran, dass die ehemaligen Rechte der Frau wesentlich länger bei jenen Völkern überlebten, in denen sie ursprünglich als Hauptproduzent fungiert hatte. Dies galt auch dann, wenn das System des Urkommunismus von einem auf Privateigentum basierenden sozioökonomischen System abgelöst wurde.

Das Privateigentum hätte nicht zur Versklavung der Frau führen müssen, wenn sich nicht bereits vorher ihre Bedeutung als Hauptverantwortliche für die Versorgung des Stammes verloren hätte. Aber das Privateigentum und die Aufspaltung der Gesellschaft in Klassen formten und steuerten die wirtschaftliche Entwicklung, so dass sich die Rolle der Frau in der Produktion praktisch auf Null reduzierte. Die Unterdrückung der Frau hängt mit einer Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern zusammen, bei der die produktive Arbeit die Aufgabe des Mannes war, während die Frau nebensächliche Aufgaben übernahm. Je perfekter diese Arbeitsteilung wurde, desto abhängiger wurde die Frau, bis schließlich ihre Leibeigenschaft ein Faktum war.

Formal war die Einführung des Privateigentums der Wendepunkt eines Prozesses, in dessen Verlauf die Frau von der produktiven Arbeit abgeschnitten wurde. Doch diese Entwicklung hatte bereits im Urkommunismus begonnen (z. B. bei jenen Volksstämmen, die von Viehzucht lebten). Obwohl man das Privateigentum nicht als Hauptsache für die im Kollektiv vorherrschende Ungleichheit verantwortlich machen kann, so trug es doch wesentlich dazu bei, diese Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zu festigen und die Abhängigkeit und Unterdrückung der Frau zu verschärfen. Wichtigste Folge des Privateigentums war, dass der Einzelhaushalt sich aus der bisherigen einheitlichen und gemeinsamen Ökonomie des Stammes abkapselte. Die Existenz solcher selbständigen Haushalte verstärkte eine mehr und mehr geschlossene Familienform. Innerhalb dieser isolierten, individuellen Familienwirtschaft erfolgte dann noch eine zusätzliche Arbeitsteilung. Alle produktiven Arbeiten im Freien wurden von den männlichen Familienmitgliedern ausgeführt, während es das Los der Frau war, am Herd zu stehen. Das Privateigentum also, das die Familienhaushaltung ermöglichte, trug durch die beschränkte und unproduktive Hausarbeit zur Versklavung der Frau bei. Nationalökonomisch betrachtet, verlor die Frauenarbeit an Bedeutung, und die Vorstellung von der Frau als einem wertlosen Geschöpf und Anhängsel des Erzeugers neuer Werte, des Mannes, setzte sich durch.

Der Spaten und der Mühlstein – ursprünglich eine Erfindung der Frau, die ihn dazu benutzt hatte, die Nahrung der Kinder zu zerkleinern – wurden aus den Händen der Frau in die des Mannes überführt. Auch die Äcker waren nicht mehr das Reich der Frau. Ihr freies und ungebundenes Dasein unter offenem Himmel nahm ein Ende. Für Tausende von Jahren wurde sie zwischen die vier Wände ihres Heimes verbannt und von jeder produktiven Arbeit ausgeschlossen. Jetzt bewachte sie das Herdfeuer nicht mehr im Interesse des ganzen Stammes als eine kollektive Muttergestalt, sondern nur noch als die Ehefrau und Magd ihres Mannes. Sie hatte zu spinnen, zu weben und die Familie mit Kleidung und Essen zu versorgen. Zwar ist auch heute noch die Bearbeitung von Hanf und Flachs in der Landwirtschaft hauptsächlich Frauenarbeit, sie hat jedoch im Bauernhaushalt immer nur eine nebensächliche Bedeutung gehabt.

Ich hoffe, Ihr erinnert Euch noch im Großen und Ganzen an die letzte Vorlesung. Wir gehen jetzt zur Untersuchung der Frau im nächsten Stadium der ökonomischen Entwicklung über und befinden uns nun, 2500 Jahre zurückgerechnet, in der vorchristlichen Antike. Wir haben es jetzt nicht mehr mit wilden Volksstämmen zu tun, mit schwachen Ansätzen einer Zivilisation, sondern mit hochentwickelten Staatsgebilden, die über bedeutende und mächtige Heere verfügten und in denen sich das Privateigentum durchgesetzt hatte: Staaten mit scharfen Klassenunterschieden, blühendem Handwerk und Handel. Ihr ökonomisches System basiert auf Sklavenarbeit und einer Übergangsform von Naturhaushalt und einem mehr entwickelten Tauschhandel. Jetzt entsteht zum ersten Mal Kapitalakkumulation in ihrer elementarsten Form.

Welche Aufgabe hatte die Frau in dieser Phase der ökonomischen Entwicklung? Welche Rechte hatte sie in den alten heidnischen Republiken Griechenland, Rom und in der freien Stadt Karthago? Jetzt ist es bereits unmöglich, über die Rolle der Frau in der Produktion zu sprechen, ohne zuvor ihre Klassenzugehörigkeit zu bestimmen. Als das gesellschaftliche System jener Zeit ökonomisch seinen Höhepunkt erreicht hatte, war es in zwei voneinander eindeutig abgegrenzte Klassen aufgeteilt: die der freien Bürger und die der Sklaven. Geschätzt wurde nur die Arbeit der freien Bürger, obwohl die Sklaven für die Herstellung von Brot und allen übrigen lebensnotwendigen Produkten verantwortlich waren. Das Ansehen eines freien Bürgers stand in Proportion zu den Diensten, die er innerhalb des organisierten Staates verrichtete. Am meisten respektiert waren jene Staatsmänner, die imstande waren, das Kollektiv zu disziplinieren, und die für die Einhaltung von Gesetz und Ordnung im gesellschaftlichen Leben sorgten. Ihnen folgten dem Rang nach die Krieger. Kaufleute und Handwerker genossen nur unbedeutende Rechte, und die Sklaven, die wirklichen Erzeuger des Wohlstandes, waren völlig rechtlos. Wie war das möglich? Warum wurden die nützlichsten Mitglieder des Kollektivs, die unter der Periode des Urkommunismus zweifellos an erster Stelle gestanden hätten, von allen am meisten verachtet?

Die grundsätzliche Unverletzbarkeit von Privateigentum und Handel trug entscheidend zu dieser unnatürlichen Ordnung der Dinge bei. Wenn ein Grundbesitzer seine Sklaven effektiv organisieren, in Zucht halten und zur Erzeugung aller für die Versorgung der Bevölkerung notwendigen Waren zwingen konnte, so war er angesehen unter seinen Zeitgenossen. Man würdigte also einzig den Gewinn, den der Sklavenbesitzer aus der Arbeit seiner Sklaven zog. In solchen kulturell hochentwickelten Staaten wie Griechenland und Rom war die Frau, als diese Kulturen ihren Höhepunkt erreichten, völlig rechtlos, sie war Leibeigene. Aber auch in Griechenland ist die Stellung der Frau ursprünglich nicht immer so gewesen. Sie war eine andere in jener Vorzeit, als die Bevölkerung noch in kleinen Stammeseinheiten lebte und weder Privateigentum noch Staatsgewalt kannte. Ursprünglich waren auch die Griechen ein Ackerbau und Viehzucht betreibendes Volk. Sie waren jedoch aufgrund der klimatischen und geographischen Bedingungen der Halbinsel sehr früh gezwungen, zu einer komplexeren Ökonomie überzugehen. Die Frauen arbeiteten nicht nur in der Landwirtschaft, sie wurden auch in der intensiv betriebenen Viehzucht benötigt, beim Spinnen und Weben. Zu Homers Tagen – er hat das Leben der alten Griechen in seinen poetischen Schilderungen dargestellt – nahmen die Frauen Seite an Seite mit den Männern an der produktiven Arbeit teil. Damals waren sie zwar nicht völlig gleichberechtigt, jedoch relativ frei. Ob in Griechenland selbst jemals das Matriarchat existiert hat, ist heute schwer zu sagen. Da sich die griechische Bevölkerung sehr frühzeitig durch eine kombinierte Wirtschaftsform versorgte, können wir annehmen, dass in Griechenland das Matriarchat auf keinen Fall so verbreitet war wie etwa bei den Ägyptern und anderen Bauernvölkern. Dass jedoch die Frau im Leben der alten Griechen eine hervorragende Rolle spielte, ist aus ihrer Religion ersichtlich. Die Griechen verehrten die Fruchtbarkeitsgöttin Demeter. Beachtenswert hierbei ist, dass dieser Kult der Fruchtbarkeit galt und nicht nur einfach der Erde, wie zuvor geschildert in den primitiveren Entwicklungsstadien der Menschheit. In der Göttin Athene verehrten die Griechen die weibliche Klugheit, die der Menschheit das Handwerk und die Künste des Webens und Spinnens beigebracht hatte. Auch die Erfindung von Gewichten und den Anbau von Olivenbäumen führten sie auf Athene, d. h. aber in Wirklichkeit auf die Frauen ihrer Vorfahren zurück. Entsprechend reflektieren andere Religionen die Bedeutung der Frauen innerhalb des jeweiligen wirtschaftlichen Systems: die der alten Norweger zum Beispiel, die in früheren Zeiten die Göttin Idun als Beschützerin; und Gärtnerin des Apfelbaumes verehrte.

Bei den Griechen wurde das Recht nicht etwa durch die Gestalt des Richters, d. h. eines Mannes, sondern durch die der Göttin, der Frau mit den zwei Waagschalen symbolisiert; ein Zeichen dafür, dass in der Vorgeschichte Griechenlands Zank und Streit von der Frau, dem Oberhaupt der Familie, geschlichtet wurden.

Die Erfindung des Feuers war nach der Vorstellung der Römer der Göttin Vesta zu verdanken. Die unbefleckten Jungfrauen, die Vestalinnen, behüteten die heilige Flamme. In der griechischen Mythologie gibt es zahlreiche Beispiele für den Kampf zwischen Vater- und Mutterrecht. Dies wiederum zeigt uns, dass es eine Periode gegeben haben muss, in der die Frau als Mutter das wirtschaftliche System des Stammes steuerte.

Zu Homers Zeit durfte die Frau größeren Gastmählern beiwohnen und als Ehepartnerin war sie geschätzt und geliebt. Die Männer waren ihr gegenüber höflich und aufmerksam. Keineswegs war dies jedoch ein matriarchalisches System. Homer erzählt von Penelope, dem Musterbeispiel einer geduldigen Gattin, die auf ihren spurlos verschwundenen Ehemann wartet. Penelope vertrat während eines Festes die Ansicht, ihre Schwiegermutter habe nichts unter den Gästen zu suchen, sie solle sich lieber mit Hausarbeit im Frauengemach beschäftigen.

Bereits zu Homers Zeiten gab es die Ehe, das Privateigentum und den getrennten Einfamilienhaushalt. Es ist also nicht überraschend, dass die Griechen in jener ökonomischen Periode anfingen, den Frauen die „Familientugenden“ zu predigen und sie zu überreden versuchten, gegenüber den außerehelichen Seitensprüngen des Mannes nachsichtig zu sein. Diese vergrößerten ja nicht die Anzahl der Familienmitglieder, sondern ersparten dem Hausherrn außerdem unnötige Sorgen mit überflüssigen Kindern. Die Frau des Königs Priamos, Hekuba, beklagte sich bitter darüber, wie gebunden sie sei, sie empfände sich selbst wie „ein Kettenhund“ an der Tür ihres Gatten. Es ist wichtig, sich mit der Stellung der Frau in dieser Entwicklungsepoche des griechischen Staates, die auf dem Privateigentum und der Sklavenarbeit basierte, zu beschäftigen. Während der Blütezeit der griechischen Kultur, als prächtige Tempel errichtet wurden, berühmte Bildhauer die unsterblichen Statuen von Apollo und Venus schufen und die griechischen Städte die Metropolen des internationalen Handels waren, mit einem blühenden Handwerk, berühmten philosophischen Schulen, die Wiege der modernen Wissenschaft, büßte die Frau sämtliche althergebrachten Rechte und Privilegien ein und wurde zu einem Haussklaven ihres Herrn und Meisters, dem Ehemann. Gleichheit zwischen den Geschlechtern existierte damals einzig und allein bei den Sklaven. Aber was für eine Gleichheit war das? Sie waren gleichermaßen rechtlos, unfrei und unterdrückt, litten unter ununterbrochener schwerster und ermüdender Arbeit, ständigem Hunger und anderen Plagen. Die Lebensbedingungen der Sklaven lassen sich durch ihre rechtlose Stellung, die in enger Beziehung zu ihrem sozialen Status stand, erklären. Dass die griechischen Frauen, die freie Bürgerinnen der kulturell hochentwickelten griechischen Republiken waren, rechtlos waren und unterdrückt wurden, bedarf jedoch einer anderen Erklärung.

Natürlich waren die Frauen in Athen und Sparta Bürger mit Rechten, ja sogar mit Privilegien, wenn wir sie mit den Sklaven vergleichen. Ihre Privilegien genossen sie jedoch dank der Positionen ihrer Männer und nicht etwa auf Grund eigener Verdienste. Sie selbst waren als Menschen und Bürger völlig uninteressant und wurden lediglich als Anhang ihrer Männer betrachtet. Ihr Leben lang befanden sie sich unter Vormundschaft, erst unter der des Vaters und dann unter der ihres Mannes. Zu den Festen, die das öffentliche Leben in Griechenland prägten, hatten sie keinen Zugang. Die Bürgerinnen im freien Griechenland, in Karthago und in Rom kannten nichts anderes als ihren begrenzten Familienhaushalt. Sie waren vollauf damit beschäftigt, zu weben, zu spinnen, zu backen und Aufsicht über die Dienerschaft und die Sklaven des Hauses zu halten. Die reicheren Frauen waren auch von diesen Pflichten befreit. Sie verbrachten ihr ganzes Leben in den Frauengemächern, abgeschnitten und isoliert von jeder Form tätigen Daseins, in einer erstickenden Atmosphäre und nicht unähnlich jenem Eremitendasein, zu dem die Frauen und Mädchen der russischen Aristokratie viele hundert Jahre später verdammt waren. Der Satiriker Aristophanes beschreibt mit Ironie das Leben einer reichen Frau: „Sie trägt safrangelbe Kleider, macht sich hübsch mit roter Schminke, besitzt moderne Sandalen, lebt von der Arbeit des Mannes und der Sklaven und ist im übrigen ein Parasit“. Es kann uns also nicht wundern, wenn aus der Sicht des Mannes betrachtet ihre einzige Aufgabe das Gebären von Nachkommen war. Sie wurde fürs „Heim“ erzogen. Sie hatte „tugendhaft“ zu sein und das hieß, uninteressiert und dumm. Am beliebtesten war damals jener Frauentyp, dem man weder Gutes noch Böses nachsagen konnte. Einerseits konnte der Mann die Ehebrecherin als Sklavin verkaufen, andererseits konnte er sich selbst eine Geliebte anschaffen, für den Fall, dass sein tugendhaftes Weib ihn zu langweilen begann. Neben der gesetzlich sanktionierten Einehe war die illegale, jedoch allgemein akzeptierte Polygamie in Griechenland sehr verbreitet: „Als Kindergebärerin und Haushälterin eine gesetzliche Ehefrau, eine Sklavin zur Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse und zur Befriedigung des Intellekts und des Gefühlslebens eine Hetäre (Gefährtin)“.

In jenen aufgeklärten kulturell hochstehenden und auf ihre Reichtümer und Kleinode stolzen Republiken Griechenlands und in Rom war die Ehefrau eines freien Bürgers genau so rechtlos und abhängig wie jene Sklaven und Diener, über die sie im Namen ihres Mannes kommandierte. Ein weibliches Mitglied des Balondastammes lebte zwar in einer Bambushütte, war jedoch wesentlich freier und gleichberechtigter gegenüber dem Mann als ihre griechischen und römischen Geschlechtsgenossinnen jener Periode, selbst wenn diese in Marmorpalästen wohnten.

Wie war das möglich? Womit lässt sich diese Rechtlosigkeit der Frau erklären, obwohl gleichzeitig in diesen Gesellschaften ein ökonomischer und kultureller Aufschwung stattfindet? Es dürfte nicht schwer fallen, Genossinnen, das zu erraten. Ich kann an Euren Gesichtern ablesen, dass Ihr es verstanden habt. Die Frauen des afrikanischen Balondastammes beschäftigten sich mit produktiver Arbeit fürs Kollektiv, während die Kulturgriechin, wenn sie überhaupt etwas tat, sich auf Arbeiten innerhalb des begrenzten eigenen Haushaltes, der eigenen Familie beschränkte. In einem sehr frühen Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung war auch die Griechin eine wertvolle Arbeitskraft für das Kollektiv gewesen. Mit dem Aufkommen des Privateigentums jedoch und seitdem die Produktion auf der Sklavenarbeit beruhte, hatte sie sich mehr und mehr zu einem reinen Fortpflanzungsinstrument verwandelt. Merkt Euch also, Genossinnen, dass in so aufgeklärten Gesellschaften wie Griechenland oder auch im mächtigen Rom mit seinen zahlreichen Kolonien und in der freien und reichen Stadt Karthago, nicht einmal die Frauen der herrschenden Klasse irgendwelche Privilegien oder Rechte hatten. Allerdings müssen wir berücksichtigen, dass im Falle Griechenlands das Matriarchat nur schwach entwickelt gewesen war, das Patriarchat sich deshalb dort sehr früh durchsetzen konnte und die Frau schnell in starke Abhängigkeit geriet. In der Republik Rom dagegen existierten sogar noch Überreste des Matriarchats, als Rom bereits das mächtigste Reich der Welt war. Auch noch zu jener Zeit, als das Privateigentum gesetzlich geschützt war und die produktive Arbeit von Sklaven ausgeführt wurde, wurde der römischen Matrone immer noch mit Respekt und Hochachtung begegnet. Freie Bürger traten auf der Straße zur Seite, um ihr Platz zu machen. Zu Hause war ihre Autorität unbestritten, und es war die Mutter, die die Kinder erzog. Wie lässt sich dieser Unterschied erklären? Das Römische Reich wurde von einem Bauernstamm gegründet. Das Matriarchat war deshalb tief in der Vergangenheit dieser Gesellschaft verankert und beeinflusste diese auch noch in wesentlich späteren Entwicklungsstadien. Neben den unselbständigen Weibchen, den tugendhaften Ehefrauen-Parasiten, gab es in Griechenland eine selbständige Gruppe freier unabhängiger Frauen, die Hetären. Sie waren die Mätressen der mächtigen Männer Griechenlands. Die Hetären waren entweder freie Bürgerinnen oder freigekaufte Sklavinnen, die mutig die Grundsätze der damaligen Ehemoral übertraten. Viele dieser Hetären sind in die Geschichte eingegangen, so z. B. Aspasia, die Freundin des berühmten Staatsmannes Perikles, Lais, Phryne oder Lamia. Diese Frauen waren sehr gebildet und wissenschaftlich und philosophisch interessiert. Sie waren politisch aktiv und beeinflussten die Geschäfte des Staates. Sie wurden von den ehrbaren und tugendhaften Hausfrauen gemieden. Die Männer schätzten jedoch den Umgang mit ihnen. Die Philosophen und Denker jener Zeit wurden nicht selten von den Ideen und neuen Gedanken dieser gebildeten Hetären inspiriert. Mehrere Zeitgenossen haben die Freundschaft zwischen dem berühmten Philosophen Sokrates und Aspasia geschildert und von den brillanten politischen Reden jener Frau berichtet. Phryne inspirierte den berühmten Bildhauer Praxiteles und die Hetäre Lamia, die ungefähr 500 Jahre vor unserer Zeitrechnung lebte, spielte eine entscheidende Rolle bei der Verschwörung gegen zwei Tyrannen, die in der Republik die Macht an sich gerissen hatten. Sie wurde zusammen mit ihren Kameraden, die für die Freiheit gekämpft hatten, ins Gefängnis geworfen und grausam gequält. Sie biss sich jedoch, um nicht zur Verräterin zu werden, selber die Zunge ab und spuckte sie ihrem Richter ins Gesicht. Die Existenz der Hetären ist ein Beweis dafür, dass bereits damals die Frau versuchte, sich aus jener erdrückenden Gefangenschaft, die ihre Abhängigkeit ja bedeutete, zu befreien. Den Hetären jedoch fehlte die wichtigste und grundlegende Bedingung für einen Erfolg: sie führten keine produktive Arbeit aus. Für den Volkshaushalt waren sie deshalb genau so wenig wert wie die ungebildeten und prüden Haus- und Ehefrauen der griechischen und römischen Männer. Jene Freiheiten und Privilegien, die sie sich erkämpft hatten, waren auf losen Sand gebaut: in materieller Hinsicht waren sie nach wie vor von den Männern abhängig.

Es gab in Griechenland auch einzelne Frauen, die auf dem Gebiet der Kunst, der Wissenschaft und der Philosophie Außerordentliches geleistet haben, die versuchten, die Schatzkammer des menschlichen Wissens und der Kunst mit ihren Beiträgen zu bereichern. Die griechische Dichterin Sappho z. B. errichtete ihren Freundinnen eine eigene Schule. Agnidike, die erste Ärztin, hatte sich als Mann verkleidet, um sich zum Arzt ausbilden zu können, und begann nach abgeschlossenem Studium Kranke zu behandeln. In Alexandria lebte eine gelehrte Professorin und Philosophin, übrigens eine sehr schöne Frau. Um sie sammelte sich ein Kreis von Gelehrten und Interessierten aus allen Ecken der Welt. Diese Frau fand jedoch einen tragischen Tod. Sie wurde von einer unwissenden, von neidischen Priestern aufgewiegelten Volksmasse in Stücke gerissen. Dies geschah unter der Periode des frühen Christentums. Solche Frauengestalten voller Schönheit und Kraft zeigen uns, wozu die Frau imstande war, wenn man nicht ihren Verstand, ihr Herz und ihre Seele abtötete, indem man sie zu einem entwürdigenden Dasein zwischen den vier Wänden ihres Haushaltes verurteilte. Leider hatten diese wenigen mutigen Frauen keinerlei Bedeutung für die allgemeine Atmosphäre, die vom Parasitismus, der Müßiggängerei der Frauen geprägt war. Sie waren Ausnahmen und deshalb nicht fähig, die Lebensbedingungen der Frauen zu verändern, da ihre Rolle in der Ökonomie bedeutungslos geworden war. Zwar litten die Frauen sehr unter ihrer rechtlosen Stellung – einige wenige versuchten ihren eigenen Weg zu gehen –, doch verharrten die meisten in ihrer Rolle als Sklavin von Haushalt, Mann und Familie. Bezeichnenderweise fühlten die Frauen instinktiv, dass der individuelle Haushalt, das Privateigentum und die legale Ehe Haupthindernisse für die Befreiung der Frau waren. In „Die Weibervolksversammlung“, einer Komödie des berühmten griechischen Schriftstellers Aristophanes, werden die Frauen lächerlich gemacht, weil sie eine neue Ordnung einführen und die Geschicke des Staates in eigene Hände nehmen wollen. Interessant ist jedoch vor allem, dass die Heldin dieser Komödie, Praxagora, die Anführerin „gemeinsames Eigentum“ vorschlägt. „Ich fordere“, sagte Praxagora, „dass alles gemeinsam sein soll, dass alles allen gehören soll, dass es nicht mehr Reiche und Arme geben soll. Es soll nicht länger so sein, dass gewisse Leute über riesige Felder herrschen, während das Fleckchen Erde, das andere besitzen, knapp für einen Grabplatz ausreicht. Die Frau soll allgemeines Eigentum sein. Jeder habe das Recht, Kinder zu zeugen, mit wem er will.“ Dies war der Protest der Frauen gegen Privateigentum, Zwangsehe und Abhängigkeit ungefähr 400 Jahre vor unserer Zeitrechnung, d. h. vor 2.300 Jahren. Der Traum von einer kommunistischen Organisation, die die Frau aus ihrer Unmündigkeit erlösen konnte, musste so allgemein akzeptiert gewesen sein, dass ihn der begabte Satiriker Aristophanes in allgemein verständlichen und wohlbekannten Komödien-Figuren gestalten konnte. Es ist denkbar, dass die Frauen die Befreiung aus ihrer Situation in einem kommunistischen Organisationsideal suchten, weil durch den Volksmund die glückliche Vergangenheit der Frau im Urkommunismus überliefert worden war. Wie dem auch sei, die griechischen Frauen hatten völlig Recht mit ihrer Auffassung, dass die veränderte Rolle der Frau, ohne eine radikale Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse Griechenlands, die sich auf Klassengesellschaft und Sklavenarbeit gründeten, unmöglich war. Die Versuche einzelner Frauen, die große Masse der Frauen vor körperlicher und geistiger Versklavung zu retten, mussten daher erfolglos bleiben. Bevor der Traum Praxagoras Wirklichkeit wurde, sind mehr als zwanzig Jahrhunderte vergangen. Das heutige Russland jedoch ist ein lebender Beweis dafür, dass Praxagora Recht hatte, als sie glaubte, die Befreiung der Frau sei nur möglich durch Kommunismus, Freiheit und Gleichheit.

3. Die Stellung der Frau im geschlossenen Naturhaushalt

Genossinnen, unser letztes Gespräch endete mit der Beschreibung der Stellung der Frau in der Antike; als Privateigentum, Handel und Handwerk bereits existierten und die Arbeit durch Unfreiheit und Sklaverei geprägt war. Neben der Sklavenarbeit gab es natürlich bereits erste Ansätze eines freien Handwerks. Die produktive Arbeit der Unfreien war jedoch das Fundament dieses ökonomischen Systems. Die Frau war zu einem Leben zwischen den vier Wänden ihres Heimes verbannt und verlor mit der Zeit jegliche Bedeutung für das ökonomische System. Sie war nicht länger eine „Arbeitseinheit“, die auf die eine oder andere Art zum Wohlstand des Staates und der Gesellschaft beitrug. Ihre Rolle beschränkte sich darauf, entweder das „Weibchen“ zu sein, das dem Manne Kinder gebiert oder aber das Lustobjekt, in seiner groben Variante repräsentiert durch die Sklavin als Geliebte und in veredelter Ausgabe in Gestalt der Hetäre. Die herrschenden ökonomischen Verhältnisse verwandelten die Frau zum Parasiten der Gesellschaft.

Das Leben der Sklavinnen verlief außerhalb der Grenzen der etablierten Gesellschaft. Gebeugt unter das Joch schwerer Arbeit teilten sie das Los ihrer Leidensgefährten, der männlichen Sklaven. Sie mochten sich anstrengen wie sie wollten, ihr Arbeitseinsatz wurde nie als das gewürdigt, was er tatsächlich war: nämlich die eigentliche Quelle allen Wohlstandes.

Nicht die Arbeit, sondern das Einkommen, der Profit wurden gewürdigt. Mit der Zeit entstand in diesen alten, vorchristlichen Gesellschaften das erste Proletariat der Geschichte, und der Kampf zwischen den Klassen entflammte. Die antiken Staaten wurden sowohl auf Grund dieser Klassenkämpfe zerstört als auch wegen der Unvollkommenheit ihres Produktionssystems, das auf der höchst unproduktiven Zwangsarbeit von Sklaven basierte. Ein Staat nach dem anderen fiel diesem inneren Zerfallsprozess zum Opfer, wurde geschwächt und ging unter. Die Staaten der Antike wurden durch neue Völker mit anderen ökonomischen Systemen und Formen der Haushaltung verdrängt. Wir lassen deshalb die antiken Zivilisationen jetzt hinter uns zurück und gehen zu einer Periode über, die uns zeitmäßig näher liegt, dem Mittelalter.

In ganz Europa dominierte damals – das heißt vor 800 bis 900 Jahren – der Naturhaushalt, der von der Arbeit leibeigener Bauern und nicht mehr, wie während der Antike, der Sklavenarbeit abhängig war. Die Bauern lieferten nicht mehr ihren gesamten Arbeitsertrag an den Großgrundbesitzer ab. Ein Teil der Produkte wurde nun dazu benutzt, die Lebensbedingungen der Leibeigenen zu verbessern. Zwar musste der Leibeigene Steuern in Form von Naturalien oder Tagewerk an den Feudalherrn entrichten. Ein Teil der Produkte verblieb jedoch in seinen Händen. Mit diesen konnte er tun, was er wollte. Er konnte sie, insofern Handel überhaupt vorkam und Gebrauchswaren vorhanden waren, nach Belieben eintauschen. An solchen Umschlagplätzen entstanden Märkte für die Bauern. Diese entwickelten sich nach und nach zu festen Tausch- und Handelsplätzen, d. h. Städten. Befanden sich diese Städte auf dem Boden des Gutsherrn, so betrachtete sich dieser als ihr Herrscher und besteuerte auch sie. Es gab jedoch auch freie Städte, die sich von dem Zugriff der Bojaren und Ritter befreit hatten. Unsere freien Städte Nowgorod und Pskow sind Beispiele dafür.

Die Bevölkerung war in drei Klassen aufgeteilt: die der Grundbesitzer, die der Bauern und die der Bürger. Während der Blütezeit des Mittelalters, d. h. zwischen 900–1300, war die Stellung der Frau höchst unterschiedlich, je nachdem, welcher Klasse sie angehörte. Innerhalb jeder einzelnen gesellschaftlichen Klasse wurde sie jedoch durch denselben Faktor bestimmt: und zwar durch ihre Rolle in der Produktion. Wir wollen als erstes die Lebensbedingungen des Hochadels und der Bojaren untersuchen. Das ökonomische System baute, als der Feudalismus seinen Höhepunkt erreichte und die Macht in den Händen der Großgrundbesitzer und des Adels lag, auf dem Naturhaushalt auf. Das bedeutete jedoch, dass alle Gebrauchsgüter, die der adlige Großgrundbesitzer – Feudalherr über riesige Ländereien – und dessen leibeigene Bauern benötigten, von den Leibeigenen selbst innerhalb der Grenzen des Gutes hergestellt wurden. Tauschhandel war ungewöhnlich. Lebensweise und Haushaltung jener Zeit sind uns durch zeitgenössische Schilderungen überliefert.

Damals war die Burg des feudalen Gutsbesitzers das ökonomische Zentrum. Die Dienerschaft bestand aus leibeigenen Bauern. Alles, was für ein Leben in der Burg benötigt wurde – und diese hatte zahlreiche Bewohner, zunächst einmal die Familie und Verwandtschaft des Burgherrn, dann die Gäste, die Dienerschaft, Wächter und Soldaten –, wurde auf dem Gebiet des Gutes hergestellt. Die leibeigenen Bauern bezahlten ihre Pacht, indem sie Rohwaren – Tierhäute, Wolle, Fleisch und Getreide – an die Burg, in Russland an den Herrenhof des Adeligen lieferten. Die eigentliche Bearbeitung und Veredelung dieser Rohwaren wurde in der Burg vorgenommen. Der Haushalt des Feudalherren war äußerst kompliziert und erforderte deshalb einen geschickten Organisator. Wer war für gewöhnlich während des Mittelalters in Frankreichs. Englands und Deutschlands Burgen der Organisator der Burghaushaltung? Etwa der Gutsbesitzer, Feudalherr, Ritter selbst? Im Allgemeinen war der Herr des Hauses als Krieger oder Straßenräuber auswärts beschäftigt. Die komplizierte Verwaltung der Burg überließ er deshalb seiner Frau. Sie überwachte, dass die Bauern rechtzeitig ihre Steuern bezahlten. Unter ihrer Aufsicht arbeiteten Schneider, Schuhmacher, Schmied und andere Handwerker. Man webte feines Tuch und grobes Leinen, klöppelte Spitzen und schmiedete Helme. Die Burgfrau war auch dafür verantwortlich, dass das Getreide gemahlen wurde und die Vorräte für den Winter oder eine eventuelle Belagerung ausreichten. Im Keller der Burg lagerten tausende Liter Wein und Bier, in den Magazinen waren alle erdenklichen Waren gespeichert. Was immer auch in der Burg verbraucht wurde, sei es nun vom Hausherrn selbst oder seinen Gästen, sei es von den Dienern oder den Soldaten, es musste zunächst einmal aus eigenen Kräften hergestellt werden. Gekauft konnte nichts werden. Zwar besuchte der Kaufmann, ein seltener, gern gesehener Gast, bisweilen die Burg. Doch für gewöhnlich handelte er nur mit ausländischen Waren und Luxusartikeln: orientalischer Seide, geschliffenem venezianischen Glas, wertvollen Waffen und Edelsteinen. Über die Stellung der Frauen, die der herrschenden Klasse angehörten, lässt sich zweifellos sagen, dass sie als Organisatoren der Produktion respektiert wurden. Das ging so weit, dass nach deutschem, englischem und französischem Recht die Ehefrau Titel und Besitztümer ihres Mannes erben konnte.

Zu Beginn des 11. Jahrhunderts wurde dieses feudale Erbrecht in England, Flandern, Burgund und Kastilien Gesetz, nachdem die blutigen Kreuzzüge die männlichen Erben von Titeln und Besitztümern stark dezimiert hatten. Die Chroniken des Mittelalters besingen eifrig die Klugheit und Menschenfreundlichkeit der weiblichen Verwalter jener feudalen Besitztümer. Ihr ganzes Volk trauerte, als Eleonore, Herrscherin von Aquitanien, den König von Frankreich ehelichte. Aus den Chroniken erfahren wir, wie Eleonore sich um ihre Untertanen kümmerte, wie sie versuchte, den Handel durch Abschaffung allzu hoher Zölle zu erleichtern und dass sie die Selbstverwaltung der Städte gesetzlich garantierte, um diese vor der Willkür der Großgrundbesitzer zu schützen. Wir erfahren auch, welch große Wohltäterin sie war. Ähnlich rühmt Geschichtsschreibung und Volksmund Anna von Bretagne. Die Fürstin Olga, die als erste Russin aus fürstlichem Haus zum Christentum übertrat, lebt noch immer in der Erinnerung des Volkes als eine weise Herrscherin. Nach altem französischen Recht ging die Macht des Vaters über seine Familie im Falle seines Todes oder während seiner Abwesenheit auf die Mutter über. Sie wurde als Vormund ihrer Kinder betrachtet. Wie ihre Männer, die regierenden Grafen und Fürsten, so hatten auch die Frauen der führenden Familien Richterfunktionen. Äbtissinnen hatten entsprechende Privilegien. Dieses Recht der Urteilssprechung wurde innerhalb der Familien sogar an junge Mädchen vererbt. Frauen saßen als Beisitzer in den Gerichten jener Zeit und trugen Richterhüte. Während der Abwesenheit des Fürsten war die Gattin nicht nur Herrin über seine Leibeigenen, sondern auch über seine sogenannten Vasallen, die Besitzer jener kleinen Ländereien, die direkt vom Feudalherrn abhängig waren. Es war die Pflicht der Gattin, die Ehre des Familienwappens zu bewahren. Bei Festen und Turnierspielen saß sie auf dem Ehrenplatz. Ritterduelle waren nämlich für die damalige „high Society“ ein beliebter Zeitvertreib. Die Frauen jener Kreise wurden von Rittern schwärmerisch verehrt, von Troubadouren und Minnesängern gepriesen. Höchste Pflicht jedes Ritters war es, „die Frau zu verteidigen“. Begegnete ein Ritter einer Frau, so stieg er vom Pferde. Jeder Ritter hatte eine „Dame seines Herzens“, die er auf Abstand bewunderte ohne die geringste Hoffnung auf Erwiderung seiner Gefühle. Solche Ehrerbietung wurde jedoch nur den Frauen der besitzenden Klasse oder Frauen von adeligem Blut zuteil. Pflichtgefühl und Ehrerbietung der Ritterschaft galten niemals den Frauen der übrigen Bevölkerungsschichten.

Während man der Frau in ihrer Eigenschaft als Repräsentantin des adeligen Standes einen gewissen Status einräumte, da ja ihre Rolle als Organisatorin des Burghaushaltes zur Stärkung der Macht des Feudalherren beitrug, trat man gleichzeitig ihre Rechte als Mensch und Individuum mit Füßen. Die mächtige Herzogin oder Markgräfin, vor der Hunderte von leibeigenen Bauern zitterten, und der auch die jungen Adelsherren nicht zu trotzen wagten, da sie der damaligen Sitte entsprechend bei Abwesenheit ihres Mannes das Ruder in der Hand hielt, bebte und zitterte vor ihrem eigenen Manne und war den Sitten und Gesetzen jener Zeit entsprechend seine Sklavin und sein Eigentum.

Während jener Jahrhunderte, als der Adel an der Macht war, herrschte das Faustrecht, das Recht des Stärkeren. Der Ritter, der Grundbesitzer war, verdankte seine Macht Raubzügen und Gewaltverbrechen. Das Familienoberhaupt war gezwungen, die Herrschaft über seine Untertanen, Vasallen und Leibeigenen aufrechtzuerhalten und seine unbestrittene Autorität auf sämtlichen Gebieten zu wahren. Die Macht des Vaters und Ehemannes hatte in der Antike niemals solche grotesken Formen angenommen, wie es im Mittelalter der Fall war. Das Familienoberhaupt, der Großgrundbesitzer, paralysierte mit seinem Schreckensregiment alle. Sein Recht über Gattin und Kinder war uneingeschränkt. Er durfte z. B seine Frau foltern, sie lächerlich machen, verjagen oder sie mit seinem Lieblingspferd oder seinem von den Sarazenen eroberten Säbel zusammen einem Freund vermachen. Noch bis ins 12. Jahrhundert konnte er sie verschachern. War sie ihm gar untreu oder machte sie sich auf andere Art schuldig, so war es sein gutes Recht, sie zu töten. So allmächtig war der Mann jener Zeit. Jene stolze und vornehme Gräfin, die sich nicht einmal dazu herabließ, den Gruß eines untergebenen Ritters zu beantworten, kroch auf den Knien vor ihrem Gatten, wenn dieser schlecht gelaunt sein sollte und fügte sich wortlos seinen Schläger und Folterungen.

In England hatten bei den Parlamentswahlen außer den feudalen Grafen und Fürsten auch noch die Besitzer größerer Ländereien ein Stimmrecht. Ihre Frauen verloren diese Rechte erst nach und nach, und zwar in dem Maße, wie die gesellschaftliche Gesamtstruktur sich so veränderte, dass die Voraussetzungen für die bürgerliche Gesellschaft entstanden. (Noch zu einem so späten Zeitpunkt wie dem 17. Jahrhundert bemühte sich die englische Großgrundbesitzerin Anne Clifford um die Rückerstattung ihrer ursprünglichen Rechte.) Gleichzeitig konnte der betrogene Ehemann seine Frau auf dem Markt zum Verkauf anbieten. Wie aber kann man diesen widersprüchlichen Charakter der Stellung dieser Frauen aus der Klasse der Großgrundbesitzer erklären? Ganz einfach: Familie und Sippe hatten im Feudalismus völlige Kontrolle über die einzelnen Mitglieder, und innerhalb der Familie hatte zu jener Zeit, die durch allgemeine Rechtsunsicherheit und Räubermentalität geprägt war, derjenige die größte Macht, der am besten die Interessen der Familie und Verwandtschaft gegenüber der feindlichen Umwelt verteidigen konnte.

Wie nützlich und notwendig auch immer die organisatorischen Leistungen der Frau für den Burghaushalt gewesen sein mögen, so wurde dennoch das Kriegshandwerk höher bewertet. Denn auf welche Art wuchsen nun einmal die Einnahmen und Reichtümer eines Fürsten oder regierenden Grafen am bequemsten und sichtbarsten? Ganz klar, die Ausplünderung der Nachbarn und der Bauernschaft vergrößerte das Vermögen der Familie schneller als friedliche ökonomische Arbeit. Deshalb hatte auch die organisatorische Arbeit der Frau in den Augen des Adels nur eine zweitrangige und untergeordnete Bedeutung. Dass es möglich war, sich auf diese Weise, das heißt durch Plünderung fremden Eigentums, zu bereichern, festigte natürlich die Popularität des arbeitsfreien Einkommens. Dies wiederum führte zur Verachtung gegenüber jeder Form von Arbeit. Diese Umstände erklären den widersprüchlichen Charakter der Stellung der Frau: auf der einen Seite hatte sie als Gattin des Feudalherrn Anrecht auf Titel und Eigentum und war absolut Herrin über ihre Untertanen – es kam häufig vor, dass Frauen über Königreiche herrschten –, sie hatte die gleiche uneingeschränkte Macht über Leibeigene wie ein Mann in entsprechender Stellung, das heißt, dass sie ihre Leibeigenen verjagen, bestrafen, foltern, ja totschlagen konnte, auf der anderen Seite jedoch besaßen diese Frauen, was ihr Verhältnis zum Familienoberhaupt betraf, nicht einmal die elementaren menschlichen Rechte. Was ihre Stellung in der Ehe betraf, so waren die Ehefrauen der Großgrundbesitzer im Mittelalter genauso rechtlos und unterdrückt wie einst die Frauen der viehzüchtenden Stämme.

In Russland war die Stellung der Frauen aus dem Adel noch weniger beneidenswert. Diese hatten nämlich nur während einer äußerst kurzen Übergangsperiode in der russischen Geschichte an der Arbeit aktiv teilgenommen und als Organisatoren der Wirtschaft fungiert. Sie wurden frühzeitig von männlichen Verwandten und Verwaltern verdrängt. Die Aufgabe der Bojarenfrau bestand seitdem einzig und allein darin, für Nachkommen zu sorgen, die den Namen des berühmten alten Geschlechtes weitertragen sollten.

Das Vaterrecht setzte sich in Russland sehr früh durch. Die Herrschaft der Tataren (eines viehzüchtenden Nomadenstammes, dessen Frauen völlig unterdrückt waren) bestätigte eigentlich nur die bereits existierenden Verhältnisse, d. h. die uneingeschränkte Macht des Mannes über die Frau. Dennoch wurden lange Zeit, bis ins 11 Jahrhundert hinein, die Überreste eines lange zurückliegenden Matriarchats durch den Volksmund bewahrt. Die russische Frau des Altertums soll ohne besondere Erlaubnis ihres Mannes über Besitz verfügt haben. Sie nahm an Gerichtsverhandlungen teil und fungierte als Schiedsrichter. Und in den ersten russischen Gesetzen – das „russische Recht“ wurde im 12. Jahrhundert aufgezeichnet – wird die Verwandtschaft von der mütterlichen Seite abgeleitet und nicht von der väterlichen. Ein eindeutiger Beweis dafür, dass unter den slawischen Völkern des Altertums eine Kombination von Matriarchat, Urkommunismus und landwirtschaftlicher Ökonomie vorherrschte. Das Vaterrecht setzte sich in Russland erst mit dem Übergang zu komplizierteren Haushaltsformen und nach der Einführung der Viehzucht durch. Die geographischen Bedingungen Russlands waren besonders geeignet für Viehzucht. Die Viehzucht erforderte nicht nur weniger Arbeitseinsatz, sondern war gleichzeitig auch noch ergiebiger. So kam es, dass der Ackerbau bald nur noch eine untergeordnete Rolle im wirtschaftlichen System des alten Russland spielte. Aber unter den Bauernstämmen im nördlichen Russland blieb die Erinnerung an die ursprüngliche Machtstellung und Bedeutung der Frau im wirtschaftlichen System lebendig. Sie lebte weiter in jenen Volksliedern und Balladen, die auch dann noch gesungen wurden, als die Frau des Grundbesitzers unterdrückt und die Bauersfrau zu einem Lasttier in der Produktion herabgewürdigt waren.

Falls Ihr besonders am Schicksal der russischen Frau interessiert seid, so beschafft Euch Schischkows Buch über die Geschichte der russischen Frau. Dort könnt ihr zahlreiche, äußerst interessante Beschreibungen finden, die schildern, wie die Frau mehr und mehr zur Familienmagd wurde. Dies war übrigens ein Prozess, der parallel zur Einführung des Privateigentums und der Durchsetzung des Faustrechts verlief. Die Ahnungslosigkeit der jungen, aristokratischen Frau und ihre untergeordnete Stellung gegenüber der Familie wurden verstärkt durch die Bürde, die die Erwartung der Sippe an sie bedeutete. Über ihr Glück und Schicksal bestimmten andere: Beim Hochadel entschied vor allem der Vater, aber auch andere ältere Familienmitglieder redeten ein Wort mit, wenn es um die Wahl des Partners ging. Ihre Hochzeit war eine Familienangelegenheit. Es ging darum, die Interessen des Hauses zu schützen. Ehen wurden nicht aus Zuneigung, sondern allein auf Grund materieller Überlegungen geschlossen. Entweder versuchte man den eigenen Besitz durch die Mitgift der Schwiegertochter zu erweitern oder einen widerspenstigen Nachbarn zu besänftigen, indem man ihm selbst oder einem seiner Söhne die eigene Tochter zur Frau gab. Es ging darum, Macht, Vermögen oder Titel des eigenen Hauses zu verdoppeln, indem man zwei Titel usw. miteinander vereinte. Das also waren die Gründe, die hinter den Eheschließungen standen. Häufig hatten die Verlobten einander bis zur Eheschließung noch nicht gesehen. Oft kamen die Bräute von entlegenen Gebieten und schon fünf- bis siebenjährige Kinder wurden durch Verlobung gebunden. Im Mittelalter war die Eheschließung zwischen Minderjährigen normal. Der ruinierte und völlig verarmte Graf von Bouillon z. B. heiratete ein 12jähriges Mädchen wegen der reichen Mitgift. Der Marquis d’Eauoise verlobte sich gar mit einem zweijährigen Kinde, da sich der künftige Schwiegervater dazu bereiterklärte, einen Teil der Mitgift schon im Voraus durch jährliche Auszahlungen an den Verlobten zu übergeben. Die kluge und berechnende Gräfin Adelaide von Savoyen versprach dem deutschen Thronfolger die Hand ihrer minderjährigen Tochter Berta, obwohl der Bräutigam und auch die Braut noch keine sechs Jahre als waren. Es kam sogar vor, dass vorausplanende Eltern nach Bräuten für ihre noch ungeborenen Söhne Ausschau hielten. Die Rechtlosigkeit des Jünglings und des jungen Mädchens der Sippe gegenüber war in dieser Frage gleich groß, ihre Eheschicksale wurden von der Sippe gemeinsam entschieden.

Eine derartige Vergewaltigung der individuellen Interessen war bei unseren russischen Bauern noch relativ lange üblich. Dabei ging es um die ökonomischen Interessen des Bauernhofes. Ehen wurden über die Köpfe der Kinder hinweg zwischen den Eltern beschlossen. Erst die Revolution hat mit dieser aus dem Mittelalter stammenden Unsitte aufgeräumt, indem sie das veraltete Vaterrecht völlig abschaffte. Man kann sich vorstellen, was für ein Leben eine Frau führte, die gegen ihren Willen auf Beschluss der Eltern geheiratet hatte und deren Mann außerdem das Gesetz auf seiner Seite hatte. Für den Hochadel jener Zeit hatte die Ehe nur eine Aufgabe: sie sollte garantieren, dass die berühmte Sippe nicht ausstarb. Die Fähigkeit einer Frau, Kinder zu gebären und damit Nachkommen zu gewährleisten, wurde deshalb besonders hoch bewertet. Darum wurde sie auch so grausam für ihre Untreue bestraft. Wenn sie einen Bastard in die Familie einbringen würde, würde sie ja deren edles Blut beschmutzen. Der Mann war nicht nur laut Gesetz dazu berechtigt, seine Frau, wenn sie ihn betrogen hatte, schimpflich zu vertreiben, er durfte sie auch foltern oder gar töten. Die Familieninteressen erzwangen Schutzmaßnahmen gegen etwaige Missheiraten. Sollte ein gewöhnlicher Sterblicher sich dazu erdreisten, sein primitives Blut mit dem einer blaublütigen Aristokratentochter zu vermischen, so wurde sie enterbt und in ein Kloster gebracht oder getötet. Die Kinderlosigkeit einer Frau wurde nicht nur als Unglück angesehen, sondern auch als Scham. Ein Mann, dessen Frau ihm keine Erben geben konnte, durfte sich ohne weiteres scheiden lassen. Zahlreiche Ehefrauen von Gutsherren und Rittern waren zu ewigem Zölibat im Kloster verurteilt, während sich ihre Männer andere Frauen nahmen. Das Frauenideal jener Zeit war eine gesunde und fruchtbare Frau, die außerdem einen Haushalt leiten und verwalten konnte. Wie wichtig die Fruchtbarkeit einer Frau in jener Periode war, geht aus der Legendenflora hervor, die sich um dieses Thema spann. Es wird z. B. erzählt, die Gattin des Grafen Henneberg habe 364 Kindern das Leben geschenkt. Bei der Taufe hätten alle Knaben den Namen Iwan erhalten, die Mädchen den Namen Elisabeth. Kinder zu gebären war jedoch nicht ausreichend. Es gehörte auch zu den Pflichten der Gattin, Mutter und Haushälterin, für die Erziehung der Kinder zu sorgen, ihnen vor allem ein tugendhaftes Beispiel zu sein. Die wichtigste und edelste Lebensregel jener Zeit war, sich völlig und ohne Protest dem Willen des Mannes zu beugen. In zahlreichen mittelalterlichen Schriften wird dieses Frauenideal beschrieben. Tiefsinnige Verteidiger der herrschenden Verhältnisse gaben in Handbüchern Anweisungen für das standesgemäße Benehmen einer anständigen Ritters- oder Gutsbesitzersgattin und erteilten kluge Ratschläge für das Verhältnis zwischen den Gatten.

Wie umfangreich waren eigentlich die Pflichten der Frauen in den Familien einer Gesellschaft, die auf Gewalttätigkeit, auf der Arbeit von Leibeigenen und, was die Frau betraf, dem völligen Fehlen aller menschlichen Grundrechte aufgebaut war? Auf welchem Gebiet der Wirtschaft: durfte die Frau aktiv teilnehmen? Der Schriftsteller Barberino wurde populär, als er im Italien des 14. Jahrhunderts forderte, die jungen Damen mögen doch würdevoll auftreten, d. h. zu Hause bleiben und ihren Müttern bei der Hausarbeit behilflich sein. Barberino war sogar der Ansicht, sie könnten sich das Lesen- und Schreibenlernen völlig ersparen. Der russische Pope Silvester gab in seiner bekannten Schrift Die Hausordnung ähnliche Anweisungen.

Den Männern wurde in allen diesen Handbüchern dazu geraten, dafür zu sorgen, dass ihre Gattinnen sowohl züchtig als auch gottesfürchtig lebten. Und zu diesem Zweck wurde die Anwendung von körperlicher Züchtigung und ähnlichen Maßnahmen keineswegs ausgeschlossen.

Doch während der Blütezeit des Burghaushaltes (900–1200) erhielten die Frauen, trotz aller Unterjochung und Erniedrigung innerhalb der Familie, falls sie von adliger Herkunft waren, dennoch eine verhältnismäßig anständige Ausbildung. Töchter vornehmer Familien lernten nicht nur Nähen, Spinnen und Weben, sondern auch Lesen, Schreiben, Singen und Tanzen. Außerdem erhielten sie einen gewissen Einblick in die Grundzüge der damaligen Wissenschaften. Für gewöhnlich erlernten sie auch Latein.

Die Ausbildung in englischen Klöstern umfasste Lesen und Schreiben, Bibelwissenschaft, Musik, Krankenpflege, Zeichnen und Kochen. Es kam häufig vor, dass Mädchen Latein konnten (alle wissenschaftlichen Schriften jener Zeit waren lateinisch abgefasst) oder über Astronomie und andere Wissenschaften gut unterrichtet waren, und dies, obwohl ihre Männer – kühne Ritter und Soldaten – meist Analphabeten waren. Es kam vor, dass Ritter, die gleichzeitig berühmte Feldherren und Besitzer riesiger Ländereien waren, wochenlang den Brief ihrer Liebsten ungelesen mit sich trugen, bis sie endlich auf einen lese- und schreibkundigen Waffenbruder stießen. Viele von ihnen hatten einen Schreiber angestellt, der den Briefverkehr mit der Liebsten besorgte, während die Frau glaubte, sie korrespondiere mit ihrem Schatz. Sie konnte dabei auf Grund dieser Briefe tiefe Sympathie für die „Seele“ ihres Geliebten empfinden. Stellt Euch vor, was gewesen wäre, wenn sie geahnt hätte, dass sie ihr Herz einem Schreiber öffnete. Einer der berühmtesten Minnesänger jener Zeit, Wolfram von Eschenbach, war nicht imstande, seine Gedichte selber aufzuzeichnen, sondern war auf weibliche Schreibhilfe angewiesen.

Die Geschichte berichtet uns von einer langen Reihe berühmter Schriftstellerinnen und weiblicher Denker, die in den finsteren Jahrhunderten des frühen Mittelalters wirkten. Im 10. Jahrhundert, also vor 1000 Jahren, schrieb die Nonne Roswitha religiöse Dramen und hinterließ eine Reihe wissenschaftlicher Schriften. Im 8. Jahrhundert, also noch früher, lebte in England eine Äbtissin, Elfleda, der nachgesagt wurde, sie sei sehr klug gewesen. Sie war eine eifrige Missionarin im Dienste der damals noch jungen Kirche und nahm unter anderem an ökumenischen Konzilen teil, d. h. an internationalen Konferenzen für kirchliche Angelegenheiten. Eine andere Nonne, Hildegard, – sie lebte im 11. Jahrhundert – hatte sich als Philosophin einen Namen gemacht. Sie kümmerte sich nicht um die Machenschaften der Kirche und ignorierte, dass diese einen Glauben, der selbständiges Denken verbot, abverlangte. Ganz offen deklarierte sie ihre Ansichten über die Kräfte der Natur und des Lebens. Ihr Denken war pantheistisch gefärbt, d. h. sie war der Auffassung, Gott sei in Wirklichkeit nichts anderes als jene Kraft, die hinter allem Leben in der Natur stehe. Ungefähr gleichzeitig verfasste die deutsche Äbtissin Herrada ihr wissenschaftliches Werk „Der Lustgarten“ und schuf so die Voraussetzung für die Astronomie, die Geschichtswissenschaft und andere Disziplinen jener Zeit. Bereits im 11. und 12. Jahrhundert waren den Klöstern Schulen angegliedert, in denen Jugendliche beiderlei Geschlechts von klugen Nonnen unterrichtet wurden. Besonders berühmt waren die Schulen der Nonnenklöster von Alais und Poitiers in Frankreich. Die bekannten Nonnen Gertrud von Nivelles, Aldegonde von Maubeuge und Berthilda von Chelles – alle drei waren Französinnen – hatten auf ihre Schüler einen großen Einfluss

Im 13. Jahrhundert lebte in Frankreich eine Nonne Heloise, die in Briefform mit ihrem Freund Abailard philosophierte. Die Klöster waren damals keine Brutstätte für Müßiggang, Ausschweifungen und Heucheleien. Im Gegenteil, oft waren sie Arbeitszentren, die den ersten Ansätzen naturwissenschaftlicher und philosophischer Studien Schutz gewährten. Ihre Umwelt war von Gewalttätigkeit, Plünderungszügen, der Zügellosigkeit und den Übergriffen der Stärkeren geprägt. Es war deshalb nur natürlich, dass derjenige, der Ruhe und relative Geborgenheit suchte, um nachdenken und neue Wege der Wissenschaft finden zu können, sich ins Kloster flüchtete. Nicht nur unfruchtbare Ehefrauen und geschändete Töchter verschwanden im Kloster, sondern auch jene selbständigen Frauen, die gar keine Lust hatten zu heiraten, da sie Männer als Unterdrücker und Vormünder verabscheuten. Deshalb sind die meisten Frauen des 10. bis 12. Jahrhunderts, die sich in Wissenschaft und Literatur einen Namen gemacht haben, Nonnen gewesen.

Etwas später – 1300 bis 1400 – finden wir auch außerhalb der Klostermauern Frauen, die wissenschaftlich arbeiteten, ja sogar Professuren innehatten. Schon im 13. Jahrhundert war eine Frau Professor für Philosophie in Bologna, jener italienischen Stadt, die eine der berühmtesten Universitäten von damals besaß. Diese Frau soll außergewöhnlich schön gewesen sein. Um ihre Studenten nicht abzulenken, hielt sie ihre Vorlesungen verdeckt hinter einem Vorhang ab. Später lehrten an der gleichen Universität die zwei Töchter des Professors d’Andrea, Novella und Bettina. Sie hatten sich als Juristen einen Namen gemacht. Andere Beispiele sind Eleonora Sangvitelli und Theodora Danti, die hervorragendsten Mathematiker ihrer Zeit und Madeleine Buosignore, die ein seriöses Traktat über das damalige Eherecht verfasst hatte. Frauen zeichneten sich jedoch nicht nur auf dem wissenschaftlichen und philosophischen Sektor aus. Repräsentantinnen der Feudalklasse spielten im Mittelalter, besonders zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert, eine nicht unwesentliche Rolle in der Politik. Berühmte Beispiele hierfür sind die regierenden Gräfinnen Margareta von Toscana und Adelaide von Savoyen. Beide lebten zu Beginn des 11. Jahrhunderts im Norden Italiens. Ein anderes Beispiel ist die mächtige und stolze toskanische Gräfin Matilda, Herrscherin über die wohlhabende und blühende Handels- und Handwerkerstadt Florenz. Sie war mit dem Markgrafen von Toskana verheiratet und übernahm nach dessen Tod seine gesamten, gewaltigen Besitztümer, obwohl sie dem Gesetz nach nur den Titel Gräfin innehatte. Sie regierte über Städte, große Landgemeinden und die Eigentümer des niedrigen Adels und der Kleinfürsten. Diese kluge und aktive Gräfin saß, der Sitte jener Zeit folgend, persönlich zu Gericht über ihre Vasallen und Stadtbewohner. In ihrer Eigenschaft als Hauptrichter führte sie bei den Gerichtsverhandlungen den Vorsitz und signierte feierlich alle Urteile. In Florenz werden einige interessante Dokumente über Urteile, die die Gräfin Matilda verkündet hat, aufbewahrt. Wie alle Frauen aus regierendem Adelsmilieu durfte sie nach eigenem Gutdünken über ihren persönlichen Besitz verfügen, das hieß gleichzeitig ohne jede Bevormundung. Diese Periode war auch durch die verschärfte Rivalität zwischen Kaiser und Papst gekennzeichnet, dem Kampf zwischen Staat und Kirche. Matilda, persönlich mit dem schlauen, herrschsüchtigen und mächtigen Papst Gregorius VII. befreundet, widersetzte sich dem Kaiser und überschrieb in ihrem Testament ihren gesamten, beachtlichen Besitz dem Papst, was natürlich dessen Macht stärkte. Die Gräfin Adelaide von Savoyen, ihre Zeitgenossin, verwaltete selbst – obwohl sie zwei Söhne hatte – ihre ausgedehnten Domänen und machte Politik. In den Chroniken wird sie als eine „stolze und entschlossene Frau“ beschrieben, die sich unerschrocken auf einen Streit mit dem allmächtigen Gregorius VII. einließ und auch selbstbewusst genug war, dem Kaiser zu drohen. Ihr wird außerdem nachgesagt, sie sei eine „rechtschaffene und gütige Regentin“ gewesen. Eine weniger tendenziöse Geschichtsschreibung weiß jedoch zu berichten, dass sie zwar bisweilen die Schwächeren beschützte, jedoch das Streben ihrer Städte nach größerer Selbständigkeit konsequent bekämpfte, um ihre eigene Macht nicht zu mindern. Beide Frauen waren wissenschaftlich interessiert und wussten sehr wohl, welche Bedeutung die Wissenschaften für die Entwicklung ihrer Domänen hatten.

Die berühmte Universität von Bologna entwickelte sich zu einem geistigen Zentrum, weil Matilda den bekannten Rechtsgelehrten Irnerius als Professor angeworben hatte. Solche Frauen waren jedoch eine Ausnahme und nicht die Regel. Doch schon allein die Tatsache, dass es sie in jener finsteren und blutigen Zeit überhaupt gab, spricht dafür, dass sie gebraucht wurden.

Man könnte der Auffassung sein, dass jene Frauen – Sklavinnen und Eigentum ihrer Männer – die gegen ihren Willen an einen verhassten Gatten gekettet waren, der für sie Herr über Leben und Tod war, dass diese unglücklichen Geschöpfe einzig und allein dazu da waren, der Sippe Erben zu gebären, und dass für jene Frauen Bildung eine unnötige Sache gewesen sei. Dennoch erhielten diese Frauen eine Ausbildung aus ökonomischen Gründen. Das Anrecht der Frau auf Bildung und Wissen lässt sich nur durch ihre Rolle im geschlossenen Burghaushalt erklären, als Ehefrauen der Besitzer gewaltiger Vermögen. Ich habe Euch heute bereits auf die Rolle der Frau als Organisatorin der komplizierten Burgökonomie hingewiesen.

Eine Frau, die lesen schreiben und rechnen konnte, war natürlich vorteilhafter als eine unwissende und beschränkte Person, wenn es galt, die Einnahmen und Ausgaben der Burg zu kontrollieren, die Wirtschaft zu überwachen, die Schulden der Bauern einzutreiben und für den Winter oder eventuelle Belagerungszustände die notwendigen Vorräte anzulegen oder zu berechnen. Bei den Frauen jener Zeit war also nicht nur Schönheit, sondern auch Klugheit gefragt. Ein Geschichtsschreiber aus dem 12. Jahrhundert berichtet über die Gemahlin des Herzogs Robert von Calabrien, die alle nur wünschenswerten Eigenschaften besaß: „gute Abstammung, Schönheit und Verstand.“ Die Frauen wurden außerdem sehr geschätzt, wenn sie gute Ärzte waren. Wir wissen bereits, dass sich die Frauen seit alters her mit Krankenpflege beschäftigt haben. Schon während der Periode des Urkommunismus hatten sie die heilenden Eigenschaften von Kräutern erforscht und verwendeten diese bei der Behandlung von Kranken. Im Mittelalter war die Heilkunst sehr schwach entwickelt. Nur die mächtigsten Fürsten konnten sich einen Arzt halten. Die übrige Bevölkerung musste sich, so gut es ging, allein behelfen. Die ewigen nachbarlichen Zänkereien und Schlägereien, die Kriege und in ihrem Gefolge die Seuchen führten dazu, dass die Burg nicht nur ein Zentrum der Produktion war, sondern auch ein Krankenhaus für Verwundete und Kranke, eine allgemeine Poliklinik und eine Beratungsstation für die Bauern der Umgebung.

Die Bevölkerung sollte nämlich nicht nur unter der Schreckensherrschaft des Gutsbesitzers leiden, sondern die Burg auch als eine Art Hilfszentrale empfinden. Deshalb war es günstig, wenn die Burgherrin Kranke behandeln konnte. Solange sie die Verwundeten und Verstümmelten dem Tode entriss und andere mit ihren Arzneien von Krankheiten befreite, solange sie nicht zu vornehm war, einer Bäuerin in ihrer schweren Stunde beizustehen oder der ratlosen Hebamme mit „klugen“ Anweisungen weiterzuhelfen, solange waren die Bauern gerne dazu bereit, dem Burgherren so manche seiner Grausamkeiten zu verzeihen.

Im Mittelalter war die Heilkunst eine Sache der Frauen. Die ideale Frau, so wie sie in vielen Legenden jener Zeit beschrieben wird, besaß die Fähigkeit, Kranke zu heilen. Paracelsus, einer der bekanntesten Ärzte des Mittelalters, versicherte, er habe wesentlich mehr bei Frauen gelernt als aus den tiefsinnigen, verwickelten und fehlerhaften medizinischen Lehrbüchern seiner Zeit. Als König Ludwig IX. im Jahre 1250 von einer Pilgerfahrt aus Jerusalem nach Frankreich zurückkehrte, verlieh er seiner Ärztin für ihre ausgezeichnete Betreuung während der Reise eine schriftliche Anerkennung. Die Professur für Medizin an der Universität Bologna war im 15. Jahrhundert in den Händen einer Frau, der Dorothea Bocca.

Die Medizin war damals nur wenig erforscht und mit allerlei Hokuspokus und Aberglauben belastet. Exakte Wissenschaften im heutigen Sinne gab es noch nicht. Ja man kannte noch nicht einmal den genauen Aufbau des menschlichen Körpers. Die Heilkunst war so sehr mit Beschwörungsriten und Magie verbunden, dass sie allgemein als Zauberkunst angesehen wurde. Die kluge Alte war nicht anderes als eine Zauberin, die, weil sie mit den Mächten der Finsternis umging, Menschen heilen und auch ansonsten deren Leben, Glück und Gesundheit kontrollieren konnte. Diese klugen Alten waren deshalb nicht nur respektiert, sondern auch gefürchtet. Das praktische Wissen dieser Frauen auf dem Gebiete der Heilkunst sollte ihnen jedoch unter einem anderen sozialen und ökonomischen System zum Fluche werden.

Man begann, sie als Hexen und Zauberinnen zu verfolgen, und lange brannten in ganz Europa die Scheiterhaufen. Hunderte, Tausende, ja Zehntausende von Frauen wurden dem Flammentod ausgeliefert und dies einzig und allein deshalb, weil die „heiligen Väter“, diese frommen Diener der Kirche, sie verdächtigten, mit den Mächten der Finsternis im Bunde zu stehen.

Aber von den Hexenprozessen wollen wir ausführlicher in der nächsten Vorlesung reden. Jetzt wollen wir nur noch einmal kurz die Stellung der wohlhabenden Adelsfrau unter der Blütezeit des Feudalismus zusammenfassen: Als Vertreterin ihres Standes und Trägerin des Familiennamens wurde die Frau geschätzt und hatte gewisse Rechte. Außerhalb der eigenen Familie begegnete ihr die Ritterschaft mit Respekt und Bewunderung. In ihrer eigenen Familie jedoch war sie genauso rechtlos wie einer der Leibeigenen. Während der Blütezeit des Burghaushaltes – bis zum 14. Jahrhundert ungefähr – erhielt die Gattin des Feudalherren als Verwalterin dieses Haushaltes eine gewisse Ausbildung. Sie erzog auch die Kinder. Als jedoch mit zunehmendem Handel diese Form des Burghaushaltes zu zerfallen begann, verlor ihr Aufgabenbereich an wirtschaftlicher Bedeutung. Der wichtigste Maßstab für Reichtum war jetzt das Geld. Die Frau wurde in erster Linie zu einer Fortpflanzungsmaschine degradiert. Sie verwandelte sich zu einer Parasitin, genauso, wie seinerzeit die gesetzlichen Ehefrauen des griechischen Bürgertums. Es war jetzt nicht mehr ihre Angelegenheit, die Arbeit in der Schmiede zu überwachen oder dafür zu sorgen, dass die Weberinnen neue Muster für ihre Leinwand erfanden. Sie kontrollierte auch nicht mehr, ob die Mühlsteine ordentlich geschliffen waren und wie es mit der Herstellung von Rüstungen und Waffen stand. Alle diese Produktionszweige waren jetzt nicht mehr untrennbarer Bestandteil des Burghaushaltes. Sie wurden von der Burg in die Stadt oder die Scheune des Bauern verlegt. Auf dem Gut oder der Burg blieb nur noch die Haushaltsarbeit im engeren Sinne. Die vornehmen Adelsfrauen wichen auch diesen Arbeiten aus, so gut sie konnten. Ebenso wälzte die verwöhnte Gutsbesitzersgattin alle häuslichen Pflichten auf ihre Dienerschaft oder einen Verwalter ab. Mit dem Parasitendasein und dem Müßiggang Hand in Hand breiteten sich eine wachsende Beschränktheit, Dummheit und Verweichlichung bei diesen Frauen aus.

Man kann also feststellen, dass mit dem Verfall und der Auflösung des geschlossenen Burghaushaltes, der seinerseits auf dem geschlossenen Naturhaushalt aufbaute, auch das Bildungsniveau der den höheren Ständen zugehörigen Frauen rasch absank. Auf den ersten Blick mag dies eigenartig erscheinen. Aber wie war es sonst möglich, dass in jenem aufklärungsfeindlichen 10. Jahrhundert so hochgebildete und kluge Frauen wie etwa Roswitha oder Hildegard lebten, während sich die Frauen des 17. und 18. Jahrhunderts durch mangelnden Verstand, schlechte Bildung und dem Hang zum Aberglauben auszeichneten. Diese Weiber liebten Weiberklatsch und sinnlose Zerstreuungen. Sie verbrachten ihre Tage in apathischer Untätigkeit oder mit Ausschweifungen. Weiß man jedoch, dass die Stellung der Frau, ihr Anrecht auf Menschenwürde und Bildung immer abhängig ist von ihrem Einsatz in der Wirtschaft und der Produktion, so ist auch dies leicht verständlich und klar.

4. Frauenarbeit in der Dorfgemeinschaft und in der handwerklichen Produktion

Wir wollen nun die Lebensbedingungen der übrigen Klassen untersuchen. Welche Rechte hatten im Mittelalter die Frauen der Bürgerschaft und der Bauern, wie lebten sie? Wir wollen mit den Bäuerinnen beginnen. Bei ihnen kann im Mittelalter, dieser grausamen Zeit, als das Faustrecht herrschte, von Rechten kaum die Rede sein. Sowohl der Bauer als auch die Bäuerin waren Leibeigene ihres „Herrn“. Damit haben wir alles gesagt. Die Macht der Gutsbesitzer über die Bauernschaft war unbegrenzt.

Um die damaligen Beziehungen zwischen Ritterschaft, Bojaren-Gutsbesitzern und den Bauern verstehen zu können, müssen wir uns erst einmal klar machen, was das Fundament des Feudalismus war. Die Ökonomie des Feudalismus war ganz und gar abhängig von dem Vorhandensein größerer Ländereien, über die jene, die das Land beherrschten – Ritterschaft und Krieger – eine unbegrenzte Macht ausübten. Die Äcker und Felder des sogenannten Stammgutes des Großgrundbesitzers bearbeiteten Bauern, die außerdem jedoch noch ihren eigenen Kleinhaushalt führten. Die Bauern waren zwar nicht mehr Sklaven wie im antiken Griechenland, Rom oder Ägypten (der Sklave war ja persönliches Eigentum seines Herrn gewesen, ein unfreies Individuum, während der Bauer frei war), jedoch befanden sie sich ökonomisch und politisch in einer solch großen Abhängigkeit, dass ihre Verknechtung unausweichlich war und sie zu Leibeigenen des Gutsbesitzers wurden.

Natürlich reservierten Ritter und Bojaren die ertragreichsten Äcker für sich selbst. Um überleben zu können, waren die Bauern deshalb gezwungen, herrschaftlichen Boden zu pachten. Dafür bezahlten sie teuer, anfangs mit Naturalsteuer, später mit Geld, und mussten außerdem bei ihrem Fronherrn Tagewerke ableisten. Dies war ursprünglich nicht gesetzlich geregelt, da die Leibeigenschaft erst wesentlich später rechtlich abgesichert wurde (in Russland im 16. Jahrhundert). Vielmehr haben wir es hier mit einer Folge jenes Faustrechts zu tun, das den Gutsherrn uneingeschränkte Macht über die Bauernschaft verlieh.

Im Mittelalter war der Gutsbesitzer nicht nur Eigentümer von Grund und Boden, er verfügte auch über außerordentliche politische Rechte. Das hieß in der Praxis, dass er über sein Stammgut verfügte: er erließ Befehle, erhob Steuern, verhängte Strafen und Todesurteile und verteilte Lehen. Es begann damit, dass jeder Großgrundbesitzer über eine Reihe kleinerer Fronherren herrschte. Diese wiederum kommandierten die Angehörigen des niederen Landadels. Auf diese Art entstand bei uns eine hierarchisch gegliederte Aristokratie von Grundbesitzern und Fürsten, in anderen Ländern von Feudalherren und Vasallen, d. h. aber von niederen, untergebenen Adelsmännern. Dies Netzwerk von gegenseitiger Unterordnung und Abhängigkeit verlieh dem Feudalismus Stabilität und erhöhte die Autorität der Fürsten und Herren. In dieser aristokratischen Kette waren die Bauern zu einem Leben verdammt, das folgendermaßen aussah: Kadavergehorsam dem eigenen Fronherrn gegenüber und Schwerarbeit, deren Früchte jedoch größtenteils nicht den Bauern, sondern den Herrschaften auf den Schlössern und Burgen zufielen und die dort verprasst wurden. Hierin unterschied sich die Stellung der Bäuerin in nichts von der des Bauern. Beide arbeiteten tagein und tagaus, schufteten unermüdlich und ernteten als Dank für ihre Mühen nur Verachtung und völlige Rechtlosigkeit. Damals wurden einzig und allein die Eigentümer der Ländereien, die Gutsherren respektiert. Nur sie hatten Rechte. Der Umstand, dass der Bauer genauso bevormundet wurde wie seine Frau, trug dazu bei, Unterschiede zwischen ihnen auszugleichen und zu verwischen. Mann und Frau trugen solidarisch das Joch der Fronherrschaft. In seiner eigenen Familie jedoch spielte sich der ansonsten rechtlose, leibeigene und untertänige Bauer als Herr und Meister über Frau und Familie auf. In der gleichen Weise wie der Ritter auf seiner Burg über seine mit Titeln ausgestattete Gattin das Kommando führte, trat auch der Bauer innerhalb der eigenen Familie als Vormund seiner Ehefrau auf. Wenn der Ritter dazu berechtigt war, seine Gattin als Einsatz bei Glücksspielen zu verwetten oder sie ins Kloster zu schicken, so konnte der Bauer seinerseits die eigene Frau von Haus und Hof verjagen oder sie auf dem Markte verfeilschen. Als sich das Privateigentum innerhalb der Bauernklasse durchzusetzen begann, wurden das Vaterrecht und damit das Recht des Mannes über Frau und Kinder gleichzeitig verstärkt. Auch die Bauern schlossen von nun an ihre Ehen aufgrund wirtschaftlicher Erwägungen und nicht aus Liebe. Gewiss, die Gutsherren zerschlugen nicht selten solche Heiratspläne, indem sie ganz einfach Iwan aus dem und dem Dorfe befahlen, die Maria aus jenem Dorfe zu ehelichen. Die Bäuerin hatte also gleichzeitig zwei Herren zu dienen, sowohl ihrem Brotherrn, dem Gutsbesitzer, als auch ihrem eigenen Manne.

Die Ritter und ihre Söhne nahmen auf die Bauern keine Rücksicht. Vor der „angebeteten Dame seines Herzens“, selbstverständlich aus vornehmem Hause, konnte der Ritter nächtelang trotz eisiger Kälte barfuß ausharren, um auf diese Weise seine Liebe und Bewunderung zu demonstrieren. Den Frauen und Töchtern der Bauern gegenüber benahm sich ein und derselbe Mann jedoch wie ein zügelloses Wildschwein. Für seine Saufgelage konnte er aus purem Zeitvertreib sämtliche Bauerntöchter eines ihm untergebenen Dorfes zusammentreiben lassen. Hatte eine Bäuerin das Pech, in seinen Augen Gefallen zu finden, so ließ er ganz einfach ihren Mann, ohne erst große Umstände zu machen, von dessen eigenem Hof verjagen. Der Gutsbesitzer konnte die Werkstätten seines Schlosses und die Gesindestuben der Herrenhöfe in einen Harem verwandeln. Jene Ritterschaft, die in ihren Reimen die Würde der Frauen besang, zerschmetterte gleichzeitig rücksichtslos Wille, Gefühl und Herz der dem einfachen Volke angehörenden Frau. Dies war eine finstere Zeit, überreich an Elend und Leid. Erst im ausgehenden Mittelalter begannen die Bauern gegen die Übergriffe ihrer Fronherren zu revoltieren. In den nun folgenden Bauernkriegen spielten die Frauen eine sehr aktive Rolle. Während der „Jacquerie“ (französischer Bauernaufstand im Jahre 1358) waren die Frauen mit am eifrigsten, wenn es darum ging, die Besitztümer und Schlösser ihrer Herrschaften niederzubrennen und die Bewohner mit Heugabeln und Äxten abzuschlachten. Ähnliches ließe sich von den Frauen der Lollarden in England (religiöse Sekte mit sozialen Forderungen im 14. und 15. Jahrhundert, die schweren Verfolgungen ausgesetzt war), den Frauen der rebellierenden deutschen Bauern, den Hussiten und den Anhängern von Thomas Münzer berichten. Das Bild, das uns die Geschichtsschreibung von den rebellierenden Bauernfrauen gibt, zeigt sie uns als blutrünstige, herzlose und rachsüchtige Geschöpfe, die mit ihrer Grausamkeit sogar die zügellose Wut der Bauern übertrafen. Konnte man jedoch etwas anderes erwarten? Die Bäuerinnen hatten ja aufgrund jener unmenschlichen Sitten und Gebräuche, die eine Folge des Vaterrechts waren, ein Hundedasein geführt. Sie kannten keinerlei Rechte gegenüber dem eigenen Familienoberhaupt und waren nichts weiter als Lasttiere. Sie pflügten, ernteten und hüteten das Vieh. Für die Bäuerin war keine Arbeit zu schwer. In den entlegenen und zurückgebliebenen Gebieten Russlands und in anderen ökonomisch unterentwickelten Ländern sind auch heute noch die Lebensbedingungen der Bauernfrauen genauso wie damals. Die Bauernfrau hatte damals also überhaupt keine gesellschaftlichen Rechte, obwohl sie dem Manne in nichts nachstand, was ihren Arbeitseinsatz in der Produktion betraf. Wie lässt sich das erklären? Lasst uns versuchen, die Ursachen dieser Verhältnisse zu finden.

Dass das wirtschaftliche System im Mittelalter auf dem Privateigentum aufbaute, haben wir bereits gesagt. Wo aber das Privateigentum vorherrscht, wird weder die Arbeit noch ihr direktes Resultat, womit ich die Herstellung notwendiger Gebrauchsgüter meine, gewürdigt, sondern nur jene Einkünfte, die man dank des Verfügungsrechtes über das Privateigentum aus der Arbeit anderer ziehen kann, d. h. die Profite. Ihr erinnert Euch vielleicht noch daran, dass die Sklaven Griechenlands die wirklichen Erzeuger aller Reichtümer – und welcher Reichtümer! – gewesen sind. Trotzdem war die Sklavenarbeit in den Augen der Griechen wertlos. Man betrachtete die Sklaven nur als lebendige Arbeitskraft – gesellschaftlich angesehen waren nur diejenigen, die diese Arbeitskraft effektiv ausbeuten konnten. Das bedeutete aber, dass die Besitzer durch Aussaugung ihrer Sklaven maximale Profite erwirtschafteten. Mit der Arbeit der Leibeigenen war es nicht anders. Das Privateigentum brachte eine Aufsplitterung der Landwirtschaft in kleine, unabhängige Einheiten mit sich. Äcker, Wiesen und Wälder waren nach wie vor gemeinsamer Besitz der Dorfgemeinde. Jeder leibeigene Bauer hatte außerdem jedoch seinen eigenen Hof. Und dieser Hof war nicht Eigentum der Frau – der Gattin –, sondern des Mannes – des Gatten –, Vaters oder Bruders. Diese Rechtsauffassung entsprang patriarchalischen Sitten. Sie wurde in jener Zeit entwickelt und gefestigt.

Folgendes muss noch berücksichtigt werden: Trotz ihrer untergeordneten Stellung innerhalb der eigenen Familie genoss die Frau innerhalb ihres Stammes ein gewisses Ansehen, besonders in Gesellschaften, die von den Ackerbau treibenden Völkern des Altertums abstammten und deshalb eine Periode des Matriarchats erlebt hatten. Die Leibeigenschaft bei den Franzosen, Engländern und Deutschen nahm, was die Stellung der Frau betraf, lange nicht so krasse Formen an, wie z. B. bei den viehzüchtenden Stämmen, den Hunnen oder Tataren z. B., unter deren Schreckensherrschaft die friedlichen Bauern Europas zitterten.

Der Kampf zwischen den beiden Eigentumsformen an Grund und Boden, d. h. auf der einen Seite Privatbesitz und auf der anderen Seite gemeinsames Besitzrecht der Dorfgemeinde, war im Mittelalter noch lange nicht abgeschlossen. Das kollektive Besitzrecht war bis vor kurzem noch in Russland verbreitet, und zwar durch das Mir-System, das erst während der Regierungsperiode Nikolaus II. durch die Gesetze des Ministers Stolypin vernichtet wurde. Für die Dorfökonomie war die Frau in den Augen der Gemeinde eine wichtige Arbeitskraft. Von ihrer Arbeit hing der Wohlstand aller genau so ab wie von der Arbeit des Bauern. Deshalb durfte die Frau in vielen Fällen den Beratungen der Dorfbewohner beiwohnen, obwohl sie zu Hause ihrem Manne oder Vater gegenüber so gut wie nichts zu melden hatte. Im Dorfrat. waren oft sogar bärtige Greise bereit, ihr zuzuhören. In einem russischen Gouvernement gab es noch eine Sitte, nach der die Bäuerin – besonders bei Abwesenheit ihres Mannes – den Mir-Versammlungen beiwohnen durfte und das, obwohl gerade diese Frauen ihre althergebrachten Rechte verloren hatten und der „Hausvater“ der Familienälteste, seine Machtbefugnisse wesentlich erweitert hatte. Daran änderte sich erst etwas, als die für die Bäuerin äußerst demütigende „Schwiegertochterschaft“ eingeführt wurde. Von nun an war der Mann berechtigt, seine Frau ungestraft zu verhöhnen und sie bis an den Rand des Todes zu peinigen. (Schwiegertochterschaft bedeutete, dass die Frau, falls ihr Gatte in die Fremde zog, um dort sein Einkommen zu finden, im Hause ihres Schwiegervaters zurückblieb und mit diesem Geschlechtsverkehr ausüben musste.)

Die Stellung der leibeigenen Bäuerin unterschied sich jedoch in einem Punkt vorteilhaft von der der hochnäsigen Gattin des Ritters. Obwohl der Gutsherr uneingeschränkte Macht über seine Bauern besaß, diese zur Eheschließung und zur Scheidung zwingen konnte und die schändliche europäische Sitte des „Anrechts auf die erste Nacht“ praktizierte, gab es in der Bauernschaft wesentlich häufiger Liebesehen als beim Adel. (Das Anrecht auf die erste Nacht bedeutete, dass der Fronherr die erste Nacht nach der Eheschließung zwischen seinen Leibeigenen mit der Braut verbringen durfte, also bevor der eigentliche Gatte seine ehelichen Funktionen ausüben durfte.) Bauerntöchter konnten bei ihrer eigenen Eheschließung eher mitreden als die Töchter der Aristokratie. Das berichten auch alte Volkslieder und Sagen. Recht interessant ist auch, dass die Tochter eines Ritters, die vor der Hochzeit ein intimes Verhältnis mit einem Manne gehabt hatte, sowohl sich selber als auch ihre gesamte Sippe in Verruf brachte – kein Mann würde sie noch heiraten wollen –, während man bei den Bauern solche Geschichten nicht so übelnahm. Man hatte eine natürlichere Einstellung zu vorehelichen Beziehungen und empfand sie auch nicht als entehrend. Warum? Auch dies hatte natürlich eine ökonomische Ursache. Bei den Bauern jener Zeit stand vor allem wegen der schweren Bedingungen, unter denen die Landwirtschaft betrieben wurde, die Arbeitskraft hoch im Kurs. Jedes Kind bedeutete also eine zusätzliche Arbeitskraft und damit einen Vorteil für die Ökonomie des Bauern. Deshalb konnte sich auch der Bauer mit dem „Anrecht auf die erste Nacht“ versöhnen und verjagte seine Frau nicht, er betrachtete das nicht als eine unausweichliche Schmach, sondern eher als eine persönliche Prüfung. Diese Sitten änderten sich erst später, als sich nämlich die einzelnen Gehöfte von der Dorfgemeinschaft absonderten und das Areal der Gemeindeäcker abnahm. Nun verjagte der Vater seine Tochter vom Hof, falls diese ein außereheliches Kind bekam, und eine „Ehebrecherin“ wurde vom Bauern beinahe zu Tode gepeitscht.

Je mehr sich das Privateigentum bei der Bauernschaft durchsetzte, desto rechtloser, unerträglicher und hoffnungsloser wurde die Situation der Frau. Das sogenannte „harte Frauenschicksal“ wurde überall dort das Los der Bäuerinnen, wo die Zwangsherrschaft der Großgrundbesitzer verbreitet war. In jenem Wirtschaftssystem also, das auf der Leibeigenschaft und dem Privatbesitz an Grund und Boden basierte.

Zusammenfassend kann man über die Stellung der Aristokratin und Bäuerin folgendes sagen: Während des Mittelalters gab es aufgrund der vorherrschenden ökonomischen Verhältnisse keine Gleichheit, Selbständigkeit und fundamentale Menschenrechte. Wir wollen nun dazu übergehen, die Stellung der Frau aus dem dritten Stande zu untersuchen, dem Bürgertum, das mit der Zeit zwei einander feindlich gegenüberstehende Klassen, Bourgeoisie und Proletariat hervorbrachte. Über die Entstehung der Städte haben wir bereits gesprochen. Hauptsächlich hatten sie sich aus festen Märkten, Knotenpunkten, Handels- und Tauschplätzen entwickelt. In den Städten lebten vor allem Kaufleute und Handwerker. Wenn wir von der Bürgerin sprechen, so meinen wir für gewöhnlich die Frauen der Handwerker, da die Frauen der Kaufleute keine selbständige Rolle gespielt haben. Das war wahrscheinlich eine Folge davon, dass die Kaufleute meist nur mit ausländischen Waren handelten, was eine Beweglichkeit und Selbständigkeit erforderte, wie sie die Frau einfach nicht besaß. Alle Produkte, die in der Stadt selbst und in ihrer näheren Umgebung erzeugt wurden, wurden fast immer unmittelbar zwischen dem Hersteller und dem Besteller ohne jeden Zwischenhandel ausgetauscht. Erst im späten Mittelalter (13. und 14. Jahrhundert) wurden diese Waren durch Zwischenhändler gehandelt, anstatt wie bisher, direkt zwischen zwei Produzenten, d. h. einem Handwerker und einem Bauern oder zwei Handwerkern verschiedener Berufe, ausgetauscht zu werden.

Die Frau aus der Kaufmannsklasse war Gastgeberin und Ehegattin. Ihre produktive Tätigkeit beschränkte sich auf Haushaltsarbeit, die damals zwar kompliziert war, da alle täglichen Bedürfnisse von der Arbeit des eigenen Hausgesindes abhängig war. Hausarbeit befriedigte aber nur unmittelbare Bedürfnisse und ergab keine wertvollen Waren. Das führte dazu, dass die Arbeit der Frau nicht geschätzt wurde. In der Kaufmannsschicht der Städte war der Mann, das Familienoberhaupt, für gewöhnlich alleiniger Familienversorger. Ganz anders lagen die Dinge für die Frauen und Töchter der Handwerker. Die Handwerker lebten von der Arbeit ihrer eigenen Hände und nicht vom Profit, den die Kaufmannsschicht beim Verkauf einer ausländischen Ware machen konnte, oder von der unproduktiven Arbeit des Feilschens, Je mehr Stiefel, Tische, Schränke, Sättel oder Kleider der Handwerker produzierte, desto zufriedener fühlte er sich mit seinem Leben. Es war deshalb ganz natürlich, dass der Handwerker bei seiner Frau und den übrigen Familienmitgliedern Hilfe suchte. Nur so konnte er eine Werkstatt auf die Beine stellen. Je mehr fleißige Hände es gab, desto besser und schneller ging die Arbeit. Die Auftraggeber bevorzugten Meister, die die Bestellung möglichst schnell ausführen konnten. Unverheiratete Handwerker waren deshalb gezwungen, Hilfskräfte anzuwerben, um sich gegenüber ihren Konkurrenten mit einer Familie behaupten zu können. Der Handwerker stellte Lehrlinge bei sich ein, die bei ihm das Handwerk erlernen konnten, und machte sie zu seinen Mithelfern oder Gesellen. So entstand eine völlig neue Produktionsweise, das Handwerk, mit einem Meister an der Spitze und einer Reihe von Lehrlingen und Gesellen, die ihm untergeordnet waren. Diese waren keine Leibeigenen, sondern freie Arbeiter unter der Aufsicht des Meisters. Die Handwerker schlossen sich in speziellen Handwerksorganisationen zusammen, sie bildeten Zünfte, um das Verhältnis zwischen Auftraggeber und Handwerker zu regulieren und um die Konkurrenz zu dämpfen, die sonst den Lebensstandard der Handwerker wesentlich gesenkt hätte. Das Handwerk existierte parallel zur Leibeigenschaft der Bauern und ergänzte das Feudalsystem.

In den handwerklichen Berufen spielte die Frau eine bedeutende Rolle, ganz besonders zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert. Es gab handwerkliche Berufe, in denen die Frauenarbeit dominierte: z. B. Weben, die Herstellung von Klöppelspitzen, Fransen, Strümpfen, Geldbörsen usw. Bis zum 14. Jahrhundert nahm der Meister nicht nur Jungen in die Lehre, sondern auch Mädchen. Die Frauen arbeiteten zusammen mit ihren Männern. Starb der Mann, so erbte die Frau die Werkstatt und den Meistertitel, sie hatte jedoch kein Recht, neue Lehrlinge einzustellen. Deshalb konnte sie die Arbeit ihres Mannes nur dann fortsetzen, wenn sie einen ihrer Gesellen heiratete. Dieser Geselle wurde nun seinerseits Meister und konnte die Geschäfte nicht nur weiterführen, sondern auch erweitern. (Durch eine solche Ehe wurden nämlich die Rechte zweier Zunftmeister miteinander vereinigt. Dies wiederum ermöglichte eine zusätzliche Erhöhung der Anzahl der Lehrlinge, was für den Besitzer einer Werkstatt natürlich sehr vorteilhaft war.) Zwischen dem 12. und dem 14. Jahrhundert war die Frauenarbeit in zahlreiche Städten Englands, Deutschlands, Frankreichs und Italiens so verbreitet, dass es Zünfte gab, die ausschließlich aus weiblichen Handwerkern bestanden. So ist Wolle spinnen seit jeher ein weibliches Arbeitsgebiet gewesen, und im Mittelalter gab es eigene Zünfte für Spinnerinnen, Kardätscherinnen und Hasplerinnen. In Köln, einem alten deutschen Industriezentrum, verfügten die Hasplerinnen im 14. Jahrhundert über eine sehr starke Gilde. In Frankreich florierten vor allem die beiden Zünfte, in denen sich die Hersteller von Börsen und die Modisten zusammengeschlossen hatten. Auch das Weben von Wolltüchern wurde als typisch weibliches Arbeitsgebiet betrachtet. Das Weben und Waschen von Schleiern war ausschließlich Frauenarbeit. Es gab eine eigene Zunft für die Weberinnen feiner Tuche, und im 14. und 15. Jahrhundert existierte eine Zunft für Kordelmacherinnen.

Im 14. Jahrhundert errechnete man in England, dass 495 von 500 Gilden genau so viele Frauen wie Männer als Mitglieder hatten. Ein Gesetz, das in der Mitte des 14. Jahrhunderts von Eduard III. erlassen wurde, lässt uns ahnen, wie typisch damals die Frauenarbeit in den handwerklichen Berufen war: dieses Gesetz enthält nämlich Bestimmungen über das Recht der Frauen, sich mit solchen Arbeiten wie Bierbrauerei, Brotbacken, Webereien u. a. zu beschäftigen. In England waren vor allem zwei weibliche Berufe sehr verbreitet: Gastwirtin und Manglerin. Auch Bierbrauerei wurde als eine ausgesprochene Frauenarbeit angesehen. In folgenden handwerklichen Berufen hatte sich die Frauenarbeit hauptsächlich durchgesetzt: Weberei, Tuchwalkerei, Leinenspinnerei, Goldstickerei, Kerzenziehen, Schneiderei, Bäckerei, Spitzenklöppeln, Strümpfe stricken und Herstellung von Fransen.

Badefrau und Wäscherin sind seit eh und je Frauenberufe gewesen. Der Friseurberuf wurde ebenfalls von Frauen ausgeübt. Zwar waren die Frauen im Großhandel nicht vertreten, der Kleinhandel lag jedoch fast ausschließlich in Frauenhänden. Dies galt besonders für das späte Mittelalter. Die Marktweiber betrieben einen lebhaften Handel mit Hühnern, Gänsen, Blumen, Gemüse, Obst und anderen Gebrauchsgütern und Nahrungsmitteln. Viele von ihnen handelten auch mit alten Kleidern.

Bestand eine Zunft sowohl aus männlichen als auch aus weiblichen Handwerkern, so waren die letzteren für gewöhnlich gleichberechtigte Mitglieder. In deutschen Städten wie z. B. München, Köln oder Danzig, konnte noch im 14. Jahrhundert jeder Meister entweder einen Jungen oder ein Mädchen als Lehrling einstellen. In Hamburg und Straßburg bestand die Weberzunft nur aus Frauen. Frauen arbeiteten auch in Lederwerkstätten, in Goldschmieden und in der Gilde der Goldspinnerinnen.

Die Frauenarbeit in den handwerklichen Berufen nahm schließlich solche Ausmaße an, dass man dazu überging, sie durch Verordnungen zu regulieren. Der Meister einer Goldschlägerwerkstatt durfte z. B. höchstens drei Kinder für sich arbeiten lassen, die Frauen jedoch durften auch weiterhin als Hilfskräfte fungieren. 1290 setzten die Teppichweber von Paris ein Arbeitsverbot für schwangere Frauen durch, teilweise aus Rücksicht auf das ungeborene Kind, teilweise um die unerwünschte Konkurrenz der Frauen auszuschalten. Später, im 15. und 16. Jahrhundert, als die Konkurrenz zwischen den einzelnen Handwerkern sich wesentlich zugespitzt hatte, begann man, den Frauen die Mitgliedschaft in den eigenen Zunftorganisationen zu verweigern. Während der Blütezeit des Handwerks jedoch spielte die Frauenarbeit eine wesentliche Rolle in den Städten. Dass Frauenarbeit in den handwerklichen Produktionsstätten des Mittelalters so normal war, lässt sich von daher erklären, dass die Majorität der Stadtbewohner Frauen waren. Die Statistik mehrerer Städte aus dem 13. und 14. Jahrhundert zeigt, dass ungefähr 1.200 bis 1.250 weibliche Einwohner auf 1.000 männliche Einwohner kamen. Bisweilen war der weibliche Anteil der Bevölkerung noch größer. Der Männermangel zwang diese Frauen dazu, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, nicht alle fanden Versorgung in einer Ehe.

Das Übergewicht der weiblichen Bevölkerung in den Städten lässt sich durch den großen Aderlass der männlichen Einwohner erklären, der durch die ununterbrochenen Kriege verursacht wurde. Diese Kriege vernichteten unzählige Menschen, besonders aber Männer. Außerdem zog es die Frauen häufig vom Land weg in die Städte, da sie sich nur so der Tyrannei der Großgrundbesitzer entziehen konnten. War ein Bauernmädchen der Leibeigenschaft entflohen, so musste sie in der Stadt eine Anstellung finden. Der Bauernsohn konnte der Willkür des Ritters entgehen, indem er als Soldat in den Krieg zog. Für eine Frau gab es jedoch nur zwei Auswege: das Kloster oder die Stadt. Die Frauen gingen in die Städte, um sich selbst und häufig auch noch ihre Kinder durch eigene Arbeit zu versorgen. Gelang es ihnen nicht, sich durch eigene Arbeit zu ernähren, so gab es immer noch einen anderen Ausweg, sie verkauften ihren Körper. Diese Art Geld zu verdienen war so verbreitet, dass die käuflichen Mädchen in vielen Städten eigene Zünfte bildeten. Diese Zünfte wurden von den Stadtvätern (d. h. den Einwohnern, die das Bürgerrecht besaßen) legalisiert, und die organisierten Prostituierten verfolgten unbarmherzig jede Frau,die es wagte, sich zu prostituieren, ohne gleichzeitig den legalen, von den ehrbaren Stadtvätern akzeptierten Organisationen anzugehören. Deshalb war es sehr schwer, außerhalb der „Mädchenhöfe“, d. h. der Bordelle, als Straßenmädchen Geld zu verdienen.

Ihre Teilnahme an der Produktion ermöglichte der Handwerkerin ein ganz anderes Leben als ihren Zeitgenossinnen, den Bäuerinnen und Aristokratinnen. Die Handwerkerin war dabei, wenn Beschlüsse über die Produktionspolitik der Stadt gefasst wurden, sie verwaltete selbst ihr Einkommen und feierte tüchtig mit bei den häufigen, munteren Zechgelagen. Sie war überhaupt recht unabhängig und frei. Sogar in Russland, das auch noch im 16. Jahrhundert im Geist des Mittelalters lebte, hatte die Bürgersfrau eine vorteilhaftere Stellung als die Aristokratin. Dies gilt besonders für die freien Städte Pskow und Nowgorod u. a. Nehmen wir z. B. Martha Posadnitz, die Bürgermeisterin von Groß-Nowgorod war und sich für die Freiheit ihrer Stadt leidenschaftlich einsetzte und sich mit allerlei plündernden und vandalisierenden Fürstlichkeiten herumschlug. Ein Beleg dafür, dass die Frauen Politik machten und dies in den Augen der Bürgerschaft sichtlich nichts Verwerfliches gewesen ist. Bei den Handwerkern war auch das Verhältnis zwischen den Ehegatten wesentlich mehr durch gegenseitige Anerkennung und Gleichberechtigung geprägt, als dies später in den Ehen der Bourgeoisie der Fall war. Auch dies hat eine ähnliche Ursache, wie wir sie schon in früheren Perioden kennengelernt haben: Viele Frauen arbeiteten im Mittelalter produktiv in den städtischen Handwerksbetrieben mit, in einer Periode also, als das regional organisierte Handwerk die dominierende Wirtschaftsform war. Durch die Tatsache, dass Frauen und Männer Gleichwertiges produzierten, entschärften sich die patriarchalischen Sitten und das männliche Faustrecht über die Frau wurde beseitigt.

Wir wollen aber die Bedeutung der Frau speziell für die Ökonomie der Städte und auch für das damalige Produktionssystem ganz allgemein nicht überschätzen. Obwohl sich viele Frauen selbst versorgten, war nach wie vor die große Mehrzahl unterdrückt, von der Arbeit ihrer Männer abhängig und führte deren Haushalt. Diese Frauen versahen also eine Arbeit, die für die Ökonomie von zweitrangiger Bedeutung war. Es war deshalb nur natürlich, dass auch die Handwerkerinnen und weiblichen Mitglieder der Handwerksgilden nicht in jeder Hinsicht ihren Männern und Brüdern gleichgestellt waren. Diese Frauen konnten keine vollständige Gleichberechtigung als Mitglieder der Gesellschaft erreichen, solange die Majorität der Frauen – oder zumindest ein bedeutender Anteil – nicht selbständig Waren produzierte und eine für das ganze Volk nützliche Arbeit leistete. Hauptproduzent und Schöpfer allen Reichtums und Profite war und blieb innerhalb jedes Standes der Mann. Deshalb änderte sich auch nichts an der rechtlosen Stellung der Frau in Staat und Gesellschaft oder an ihrer Abhängigkeit in Ehe und Familie.

Bürgerliche Historiker sehen das Mittelalter mit Vorliebe als eine Zeit, in der das Familienleben des städtischen Bürgertums von idyllischer Eintracht geprägt war und die bürgerliche Frau soviel Unabhängigkeit und Ansehen genoss, wie der gesunde Menschenverstand es zuließ. Ältere Frauen seien von den Männern geradezu angebetet worden. Das gesamte Mittelalter erscheint deshalb bei diesen bürgerlichen Schriftstellern in einem rosaroten, romantischen Licht. Wir wissen jedoch, was tatsächlich vor sich ging. Wir wissen, dass diese Zeit grausam und barbarisch gewesen ist. Die Frauen aller Stände lebten meist unter schwierigen Verhältnissen und litten entsetzlich unter allen erdenklichen Plagen, die durch die finsteren Sitten jener Zeit verursacht wurden. So machte sich im Mittelalter die Wahnvorstellung breit, die Frau sei ein „Werkzeug des Satans“. Das Christentum verkündete die „Kasteiung des Fleisches“, führte Fastenperioden ein, Gebetsexerziien bis zur Erschöpfung und predigte außerdem die Enthaltsamkeit. Die katholische Kirche forderte ein Leben im Zölibat nicht nur von ihren Priestern und Mönchen, nein, sie erwartete dies ebenso von der übrigen Bevölkerung. Die Ehe wurde als Ausdruck der fleischlichen Begierde angesehen; obwohl sie von der Kirche zum Sakrament erhoben worden war, betrachtete die Kirche dennoch das Zusammenleben von Ehegatten als ein Nachgeben gegenüber dem sündigen Fleische. Auf einem Kirchentreffen in Macon (Frankreich) im 9. Jahrhundert wurde eine Forderung angenommen, nach der sich jeder wirkliche Christenmensch der „Kasteiung seines Fleisches“ unterziehen sollte. Wir können uns vorstellen, welche Folgen derartige Vorstellungen über den menschlichen Körper und die menschlichen Bedürfnisse für die Frauen hatten.

Alle Religionen, die unter dem Vaterrecht entstanden sind, haben sich durch ihre diskriminierende Einstellung gegenüber den Frauen schwer versündigt, und zwar vor allem, weil sie die Unterwürfigkeit der Frau gegenüber dem Mann zu einem Gebot Gottes erhoben. Das Christentum jedoch, das sich von einer Sklavenreligion zu einer Waffe in den Händen der Mächtigen und Reichen verwandelt hatte, hat sich in dieser Hinsicht besonders an den Frauen vergriffen. Ihre enorme Expansion im Mittelalter verdankt die christliche Kirche ihrer Bereitwilligkeit, das Privateigentum, die Kluft zwischen den Klassen und die Vergewaltigung der Armen durch die herrschende Klasse zu legalisieren. Das Christentum agitierte für die Armut, Geduld und Verträglichkeit als Tugenden, denen sich die rechtlosen Leibeigenen unterwerfen sollten. Dafür würden sie eines schönen Tages reichlich im Jenseits belohnt werden. Die einschläfernde Wirkung der Religion auf Gedanke und Wille verhinderten ein Aufwachen! „Glaube ohne zu zweifeln!“ Genau diese Schützenhilfe vom Herrgott persönlich brauchte die mächtige Großgrundbesitzerklasse, um ihre Vorherrschaft abzusichern. Sich selbst zu „geißeln“ war äußerst unangenehm. Hielten sich die Ritterschaft, die Grundbesitzer oder auch nur die fanatischen Repräsentanten der Kirche selber an diese heiligen Lebensregeln? Keineswegs! Sie führten ein widerwärtiges, lasterhaftes Dasein und überließen es den Mönchen und Eremiten, „ihren Körper zu peinigen“. Den Nachlass ihrer Sünden erkauften sie sich durch Zahlung von Bußgeldern an die Klöster.

Das Christentum war also in jeder Hinsicht eine für die Machthaber sehr praktische Religion, da es die besitzlosen und unterjochten Klassen und ganz besonders die Frauen dieser Klassen in ihrer Unterdrückung bestätigte und terrorisierte. Mit Berufung auf den Allmächtigen wurde das Faustrecht in der Familie und die Unterwerfung der Frau unter die Tyrannei des Mannes legalisiert. Dies hatte natürlich verheerende Konsequenzen für das weitere Schicksal der Frau. Das Christentum machte der Frau den Vorwurf, sie verführe den Mann zu sündiger Liebe. Die Kirchenväter des Mittelalters schrieben dicke Schmöker, in denen sie versuchten, die sündhafte Natur der Frau zu beweisen. Sie machten die Frauen für die eigenen Schwächen und Begierden verantwortlich. Das einfache, ungebildete Volk aber, das nicht gelernt hatte, selbständig nachzudenken, glaubte blind alles, was die Kirche verkündete.

In Wirklichkeit nahm die Lasterhaftigkeit jedoch keineswegs ab. Im Mittelalter florierte die Prostitution, und wenn wir die Sitten jener Zeit näher unter die Lupe nehmen, so entdecken wir bald, dass sie, was Ausschweifungen aller Art betrifft, dem bürgerlich-kapitalistischen Jahrhundert in keiner Weise nachstanden. Scheinheiligkeit und Heuchelei wurden durch jene neue „Doppelmoral“, die mit ihrem ganzen Gewicht die Frau belastete, nur noch schlimmer. Die Kirche, der Mann auf der Straße, sie alle steckten ihre Nasen in die ehelichen Angelegenheiten, und eine brutale Verfolgung der jungen unverheirateten Mütter setzte ein. Nicht selten nahmen sich solche Mädchen das Leben oder wurden zu Kindermörderinnen. Kein Verbrechen, das die christliche Religion auf dem Gewissen hat, ist jedoch so entsetzlich wie die Hexenprozesse.

Das Christentum unterstützte Denkfaulheit und Konservativismus, schreckte vor allen Neuerungen zurück und betrachtete natürlich jede Form ernsthafter Gedankenarbeit als verwerflich. So wurden z. B. die Wissenschaften deshalb verfolgt, weil die Kirche befürchtete, die Wissenschaftler könnten den religiösen Humbug durchschauen und den Gläubigen die Augen öffnen. Wer auch immer geistigen Einfluss auf seine Umgebung ausübte, ohne gleichzeitig die Priestersoutane zu tragen, wurde von der Kirche energisch verfolgt. Die Frauen aber, diese „Werkzeuge des Satans“, besaßen in vielen Fällen eine wesentlich höhere Bildung als die Männer. Der Ritter war mit seinen Kriegen, Straßenräubereien, Gewaltverbrechen und Ausschweifungen aller Art voll beschäftigt. Er machte sich unbeschreiblicher Grausamkeiten schuldig und benutzte dabei alles andere als sein Gehirn. Das Denken überließ er lieber anderen. Hatte er gesündigt, so ging er zu seinem Beichtvater. Der erteilte ihm großzügig die Absolution. Bei den Frauen aus der Ritterschaft sah die Sache jedoch etwas anders aus. Ihre höhere Bildung und ihre organisatorischen Pflichten innerhalb der Burgökonomie schulten ihre Denkfähigkeit und führten dazu, dass sie ihrem Gatten geistig überlegen war. Der Beichtvater wurde deshalb zu größerer Wachsamkeit gezwungen. Er musste um jeden Preis ihre Gedanken und ihren Willen unter seinen Einfluss bringen. Scheiterte er jedoch, so entbrannte ein lautloser Kampf zwischen dem Beichtvater und der Gattin des Ritters. Und wehe ihr, falls der Ritter den klugen Anweisungen der Gattin folgte, statt auf den schlechten Rat des Priesters oder Mönches zu hören. Einen derartigen Sieg verzieh die Kirche einer Frau niemals. Sie verfolgte und schikanierte sie auf jede nur denkbare Art und stürzte sie bei passender Gelegenheit ins Verderben. Dies war bei Gott keine Schwierigkeit für einen „guten Christenmenschen“, die Frau war ja ohnehin ein „Werkzeug des Satans“ und eine „Quelle der Versuchung“. Sogar die guten Eigenschaften dieser Frauen verwandelten sich unter den Händen der Priester und Mönche zu einer Waffe gegen sie. Wenn z. B. eine Bäuerin die Krankheit ihrer Nachbarin heilte und deshalb deren Respekt und Hochachtung gewann, sah die Kirche in ihr eine Rivalin, da sie geistigen Einfluss auf ihre Umgebung ausüben konnte. Deshalb beeilte sich die Kirche, Misstrauen gegen sie zu erwecken: ihre Arbeit sei ein „Machwerk des Bösen“, oder man beschuldigte sie ganz einfach der „Hexenkunst“. Je intelligenter und gebildeter eine Frau war, desto größer ihre Chance, von der Priesterschaft zur „Hexe“ erklärt zu werden. Die Kirche inszenierte von nun ab mehrere Jahrhunderte lang eine Serie von Hexenprozessen, in denen auf entsetzliche Weise Frauen verfolgt und ermordet wurden. Besonders im 15. und 17. Jahrhundert wurden Tausende sogenannter Hexen auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Im Verlaufe eines einzigen Jahres wurden z. B. 700 „Hexen“ allein in der Stadt Fulda auf den Scheiterhaufen gezerrt, und in der norditalienischen Gegend um den Comer See herum wurden jährlich nicht weniger als 100 Frauen wegen ihres „Umgangs mit dem Teufel“ hingerichtet. In einem speziellen Buch, dem Hexenhammer, wurde genauestens beschrieben, wie man eine Hexe am leichtesten entdecken kann und wie man sich im Falle eines Falles am klügsten ihr gegenüber verhält. Viele unglückliche Opfer dieser christlichen „Frömmigkeit“ brachen unter dem Druck der schweren Folter zusammen und bekannten alle möglichen, natürlich frei erfundenen Geschichten. Sie beteuerten, sie seien auf den Blauberg zum „Hexenfest“ geflogen, sie hätten einen Vertrag mit dem Satan geschlossen, sie seien bisweilen in Tiergestalt aufgetreten, sie hätten Menschen verzaubert oder aber Unglück und Krankheiten über sie gebracht usw.

Das einfache und ungebildete, abgestumpfte und gemeine Volk glaubte an alle diese erfundenen „Sünden“, und der Priesterschaft konnte das im eigenen Interesse nur recht sein. Für uns ist an der ganzen Geschichte vor allem die Tatsache interessant, dass die Frauen offenbar alles andere als gehorsame und harmlose Töchter der Kirchenhirten waren, sonst hätten diese engstirnigen Diener der Kirche wohl kaum gegen sie in allen diesen zahlreichen Hexenprozessen gewütet. Im Laufe der Zeit jedoch wurde die Frau endgültig gezähmt, da ihr durch die ökonomischen Verhältnisse schließlich jede Initiative geraubt wurde und sie ihre geistigen und praktischen Fähigkeiten einbüßte. Die Verfolgung der Frauen wegen Hexenkunst und Zaubertricks begann bereits in der Mitte des Mittelalters. Nachdem der Stein erst einmal ins Rollen gekommen war, war das Ende dieser Hexenprozesse nicht mehr abzusehen. Sie wurden Jahrhunderte hindurch fortgesetzt, ja auch dann noch, als die Frau an den häuslichen Herd verbannt worden war und nur noch als Anhängsel ihres Mannes funktionierte.

Wir wollen nun die heutige Vorlesung kurz zusammenfassen: Vom 9. bis 15. Jahrhundert, also im Zeitalter des Feudalismus und der Naturalwirtschaft, war die Frau zwar unselbständig und rechtlos, jedoch weit besser gestellt, als in der darauffolgenden Epoche der sich ankündigenden kapitalistischen Ökonomie, die durch ein Aufblühen von Handel, Kapital und Manufaktur charakterisiert ist. Die Aristokratin, die den Burghaushalt organisierte, genoss gewisse Vermögensprivilegien und Rechte, die ihr Macht über die anderen Klassen der damaligen Gesellschaft gaben. Ihrem Manne gegenüber war sie jedoch völlig rechtlos und auch dem Gesetz nach seine Untergebene. Gleichheit zwischen den Geschlechtern gab es nicht. Die Handwerkerin hatte in ihrer Eigenschaft als Vertreterin eines produktiven Berufes gewisse Rechte. In der Familie jedoch stand die Macht des Hausherrn über Weib und Kinder gar nicht erst zur Diskussion und in der Bauernfamilie war es genauso. Theoretisch, mehr symbolisch und als liebenswerte Erinnerung an die Vergangenheit, schätzte der Bauer die Frau nach wie vor als Erhalterin der Sippe und auch als Hauptproduzentin der Ökonomie; in der Praxis behandelte der Bauer jedoch seine Frau wie seine Dienstmagd und Sklavin. So also lebte die Frau im Feudalsystem.

Bevor sie diese schwere Last, die Rolle der Dienstmagd und rechtlosen Sklavin endgültig abschütteln konnte, musste die Frau noch eine harte und schonungslose Schule durchmachen, womit ich meine, dass sie gezwungen wurde, ihr Leben als Lohnsklave unter der Herrschaft des Kapitals zu fristen. Der Kapitalismus zog die Frau zur produktiven Arbeit heran und schuf damit die notwendige Voraussetzung finden Kampf der Frauen um Gleichberechtigung und Selbstbefreiung. Die endgültige Befreiung der Frau ist jedoch erst in dem am meisten entwickelten Produktionssystem unserer Periode möglich – dem kommunistischen – und zwar, indem man die Kräfte der Frau auf produktive Weise für das Kollektiv sinnvoll einsetzt.

5. Die Stellung der Frau während der Blütezeit des Handelskapital und in der Periode der Manufaktur

Genossinnen, heute werden wir dazu übergehen, die Stellung der Frau in der Entstehungsperiode des Kapitalismus zu untersuchen. In der letzten Vorlesung haben wir uns mit dem Feudalismus, der Leibeigenschaft, dem schwach entwickelten Tauschhandel und dem glühenden 2 Handwerk in den Städten beschäftigt. Wir entdeckten, dass auch damals – wie schon in allen anderen früheren ökonomischen Entwicklungsperioden – die Rolle der Frau in der Gesellschaft und ihre Rechte abhängig waren von ihrer Stellung in der Produktion. Im Feudalismus mit seinem Naturhaushalt war die Majorität aller Frauen nicht an der Produktion beteiligt. Die abgekapselte individuelle Familienökonomie hielt die Frauen von der produktiven Arbeit für das Gesamtkollektiv fern und schränkte sie auf solche produktive Arbeit ein, die der Versorgung der eigenen Familie dienten. Obwohl die Frau ungeheuer viel Arbeitsenergie auf ihre Tätigkeit im Haushalt verwendete und körperlich schwer arbeitete, wurde ihre Arbeit in der Volkswirtschaft nicht gewürdigt, weil sie die Produkte ihrer Arbeit nicht verkaufen konnte. Wir haben auch festgestellt, dass die Stellung der Frau im Mittelalter ihrer Klassenzugehörigkeit entsprechend variierte. Die damalige Gesellschaft war aus folgenden Klassen zusammengesetzt: dem Adel, dem Bürgertum, der Bauernschaft und der Leibeigenschaft

Die leibeigene Bäuerin hatte aus denselben Gründen wie ihr Mann, der leibeigene Bauer, ihre Rechte eingebüßt. Mann wie Frau waren abhängig und rechtlos. Die Bauern in Deutschland z. B. respektierten die Frau in gewisser Weise, da sich in ihrer Volkstradition noch immer Bruchstücke ihrer früheren Funktion aus der Periode der Naturalwirtschaft erhalten hatten. Bei den Nomadenstämmen des Altertums war die Frau einzig und allein Sklavin und Dienstmagd des Mannes gewesen. (Die russische Bauernschaft ist von den Sitten und Bräuchen der Nomaden geprägt worden.) Mit der Sanktionierung von Privateigentum und Familie setzte sich auch in der Bauernschaft das Vaterrecht durch, und die Frau wurde auf das begrenzte Betätigungsfeld ihres Haushaltes zurückgedrängt. Ein Teil der bürgerlichen Frauen nahm an der Produktion teil. Das war jedoch keineswegs die Majorität. Die freie Handwerkerin hatte als Zunftmitglied gewisse Rechte, sofern ihre Produktion zum Wohlstande der Stadt beitrug. In der Familie jedoch wurde sie von ihrem Manne oder ihrem Vater bevormundet, der als „Familienversorger“ betrachtet wurde. Solange die Majorität der Frauen nach wie vor von der Arbeit der Männer lebte und ausschließlich solche Arbeiten ausführte, die für die Volkswirtschaft von zweitrangiger Bedeutung war, blieb diese Bevormundung bestehen. Innerhalb der Klasse der Großgrundbesitzer und Feudalherren lebte die Ehefrau unter der Vormundschaft ihres Mannes, war jedoch ansonsten angesehen, da sie ja für die Produktion des Burghaushaltes verantwortlich war. Bereits in der Periode des Feudalismus wurde jedoch der Naturalhaushalt mehr und mehr vom Tauschhandel verdrängt und auch das Handwerk begann sich zu entwickeln. Das Geld als Zahlungsmittel setzte sich durch und die Schar jener gemieteten Diener, die gegen Bezahlung Bestellungen entgegennahmen und Aufträge ausführten, wuchs rasch. Die Bedeutung der Frau als wirtschaftlicher Organisator sank dadurch völlig herab. Es war nun ja nicht länger notwendig, auf Jahre hinaus Vorräte zu hamstern und diese fachmännisch einzulagern oder die laufende Produktion innerhalb eines Burghaushaltes zu beaufsichtigen. Auch eine gewissenhafte Überwachung und Verteilung der gespeicherten Vorräte waren überflüssig geworden, da die meisten Bedürfnisse ohne große Schwierigkeiten durch eine Einkaufstour in das nächste Handels- und Handwerkszentrum befriedigt werden konnten. Die Ritterburgen, die zwischen dem 9. und 12. Jh. noch eine geschlossene ökonomische Einheit unter der Leitung der Ehegattin des Eigentümers gewesen waren, hatten sich bereits im 14. Jh. in Räubernester verwandelt. Die Ritterschaft war jetzt nur noch auf Profitmaximierung aus, um Burg und Bewohner mit allem nur erdenklichen Luxus und Reichtum ausstatten zu können.

Das aber konnte sie sich nur solange leisten, wie sie die Bauernschaft aufs Blutigste aussaugte und die Bürgerschaft hart besteuerte. Die Frauen der Aristokratie verachteten bald jede Form von Arbeit und führten nicht einmal mehr ihren eigenen Haushalt. Sie überließen ihn ihren Leibeigenen oder der Dienerschaft. Die Aufgabe dieser Frauen beschränkte sich darauf, „Weibchen“ zu spielen und Kinder in die Welt zu setzen.

Nachdem die feudale Wirtschaftsform ihren Höhepunkt erreicht hatte, wurde sie zu einem Hemmschuh für die Weiterentwicklung der Produktivkräfte. Das gleiche gilt auch für die Arbeit der Leibeigenen. Das nun neu entstehende wirtschaftliche System zielte auf einen größtmöglichen Gewinn beim Tauschhandel ab, und in Übereinstimmung mit den unausweichlichen ökonomischen Entwicklungsgesetzen wurde das existierende, veraltete Wirtschaftssystem durch ein völlig neues abgelöst, das aus dem Tauschhandel hervorging, dem Kapitalismus.

Bitte geduldet Euch noch einen Augenblick. Bevor wir dazu übergehen können, die Stellung der Frau im Kapitalismus zu untersuchen, sollt Ihr Euch zuerst noch kurz klarmachen, dass der Kapitalismus keineswegs unmittelbar in vollendeter Gestalt auftrat, so wie er uns heutzutage bekannt ist. Im Laufe seiner Entwicklung hat er natürlich verschiedene Stadien durchgemacht. Der Kapitalismus begann mit einem Prozess der Kapitalkonzentration sowohl im Handel (damals war nämlich das Handelskapital am rentabelsten) als auch im Manufaktursystem. Gegen Ende des 18. Jh. ging das Manufakturwesen schrittweise in die Fabrik- und Hüttenindustrie über. Nun gewann das Industriekapital gegenüber dem Handelskapital einen Vorsprung und wurde mehr und mehr zu dem die Wirtschaft dominierenden Faktor. Wir befinden uns nun in der Periode uneingeschränkter Konkurrenz, und eine wilde Schlacht beginnt zwischen den Kleinproduzenten und den Großunternehmern. Rücksichtslos werden diese Kleinproduzenten durch das Großkapital ruiniert, und auf dem Arbeitsmarkt herrscht folglich ein dauernder Überschuss an frei verfügbaren Arbeitskräften. Im 19. Jh. häufen sich dann die Zusammenschlüsse von Unternehmen in Form von Trusts, die sich gleichzeitig mit dem Sieg der Großproduktion durchsetzen. Außerdem entsteht eine im kapitalistischen Wirtschaftssystem bisher unbekannte Kraft, nämlich das Finanzkapital.

Die Überproduktion der am weitesten entwickelten Länder und das Suchen nach passenden Absatzgebieten für das akkumulierte Kapital lassen die kapitalistischen Staaten den Weg der kolonialen Eroberungspolitik einschlagen. Damit hat die kapitalistische Entwicklung endgültig ihren Höhepunkt erreicht und danach kann notwendigerweise nur noch der Zerfall dieses Produktionssystems erfolgen, da die kommenden ökonomischen Aufgaben eine wesentliche Weiterentwicklung der Produktivkräfte erfordern. Das kapitalistische System hemmt aber gerade die Entfaltung dieser Kräfte und lässt keinerlei Spielraum für die wirtschaftliche Kreativität der Arbeiterklasse, die die neue Klasse der Hauptproduzenten ist. Da gibt es nur einen Ausweg: ein neues und höher entwickeltes wirtschaftliches System muss sich durchsetzen, das eine Entfaltung der ökonomischen Schaffenskraft und eine volle Entwicklung jenes, in einem arbeitenden Kollektiv liegenden Arbeitspotentials möglich macht, d. h. der Kommunismus. Ich bin absichtlich ein wenig von unserem eigentlichen Thema abgewichen, weil ich Euch – zwar nur in groben Zügen – ein Gesamtbild über die Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus geben wollte. Jetzt aber wollen wir wieder auf die ersten Anfänge dieses Entwicklungsprozesses zurückkommen, auf die Periode des entstehenden Handelskapitals. Es ist dies eine Zeit, in der sich der Kampf zwischen Feudalismus und Kapitalismus zuspitzte und der Kapitalismus die veraltete Form des Naturalhaushaltes überflüssig machte. In einigen Ländern, wie z. B. Italien, war dieser Prozess bereits zu Beginn des 12. Jh. abgeschlossen, in anderen Ländern wie Frankreich und England begann er nicht vor dem 14. Jh. und in Deutschland nimmt er das gesamte 17. Jh. in Anspruch und reicht bis ins frühe 18. Jh. In Russland gar sehen wir die ersten Ansätze dieser Entwicklung erst zu Beginn des 18. Jh., sie begann unter der Herrschaft Peters des Großen und dauerte bis zum 19. Jh. In Asien ist sie bis heute noch nicht abgeschlossen. Die Ungleichzeitigkeit der kapitalistischen Entwicklung in den verschiedenen Ländern lässt sich durch eine Reihe von Umständen erklären, die jedoch mehr zufälliger Natur sind. Im Großen und Ganzen verläuft das erste Entwicklungsstadium des Kapitalismus überall ähnlich. Da aber dieses Stadium von ganz entscheidender Bedeutung für das Schicksal kommender Frauengenerationen war, wollen wir uns jetzt eingehend mit diesem beschäftigen.

Was charakterisierte das kapitalistische System? Wodurch unterschied es sich von den bisherigen ökonomischen Entwicklungsstadien? Der Kapitalismus basierte nicht mehr auf der Arbeit leibeigener Bauern, sondern auf der des freien Lohnarbeiters. Während der Naturalwirtschaft mit dem nur schwach entwickelten Tauschhandel stellte sich die Produktion auf die Befriedigung täglicher Bedürfnisse ein und nicht auf den Verkauf. In der handwerklichen Produktion arbeitete der Handwerker auf Bestellung und für ein abgegrenztes Absatzgebiet. Er verkaufte nicht seine Arbeitskraft, sondern das Produkt seiner Arbeit. Unter dem kapitalistischen Produktionssystem jedoch verkaufte der freie Lohnarbeiter seine Arbeitskraft dem Kapitalisten. Während der goldenen Ära des Handwerks war der Meister an einer Steigerung der Arbeitsproduktivität gar nicht interessiert. Die Preise wurden von der Zunft festgesetzt und um die Bestellungseingänge brauchte er sich nicht zu sorgen. Die Produktivkräfte wuchsen nur langsam. Im Kapitalismus jagt jedoch der Unternehmer bzw. Aufkäufer ständig dem Profit nach, d. h. aber, dass er sich sowohl um eine Erweiterung seines Absatzmarktes als auch um eine Steigerung der Arbeitsproduktivität bemüht. Letzteres kann entweder durch erhöhte Ausbeutung oder aber durch Einführung neuer Produktionsformen erreicht werden – ein Beispiel hierfür ist das Manufaktursystem und die Weiterentwicklung der Technik. Während die Zunftmeister auf jede erdenkliche Art versuchten, eine Erhöhung der Lehrlingsanzahl zu verhindern, da sie die Konkurrenz fürchteten, waren die kapitalistischen Unternehmer hingegen daran interessiert, über eine möglichst große Anzahl von Arbeitskräften, bei möglichst kleinen Unkosten, zu verfügen. Folglich waren billige Arbeitskräfte sehr begehrt und diese Nachfrage war es auch, die den Frauen den Weg in die Produktion öffnete.

Die allerersten Anfänge des Kapitalismus, also zwischen dem 14. bzw. 17. und 18. Jh., waren schwere Zeiten für jene, die nicht das Glück hatten, zu den Besitzenden zu gehören. Es war gleichzeitig eine grimmige Periode voller Umwälzungen, die für die Menschheit von großer Bedeutung war. Es waren aber auch Jahre eines grausamen Bürgerkrieges zwischen der degenerierten Aristokratie und der aufstrebenden Bourgeoisie, und es waren Jahre, in denen das bisher vorherrschende Produktionssystem zerschlagen wurde.

Die Entstehung dieses neuen ökonomischen Systems war ein schmerzhafter Prozess. Städte und Dörfer wurden in Schutt und Asche gelegt. Die Armee der Bettler, Landstreicher, Obdachlosen und Arbeitslosen wuchs lawinenartig. Vor allem alleinstehende Frauen wurden während einer relativ kurzen Periode massenhaft auf den offenen Arbeitsmarkt getrieben; da gab es die Frauen ruinierter Handwerker oder jene Bauernfrauen, die vor dem unerträglich hohen Steuerdruck ihrer Fronherren geflohen waren, die zahllosen Witwen der gefallenen Soldaten aus den ununterbrochen währenden National- und Bürgerkriegen und außerdem die uferlose Schar von Waisenkindern. Ein hungriges heimatloses Frauenheer von der Schattenseite der Gesellschaft überschwemmte die Städte und überfüllte die Landstraßen. Ein großer Teil dieser obdach- und arbeitslosen Frauen versank im Morast der Prostitution, während andere die Werkstätten der Handwerker aufsuchten und ihre Arbeitskraft mit wesentlich größerer Zähigkeit anboten, als dies heutzutage im Kapitalismus üblich ist. In den Werkstätten konsolidierten die weiblichen Hilfskräfte der Meister ihre selbständige Stellung. Oft waren es die Frauen, die Witwen waren und deren listige Töchter, die fest damit rechneten, dass sie mit ihrer handwerklichen Geschicklichkeit sich einen passenden Ehemann aussuchen könnten. Der Ansturm billiger Arbeitskräfte auf die handwerklichen Berufe war Ende des 14. und Anfang des 15. Jh. so massiv, dass die Zunftorganisationen aus Furcht vor der weiblichen Konkurrenz dazu übergingen, durch restriktive Bestimmungen der Frauen den Zutritt zu den handwerklichen Berufen zu versperren. Gewisse Zünfte untersagten es ihren Meistern, Frauen als Lehrlinge einzustellen. Außerdem wurde versucht, den Frauen die Beschäftigung in bestimmten handwerklichen Berufen zu untersagen. In Frankreich verbot man z. B. in einem Gesetz aus dem Jahre 1640 allen Frauen, Spitze zu klöppeln, und das, obwohl es sich hier um einen typisch weiblichen Beruf handelte. Hunger, Armut und Obdachlosigkeit zwangen die Frauen natürlich dazu, die gegen ihre Interessen gerichteten Gesetze zu unterlaufen. So suchten sie z. B. Arbeit in Berufen, die noch nicht ausschließlich den Männern vorbehalten waren. Weil sie sich ihrer hoffnungslosen Ausgangsposition bewusst waren, unterschätzten die Frauen jedoch den Wert ihrer eigenen Arbeitskraft. Dies hatte eine weitere Verschlechterung der Verhältnisse, unter denen die arbeitenden Frauen zu leben hatten, zur Folge. Es ist deshalb keine Überraschung, dass seit dem Ende des 13. Jh. die Zahl der Nonnenklöster auffallend zunahm. Das Kloster war ein sicherer Zufluchtsort für die alleinstehende und schutzlose Bauernfrau oder Bürgerin. Hier war sie vor Armut und Übergriffen der Herrschenden und Reichen geschützt. Auch gut situierte Frauen zogen sich ins Kloster zurück, wenn sie sich vor der Despotie ihrer Ehemänner und Väter retten wollten. Im späten Mittelalter begann man, besondere Zufluchtsstätten für alleinstehende Frauen, Mädchen und Witwen einzurichten, die „Wohnungen Gottes“ genannt wurden. Diese Heime wurden gewöhnlich von vermögenden Wohltätern finanziert, die sich durch derlei gute Werke einen Freiplatz im Jenseits ergattern wollten. Diese „Wohnungen Gottes“ waren Wohngemeinschaften für fleißige Frauen, eine Art Arbeitskommune, in der ein streng religiöses Arbeitsregime herrschte. Die Bewohnerinnen solcher Heime wurden zu einem Leben in Enthaltsamkeit gezwungen und mussten jede ihnen zugeteilte Arbeit ausführen. Sie trugen ihre eigene Tracht und als Kopfbedeckung ein weißes Tuch, darin unterschieden sie sich von den anderen weiblichen Stadtbewohnern. Sie wurden deshalb „weiße Hauben“ und „Läuferinnen“ genannt. Diese Frauen kauften sich durch Arbeit frei. Sie machten Krankenbesuche, nähten, spannen und führten jeden Arbeitsauftrag aus, den die Behörden der Stadt oder einzelne Personen von ihnen begehrten. Die „Wohnungen Gottes“ florierten zwischen dem 13. und frühen 15. Jh., danach zerfielen sie aufgrund der veränderten Verhältnisse. Die Hauptursache war die Abwanderung der alleinstehenden Frauen in die Manufakturbetriebe, die überall entstanden. Doch auch noch im 15. und 16. Jh., einem wesentlich späteren Zeitpunkt also, versuchten die Frauen in unterschiedlichen Vereinen und Organisationen gegen die Verschlechterung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen zu kämpfen.

Das 15. und 16. Jh. hat den klingenden Namen „Renaissance“ erhalten. Es wäre richtiger gewesen, diese Periode die Entstehungszeit des Kapitalismus zu nennen. Der geschlossene Burg- und Naturalhaushalt war überholt. Die Produktivkräfte erforderten nun, um sich weiter entfalten zu können, ein anderes Wirtschaftssystem. Das wachsende Handelskapital suchte neue Wege der Profitmaximierung, um sein Kapital verzinsen zu können. An die Stelle des Großgrundbesitzers, der mit der Peitsche seine Leibeigenen angetrieben hatte, trat eine neue Figur, die des Unternehmer-Aufkäufers, der die lebendige Arbeitskraft der Armen kaufte und das ständig wachsende Proletariat dazu zwang, ihm die Taschen zu füllen. Die ersten Opfer dieser rasch anwachsenden Schicht gieriger Unternehmer wurden jene Frauen, die nirgends Schutz und Unterstützung finden konnten. Parallel zu der durch die Zunftordnung geschützten Handwerksproduktion entstand nun ein völlig neuer Wirtschaftszweig, „die Heimarbeit“. Sie entwickelte sich zwischen dem 15. und 17. Jh. in fast allen europäischen Ländern.

Die Heimarbeit stellt eine Übergangsform zwischen Handwerks- und Lohnarbeit dar. Sie unterscheidet sich von der handwerklichen Produktion insofern, als das Handwerk normalerweise keinen Vermittler zwischen sich und seinem Auftraggeber kannte. In der Heimindustrie dagegen veräußert der Produzent seine Produkte durch einen Aufkäufer auf einem bestimmten Markt. Der Heimarbeiter verzichtet auf einen gewissen Anteil des Gewinnes an jedem Produkt zugunsten des Aufkäufers. Um sich durch seine Arbeit überhaupt versorgen zu können, d. h. ein Existenzminimum zu erreichen, war der Heimarbeiter bzw. die Heimarbeiterin dauernd gezwungen, die eigene Arbeitsproduktivität zu steigern. Dies führte zu einer gewissen Zunahme der Produktivität, aber auch gleichzeitig zu einer zusätzlichen Form der Arbeitsausbeutung. In dem Maße, wie die Anzahl der Heimarbeiter zunahm und diese immer größere Mengen Materials bearbeiteten, um sich ernähren zu können, wird es nicht nur notwendig, die eigenen Produkte an den Aufkäufer zu veräußern, sondern gleichzeitig auch Arbeitsmaterial von ihm zu beziehen. Dies bedeutete den Übergang zur Akkordarbeit oder Lohnarbeit.

Neben dem dahinsiechenden Handwerk machte sich zwischen dem 11. und 14. Jh. in den Großstädten Italiens eine Reihe von Heimindustrien breit. So vor allem die Webereien, Spinnereien, Seidenstickereien und andere Arbeitszweige, die hauptsächlich Frauen beschäftigten. In Flandern, einem Teil Hollands und in England entstand im 15. und 16. Jh. eine Bekleidungs- und Textilfabrikation. Die Produktion lag in den Händen von Unternehmer-Aufkäufern, die Heimarbeiter anstellten. Es waren jedoch nicht nur obdachlose Frauen, die auf diese Weise in die Produktion einbezogen wurden. Die Heimarbeit gab der Bäuerin die Chance, in der Warenproduktion zu arbeiten, ohne deshalb gleich Heim und Familie im Stich lassen zu müssen. Die Heimarbeit wurde in jenen düsteren Zeiten der permanenten Steuereintreibung durch die Großgrundbesitzer ein wichtiger ökonomischer Nebenerwerb für die in der Landwirtschaft beschäftigte Bevölkerung. Je mehr Menschen jedoch in den Kreislauf der Produktion eingegliedert wurden, desto unverschämter wurden die ausbeuterischen Methoden der Unternehmer und Aufkäufer und desto trostloser gestaltete sich das Leben der Armen. Die Situation der Frauen war besonders bedauernswert. Die Unternehmer wussten ganz genau, dass sie mit diesen Armen machen konnten, was sie wollten. So konnten sie z. B. der entflohenen Bauernfrau damit drohen, sie an ihren Fronherrn auszuliefern, oder der alleinstehenden Bürgerin, sie wegen Prostitution und Landstreicherei zu denunzieren, was eine strenge und beschämende Bestrafung nach sich zog. Die weiblichen Heimarbeiterinnen und später dann die Lohnarbeiterinnen in der Manufaktur akzeptierten deshalb alle Bedingungen, die ihnen von ihrem Zwischenhändler, diesem Blutsauger, diktiert wurden.

Während der Blütezeit des Handwerks war die Frau zwar innerhalb der Familie unmündig und ihrem Manne gegenüber rechtlos gewesen, genoss jedoch gleichzeitig als Zunftmitglied und Produzentin Respekt und Ansehen. Die Heimarbeiterin verlor auch diese Privilegien. Ihre schwere Heimarbeit – damit will ich ausdrücken, dass sie täglich bis spät in die Nacht hinein schuftete – wurde vom Unternehmer-Aufkäufer ganz einfach als bloße Ergänzung zur Haushaltsarbeit bewertet. Jene bescheidenen Zunftordnungen von einst, die die Frauenarbeit innerhalb des Handwerks geschützt hatten, wurden für die Heimarbeiterinnen kurzerhand abgeschafft. Auch heute ist es immer noch so, dass die Frauen, die sich ihr Brot durch Heimarbeit bei einem Unternehmer verdienen müssen, am schlechtesten dran sind. Es gibt also einen guten Grund, dass das Produktionssystem der Heimarbeit ein „System blutiger Ausbeutung“ genannt wird.

Die größte Geißel der Heimarbeiter waren die einerseits unendlich langen Arbeitstage und andererseits der niedrige Stundenverdienst. Die rasch zunehmende Konkurrenz zwischen den nicht organisierten Heimarbeitern und die ständige Furcht davor, Bestellungen des eigenen Unternehmer-Aufkäufers zu verlieren, trieb die Arbeiter dazu, ihren Arbeitstag auf durchschnittlich 14 bis 15 Stunden auszudehnen. Je länger der Arbeitstag jedoch wurde, desto niedriger wurde das Einkommen und desto mehr verarmte die Heimarbeiterin und ihre Familie. Der Handel mit dem Körper der Frau wurde jetzt auch am helllichten Tage betrieben. Die Prostitution außerhalb der Bordelle begann die Industriestädte zu überschwemmen, in denen der aufkommende Kapitalismus sich solide eingenistet hatte.

Oft waren diese Aufkäufer, Handelsreisende und Kaufleute, übrigens ein kühner und unternehmungslustiger Menschentyp. Auf ihrer Jagd nach neuen Märkten unternahmen sie draufgängerisch lange Entdeckungsfahrten und erweiterten so ihre Menschenkenntnisse. Die Suche nach neuen Märkten, führte zur Entdeckung Amerikas (1493) und zur Erschließung Indiens für die Seefahrt. Die wachsende und unternehmungslustige Kapitalistenklasse garantierte die Entwicklung der Wissenschaften und die Freiheit des Denkens. Alle jene Eigenschaften, auf denen das kapitalistische System ursprünglich errichtet worden war, Trägheit, Autoritätshörigkeit, blinder Glaube an althergebrachte Rechts- und Moralbegriffe, wurden jetzt zu Bremsklötzen der ökonomischen Entwicklung. Mit solchen überholten Vorstellungen machte die aufstrebende Bourgeoisie kurzen Prozess. Sie durchbrach das Bollwerk der herrschenden katholischen Kirche und zwang die Kirchenvertreter, die Macht des Geldes über Titel anzuerkennen. Ja, selbst die Unfehlbarkeit des Papstes wurde in Frage gestellt. Die Bourgeoisie entfaltete in den Religionskriegen die Fahne der Rebellion und bekämpfte die Macht der Großgrundbesitzer und den Feudalismus. Die Bourgeoisie setzte auch ihre Auffassung durch, dass das Kapital wertvoller sei als Stammgüter mit zweifelhafter Rentabilität.

Diese Übergangsperiode zu einem völlig neuen Produktionssystem wurde durch zahlreiche Krisen erschüttert. Es war aber auch eine glänzende und reiche Zeit, in der die düstere, erstickende und brutale Atmosphäre des Mittelalters zu Grabe getragen wurde. Als die Menschheit erst einmal den Bewegungsgesetzen der Gestirne und anderen wissenschaftlichen Grundwahrheiten auf die Schliche gekommen war, entwickelten sich Wissenschaft und Denken sprunghaft. Seitdem die Gesellschaft nicht mehr wie im Mittelalter in Stände aufgeteilt war, sammelten sich die rasch anwachsenden Reichtümer in den Händen weniger, während die große Mehrheit auf eine besondere Weise verarmte. Jetzt existierten nur noch zwei einander feindlich gegenüberstehende Hauptklassen: die der Besitzenden und die der Eigentumslosen. Die Entstehung der Geldwirtschaft veranlasste die Feudalherren dazu, die bisher in Form von Naturalien geleisteten Tageswerkspflichten und Pachtzahlungen durch für die Bauern äußerst lästige Geldabgaben zu ersetzen. Dadurch spitzte sich das Verhältnis zwischen Großgrundbesitzern und Bauernschaft mehr und mehr zu. Die Bauern rebellierten mit offener Feindschaft gegen ihre Großgrundbesitzer. Sie traten dem „Jungen Glauben“, d. h. den Lutheranern, Protestanten-Calvinisten und allerlei Sekten bei. Ganz Europa erlebte eine Sturmflut von Bauernkriegen. In den Städten teilte sich die Bevölkerung in zwei Lager: die Vertreter des Handelskapitals, die Reichen, auf der einen Seite, die „Zunftarbeiter“ und „Heimarbeiter“ auf der anderen Seite. Es entbrannte ein bitterer Kleinkrieg zwischen diesen beiden Parteien. Die wohlhabenden Händler hatten das Kommando in den Städten und erweiterten mit der Zeit ihre Machtsphäre auch auf das Hinterland, wo die verarmten Bauern versuchten, durch zusätzliche Heimarbeit genügend Geld für die verhassten Pachtabgaben und Steuern zusammenzukratzen. Das Leben war ein einziger, verzweifelter Kampf ums Dasein, ein ewiger Wettbewerb und Streit. Die alternde Welt des Feudalismus brach zusammen. Der Kapitalismus lag jedoch immer noch in seinen Windeln. Welche ökonomische Position hatte die Frau in dieser wirtschaftlichen Krisenzeit?

Auch in der neuen Gesetzgebung des 14. und 15. Jh. wurde die Frau nach wie vor als ein unmündiges, vom Manne abhängiges Geschöpf betrachtet. Verglichen mit den Bräuchen und Sitten des Mittelalters hatte sich die Lage der Frau in dieser glänzenden Epoche der „Renaissance“ eher verschlechtert als verbessert. Im Interesse des Kapitals wurden die zusammengerafften Reichtümer nicht zwischen zahlreichen Erben aufgesplittert; dadurch verloren die Töchter ihr Erbrecht. Während der Ritterzeit war die Frau gesetzlicher Eigentümer ihrer Mitgift gewesen. Die Gesetzgeber der Renaissance jedoch bestimmten, um den Prozess der Kapitalakkumulation zu garantieren, dass der gesamte Besitz der Ehefrau an ihren Gatten übergehe. Gesetze wurden erlassen, die die Prostitution bestraften, ohne aber nur die geringste Rücksicht auf jene Verhältnisse zu nehmen, die die Frauen in dieses Gewerbe getrieben hatten. Die neue Gesellschaftsordnung, die eine Folge der Machtübernahme durch die Bourgeoisie war, führte keineswegs zur Befreiung der Frau aus der Tyrannei des Mittelalters oder zu einer Verbesserung ihrer allgemeinen Lebensbedingungen. Die alte Rechtlosigkeit, Unterwerfung und Ausbeutung herrschten nach wie vor, nur in anderer Gestalt, und zwar auf eine Art und Weise, wie die Frau sie nie zuvor in der gesamten Geschichte der Menschheit erlebt hatte. In dieser phantastischen und unruhigen Periode, die ihre Licht- und Schattenseiten hatte, treffen wir auf zwei diametrale Frauentypen. Auf der einen Seite die bleiche, vor Arbeit und Kummer erschöpfte Schar der Heimarbeiterinnen, rechtlos, abgestumpft und vor ihrem „Wohltäter“, dem Aufkäufer bzw. Zwischenhändler zitternd, auf der anderen Seite parasitäre Geschöpfe, Frauen, die in Luxus schwammen, gierig allerlei Zerstreuungen nachjagend, um auf diese Weise ihre Freizeit auszufüllen. Diese letzteren Frauen, Gemahlinnen von Grafen und Fürsten, die damit beschäftigt waren, ihre reiches Erbe zu verschleudern, überließen natürlich alle Haushalts- und Erziehungsaufgaben ihrer Dienerschaft. Zwar hatten auch diese Parasiten keinerlei Bürgerrechte, doch wozu benötigte die wohlhabende Gattin eines Kaufmannes oder eines Grafen gesellschaftliche Rechte, solange die Macht des Geldes und des Titels ihr ein angenehmes Leben garantierte. Die Ehe war für sie nach wie vor eine rein geschäftliche Angelegenheit, eine Geldfrage. Seitdem der geistige Einfluss der Kirche abnahm, hatten die vornehmen Damen gelernt, auf den Segen des Priesters bei ihren Liebschaften zu verzichten, schließlich gab es ja Wege, auf denen man die Gesetze umgehen konnte. Die kraftstrotzende Renaissancezeit bot ein kunterbuntes Bild allgemeiner Sittenlosigkeit und hemmungsloser Jagd nach Liebesvergnügungen. Die damaligen Schriftsteller, vor allem der großartige Satiriker und Geschichtsschreiber Boccaccio, haben diese Sittenlosigkeit schonungslos und ehrlich beschrieben.

In der Epoche der Renaissance entwickelten sich also die Frauen der herrschenden Schicht zu seelenlosen, scheinheiligen, eitlen und unnützen Geschöpfen, die den Männern ihre Zeit vertrieben. Diese gesellschaftlichen Parasiten interessierten sich in der Hauptsache für Kleider und Vergnügen. Die Nonnen des Mittelalters, die ernsthaft über die „ewigen Wahrheiten“ nachgedacht hatten oder sich mit Kindern beschäftigt hatten, waren diesen Frauen haushoch überlegen; ebenso eine Markgräfin z. B., die das Regiment über die gesamte Burgwirtschaft führte und den Verteidigern der Burg in Zeiten feindlicher Belagerung unerschrocken zu Hilfe eilte.

Auf der Sonnenseite der Gesellschaft ertönte das Gezwitscher und Gelächter jener Schönen, die, ausstaffiert in schwerer Seide und mit Edelsteinen bestückt, gierig den Zerstreuungen aller Art nachjagten. In den ärmsten Bevölkerungsschichten hingegen führte die Bäuerin und Heimarbeiterin ein elendes Dasein, gebeugt unter der Bürde einer Arbeit, die weit über ihre Kräfte ging. Selbst die Handwerkerin, die einer starken Zunft angehörte, blickte mit Schrecken in die düstere Zukunft, da sie befürchten musste, durch die erbarmungslose Konkurrenz auf die Straße gesetzt zu werden. Während manche Leute sich amüsierten und Feste feierten, litten andere unter Hunger, Unsicherheit und Armut. Wahrhaftig, dies war wirklich ein Jahrhundert der Gegensätze. Ein Jahrhundert, in dem sich die Menschheit in rasender Fahrt in verschiedene Klassen aufteilte, in dem die Macht des Geldes zementiert wurde, die freie Arbeitskraft entstand und sich zum Verkauf anbot. Wir tun der Renaissance jedoch unrecht, wenn wir nur ihre düsteren Aspekte sehen. In dieser Periode allgemeiner Umwälzungen öffneten sich auch die Schleusen für die menschliche Kreativität auf allen möglichen Gebieten, angefangen bei neuartigen Produktionsmethoden bis hin zu den Errungenschaften auf dem Gebiete der Wissenschaften und Philosophie. Der menschliche Verstand suchte und experimentierte, während der menschliche Wille schuf und befestigte.

Die menschliche Persönlichkeit hatte nie so hoch im Kurs gestanden wie in dieser Zeit. In der griechischen und römischen Kultur wurde der einzelne nur in seiner Eigenschaft als Staatsbürger, nicht jedoch als Mensch gewürdigt. Im Mittelalter konnte man den Wert eines Menschen an seiner Standeszugehörigkeit und seinen Titeln ablesen. Die erstarkende Bourgeoisie forderte nun das Recht auf Anerkennung der menschlichen Persönlichkeit. In der ersten Akkumulationsperiode des Kapitals war das Vermögen des Kaufmanns bzw. Unternehmers noch ein Resultat seiner persönlichen Arbeit, seiner Scharfsinnigkeit, Begabung und seines Mutes, seiner Entschlossenheit, Geistes- und Willenskraft. Deshalb schätzte die Bourgeoisie nicht nur ihr Vermögen höher ein als Standeszugehörigkeit und Titel, sondern auch die individuellen Leistungen und Eigenschaften, die mit der Familienabstammung nichts zu tun hatten. Diese neuen Vorstellungen über den Wert des Menschen spielten auch eine Rolle im Verhältnis zur Frau, wenn auch nur innerhalb der Bourgeoisie. Ob die „Plebejer“, die unter der Arbeit geknechteten Ärmsten der Gesellschaft, eine „menschliche Persönlichkeit“ hatten oder nicht, war nach wie vor völlig uninteressant.

In dieser Übergangsperiode genoss die vornehme Frau innerhalb der aufstrebenden Bourgeoisie eine gewisse persönliche Anerkennung und begrenzte Freiheiten. Diese Frauen durften nicht nur auf rauschenden Festen und zahlreichen Kaffeekränzchen ihre Zeit totschlagen, wenn sie wollten, hatten sie auch freien Zutritt zu wissenschaftlichen und philosophischen Studien. Im Umgang mit den hervorragendsten Denkern ihrer Zeit konnten sie ihr Wissen erweitern und, falls es ihnen behagte, konnten sie direkt oder indirekt in der Politik mitwirken. Die Renaissance ist somit null reich an willensstarken und ausdrucksvollen Frauengestalten. Zahlreiche Frauen standen in regem Briefverkehr mit zeitgenössischen Philosophen und Dichtern. Um solche Frauen sammelten sich Zirkel gleichgesinnter, progressiver Menschen. Sie beschirmten und unterstützten mit ihrer Freundschaft Gelehrte, Künstler und Dichter.

Die Frauen waren getreue und aktive Kampfgefährten auf beiden Seiten der Bürgerkriegsparteien. Frauen beteiligten sich an den religiösen Volksbewegungen, die mit Feuer und Schwert durch Europa zogen und der Mittelpunkt des Ringens zwischen Feudalismus und Bourgeoisie um die Vorherrschaft waren. Oft überraschten sie ihre Feinde durch ihre große Zähigkeit und Standfestigkeit. Die Bürgerkriege des 16. Jh. (ich meine den Kampf zwischen den bürgerlichen Hugenotten und den feudalen Katholiken in Frankreich, den Religionskrieg zwischen den Lutheranern und den Anhängern der katholischen Kirche in Deutschland, zwischen den Katholiken und Protestanten in England usw.) rissen oft die Frauen von ihren Familien fort. Diese Frauen verloren nicht nur Hab und Gut, sondern wurden ermordet, in Kerkern eingesperrt oder auf dem Scheiterhaufen hingerichtet, Seite an Seite mit ihren Männern, den „Ketzern“. Die Frauen schreckten nicht vor den Plagen der Bürgerkriege zurück. Ihr Klasseninstinkt war stärker als ihre gewohnheitsmäßige Passivität, Unterwürfigkeit und Ergebenheit gegenüber dem Manne. Typisch ist es auch, dass jene Männer, die zuvor noch gepredigt hatten, der Platz der Frau sei am häuslichen Herd und hinter dem Spinnrad, in zugespitzten Bürgerkriegszeiten die Frauen agitierten und sie in den Strudel der sozialen und politischen Kämpfe hineinrissen.

Die religiösen Reformatoren (Luther, Calvin und Zwingli) hatten Gattinnen, die sich keineswegs nur mit Haushaltsarbeit begnügten. Sie waren gleichzeitig die eifrigsten Schüler und Anhänger ihrer Männer. Überhaupt spielte die Frau eine hervorragende Rolle während der Reformation der Kirche. In Wirklichkeit war die Reformation ein Kampf gegen die Autorität des Feudalismus und der Beginn des Weges, den die Bourgeoisie zur Macht antrat. Die Gattinnen höchster Würdenträger unterstützten an den Höfen die neuen Religionen. Sogar Königinnen hatten in größter Heimlichkeit ihre eigenen protestantischen Priester, d. h. Ideologen der Bourgeoisie, angestellt. Sie propagierten neue Religionen, waren Teilnehmer konspirativer Zusammenkünfte und erzogen ihre eigenen Kinder im Geiste der aufstrebenden Klasse. Frauen waren häufig eifrigere Anhänger der neuen Religionen und Gedanken als ihre Männer. Sie schrieben Bücher zur Verteidigung des Protestantismus, sie überstanden die Foltern der Inquisition mit einem Heldenmut, der sie den Märtyrern der christlichen Urgemeinde ebenbürtig machte und halfen durch ihre Standfestigkeit den Zweiflern und Schwachen. Viele Frauen aus der feudalen Klasse unterstützten die Reformation. Dies lässt sich leicht erklären. Die Machtergreifung durch die Bourgeoisie hatte dem Vaterrecht, d. h. der Allmacht des Gatten über die Frau und die Kinder, einen tödlichen Schlag versetzt. Die bürgerliche Herrschaft versprach der Frau, die der wohlhabenden und bürgerlichen Klasse angehörte, Anerkennung ihrer Persönlichkeit und Menschenrechte. Deshalb also war die Frau den Reformatoren und Humanisten, den großen Pionieren von damals, so leidenschaftlich ergeben. Deshalb tauchten Gestalten auf wie etwa Renée von Ferrara, Tochter des französischen Königs, die auf Familie, Titel und Vermögen verzichtete und sich den Protestanten anschloss. Das ist auch die Erklärung dafür, dass russische Aristokratinnen wie die Morosowa etwa dem Zaren die Stirn boten und sich der demokratischen Volksbewegung Awakums (Pope Awakum Petrowitsch, gestorben 1881, war der Gründer einer russischen Sekte) anschlossen. Wilhelmina, die Tochter des böhmischen Königs, gründete eine Sekte und war fest davon überzeugt, dass sie selbst die Inkarnation des „heiligen Geistes“ sei. Sie verließ nach Abschluss einer soliden Ausbildung ihre Heimat und begab sich nach Mailand, wo sie durch ihr Redetalent unter den Wahrheitssuchern eine beträchtliche Anhängerschar gewann. Die Sekte wurde zur Ehre der Gründerin „die Wilhelminer“ genannt. Mönche, Priester und Erzbischöfe rechneten sich zu ihren Anhängern. Nach ihrem Tode wurde jedoch ihr Leichnam auf Befehl des aufgebrachten Papstes auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

In Florenz war die Katharina-Sekte verbreitet; eine mitreißende Predigerin, Einwohnerin von Florenz, hatte sie gegründet. In den Chroniken wird von dieser Frau folgendes berichtet: „Ihre Worte gewannen viele für den neuen Glauben“.

Der Einfluss der Frauen auf die Politik war deutlich spürbar. Wenn einige unter ihnen den neuen Glauben verteidigten, so gab es jedoch auch andere, die nicht weniger leidenschaftlich die ständischen Prinzipien verteidigten und die These vom unbestreitbaren Herrschaftsanspruch der Feudalklasse verfochten. So hatten Frauen z. B. indirekten und direkten Einfluss auf die französische Politik des 17. und 18. Jahrhunderts. So die kluge und listige Katharina von Medici, überzeugte Katholikin und schonungslose Intrigantin (sie war es, die die Bartholomäusnacht auf dem Gewissen hat, jenes Blutbad, in dem Protestanten auf heimtückische Art und Weise abgeschlachtet wurden), oder Anna von Österreich, die mit dem gewaltigen Richelieu um die Macht rivalisierte. Zwei Königinnen, die Engländerin Elisabeth und die Schottin Maria Stuart, waren die jeweiligen Anführerinnen zweier sich gegenseitig bekämpfender sozialer Gruppen: auf der einen Seite stand das zurückgebliebene feudale Schottland und auf der anderen Seite das fortschrittliche England, gemessen am Standard der Industrialisierung. In Russland war die Zarentochter Sofia, die Schwester Peters des Großen, die treibende Kraft der Verschwörung, die den Zweck hatte, die Bojaren vor einer Verringerung ihres Einflusses zu schützen.

Die Gräfin Macintosh kommandierte die Truppen der Stuartanhänger, ihr Mann führte die Befehle über die Truppen der Gegenseite, die protestantische Armee der Königin Elisabeth. Als „Oberst Anna“ ihrem Ehegatten, der in Gefangenschaft geraten war, gegenübertrat, entblößte sie, einer zeitgenössischen Sitte entsprechend, ihr Haupt vor dem gefangenen Befehlshaber mit den Worten: „Ich stehe zu Ihrer Verfügung, Herr Hauptmann“, worauf ihr Mann antwortete: „Ich stehe zu ihren Diensten, Herr Oberst.“

Die Geschichte ist reich an Beispielen von Frauen, die aktiv in die bitteren Kämpfe der Bürgerkriege eingegriffen haben. Deshalb war es auch nicht weiter überraschend, dass Frauen die Rolle des Parlamentärs übernahmen und trotz ihrer rechtlosen Stellung und mangelnden Gleichberechtigung diplomatische Aufträge ausführten. Frankreich schickte Madame Delhay als Botschafterin nach Venedig und Madame Gabrielle auf den entsprechenden Posten nach Polen. Bei den äußerst delikaten Verhandlungen, die der Wahl des Herzogs von Anjou zum polnischen König voran gingen, wurde die französische Delegation von der hervorragenden Diplomatin Katharina de Clairmeau geleitet.

Während der Renaissance und Reformationszeit machten Frauen nicht nur Politik und nahmen aktiv an Bürgerkriegen teil. Sie hatten auch Einfluss auf Wissenschaften, Philosophie und Kunst. Das damalige Italien war Geburtsstätte großartiger Erfindungen, Heimat weitreichender Gedanken und geistiger Schaffenskraft. Hier entfaltete sich das Handelskapital dank der günstigen geographischen Lage frühzeitiger als in anderen Ländern, und im Kielwasser dieses Handelskapitals begann auch das Industriekapital Wind in die Segel zu bekommen. Bereits zu Beginn des 13. Jh. stoßen wir in den blühenden Handelszentren Italiens auf die allerersten Manufakturbetriebe. In diesem Lande, das ökonomisch so hoch entwickelt war, nahm der Einfluss der Bourgeoisie rasch zu und Frauen, die durch wissenschaftliche und künstlerische Leistungen berühmt wurden, waren nichts Ungewöhnliches.

Zahlreiche Historiker haben die Renaissance das Jahrhundert der gelehrten Frauen genannt. Da könnten wir z. B. die Olympia Moratoro, Tochter eines Professors von Ferrara, nennen, die über eine solide wissenschaftliche Ausbildung verfügte und Vorlesungen auf eine beeindruckend lebendige und bildreiche Art improvisierte. Olympia war eng befreundet mit Renée von Ferrara, einer getreuen Vorkämpferin des Protestantismus. Sie selbst trat ebenfalls für die neue Lehre ein, heiratete einen Wissenschaftler und erlebte gemeinsam mit ihm die Gräuel des Bürgerkrieges. Ein anderer Fall, Isotta Nogarola, war für ihr Redetalent in ganz Italien so bekannt, dass der Papst selbst sein Interesse an ihren Vorlesungen anmeldete.

Hippolite Sfoza war eine Gönnerin der Künste und politische Aktivistin. Vittoria Colonna war mit Michelangelo befreundet und beeinflusste und inspirierte ihn. Sie genoss die Bewunderung zahlreicher Zeitgenossen und wird als eine geistige Gestalt von majestätischer Kraft und Schönheit beschrieben. Gleichzeitig machten sich in Spanien die beiden Theologinnen Isabella von Colonna und Juliana Morelli aus Barcelona einen Namen. England, das die Renaissance etwas später als Italien erlebte, war im 17. Jh. bekannt für seine gelehrten Frauen. Die englischen Königinnen beherrschten u. a. Latein, und die große Bildung der Lady Jane Grey war kein Geheimnis. Die Mutter des Philosophen Bacon, eine Tochter des Lehrers von Heinrich dem VIII., erregte durch ihre außerordentliche wissenschaftliche Geschultheit Aufsehen. Das gleiche kann von der Tochter des Utopisten Moore, Maria Sidney, gesagt werden. Margareta von Navarra, Königin von Frankreich, war als Schriftstellerin im Stile der italienischen Schule bekannt. Ihre Korrespondenz ist auch heute noch teilweise interessant. Anna Dacier, Tochter eines gelehrten Philosophen, übersetzte Homer und verteidigte in ihren Abhandlungen die unsterbliche Schönheit der griechischen Volksepen Ilias und Odyssee.

Gebildete Frauen galten als anziehend. Molière schrieb eine Satire Das Hotel Rambouillet, in der er sich über wissenschaftlich arbeitende Frauen als „Blaustrümpfe“ lustig macht. Was Italien betrifft, so war die Renaissance eine Periode, in der höhere Ausbildung zeitweise auch Frauen offenstand. Der Ausdruck „Mode“ ist natürlich keine ordentliche Erklärung hierfür. Dass so viele Frauen dazu tendierten, sich mit Hilfe von Ausbildung und Wissen eine unabhängige Existenz aufzubauen, hatte natürlich rein ökonomische und soziale Gründe. Der Bürgerkrieg und der Zusammenbruch der bisherigen Produktionsverhältnisse hatten die Widerstandskraft der Familieninstitution geschwächt. Die Sturmflut der ökonomischen Revolution schleuderte immer häufiger nicht nur die Frauen der armen Klassen in den Kampf um das tägliche Brot, sondern auch einzelne Mitglieder der wohlhabenden Bourgeoisie und sogar des Adels. Die verarmten Bauersfrauen und die Gattinnen der ruinierten Handwerker arbeiteten in der Heimindustrie. Die Frauen aus gutem Hause jedoch versuchten mit ihrem Wissen und ihrer Ausbildung eine wissenschaftliche Existenz aufzubauen, die ihnen eine gewisse Sicherheit bot. Typisch für damals ist, dass zahlreiche berühmte Frauen Töchter von Professoren, Schriftstellern, Ärzten, Theologen und Wissenschaftlern waren. Diese Väter hatten ihre Töchter für den Kampf ums Dasein mit der besten Waffe ausgestattet: dem Wissen. In dieser unruhigen Zeit garantierte auch der Ehehafen den Frauen nicht mehr allzu viel Geborgenheit. Die Frauen mussten daran denken, sich eventuell selbst ernähren zu können, um so drohender Armut und materieller Entbehrung entgehen zu können. Es ist also ganz selbstverständlich, dass die Frauen damals für sich und ihre Mitschwestern eine Ausbildung forderten und gleichzeitig für die Gleichberechtigung eintraten. Oft gingen sie so weit zu behaupten, dass die weibliche Natur der männlichen überlegen sei. Diese Auffassung propagierte z. B. Christiane de Pisan (Autorin der Novelle Rosenroman und Die Stadt der Frauen) im Frankreich des 15. Jh.

Wesentlich aggressiver kämpfte im 17. Jh. die Engländerin Mary Astell für die Rechte der Frau. Sie wurde berühmt durch ihre umfangreiche Arbeit Zur Verteidigung der Frauen, in der sie die Gleichstellung der Geschlechter in der Ausbildung forderte. Der utopistische italienische Schriftsteller der Renaissance, Campanella, verteidigte feurig diesen Gedanken und forderte in seiner utopischen Schrift Der Sonnenstaat nicht nur eine Ausbildung für die Frau, sondern auch ihren Zutritt zu sämtlichen Berufen, „die Frau sollte Zutritt zu allem haben, was mit Krieg und Frieden zu tun hat“.

Solange solche Forderungen während der Bürgerkriege gestellt wurden, als die Bourgeoisie die Frau mit Vorliebe im Dienste ihrer eigenen politischen Absichten verwendete, konnten sie akzeptiert werden. Da diese Ideen jedoch tatsächlich keineswegs mit der Lebensanschauung der Bourgeoisie und ihren ökonomischen Interessen übereinstimmten, wurde der Kampf der Frauen um Gleichberechtigung in jeder Form als Utopie diffamiert. Die Widerstandskraft der Familie gegenüber der Umwelt war ja das Fundament des Reichtums dieser Klasse. Die Bourgeoisie warf eiskalt alle Prinzipien, die ihr nicht in den Kram passten, über Bord, sobald die harte Zeit der Bürgerkriege der Vergangenheit angehörte.

Die gelehrten und politisch aktiven Frauen der Renaissance wurden erneut völlig von ihren Familienpflichten in Anspruch genommen. Dies geschah parallel zur Stabilisierung der neuen ökonomischen Ordnung und mit der Ausbreitung des Industriekapitals. Eine lange Periode begann, in der die Frauen gezwungen wurden, sich in die enge Schale ihres Heimes zurückzuziehen.

Woran lag das? Wie war es möglich, dass die Frau ohne zu protestieren an den häuslichen Herd zurückkehrte, und dies, nachdem sie auf sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen so aktiv gewesen war?

Dass die Rechte der Frau und ihre Stellung in der Gesellschaft ein Resultat ihrer Beteiligung an der produktiven Arbeit sind, wissen wir schon. Während der Renaissancezeit war die Frau nach wie vor von ihrem Mann oder Vater, dem Familienversorger, abhängig. Es war immer nur eine Minorität, nicht aber die Majorität gewesen, die versuchte, sich eine eigene Existenz aufzubauen. Obwohl es häufig vorkam, dass sich Frauen aus den ärmeren Schichten auf dem offenen Arbeitsmarkt eine ökonomische Grundlage suchten, so waren sie trotz allem nach wie vor eine Minorität verglichen mit allen jenen Bauers- und Handwerksfrauen, die sich hinter dem breiten Rücken ihrer Männer versteckten. Die Gesellschaft wollte solange den Ruf der Frauen nach Gleichberechtigung nicht hören, wie auf dem Produktionssektor praktisch noch keine Gleichheit zwischen den Geschlechtern existierte.

Die heutige Vorlesung ist ein bisschen lang geraten. Aber Ihr habt dafür auch einen Überblick über jene phantastischen Gründerjahre des Kapitalismus bekommen. Bevor wir diese Periode jedoch hinter uns lassen und dazu übergehen können, die Lebensverhältnisse der Frau während der Entfaltung der kapitalistischen Großproduktion zu analysieren, müssen wir uns erst noch näher mit einem Charakteristikum jener Periode beschäftigen: der Entwicklung der Manufaktur.

Die Manufaktur entstand aus der Heimindustrie und war in Wirklichkeit nichts anderes als die Vereinigung der zuvor weit zerstreuten Heimarbeiter unter einem gemeinsamen Dach. Dahinter steckte die Absicht, die Arbeiter einfacher mit Material zu versorgen und gleichzeitig auf bequeme Weise die fertigen Produkte einsammeln zu können. Später entdeckte der Kapitalist die Möglichkeit, durch strengere Arbeitsteilung die Produktivität zu erhöhen. In den Manufakturbetrieben entstand eine moderne Arbeitsorganisation; die Arbeitsteilung vereinfachte den Arbeitsprozess. In der Manufaktur wurde dieses System schließlich so perfektioniert, dass ein Arbeiter jahrein jahraus dieselbe Teiloperation ausführte, z. B. Nadelspitzen schliff. War die Arbeit des Handwerkers kompliziert gewesen und hatte berufliches Können verlangt, so war die Manufakturarbeit das genaue Gegenteil, sie war einfach und stupide. Jede beliebige ungelernte Person war imstande, die erforderlichen einfachen Teiloperationen in sehr kurzer Zeit zu erlernen. Die Berufsausbildung spielte in der Manufaktur folglich überhaupt keine Rolle.

Deshalb war es nur natürlich, dass die Manufaktur eine Chance für die unqualifizierte weibliche Arbeitskraft bedeutete. Dieses großzügige Angebot und damit die Möglichkeit, sich selbst zu versorgen, sollte der Frau zum Nachteil geraten. Während der ganzen Manufakturperiode hockte sie in ihrer eigenen qualmigen und dunklen Hütte und versah den Weltmarkt durch ihre unbeachtete Handarbeit mit Luxusartikeln oder Gebrauchsgütern. Dies war eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ihre Arbeit mit den Zunftmonopolisten – jenen verhassten Aristokraten der Arbeit – konkurrieren konnte. Deshalb saß sie Tag und Nacht am Webstuhl, nähte oder gerbte. Die französischen Heimarbeiterinnen kämpften deshalb unnachgiebig für die Auflösung der Zunftorganisationen. Als es dann 1791 endlich soweit war, brachen die Proletarierinnen in großen Jubel aus. Sie sahen in diesem Ereignis den ersten Schritt zur ökonomischen Befreiung. Eine. Veränderung dieser sozial-rechtlichen Verhältnisse setzte jedoch eine neue Entwicklung der Produktivkräfte voraus. Das Handwerks- und Zunftmonopol hatte die Frau zurück an den häuslichen Herd gescheucht. Erst die Dampfkraft, diese graue Eminenz, rief sie zurück in die Produktion.

Die Manufaktur entwickelte sich zwischen dem 16. und 18. Jh.. In Russland führte Peter der Große die Manufaktur- und Fabrikproduktion ein. Die ersten russischen Fabriken entstanden im 17. Jh.. Sie produzierten Glas, Woll- und Baumwolltextilien. Teils beschäftigten die Unternehmer Leibeigene, teils freie Lohnarbeiter. In den russischen Fabriken war Frauenarbeit damals völlig unbekannt. Die Frau arbeitete in anderen Wirtschaftszweigen, die sie nicht zu völliger Abwesenheit vom eigenen Haushalt zwangen. War sie obdachlos, so zog sie es vor, bei einer „Herrschaft“ in Dienste zu gehen, oder sie flüchtete ins Kloster. In jenen Ländern jedoch, wo der Kapitalismus bereits stark verwurzelt war, wie z. B. in England, Frankreich oder Holland, verschlang die Manufaktur immer mehr Frauen. Die Manufakturperiode muss als ein dunkles Kapitel in der Geschichte der Frau betrachtet werden.

Gemeinsam mit der entstehenden Klasse der Lohnarbeiter ging die Frau in einen neuen Abschnitt der Geschichte, der durch dreifache Unterdrückung gekennzeichnet war: Rechtlosigkeit in Staat und Gesellschaft, Leibeigenschaft und Abhängigkeit in der eigenen Familie, schonungslose Ausbeutung durch den Kapitalisten. Jene Periode, in der die Frau als freie Handwerkerin und gleichberechtigtes Zunftmitglied die Achtung der übrigen Gesellschaft genoss, war endgültig vorbei. Jetzt stand erneut die Leibeigenschaft der Frau auf der Tagesordnung. Die Frauen der armen Klassen gerieten immer häufiger in ökonomische Abhängigkeit von ihren Aufkäufern, Zwischenhändlern und Manufakturbesitzern.

Die ehrbaren Gattinnen der Handwerker, Bauern und Kaufleute waren den Manufakturarbeiterinnen, den „Fabrikmädchen“, gegenüber äußerst hochnäsig. Sie sahen in ihnen Abtrünnige und verglichen sie mit dem Abschaum der Gesellschaft, den Prostituierten. Nur die schwerste Not konnte eine Frau in die Manufaktur treiben. Fabrikmädchen zu sein war nicht nur ein Unglück, sondern auch eine große Schande.

Wie kam das? Wie lässt sich diese absurde Tatsache erklären, dass Frauen tatsächlich eine unproduktive Arbeit im Haushalt ausführten, aber dennoch in den Augen ihrer Umgebung mehr Ansehen genossen, als die Arbeiterinnen, die letztlich den Wohlstand der Nation mit ihren Händen schufen?

Die Erklärung ist, dass die Frauen, die in die Fabriken gingen, zur Klasse der Lohnsklaven im Dienste des Kapitals gehörten, jenem von der bürgerlichen Welt verachteten Proletariat also. Dies entspricht völlig den eigentümlichen Verhältnissen, die im antiken Griechenland vorherrschten, als freie Mitbürger unfreie Sklaven verachteten. Unter der Herrschaft des Kapitals und der Macht des Privateigentums respektierte man nicht diejenigen, die die gesellschaftlichen Werte schufen, sondern nur jene, die diese Werte akkumuliert hatten. „Nicht der Arbeiter produzierte mit seinen Händen das Volksvermögen, sondern der kapitalistische Unternehmer durch seine Sparsamkeit, seinem Scharfsinn und seiner Geschicklichkeit“. Der „Organisator“ der Arbeit kassierte den Respekt der Umgebung. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass in der Manufakturperiode nur eine Minorität aller Frauen in der Produktion arbeitete. Die Frau, die gezwungen war, ihre Arbeitskraft zu verkaufen und dadurch in die Klauen des Kapitals geriet, war noch kein typisches Phänomen. Diese Frauen hörten selbst nie auf, darauf zu hoffen, dass sie irgendwann zum normalen Leben zurückkehren könnten und wie ihre Zeitgenossinnen in der traditionellen Weise Haus und Hof führen zu können. Diese Erwartung würde jedoch für die meisten bitter enttäuscht. Die kapitalistische Produktionsweise entfaltete sich und setzte sich endgültig durch.

Zu der bisherigen Rechtlosigkeit in der Familie und Gesellschaft gesellte sich jetzt auch noch die Willkürherrschaft des kapitalistischen Unternehmers. Damit wurden jedoch gleichzeitig die notwendigen Voraussetzungen für die endgültige Befreiung der Frau geschaffen. Die Proletarierin musste das rechtlose und bittere Schicksal der Arbeiterklasse teilen, für die Frau begann aber jetzt eine neue geschichtliche Epoche, und ihr Schicksal wurde unauflöslich mit dem der Arbeiterklasse verbunden. Ihre bisher als wertlos unterschätzte Arbeit gewann neues Ansehen für die Volkswirtschaft. Die Gleichheit der Frau, Jahrhunderte hindurch mit Füßen getreten, konnte nur im gemeinsamen Kampf der gesamten Arbeiterklasse für ihre Rechte und die Errichtung des Proletariats zurückerobert werden. Die kommunistische Produktionsweise, die alle Frauen zu produktiver Arbeit heranzieht, ist bereits heute ein festes Fundament für ihre vollständige und allseitige Befreiung in der Zukunft. Damit schließen wir die heutige Vorlesung.

6. Die Frauenarbeit in der Entwicklungsperiode der kapitalistischen Großindustrie

In der letzten Vorlesung diskutierten wir die früheste Akkumulationsperiode des Kapitals. Es war eine Periode langwieriger und blutiger Kämpfe zwischen der aufsteigenden Bourgeoisie und einer Feudalwelt, die sich selbst überlebt hatte.

Wir untersuchten die Stellung der Frau in dieser Übergangsperiode vom geschlossenen Naturhaushalt des Mittelalters zur modernen Geldökonomie, Heimindustrie und Manufaktur. Dabei stellten wir fest, wie Ihr Euch sicher erinnert, dass die Majorität der armen und arbeitenden Frauen nach der Einführung der unqualifizierten Arbeit immer häufiger in die Industrie abwanderte. Wir dürfen dabei jedoch nicht die Tatsache außer acht lassen, dass während der Manufakturperiode und der Heimindustrie die überwiegende Mehrheit aller Frauen sich nicht besonders eifrig darum bemüht hatte, ein eigenes Einkommen durch Arbeit zu sichern. Diese Frauen führten keine gesellschaftlich produktive Arbeit aus. Natürlich war die Hausarbeit damals wichtig und vervollständigte den Volkshaushalt, solange die Industrie noch kaum entwickelt war. Dennoch wurde Hausarbeit bei den volkswirtschaftlichen Berechnungen nicht berücksichtigt. Die Frau war trotz ihrer relativ schwierigen Arbeit in den Augen von Staat und Gesellschaft kein nützliches Mitglied. Sie diente mit ihrer Arbeit ja nur der eigenen Familie. Zum Nationaleinkommen wurde nicht die Arbeit der einzelnen Familienmitglieder gerechnet, sondern nur das Resultat dieser Arbeit, d. h. das gesamte Familieneinkommen, wobei die Familie die wirtschaftliche Grundeinheit war.

Auf dem Lande ist es auch heute noch so, dass man nur die Arbeit des „Hausherrn“ berechnet, während man die der einzelnen Familienmitglieder völlig übersieht. Das heißt aber nichts anderes, als dass man die gesamte Familie als eine ungeteilte ökonomische Einheit betrachtet. Da die Frauenarbeit für das gesamte Volksvermögen als bedeutungslos galt, so war das Los der Frau nach wie vor das einer unmündigen Dienstmagd.

Die Epoche der Manufaktur und des sich entfaltenden Großkapitals führte nicht zur Befreiung der Frau, sondern ganz im Gegenteil nur zu erneuter Unterdrückung in Gestalt der Lohnarbeit im Dienst des Kapitals. Lasst uns noch einmal feststellen, aus welchen Produktionsformen die Manufaktur hervorgegangen ist: aus der handwerklichen Heimarbeit. Warum wurde durch die Ausbeutung der Arbeit in Form von Heimarbeit die Entwicklung der Produktivkräfte, verglichen mit dem langsamen Entwicklungstempo der handwerklichen Produktionsperiode, wesentlich beschleunigt? Die Erklärung ist denkbar einfach: die Heimarbeiter waren nämlich gezwungen, sich wesentlich mehr anzustrengen als die Handwerker, um auch nur das Existenzminimum zu erreichen, und zwar deshalb, weil sie einen Teil ihres Arbeitseinkommens an ihren Aufkäufer abgeben mussten. Der Handwerker lieferte direkt an seinen Auftraggeber. Deshalb kam ihm auch der gesamte Mehrwert zugute. Der Kontakt zwischen dem Heimarbeiter und dem Absatzmarkt wurde von einem Zwischenhändler, dem Aufkäufer, besorgt. Mit der Entfaltung des Handels wuchs rein geographisch immer mehr der Abstand zwischen Produzenten und Absatzmarkt und die Bedeutung des Zwischenhändlers, des Aufkäufers oder Kaufmannes, nahm folglich zu. Der Mehrwert wurde nun zwischen dem Produzenten und dem Kaufmann geteilt, jedoch immer eindeutiger zum Vorteil des Aufkäufers, da dieser in der Lage war, die Armut und die schwierige Lage der Heimarbeiter auszunützen. Der Händler raffte auf diese Art einen „schönen Batzen Geld“ zusammen und wurde ein wohlhabender Mann, während das schwer schuftende, einfache Volk nur immer ärmer wurde. Je mehr sich dieser Verarmungsprozess beschleunigte, desto größer wurde die Ausbeutung. Zuletzt wurden sämtliche Familienangehörigen eines solch ruinierten Bauern oder Handwerkers – Mann wie Frau und Kinder – auf den freien Lohnmarkt getrieben. Das waren goldene Zeiten voll günstiger Gelegenheiten für die Profiteure, d. h. die ersten Fabrikanten und Unternehmer von Manufakturbetrieben.

Durch die weitgehende Arbeitsteilung öffnete die Manufaktur unqualifizierten Arbeitern die Tür, und wenn der Unternehmer schon unerfahrene Produzenten anstellte, so war es für ihn nur logisch, dass er sich für die billigste und hierfür am besten geeignete „Arbeitskraft“ entschied. Das waren aber Frauen und Kinder. Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert können wir deshalb parallel zur Entfaltung der Manufakturbetriebe ein rasches Anwachsen der Frauenarbeit registrieren. Gewinnbringend für den Unternehmer ist ja nicht so sehr die Qualität des einzelnen Arbeiters (was unter der handwerklichen Produktionsform der Fall gewesen war), sondern hier ist die Menge der von ihm angestellten Arbeiter entscheidend, die Quantität. Seinen Gewinn zieht er aus der Summe sämtlicher unbezahlter Arbeitsstunden, die von seinen Arbeitern und Arbeiterinnen geleistet werden. Je mehr Arbeiter und je längere Arbeitstage, desto größer ist natürlich die totale Anzahl der unterbezahlten Arbeitsstunden und damit sein Profit, der wie ein Goldregen und ohne Umwege in die Tasche der Unternehmer fließt.

Die ursprüngliche Kapitalakkumulation näherte sich in rasender Fahrt ihrer Vollendung, und die Menschheit trat in das System der großkapitalistischen Produktion ein. Die Welt bekam ein neues Gesicht. Die Städte hatten schon längst die abseits gelegenen Ritterburgen als Handels- und Produktionszentren verdrängt. Die untereinander ewig verzankten Fürsten und Grafen mussten sich einem absolutistischen Monarchen unterwerfen, und die Volksstämme schlossen sich zu Nationen zusammen. Nach wie vor war zwar die Landwirtschaft wichtig für die Ökonomie, mit der Zeit jedoch verschob sich der Schwerpunkt auf die Fabrikindustrie als der nun bedeutendsten Quelle allen Reichtums. Holland, England und Frankreich – später kamen dann auch noch Deutschland und Österreich und zuletzt Russland hinzu – gingen gegen Ende des 19. Jahrhunderts nacheinander zur kapitalistischen Großproduktion über.

Wir, die Kinder dieses Jahrhunderts des Kapitals, haben uns so an den Gedanken gewöhnt, dass die Produktion auf dem kapitalistischen Großbetrieb aufbaut, dass wir uns kaum vorstellen können, dass alle diese gigantischen Unternehmen, Fabriken und Werkstätten, in denen tausende und abertausende von Arbeitern beschäftigt sind, eigentlich erst zu einem recht späten Zeitpunkt entstanden sind. Den uns bekannten Typ von Werkstätten und Fabriken gibt es erst seit knapp 150 Jahren und in Russland nicht einmal so lange. Im 16. Jahrhundert konkurrierten in Russland die Fabriken noch nicht mit der Heimarbeit und der Manufaktur. Sogar in dem hochentwickelten kapitalistischen Amerika wurde noch in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts darüber diskutiert, ob die Vereinigten Staaten sich auf die Seite der Länder mit Fabrikproduktion in Großbetrieben schlagen sollten oder zu jenen, deren Ökonomie von der Entwicklung der eigenen Landwirtschaft abhängig war.

Vor weniger als hundert Jahren kannte die Menschheit also noch gar nicht die Gesetzmäßigkeiten, die wirtschaftliche Entwicklung steuern, und viele rückständige Länder gaben sich deshalb der Illusion hin, gerade sie würden einen eigenen Weg gehen können. Wir brauchen nur einen flüchtigen Blick auf das rasche Entwicklungstempo des immer mächtiger werdenden Kapitalismus in solchen asiatischen Ländern wie Japan, China und Indien zu werfen, um mit Sicherheit voraussagen zu können, dass auch dort die Großindustrie die Heimarbeit verdrängen wird und die Städte sich das Hinterland für ihre Bedürfnisse unterwerfen werden.

Die großen wissenschaftlichen und technischen Erfindungen des 19. und 20. Jahrhunderts trugen natürlich in hohem Grade zu den gewaltigen Erfolgen des kapitalistischen Systems bei. Eine Welt ohne Eisenbahnen, riesigen Fabrikhallen, Elektrizität und Telefon können wir uns heute kaum noch vorstellen. Dennoch hätten unsere Vorfahren diese Erfindungen sicher mit größter Überraschung und einer guten Portion Misstrauen begrüßt.

Die kapitalistische Produktion nahm im 18. Jahrhundert auf Grund einer Serie von Erfindungen, die die Arbeitsproduktivität verbesserten, einen gewaltigen Aufschwung. Da haben wir z. B. die Dampfmaschine, die wahrhaft geniale Erfindung von Watt. Durch diese Erfindung wurde der Grundstein für die Mechanisierung des Produktionsprozesses in der Manufaktur gelegt, und bisher von Menschen ausgeführte Arbeiten wurden durch Maschinen ersetzt. Gleichzeitig wurde nun die Aufgliederung eines Arbeitsvorganges in unerhört einfache Handbewegungen möglich. Der mechanische Webstuhl, die Strumpfstrickmaschine, die Wollkardätschmaschine und zahllose andere Erfindungen folgten einander Schlag auf Schlag und unterstützten seit Ende des 18. Jahrhunderts die Entfaltung der industriellen Produktion wesentlich. Die Perfektionierung der Technik wurde zu einem Faktor, der für die Profitmaximierung wichtig war. Während aller früheren Entwicklungsstadien wurde größtmögliche Produktivität durch manuelle Arbeit erreicht, und zwar indem man diese zweckmäßig organisierte. Um seinen Profit zu erhöhen, versuchte nun der Unternehmer, die Prinzipien, die bei der Arbeitsteilung in der Manufaktur gegolten hatten, zu verändern. Die Profitmaximierung war nicht mehr ausschließlich von der Anzahl der Arbeiter, die in einem Betrieb arbeiteten, abhängig, sondern auch von den mechanischen Maschinen und Motoren. Die Technik erhöhte die Arbeitsproduktivität in Dimensionen, die man sich zuvor nicht hätte träumen lassen: anstelle einer Spule konnte die Arbeiterin an einem mechanischen Spinnrad bis zu 1,200 Spulen wickeln. Eine Spulerin, die bisher nicht mehr als ein paar Spulen am Tag angefertigt hatte, war nun imstande, bis zu hundert Stück herzustellen. Eine einzige Arbeiterin, die maschinell 600.000 Nadeln am Tag fertigstellte, ersetzte 135 Arbeiterinnen. Mit Hilfe der Strumpfstrickmaschine konnte eine Arbeiterin ihre Arbeitsproduktivität von 20 Paar auf 1.200 Paar erhöhen. Maschinen ersetzten eine Form der Handarbeit nach der anderen. Die Arbeitsproduktivität nahm ungeheuer schnell zu und der Markt wurde von Waren überschwemmt, die in einem mechanisierten Produktionsprozess für den Massenverbrauch hergestellt wurden. Das Produktionstempo, die Lageraufstockung und das Vermögen der Unternehmer, Fabrikanten und Hüttenbarone wuchsen ins Unermessliche.

Die Erhöhung der Arbeitsproduktivität durch die mechanischen Maschinen und Motoren verbesserte jedoch nicht den allgemeinen Lebensstandard der Arbeiter. Ganz im Gegenteil, ihre Unterjochung und Ausbeutung durch das Kapital verschlimmerten sich zusätzlich. Natürlich hätte die Mechanisierung der Produktion die Situation der Bevölkerung verbessern können, wenn z. B. eine Arbeiterin, die zuvor ohne Maschine 20 Paar Strümpfe hergestellt hatte und nun mit Hilfe der Maschine sechzig mal mehr produzierte, auch wirklich für 1.200 Paar Strümpfe bezahlt worden wäre. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass die Menschheit nach wie vor in einer Welt lebte, in der das Privateigentum fest verwurzelt war. Der Kapitalist betrachtete die Maschine, die er von einem Erfinder gekauft hatte, als einen Bestandteil seines Betriebes, als einen Teil seines Inventariums. Wenn er einen Arbeiter anstellte, so zwang er diesen, mit den Arbeitswerkzeugen zu arbeiten, die er ihm zur Verfügung stellte. Der Unternehmer hatte sein Glück gemacht, falls er ein Arbeitsgerät ergattern konnte, das die Produktivität seines Arbeiters um das Sechsfache oder noch mehr erhöhte. Der Fabrikant bezahlte den Arbeiter nicht für dessen Produktivität, sondern für dessen Arbeitskraft. Es lag also in seinem Interesse, größtmöglichen Nutzen aus seiner gekauften Arbeitskraft zu ziehen. Aus diesem Grunde führte die Mechanisierung der Produktion, die die Produktivität der männlichen und weiblichen Lohnsklaven bis zum Äußersten steigerte, nicht etwa zu einer Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, sondern eher zu deren Verschlechterung. Die Mechanisierung ließ die gelehrten Ökonomen und Unternehmer der Bourgeoisie auf den „strahlenden“ Gedanken kommen, die lebendige menschliche Arbeit sei keineswegs die Urheberin und Herstellerin aller Werte; solche Fähigkeit hatte in ihren Augen nur die tote mechanische Kraft der Maschine. Selbst wenn ein Unternehmer lediglich Maschinen besaß, so wusste er doch genau, dass die Beschaffung lebendiger Arbeitskraft ihm keine besonderen Schwierigkeiten bereiten würde. Fehlten ihm jedoch die notwendigen Maschinen, so hatte er nicht die geringsten Aussichten, nur durch die Arbeitsleistung der ihm zur Verfügung stehenden lebendigen Arbeitskräfte im Konkurrenzkampf auf dem allgemeinen Markt standhalten zu können. Deshalb gewöhnte sich der Kapitalist daran, die menschliche Arbeitskraft nur als lebendiges Anhängsel und Ergänzung zu den Maschinen zu betrachten. Ihr erinnert Euch doch, dass wir vor einiger Zeit schon festgestellt hatten, dass die Frauenarbeit bei den viehzüchtenden Volksstämmen unterbewertet wurde? Man betrachtete nämlich damals die Viehherde als die Quelle des Stammesvermögens, die Frau aber, die die Viehherde hütete, als ein Nebending. Dasselbe passierte, als die Fabriken zur Maschinenproduktion übergingen: die Arbeit wurde unterbewertet. Die Arbeiter und Arbeiterinnen verbesserten trotz Einführung der Maschinen ihr Einkommen in keiner Weise. Im Gegenteil, der Lebensstandard der Arbeiterklasse ging weiter zurück, und die rasch anwachsenden Profite waren dem Besitzer der Maschine, also dem Unternehmer vorbehalten. Die Entwicklung der Fabrikindustrie führte einerseits zu einer weiteren Kapitalakkumulation und andererseits zur verschärften Konkurrenz zwischen den Unternehmern selbst. Schließlich wollte jeder Unternehmer den größtmöglichen Profit einstreichen. Deshalb erhöhte er den Umsatz, überschwemmte den Markt mit seinen Produkten und verkaufte sie billiger als seine Konkurrenten, die noch nicht mit den modernsten Maschinen arbeiteten. Die kleineren Unternehmer und ganz besonders die Handwerker gingen in Konkurs und wurden selbst gezwungen, zusammen mit ihren Familienmitgliedern beim Großunternehmer um einen Arbeitsplatz zu betteln, obwohl der sie ruiniert hatte. Die Konzentration des Kapitals, d. h. die Ansammlung von Produktionsmitteln in den Händen von Großunternehmern, die sehr schnell reich wurden, und die Verarmung der Arbeiterschaft sind die beiden wichtigsten Prozesse, die die Entwicklung des kapitalistischen Großbetriebes gegen Ende des 19. Jahrhunderts auszeichneten. Im 20. Jahrhundert hat der Kapitalist als Gegengewicht zur blinden Konkurrenz einen neuen Machtfaktor auf die Beine gestellt: das Bündnis nämlich zwischen mehreren Unternehmern, die sogenannten Trusts. Der Kampf zwischen Arbeit und Kapital spitzte sich zu.

Die Verarmung und der Bankrott der kleinen Unternehmer führte dazu, dass der Arbeitsmarkt mit billiger Arbeitskraft überschwemmt wurde. Die Aussaugermentalität der Großgrundbesitzer, die brutale Besteuerung und die Rückständigkeit der Landwirtschaft vertrieben die Bauern von ihrem Grund und Boden, und durch diese Landflucht erhöhte sich die totale Anzahl der Arbeitslosen auf dem Arbeitsmarkt zusätzlich. Die Arbeitslosigkeit wuchs im 19. Jahrhundert in solch bedrohliche Dimensionen, dass sie den Anstoß zu einer speziellen theoretischen Schule gab, dem Malthusianismus, Malthus predigte die Geburtenkontrolle für die Arbeiterschaft, weil er dadurch den Zustrom zusätzlicher Arbeiter auf den Arbeitsmarkt dämpfen wollte. Dies wiederum sollte zu einer Abschwächung der Konkurrenz und dadurch zu einer allgemeinen Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse führen. Diese Theorie hat natürlich kein Echo gefunden. Sie ist jedoch auf ihre Art typisch, da sie uns zeigt, wie die Vorstellungen der Menschen von deren ökonomischer Lage abhängig sind. Während der Periode des Naturalhaushaltes und der Manufaktur, als wirtschaftlicher Erfolg in höchstem Grade abhängig war von der Anzahl der vorhandenen Arbeiter, wurde eine große Familie als eine „Gabe Gottes“ angesehen. Je mehr Arbeiter, desto größere Reichtümer. Die maschinelle Produktion führte dazu, dass nun die Maschinen als die Schöpfer allen Reichtums betrachtet wurden. Folglich wollte man die Arbeit ausmerzen, indem man den Nachwuchs der Arbeiter reduzierte. Diese Theorie ist zutiefst reaktionär und außerdem völlig falsch, außerdem ist sie schon längst durch die Geschichte selbst widerlegt worden. Wir befinden uns heute ganz im Gegenteil in der gerade entgegengesetzten Gefahr: der Mangel an Arbeitern gefährdet in der jetzigen Periode die Weiterentwicklung der Produktivkräfte, deshalb kann es nicht Aufgabe der Menschen sein, die Geburtenrate zu senken. Jetzt gilt es im Gegenteil, sie zu stimulieren.

Doch lasst uns dazu übergehen, die Arbeit in der Fabrikproduktion näher zu untersuchen. Der Arbeitsmarkt wurde also, wie bereits gesagt, dauernd von frei verfügbaren Arbeitskräften überschwemmt. Seit dem 18. Jahrhundert treffen wir unter den Arbeitslosen auch einen zunehmenden Anteil von Frauen. Diese versuchten das einzige, was sie hatten, ihre eigene Arbeitskraft, an den Unternehmer zu verkaufen. Verweigerte ihnen der Unternehmer die Anstellung, so gab es für sie nur noch einen Ausweg, die Prostitution. Deshalb folgte der Lohnarbeit wie ein Schatten die Prostitution der Frau. Je normaler die Lohnarbeit für Frauen wurde, desto steiler stieg auch die Kurve an, die uns über die Ausbreitung dieses Kommerzes mit dem Frauenkörper berichtet.

Der Alltag der arbeitenden Frauen in der Auflösungsperiode des Handwerks und der Manufaktur war freudlos, rechtlos und voller Schwerarbeit. Sie waren den Gaunereien der Mächtigen schutzlos ausgeliefert. Doch die gesamten Leiden der vergangenen Jahrhunderte verblassten angesichts der Fabrikhölle, in die der Kapitalismus die Frau gezwungen hatte. Ihr braucht ja nur Engels Buch Die Lage der arbeitenden Klasse in England zu studieren. Obwohl es in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts geschrieben wurde, sind auch heute noch viele der Verhältnisse, die in jenem Buch geschildert werden, in den kapitalistischen Ländern nicht abgeschafft. Kurz umschrieben sah das Leben einer Fabrikarbeiterin während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts folgendermaßen aus: ein endloser Arbeitstag, der für gewöhnlich länger als 12 Stunden dauerte, schlechte Bezahlung, abstoßende, ungesunde Wohnverhältnisse – die Menschen lebten wie Vieh zusammengepfercht – kein Arbeitsschutz und keine Sozialversicherung, Zunehmen von Berufskrankheiten, hohe Sterblichkeitsrate und ständige Furcht vor Arbeitslosigkeit. So waren also die Verhältnisse, bevor die Arbeiterklasse anfing, sich zu organisieren und in ihrer Klassenpartei und ihren Gewerkschaften begann, ihre eigenen Interessen zu verteidigen. Die Unternehmer benutzten mit Vorliebe weibliche Arbeitskräfte, da diese billiger waren als die männlichen. Die Fabrikanten behaupteten kurzerhand, die Frauenarbeit sei eben mit der Arbeit der Männer qualitativ nicht vergleichbar. Die bürgerlichen Denker verschafften der Unternehmerschaft bereitwillig den erwünschten Vorwand, indem sie frech behaupteten, die Frau sei dem Manne von Natur aus auf sämtlichen Gebieten unterlegen. Doch die Unterbewertung der Frauenarbeit bis zum heutigen Tage lässt sich nicht mit irgendwelchen biologischen Eigenschaften erklären, sondern dahinter stecken soziale Ursachen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts arbeitete die Majorität aller Frauen nicht etwa in der Produktion für den Weltmarkt, sondern nach wie vor im Haushalt, einer wenig produktiven Arbeit. Daraus wurde die falsche Schlussfolgerung gezogen, Frauenarbeit sei weniger produktiv.

Auch die Tatsache, dass man bei der Berechnung des Arbeitsverdienstes die Versorgungspflichten des Mannes gegenüber seiner Familie berücksichtigte, trug zusätzlich zur größeren Unterbezahlung der weiblichen Arbeitskräfte bei. Sobald der Arbeitslohn das Existenzminimum einer Arbeiterfamilie unterschritt, konnte man entweder eine starke Abwanderung von Arbeitern aus diesem Produktionszweig feststellen oder aber sinkende Lebenserwartung für diese Arbeiter und deren Familie. Normal war es auch, dass nun Frauen und Kinder zur Lohnarbeit gezwungen wurden. Da jedoch die Versorgung der Frau nach wie vor die Angelegenheit ihres Mannes – „des Versorgers“ – war und die Frau selbst nur „nebenbei“ arbeitete, um das Familienbudget aufzubessern, so setzte sich die Auffassung allgemein durch, dass Frauenarbeit nichts anderes sei als ein Nebenverdienst. Die Unternehmer unterstützten bereitwillig diese Vorstellung. Das taten jedoch auch die Arbeiter selber, da sie noch nicht begriffen hatten, was eigentlich in ihrem Interesse lag. Die Arbeiter sahen nicht von heute auf morgen ein, dass die Frauenarbeit aus der großkapitalistischen Ökonomie nicht mehr wegzudenken war. Sie begriffen nur sehr langsam, dass die Frauen, die in der Großindustrie produktiv arbeiteten und Werte schufen, für immer ihr Leben hinter dem häuslichen Herd aufgegeben hatten. Während des ganzen 19. Jahrhunderts stand die Frauenarbeit im Vergleich zu der Männerarbeit niedrig im Kurs, und das, obwohl die Anzahl der berufstätigen Frauen, die nicht nur sich selbst, sondern auch ihre unmündigen Kinder und greisen Eltern und bisweilen einen arbeitslosen oder kranken Ehemann zu versorgen hatten, ständig zunahm. Diese Missstände herrschen in den kapitalistischen Staaten bis auf den heutigen Tag und das, obwohl die Gewerkschaften in dieser Frage aktiv geworden sind und einen Arbeitslohn für die geleistete Arbeit fordern, der für Männer und Frauen gleich ist. Doch auch die mangelnde Qualifizierung der Frauenarbeit trug zusätzlich zur schlechteren Bezahlung der Arbeiterinnen bei, und zwar ganz besonders vor 1850. Nur ein verschwindend kleiner Teil jener arbeitslosen Frauen, die sich nach einem Arbeitsplatz umsahen, hatte bereits früher einen Beruf ausgeübt, mit dem er sich versorgen konnte. Die Majorität aller Frauen war, unmittelbar nachdem sie die Trümmer ihres Heimes hinter sich gelassen hatten, in die Manufakturbetriebe gegangen. Sie hatten weder eine Ausbildung noch einen Zweitberuf. Da sie unter Armut und Hunger litten, und nie eine eigenständige Existenz gekannt hatten und sowieso seit Jahrhunderten an ein rechtloses Dasein und Kadavergehorsam gewöhnt waren, akzeptierten sie ohne zu protestieren auch noch die unmöglichsten Arbeitsbedingungen. Obwohl die Unternehmer theoretisch darüber räsonierten, dass die Frau dem Manne von Natur aus unterlegen sei, „ihre Arbeit deshalb weniger wert sei, als die des Mannes“, so scheuten sie sich doch in der Praxis nicht im geringsten, männliche Arbeiter auf die Straße zu setzen, wenn sie die Möglichkeit hatten, billige weibliche Arbeitskräfte an ihrer Stelle zu bekommen. Die Profitakkumulation litt darunter nicht im Geringsten. Wir können also daraus den Schluss ziehen, dass Frauenarbeit im Allgemeinen der Männerarbeit, was die Produktivität betrifft, nicht nachstand. Mit der Entwicklung der Maschinenproduktion verlor die Arbeitsqualifikation mehr und mehr an Bedeutung. In bestimmten Produktionszweigen (Textil-, Tabak-, chemische Industrie usw.) hatte die unqualifizierte Frauenarbeit ein solches Ausmaß angenommen, dass sie von der männlichen Arbeiterschaft als eine direkte Bedrohung betrachtet wurde. Die Frauen verdrängten durch ihre billigere Arbeitskraft nicht nur die Männer aus der Werkstätte, sondern sie ermöglichten auch den Unternehmern eine wesentliche Senkung der Arbeitslöhne. Je mehr Frauen in einem Produktionszweig angestellt wurden, desto niedriger wurde das Arbeitseinkommen der Männer. Je niedriger aber das Einkommen der Männer wurde, desto mehr Frauen, Töchter und Gattinnen der Proletarier waren gezwungen, sich einen Nebenverdienst zu beschaffen. Ein böser Kreislauf war entstanden. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermochte die Arbeiterklasse durch den Kampf ihrer politischen und gewerkschaftlichen Organisationen diesen bösen Zirkel zu durchbrechen. Das Klassenbewusstsein der Arbeiter verdeutlichte auch den Männern, dass die Arbeiterin alles andere als eine „boshafte Konkurrentin“ des Arbeiters war, sondern dass sie, genau wie der Arbeiter, der Arbeiterklasse abgehörte. Nur durch gemeinsame organisatorische Anstrengungen konnte das Proletariat die immer unverschämteren Angriffe des Kapitalismus auf die Arbeiterklasse abwehren. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begegnete der Arbeiter jedoch seinen weiblichen Rivalen um den Arbeitsplatz mit Unwillen und Feindseligkeit. Die Organisationen, die eigentlich die Interessen des gesamten Proletariats verteidigen sollten, verboten den weiblichen Kollegen meistens die Mitgliedschaft. Die Löhne der Arbeiterinnen betrugen normalerweise nur die Hälfte der Lohne ihrer männlichen Kollegen Erst Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts begann in den mehr entwickelten kapitalistischen Staaten langsam eine Angleichung der Löhne der Arbeiterinnen; Resultat des Druckes, der von starken Arbeiterorganisationen ausgeübt wurde. In Russland jedoch verdiente die Frau vor der Revolution nur zwei Drittel oder sogar nur ein Drittel dessen, was der Arbeiter erhielt. So sind die Verhältnisse bis auf den heutigen Tag in Asien, also in Japan, Indien und China.

Die Lebensbedingungen der Arbeiterinnen in der Entwicklungsperiode des Großkapitalismus wurden einerseits charakterisiert durch die unerhört niedrigen Arbeitslöhne und andererseits durch haarsträubend ungesunde Arbeitsbedingungen, die schwere Schäden am weiblichen Organismus zur Folge hatten, was häufig zu Fehl- oder Totgeburten und einer ganzen Reihe von Frauenkrankheiten führte. Je rosiger also die Zukunftsaussichten für den Kapitalismus waren, desto unerträglicher wurde das Leben für die Frauen. Doch die produktive Arbeit außerhalb des Heimes, die für die Gesamtgesellschaft nützliche Werte schuf und auch von der Nationalökonomie entsprechend gewürdigt wurde, war letzten Endes trotz allem jene Kraft, die der Frau den Weg zur Befreiung ermöglichte.

Wir wissen, dass die Stellung der Frau durch ihre Rolle in der Produktion bestimmt wird. Solange die Mehrheit aller Frauen durch die recht unproduktive Haushaltsarbeit gebunden war, scheiterten alle Versuche und Initiativen der Frauen nach Gleichheit und Unabhängigkeit. Diese Versuche hatten ja keinerlei Basis in den ökonomischen Verhältnissen. Die Großproduktion in den Fabriken, die Millionen von Arbeiterinnen verschlang, veränderte jedoch nachträglich den Stand der Dinge. Die Haushaltsarbeit kam jetzt an zweiter Stelle und die Frauenarbeit wurde, nachdem sie so lange nur Zufallscharakter gehabt hatte, die Regel und ein normaler und notwendiger Zustand. Das 20. Jahrhundert ist der Wendepunkt in der Geschichte der Frau. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch erlebten jene Frauen, die zur Arbeit als „Fabrikmädchen“ gezwungen waren, dies als eine persönliche Katastrophe. Aber bereits Ende des 19. und erst recht im 20. Jahrhundert arbeiteten in den kapitalistischen Staaten zwischen 30 und 45 % sämtlicher Frauen. Während der Manufakturperiode waren es nur Witwen, alte Jungfern und sitzengelassene Frauen gewesen, die erwerbstätig waren. Im 19. Jahrhundert waren hingegen nahezu die Hälfte der Arbeiterinnen verheiratet. Warum? Na klar, der Verdienst des Mannes reichte hinten und vorne nicht mehr aus. Nun war endgültig Schluss mit der Ehe als Versorgungseinrichtung für die Frau. Um sich und die Kinder ernähren zu können, mussten sowohl Mann als auch Frau arbeiten. Der Mann war nicht mehr der „Alleinversorger“. Nur zu häufig war es ganz im Gegenteil die Frau, die jetzt ganz allein die Last schleppen musste, und das ganz besonders in Krisenzeiten und bei langwährender Arbeitslosigkeit des Mannes. Es kam in Arbeiterfamilien vor, dass die Ehefrau zur Arbeit ging, während ihr Mann zu Hause blieb, die Kinder hütete und die Hausarbeiten machte. Das waren in den Textilindustriegebieten der USA zeitweise recht typische Verhältnisse. In bestimmten Städten zogen die Unternehmer es vor, billige Arbeitskräfte einzustellen, so kam es, dass die Frau z. B. in einer Webfabrik arbeitete, während der Mann zu Hause saß. Diese Kleinstädte wurden zeitweise sogar „she towns“ (Frauen-Städte) genannt. Die allgemeine Anerkennung der Frauenarbeit zwang mit der Zeit die ganze Arbeiterklasse, ihren bisherigen Standpunkt den Frauen gegenüber zu überprüfen und sie schließlich als Kameraden und gleichberechtigte Mitglieder ihrer proletarischen Kampforganisationen anzuerkennen.

Die Frauenarbeit wuchs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bemerkenswert rasch an. In den Jahren zwischen 1871 und 1901 stieg in England zum Beispiel in einer Branche der Anteil der männlichen Arbeiter um 23 % und der der weiblichen Arbeiter um 25 % an. Während dieser Periode fiel der Löwenanteil der Zuwachsrate innerhalb der gesamten englischen Arbeiterklasse auf die Gruppe der Arbeiterinnen, die sich um 21 % erhöhte, während in der gleichen Periode der Anteil der männlichen Arbeitskräfte nur um 8 % zunahm. Im Jahre 1901 waren 34 % der französischen Frauen berufstätig, im Jahre 1906 waren es 39 %. Im Jahre 1881 schätzte man in Deutschland die Anzahl der berufstätigen Frauen auf 5,5 Millionen, in den Jahren 1890 bis 1895 auf 6,5 Millionen und im Jahre 1907 auf 9,5 Millionen. Während des 1. Weltkrieges gab es in Deutschland mehr als 10 Millionen berufstätige Frauen. Bereits im Jahre 1882 arbeiteten in Deutschland bereits 23 % aller Frauen in der Produktion und im Jahre 1907 stieg dieser Anteil auf 30 % an. Während des 1. imperialistischen Weltkrieges arbeiteten dann 30 % aller Frauen in der Industrie. (Vor dem Krieg dominierte die Frauenarbeit nur in 17 Industriebranchen, während des Krieges in 30 Industriebranchen.) In Russland verzwanzigfachte sich die Anzahl der berufstätigen Frauen während des 1. Weltkrieges. Wenn man die Anzahl der berufstätigen Frauen in Europa und den Vereinigten Staaten vor dem 1. Weltkrieg auf 60 Millionen einschätzt, so sind es heute ohne jede Übertreibung mindestens 70 Millionen. Hinzu kommt eine wachsende Anzahl von Arbeiterinnen in Asien, das heute eine starke Industrialisierung erlebt. Von den 2 Millionen japanischen Proletariern sind bereits heute 750.000 Arbeiterinnen und bei der letzten Volkszählung in Indien wurde die Zahl der in den Fabriken, Hütten, in Heimarbeit, Landwirtschaft und Tee-, Kaffee- und Baumwollplantagen berufstätigen Frauen auf 19 Millionen geschätzt. In China sind grob geschätzt zehntausende von Frauen entweder in Fabriken beschäftigt oder aber sie versorgen sich durch Heimarbeit oder als Angestellte in privatem oder öffentlichem Dienst. Zu den westlichen Ländern gesellt sich also der erwachende und entwicklungsfähige Osten, und überall finden wir die Frau-Arbeiterin, Schulter an Schulter mit dem Mann-Arbeiter. Die kapitalistische Weltwirtschaft kann gar nicht mehr auf den Einsatz der Frauen verzichten, d. h. aber, die Frau hat als Arbeitskraft endgültig Anerkennung gefunden.

Von diesen Frauen ist beinahe die Hälfte verheiratet. Diese Tatsache ist für uns außerordentlich interessant, da sie mit der alten Vorstellung aufräumt, dass die Frau, wenn sie erst einmal verheiratet ist, auf ein gewisses Arbeitseinkommen verzichten kann. In Deutschland, England und Russland betrug z. B. der Anteil der verheirateten Frauen mehr als ein Drittel sämtlicher erwerbstätigen Frauen. In den höchsten Entwicklungsstufen des Kapitals ist also die Frau nicht mehr bloß ein lebendiges Anhängsel ihres Mannes. Sie hat aufgehört, sich einzig und allein mit unproduktiver Haushaltsarbeit zu beschäftigen, und deshalb ist auch das Ende der Tage ihrer jahrhundertealten Versklavung abzusehen.

Was treibt die Frau in die Fabriken und Werkstätten? Wer von Euch kann mir meine Frage beantworten? Arbeitet die Frau freiwillig in der Fabrik oder bei fremden Leuten, oder war es eine unabhängige soziale Kraft, die sie dazu zwang?

Studentin: Die Arbeit des Arbeiters wurde immer schlechter bezahlt, so dass er schließlich nicht mehr imstande war, alleine seine Familie zu versorgen.

Kollontai: Das ist völlig richtig. In der Periode der Maschinenproduktion nimmt man nicht mehr Rücksicht darauf, ob ein Arbeiter eine Familie zu versorgen hat, wenn man seinen Lohn berechnet. Der Fabrikant kümmert sich einen Dreck darum, unter welchen Bedingungen die Kinder der Arbeiterschaft leben müssen. Der technische Fortschritt sorgte ja dafür, dass ihm für seine Produktion jederzeit genügend Arbeitslose zur Verfügung stehen, und wenn der Arbeitslohn so gering ist, dass sich der Arbeiter knapp selbst davon ernähren kann, so muss sich eben auch seine Frau hinter die Maschine stellen. Die stumme Statistik zeigt, dass 90 % aller verheirateten Arbeiterinnen auf Grund nackter Not, Hunger und größter Armut zur Arbeit gezwungen werden. Dieses Millionenheer arbeitender Frauen hat sich also nicht freiwillig verkauft, sondern wurde durch die Verhältnisse dazu gezwungen.

Die Arbeit in jenen Fabriken und Werkstätten, die für den weiblichen Organismus anstrengend oder oft sogar gefährlich ist, hat ein neues Problem geschaffen, das früher nicht existiert hatte: das Problem der Mutterschaft. Anders ausgedrückt: ist die Mutterschaft vereinbar mit der Lohnarbeit im Dienste des Kapitals? Die Mutterschaft und der Beruf, d. h. die Teilnahme der Frau an der produktiven Arbeit, sind in der Tat unter dem kapitalistischen System unvereinbar. Die Familie des Arbeiters löst sich auf, die Kinder werden sich selbst überlassen und das Heim verwahrlost. Außerdem ist die Frau keine gesunde Mutter, solange sie in einem Produktionszweig mit ungesunden Arbeitsbedingungen arbeitet, minderwertige Nahrung zu sich nimmt, solange kein Mutterschutz besteht und die Lebensverhältnisse überhaupt ganz miserabel sind. Fehlgeburten und Totgeburten häufen sich. Die Säuglingssterblichkeit in den Industriestädten erreicht ein Niveau von 30 bis 50 % und in einigen besonders gefährlichen Berufen, wie z. B. bei der Zubereitung von Bleiweiß und Quecksilber für die Spiegelfabrikation übersteigt sie sogar 60 %. Könnte der Kapitalismus auch weiterhin ungestört existieren, d. h. wäre die Arbeiterklasse nicht auf dem Wege, die Macht und die Kontrolle über die Produktion an sich zu reißen, so würde die Menschheit in naher Zukunft von einer echten Degeneration bedroht. Glücklicherweise jedoch hat das Proletariat aus der Geschichte die richtigen Schlüsse für das eigene Handeln gezogen. Der Sieg der russischen Revolution macht den Weg – auch in anderen Ländern – frei für die soziale Revolution. Mit der Planung auf der Grundlage der kommunistischen Prinzipien hat die Menschheit zugleich den Schlüssel für die Lösung des Mutterschaftsproblems gefunden. In der zukünftigen kommunistischen Gesellschaft wird jede lebendige Arbeitskraft, also auch die der weiblichen Arbeiter, produktiv und im Interesse der Gesellschaft ausgenützt. Deshalb schützt unsere Gesellschaft die schwangere und stillende Frau und garantiert ihr einen Lebensstandard, der es ihr ermöglicht, auch andere soziale Aufgaben befriedigend wahrzunehmen. Nach wie vor lebt jedoch die Bevölkerung in den kapitalistischen Ländern unter dem Joch des Kapitalismus, und die Mutterschaft lastet wie ein Bleigewicht auf den Schultern der Frauen, die außerdem bereits unter der doppelten Belastung durch Beruf und Haushalt stehen. Kann man damit rechnen, dass das Einkommen des Arbeiters sich so verbessert, dass die verheiratete Frau von dem Zwange, Geld zu verdienen, befreit wird? Natürlich nicht! Die Lohnerhöhungen, die von den Arbeitern und ihren Klassenorganisationen erkämpft werden, hinken im Wettlauf mit den permanenten Preiserhöhungen für notwendige Gebrauchsartikel immer nach. Selbst wenn die Arbeiterklasse einen Lohnkampf so erfolgreich abschließt, dass die entsprechende Preiserhöhung aufgefangen würde – ein solcher Lohnabschluss wäre tatsächlich ein echter Erfolg –, so wäre trotzdem das grundsätzliche Problem noch lange nicht gelöst. Wir dürfen nämlich nicht vergessen, dass die Bedürfnisse der Arbeiterfamilie sich auch weiterentwickeln. Sobald nämlich die Armut als direkte Ursache für die Erwerbstätigkeit der Frau wegfällt. wächst automatisch auch das kulturelle Anspruchsniveau des Arbeiters und der Arbeiterin: sie wollen für ihre Kinder die bestmögliche Erziehung und Ausbildung, sie wollen selber mal ein Buch kaufen oder ins Theater gehen. Dieser Prozess wiederum zwingt die Frau erneut, erwerbstätig zu sein. Die wachsende Nachfrage der entwicklungsfähigen Produktion nach weiblicher Arbeitskraft ist ein weiterer wichtiger Faktor, der zusätzlich eine Einschränkung der wachsenden Frauenarbeit durch Gesetze effektiv verhindert. Der Krieg hat der Gesellschaft unzweideutig klargemacht, dass sie auf die Frauenarbeit nicht länger verzichten kann. Man kann die Frauen weder durch ein Gesetz noch durch andere staatliche Eingriffe zwingen, in den Haushalt zurückzugehen. Ein Rückzug in die Familie ist nicht mehr möglich. (Eine solche Lösung wurde übrigens noch vor 50 Jahren ernsthaft von bürgerlichen Wissenschaftlern diskutiert und in proletarischen Kreisen unterstützt.) Und was zum Kuckuck hat die Frau in der Familie überhaupt noch zu suchen, wenn ein Großteil ihrer traditionellen Funktionen schon längst von Institutionen außerhalb der eigenen Familie übernommen worden sind?

Falls Ihr Euch noch für weitere Informationen über die Situation der berufstätigen Frauen interessiert, dann empfehle ich Euch das Kapitel Der Beruf und die Mutterschaft in meinem Buch Die Gesellschaft und die Mutterschaft. In diesem Buch habe ich mich auch ausführlich mit den feindlichen Reaktionen gegenüber der Frauenarbeit im Proletariat auseinandergesetzt. Außerdem habe ich in diesem Buch die Statistiken über die Beschäftigungszahlen der verheirateten Frauen in den verschiedenen Ländern veröffentlicht.

Wir wollen heute noch eine andere Frage in die Diskussion aufnehmen, eine Frage, die von größter Wichtigkeit für die Einschätzung der Frauenarbeit im Kapitalismus ist. In welchen Branchen werden eigentlich die meisten Frauen beschäftigt? Zur Zeit – und ganz besonders nach dem Ersten Weltkrieg – gibt es keinen Industriezweig, in dem Frauen nicht tätig wären. Die Frauenarbeit hat sich nicht nur in Industrie und Landwirtschaft durchgesetzt, sie hat sich auch im Transportwesen, in sämtlichen staatlichen Ämtern und in der Gemeindeverwaltung durchgesetzt. Im Handel und besonders im Kleinhandel haben die Frauen schon seit dem Mittelalter gearbeitet. Ganz allgemein lässt sich jedoch sagen, dass die Frauenarbeit in solchen Branchen besonders typisch ist, die nur geringe Forderungen an die Qualifikation ihrer Arbeitskraft stellen und dann selbstverständlich in Branchen, die bestimmte Funktionen des früheren erweiterten Haushaltes übernommen haben. Die meisten Frauen finden wir in der Textil-, Tabak- und chemischen Industrie, aber auch im Handel, also in Branchen, die verhältnismäßig geringe Berufsqualifikationen erfordern.

In vielen Ländern – u. a. in Russland, England, Deutschland, Japan – gibt es mehr weibliche als männliche Arbeiter in diesen Produktionszweigen. Industriezweige, die sich zu einem relativ späten Zeitpunkt aus der häuslichen Arbeit entwickelt haben, sind unter anderem: die Herstellung von Bekleidung und Stoffen, die Lebensmittelherstellung, Dienstleistungen für den Haushalt, Arbeiten in Wäschereien, Wirtshäusern und Cafés. Dass eine Frau nicht nähen, bügeln oder den Tisch decken kann, ist äußerst ungewöhnlich. In diesen Branchen wird also die nicht vorhandene Berufsausbildung ganz einfach durch praktische Erfahrung ersetzt. Es ist jedoch typisch, dass bei der Umstellung dieser Branchen auf Mechanisierung der Arbeit (elektrische Wäschereien oder Dampfwäschereien, Nähfabriken usw.) die weibliche Arbeitskraft auch in diesen reinen Frauenberufen durch ihre männlichen Kollegen verdrängt wird. Die Arbeitskräfte werden umverteilt. Die Männer infiltrieren traditionell weibliche Arbeitszweige, und die Frauen gehen in Berufe, die seit jeher als Männerberufe angesehen wurden. Diese Umgruppierung hat ein und dieselbe Ursache: die Mechanisierung der Produktion. Der Mann übernimmt die Nähmaschine und das elektrische Bügeleisen. Die Frau stellt sich an die Drehbank und die Setzmaschine. Die Mechanisierung der Arbeit durch die Maschine erreicht hier ihre Vollendung. Diese Mechanisierung der Produktion führt zu einer Gleichstellung der männlichen und weiblichen Arbeitskräfte und dies führt zur Anerkennung der gesellschaftlichen Gleichberechtigung von Frau und Mann. Die Anzahl der berufstätigen Frauen im Kommunikationssektor hat in den letzten zwanzig Jahren kräftig zugenommen. Diese Arbeit erforderte eine Berufsausbildung ebenso wie die Büroarbeit. Beide Berufsgruppen erlebten einen lawinenartigen Zustrom von Frauen. Dass die Frau heute auf ein Gebiet vordringt, das gründliche Berufskenntnisse voraussetzt, beweist uns, dass die Frauenarbeit aus der produktiven Produktion gar nicht mehr wegzudenken ist. Die Frau hat gelernt, ihre Arbeit als notwendig und nicht als zufällig zu betrachten. Sie baut sich keine Luftschlösser. Ihre Zukunft soll nicht mehr durch Eheschließung, sondern durch einen eigenen Beruf garantiert werden. Heutzutage bemühen sich deshalb auch die Eltern und ganz besonders in hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften – ihren Söhnen und Töchtern eine ordentliche Berufsausbildung zu geben. Diese Ausbildung als Handwerker oder in einem anderen Beruf soll den Kindern später das Brot verdienen ermöglichen. Im 19. Jahrhundert verlor die Frauenarbeit also ihren Zufälligkeitscharakter, sie setzte sich allgemein durch. Der Weltkrieg hat diese Entwicklung nur noch vorangetrieben, indem er die letzten Illusionen der Frau zerschlug, dass es noch möglich sei, sich eines Tages ins eigene Heim und in die eigene Familie zurückzuziehen. Nur noch einmal kurz eine Zusammenfassung unseres heutigen Gesprächs. Wir haben das Schicksal der Frauen in der Geschichte untersucht. Im 20. Jahrhundert schloss sich der Kreis. In grauer Vorzeit stand die Frau an der Seite des Mannes als ein gleichberechtigter Produzent von Werten und Gebrauchsartikeln für das Gesamtkollektiv. Sie wurde ganz besonders geachtet, weil sie nicht nur wie der Mann ihre Pflichten der Gesellschaft gegenüber erfüllte, indem sie arbeitete, nein, zusätzlich gebar und erzog sie ja auch noch neue Stammesmitglieder. Ihre Bedeutung für die Urgemeinschaft war deshalb größer als die des Mannes. Die Arbeitsteilung und das Privateigentum ketteten die Frau jedoch an das eigene Heim, und sie wurde von nun an als lebendiges Anhängsel betrachtet. Dieselben Produktionskräfte aber, die auf einem bestimmten Stadium der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern und die Einführung des Privatvermögens ermöglicht haben, brachten dann eine völlige und allseitige Befreiung der Frau. Durch die Teilnahme der Frau an der Produktion wird ein Fundament für ihre Befreiung auf sämtlichen gesellschaftlichen Gebieten gelegt. Doch erst in der neuen ökonomischen Gesellschaftsordnung, dem Kommunismus, kann die Befreiung auch praktisch durchgeführt werden.

7. Die Ursachen der Frauenfrage

In unserem letzten Gespräch stellten wir folgendes fest: je mehr sich die Produktivkräfte entfalten und die Produktion in kapitalistischen Großbetrieben sich durchsetzte, desto rascher wuchs auch die Zahl der arbeitenden Frauen. Heute werden wir feststellen, dass die Frau im kapitalistischen System nie dazu imstande sein wird, ihre völlige Befreiung und Gleichberechtigung gegenüber dem Manne durchzusetzen, und das ganz unabhängig davon, ob sie nun aktiv in der Produktion mitarbeitet oder nicht. Im Gegenteil! Es besteht ein unüberbrückbarer Widerspruch zwischen ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung und ihrer Abhängigkeit und Rechtlosigkeit in der Familie, im Staat und in der Gesellschaft. Wir wollen nun etwas eingehender untersuchen, auf welche Art sich in der Gesellschaft das Bewusstsein über die Notwendigkeit der Gleichberechtigung und Menschenwürde der Frau durchgesetzt hat und wie dieser Prozess mit der beschleunigten Ausdehnung der Frauenarbeit zusammenhängt. Jeder von uns sieht ohne weiteres ein, dass die Frauen, seitdem sie immer häufiger in der Produktion arbeiteten und ökonomisch unabhängig wurden, mit wachsender Verbitterung auf ihr Dasein als Bürger zweiter Klasse – sowohl in der eigenen Familie, als auch in der Gesellschaft – reagierten. Jeder unabhängige und vorurteilslose Beobachter wird leicht feststellen können, dass ein Widerspruch zwischen der Anerkennung der Frau als gesellschaftlich nützlicher Arbeitskraft und ihrer Diskriminierung durch die bürgerliche Gesetzgebung besteht. Diesem Widerspruch zwischen der Bedeutung der Frauenarbeit für die Produktion einerseits und der Rechtlosigkeit der Frau in politischer und sozialer Hinsicht andererseits, aber ebenso die zusätzliche Bevormundung durch ihren Mann, der schon längst aufgehört hatte, ihr Versorger zu sein, haben wir also ursprünglich die Entstehung der sogenannten „Frauenfrage“ zu verdanken.

Die „Frauenfrage“ wurde mit besonderer Heftigkeit in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gestellt, Ansätze in dieser Richtung finden wir jedoch schon wesentlich früher. Damals nämlich, als die Konkurrenz der Manufaktur die Kleinhandwerker und Heimarbeiter in den Bankrott trieb und die ehemaligen Handwerker zwang, nicht nur ihre eigene Arbeitskraft den Großunternehmern anzubieten, sondern auch ihre Frauen und Kinder in die Fabrik zu schicken. Am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts beschränkte sich die „Frauenfrage“ jedoch hauptsächlich auf den Arbeitslohn der Frauen und ihr Anrecht auf „ehrliche Arbeit“. In drei Jahrhunderten hatten die Sonderstellung der Zünfte und deren strenge Verordnungen dazu geführt, dass die Frau von den handwerklichen Berufen ausgeschlossen blieb. Die Zünfte versuchten sie für immer an den häuslichen Herd zu verbannen, das hieß, die Frau sollte ganz einfach das Feld in der Produktion räumen und den Männern überlassen. Dies verschlechterte natürlich die Lage der Frau. Seit sie die Möglichkeit verlor, in einem handwerklichen Beruf zu arbeiten, wurde sie um so leichter eine Beute des Fabrikanten und ein Opfer seiner Ausbeutungspolitik.

In Frankreich beherrschte zu jener Zeit das System der Manufaktur die Produktion. Nur ausnahmsweise waren die Fabriken so groß, dass man von Großbetrieben sprechen konnte, d. h. von Unternehmen mit mehr als hundert Beschäftigten. Heimarbeit und Manufaktur florierten und überdeckten ganz Frankreich mit einem feinmaschigen Netz. Distriktweise arbeiteten Heimarbeiter im Auftrag eines „Aufkäufers“, dies wurde dann Manufaktur genannt. Kleine Manufakturbetriebe mit nicht mehr als zehn oder zwanzig Arbeitern wuchsen in der Gegend von Paris und anderen französischen Städten wie Pilze aus dem Boden. In diesen Manufakturen wurden sowohl schwere Tuche als auch feine Spitzen angefertigt, aber auch Metall- und Goldartikel, Borten und andere alltägliche Gebrauchsartikel. In den Webereien und Spinnereien arbeiteten besonders viele Frauen. Oft machten sie über 90 % der gesamten Arbeitskräfte aus. Was die Seidenherstellung betrifft, so war man in Frankreich bereits zur Großproduktion übergegangen. Hier hatte also die Fabrik gegenüber der Heimindustrie und Manufaktur gesiegt. Bereits vor der französischen Revolution war das französische Frauenproletariat beträchtlich angewachsen, und die Vororte von Paris wurden von Bettlerinnen und Prostituierten, arbeitslosen und hungernden Frauenscharen überschwemmt. Deshalb war es auch kein Wunder, dass die Frauen als besonders eifrige Aktivisten an dem Aufruhr der Arbeiterklasse gegen die Willkürherrschaft der Reichen im Juli 1789 teilnahmen. Die „Frauen aus dem Volk“ forderten in ihren Parolen damals auch folgerichtig das Recht auf Arbeit und das Versprechen, dass sie sich künftig das „tägliche Brot auf ehrliche Weise verdienen“ könnten. Die Proletarierinnen von Paris forderten während der Revolution in einer ihrer Petitionen das Recht auf Arbeit für Mann und Frau, gleichzeitig ein Arbeitsverbot für Männer in typisch weiblichen Arbeitsgebieten. Als Gegenleistung dafür waren sie bereit, darauf zu verzichten, Arbeit in typisch männlichen Branchen zu suchen. „Wir suchen Arbeit, nicht etwa um uns von der Autorität der Männer frei zu machen, sondern um uns eine eigene Existenz im bescheidenen Rahmen zu ermöglichen,“ hieß es in einer Petition. Während der französischen Revolution forderten also die Frauen des dritten Standes Zutritt zu sämtlichen Handwerksberufen, oder anders ausgedrückt, die „uneingeschränkte Freiheit der Arbeit“. Diese Forderung sollte garantieren, dass Zehntausende hungernder und notleidender Frauen vor Armut und Prostitution gerettet wurden. Dies waren keine reinen Frauenforderungen, sondern es waren Forderungen im ureigensten Interesse des gesamten französischen Industrieproletariats. Die Einwohner der Vororte von Paris riefen gemeinsam: „Freiheit der Arbeit“. Freiheit der Arbeit bedeutete jedoch die endgültige Abschaffung des Feudalismus, die Zementierung der Vormachtstellung der Bourgeoisie und die Abschaffung der Zunftprivilegien. Ihr Klasseninstinkt wies den französischen Frauen ganz einfach den Weg, den sie gehen mussten, wenn sie die Chance haben wollten, sich „ihr tägliches Brot auf ehrliche Weise zu verdienen“. Die Frauen des französischen Proletariats standen eindeutig auf der Seite der Revolution. Wer gewissenhaft die Rolle und die Aktivitäten der Frauen in der französischen Revolution beschreiben will, ihre heldenmütige Entschlossenheit und ihren revolutionären Kampf, der müsste eigentlich ein eigenes Buch schreiben. „Die Frauen aus dem Volke“ in den Provinzen Dauphiné und Bretagne waren die ersten, die die Monarchie herausforderten. Auf ihrer Spur folgten die Bürgerinnen von Angolouse und Chevanseaux. Sie beteiligten sich an den Deputiertenwahlen für die Reichsstände und das Wahlergebnis wurde bemerkenswerterweise anerkannt. Oft genug hat es sich ja gezeigt, dass die bürgerliche Klasse in der Periode offener Bürgerkriege oder Kriege die Hilfe der Frau dankbar akzeptiert und die „Minderwertigkeit“ der Frauen zeitweilig vergisst. Die Frauen von Angers verfassten ein revolutionäres Manifest gegen die Willkürherrschaft des Königshauses, und die Proletarierinnen von Paris nahmen an der Erstürmung der Bastille teil und betraten die Festung mit der Waffe in der Hand. Rose Lacombe und die Handwerkerin Louison Chabry und Renée Audou organisierten den Demonstrationszug der Frauen nach Versailles und brachten den König unter strenger Bewachung nach Paris. Nach der Umsiedlung Ludwigs XVI. nach Paris wetteiferten die Frauen mit den Männern um die ehrenvolle Aufgabe, die Stadttore von Paris verteidigen zu dürfen. Die Weiber vom Fischmarkt schickten eigens eine Delegierte zu den versammelten Generalständen, die den Abgeordneten „Mut machen und sie an die Forderung der Frauen erinnern sollte“. „Vergesst das Volk nicht!“, so warnte die Delegierte die 1.200 Mitglieder der Generalstände, d. h. die Nationalversammlung Frankreichs. Die Frauen aus den Pariser Vororten nahmen auch an der großen republikanischen Volksbewegung auf dem Marsfeld teil, unterschrieben die Marsfeldpetition und fielen der Hinterlist des Königs zum Opfer. Die Frauen des dritten Standes waren bei all diesen Aktionen dabei, seitdem ihr erwachtes proletarisches Klassenbewusstsein sie in Bewegung gesetzt hatte. Nur eine siegreiche Revolution konnte die Frauen in Frankreich vor Hunger, Rechtlosigkeit und Armut retten und sie vor den skandalösen Folgen der Inflation und vor allem vor dem Joch der Arbeitslosigkeit schützen. Das Frauenproletariat Frankreichs verlor bis zum bitteren Ende nicht seine revolutionäre Glut und Unversöhnlichkeit und begeisterte so auch nicht selten die mehr wankelmütigen Männer. Es schuf eine allgemeine Stimmung von großer Entschlossenheit.

Noch lange nach dem Zusammenbruch der Revolution störte die Erinnerung an die entsetzlich grausamen und blutgierigen „Strickerinnen“ den Schlaf der Bourgeoisie. Wer jedoch waren diese „Strickerinnen“ – jene Furien, wie die ach so friedliche Konterrevolution sie gerne nannte? Es waren hungrige und gepeinigte Handwerkerinnen, Bauernfrauen, Arbeiterinnen, Heimarbeiterinnen und Manufakturarbeiterinnen, die die Aristokratie und das alte Regime aus ganzem Herzen hassten Aus einem gesunden Klasseninstinkt heraus unterstützten sie – den Luxus und Überfluss des arroganten und müßigen Adels vor Augen – die militantesten Vorkämpfer für ein neues Frankreich, in dem alle Männer und Frauen ein Recht auf Arbeit hatten und die Kinder nicht wie bisher zu verhungern brauchten. Um nicht unnötig Zeit zu verlieren, nahmen diese ehrlichen Patriotinnen und fleißigen Arbeiterinnen eben ihren Strickstrumpf nicht nur zu allen Festen und Demonstrationen, sondern auch zu den Zusammenkünften der Nationalversammlung und den öffentlichen Hinrichtungen durch die Guillotine mit. Diese Strümpfe strickten sie übrigens keineswegs für sich selbst, sondern für die Soldaten der Nationalgarde – die Verteidiger der Revolution.

Den allerersten Beginn der sogenannten „Frauenbewegung“ müssen wir wahrscheinlich in der Periode vor der französischen Revolution und dem Revolutionskrieg zwischen 1774–1783 suchen, als Amerika sich von der englischen Vormundschaft befreite. In der Geschichte der französischen Revolution stoßen wir auf viele Frauen, deren Namen nicht nur mit der Frauenbewegung, sondern auch mit sämtlichen Entwicklungsphasen der revolutionären Umwälzung aufs Engste verknüpft sind. Neben politischen Vertretern der mehr gemäßigten Richtung, wie etwa der Girondistin Madame Roland – wenn wir eine Parallele zum aktuellen Geschehen ziehen würden, so könnte man sie eine Menschewikin nennen – trat die großartige Journalistin und Schriftstellerin Louise Robert-Kévalio hervor, eine wahrhafte Demokratin und Verteidigerin der Republik. Keine von beiden interessierte sich jedoch speziell für die Frauenbewegung oder trat für irgendwelche direkten Frauenforderungen ein. Ihr historisches Verdienst ist jedoch, dass sie als erste Frauenrechtlerinnen zur objektiven Anerkennung der Gleichberechtigung der Frau beitrugen. Durch ihre Arbeit im Dienste der Revolution brachten sie es soweit, dass ihre gesellschaftliche Umgebung völlig vergaß, dass sie eigentlich Repräsentantinnen „des schwachen Geschlechtes“ waren. Man sah in ihnen nur noch Vertreter einer bestimmten politischen Richtung. Außer ihnen und der fanatischen Frauenrechtlerin Olympe de Gouges, gab es noch zwei weitere Frauen, die sich durch ihre besondere kampfeslustige Natur auszeichneten. In der ersten Revolutionsperiode rief Théroigne de Méricourt gemeinsam mit Desmoulins das Volk zu den Waffen. Théroigne war mit dabei, als die Bastille gestürmt wurde, und erhielt von der Nationalversammlung als Tapferkeitsauszeichnung einen Ehrensäbel. Am 5. Oktober 1789, am Vorabend des Demonstrationszuges nach Versailles, ritt sie in einem leuchtend roten Kostüm nach Versailles, um die revolutionären Frauen dieser Stadt anzufeuern. Gemeinsam mit der Philosophin Rémond gründete sie die Gesellschaft „Die Freunde des Gesetzes“ und agitierte für die Unterstützung der Nationalarmee. Sie rief die Frauen zur Verteidigung des neuen Vaterlandes – der Republik – auf und am 20. Juni 1792 half sie selbst, die Geschütze auf das königliche Schloss zu richten, und gemeinsam mit den Bewohnern von Versailles drang sie in den Palast ein. Die Republik verlieh ihr dafür den „Bürgerkranz“ als Auszeichnung. Sie gehörte zu jenen, die während der Kämpfe zwischen Girondisten und Jakobinern ums Leben kamen. Persönlich hatte sie den Girondisten nahe gestanden.

Auch Rose Lacombe forderte, dass der König aus Versailles herausgeholt werde. Sie war die wirkliche Anführerin der Frauen aus den Vororten von Paris. Persönlich war sie von großer Bescheidenheit, jedoch gleichzeitig kriegerisch und willensstark und organisatorisch sehr begabt. Außerdem hatte sie eine melodische Stimme und sah gut aus. Ihre Agitationsrede auf der Galerie der Nationalversammlung, in der sie die Verteidigung der Revolution gegen die Armeen der zweiten Koalition und eine Demokratisierung der Macht forderte, ist in die Geschichte eingegangen als eines der großen Dokumente der französischen Revolution. Die Lacombe war erklärte Feindin der Monarchie.und während der Belagerung des Palastes wurde sie an der Hand verwundet. Wie schon zuvor der Théroigne verlieh die Nationalversammlung auch ihr den „Bürgerkranz“. Seit 1793 war sie Mitglied in der Bergpartei der Jakobiner und trug die rote Mütze der revolutionären Bewegung der Sansculotten unter der Führung von Jean Paul Marat. Sie forderte die Verhaftung aller Mitglieder der Aristokratie und deren Familien und versammelte eine Anhängerschaft von Frauen um sich, leitete die Agitation gegen die Girondisten und half den Jakobinern bei der Vernichtung der Gironde. Als sie jedoch in ihrem Eifer so weit ging, beim Kampf gegen die Konterrevolutionäre und Wucherer den erhabenen Konvent selbst anzugreifen, wurden sogar die Jakobiner nervös.und Robespierre begann die rhetorisch hochbegabte, gefährliche und populäre Jakobinerin zu verabscheuen. Die Mitglieder des Konvents ärgerte es außerdem, dass sich Rose Lacombe und andere Mitglieder des „Clubs revolutionärer Bürgerinnen“ in die Arbeit des Konvents einmischten und die Listen der Verhafteten kontrollierten und die ihrer Ansicht nach unschuldig Verurteilten verteidigten.

„Der Club, der revolutionären Bürgerinnen“ wurde in Paris ursprünglich durch eine Initiative von Rose Lacombe und der Wäscherin Pauline Leonie, also von zwei Frauen aus den Vororten von Paris, gegründet. In diesem Club versuchte die Lacombe ihre Zeitgenossinnen im Geiste der Revolution zu erziehen. Die Frauen diskutierten also entsprechende Themen wie z. B.: Was können die Frauen für die Republik tun? Die Lacombe war eine glänzende Verfechterin der Interessen der Arbeiterinnen und trat häufig gemeinsam mit Pauline Leonie zu deren Verteidigung auf. Bei einer dieser Auseinandersetzungen besetzte sie mit einer Schar arbeitsloser und hungriger Pariserinnen die Galerie der Nationalversammlung und fragte, was die Regierung oder Republik zu tun gedenke, um die schreiende Not der arbeitenden Frauen zu lindern. Rose Lacombe war vertraut mit den Problemen, Bedürfnissen und Nöten dieser Frauen und konnte diese Probleme in ihren sanften und mutigen Reden lebendig darstellen.

Als der Konvent die Frauenvereine und Clubs auflöste, verteidigte die Lacombe zäh ihr Busenkind, den „revolutionären Frauenclub“. Ihr Kampf war jedoch zum Scheitern verurteilt. Nach dem Sturz der Jakobiner und dem Sieg der Konterrevolution wurden alle öffentlichen Auftritte von Frauen streng geahndet. Die Lacombe konnte natürlich ihren Mund nicht halten und agitierte weiter. Deshalb wurde sie im Frühjahr 1794 verhaftet und zog sich später aus der Politik zurück. Nach der endgültigen Machtergreifung durch die Reaktion ist sie dann für immer aus dem öffentlichen Leben verschwunden. Rose Lacombe ist eine Frau gewesen, die sich mit ganzer Seele der Sache der Revolution widmete und gleichzeitig einsah, dass die Bedürfnisse der Proletarierinnen, ihre Forderungen und Sorgen ein untrennbarer Bestandteil des Klassenkampfes der erwachenden Arbeiterbewegung sein musste. Sie forderte keine Sonderrechte für die Frauen, rüttelte die Frauen jedoch wach und forderte sie auf, ihre Interessen als Mitglieder der Arbeiterklasse zu verteidigen. Wegen ihres großartigen Kampfes für die Interessen der Arbeiterinnen steht sie uns heute natürlich näher als die Frauen, die sich während der großen französischen Revolution eher einseitig engagiert hatten.

Die bürgerliche Frauenbewegung wurde in Amerika von Abigail Smith Adams (Ehefrau des zweiten Präsidenten der jungen amerikanischen Republik) und ihrer Kampfgefährtin Mercy Warren, in Frankreich von Olympe de Gouges und in England von Mary Wollstonecraft ins Leben gerufen. Diese bürgerlichen Frauenrechtlerinnen behaupteten immer wieder, dass eine Handvoll einsichtiger Philosophen des 18. Jahrhunderts und der kühne Einsatz einiger selbstloser Frauen die Diskussion über die Gleichberechtigung von Mann und Frau erst ermöglicht haben. Diese wenigen hätten entschlossen das „schöne Geschlecht“ verteidigt, die gleiche Ausbildung für Mann und Frau und die Anerkennung der Gleichberechtigung gefordert. Ihr öffentlicher Kampf habe bei der Majorität der Frauen erst das bis dahin schlummernde Selbstbewusstsein geweckt. Die Frauen hätten begonnen sich zu organisieren, ihre Interessen verfochten und sich im Laufe des 19. Jahrhunderts Schritt für Schritt ein Recht nach dem anderen erkämpft.

Diese Auffassung ist jedoch völlig falsch. Die Geschichte der Befreiung der Frau ist nun wirklich ganz anders verlaufen. Die kämpferischen Frauenrechtlerinnen – wie etwa die Olympe de Gouges in Frankreich, die Abigail Smith Adams in Amerika oder Mary Wollstonecraft in England – konnten nämlich die Frauenfrage einzig und allein nur deshalb so zugespitzt formulieren, weil viele Frauen bereits Ende des 18. Jahrhunderts in der Produktion gearbeitet hatten und die Gesellschaft deshalb ihre Arbeitskraft als nützlich zu respektieren begann. Olympe de Gouges schrie den gefürchteten Konvent folgendermaßen an: „Wenn die Frau das Recht hat, auf das Schafott zu steigen, so sollte sie ebenfalls das Recht haben, eine Rednertribüne zu betreten.“ Sie kämpfte hart für die Anerkennung der politischen Rechte der Frau. Abigail Smith Adams drohte der revolutionären amerikanischen Regierung damit, dass „die Frauen sich nicht den Gesetzen der Republik unterordnen werden, solange sie nicht ihr durch die Verfassung garantiertes Stimmrecht erhalten.“ Sie war die Erste, die auf unmissverständliche Weise die Forderung nach politischer Gleichstellung von Mann und Frau artikulierte. Mary Wollstonecraft forderte eine gründliche Reformierung der Erziehung der Frau, also ihre Gleichberechtigung auf dem Bildungssektor. (Sie war eine begabte und scharfsinnige Schriftstellerin des späten 18. Jahrhunderts. Ihr Buch Verteidigung der Frauenrechte wurde 1796 publiziert und erregte großes Aufsehen.)

Die Frauen kamen aufgrund ihrer unterschiedlichen Ausgangspositionen auch zu unterschiedlichen Lösungen des Widerspruchs zwischen der Rolle der Frau in der Produktion und ihren Rechten in Staat und Gesellschaft. Aber im Grunde genommen kann man sie unter einem gemeinsamen Hauptnenner zusammenfassen: Dem Recht auf Arbeit. Dieses Recht auf Arbeit kam damals nämlich einem Sieg der Revolution gleich. Es ging darum, den Feudalismus endgültig zu liquidieren und das Fundament für ein neues ökonomisches System zu errichten. Dies erfordert, ebenso wie der zu erobernde Spielraum für die arbeitssuchende Frau, politische Macht. Die bürgerlichen Frauenrechtler machten einen gewaltigen Fehler, als sie zu beweisen versuchten, dass der Kampf der Frauen für ihre Gleichberechtigung und die wachsende Einsicht in ihr Recht auf Menschenwürde, sie dazu getrieben hätte, ins Berufsleben zu gehen. Die Geschichte beweist das genaue Gegenteil. Olympe de Gouges schrieb folgendes in ihrem berühmten Manifest:

„Das Ziel jeder gesetzgebenden Versammlung muss es sein, die unveräußerlichen Rechte beider Geschlechter zu schützen: Freiheit, Fortschritt, Sicherheit und Schutz vor Unterdrückung. Alle Bürger und Bürgerinnen sollen entweder direkt oder durch eigene Repräsentanten an der Gesetzgebung beteiligt werden. Alle Staatsbürgerinnen sollten gleichberechtigten Zugang zu sämtlichen Ämtern, Berufen und Auszeichnungen der Gesellschaft haben.“

Alle diese Forderungen jedoch, die sich hauptsächlich auf den „freien Zutritt der Frauen zu sämtlichen Ämtern und Berufen“ richteten, sind nur deshalb entstanden, weil die „Frauen aus dem Volke“ der produktiven Frauenarbeit den Weg gebahnt hatten. Während der französischen Revolution war die Forderung nach der politischen Gleichberechtigung der Frau noch keine brennende Frage für die Proletarierinnen gewesen, sondern eher eine Kampfparole der bürgerlich demokratischen Elemente der Revolution. Die Frauen der Vorstädte von Paris waren in den Frauenclubs nur spärlich vertreten. Ich meine jene Frauenclubs, die auf Initiative von Palm Aelder und anderen führenden Pionierinnen im Kampf fürs Frauenrecht organisiert worden waren. Die Frauen aus den Vorstädten von Paris kämpften begeistert gemeinsam mit dem ganzen Proletariat für die Abschaffung des Zunftwesens und andere rein proletarische Forderungen Ihr Klasseninstinkt sagte ihnen völlig richtig, dass die Forderung auf „Das Recht auf Arbeit“ und „Die Abschaffung des Zunftwesens“ eine gründlichere Lösung ihrer Probleme garantierte, als der beschränkte Kampf um die politischen Rechte der Frau. Olympe de Gouges hingegen stellte ihre politischen Forderungen in der festen Überzeugung, damit die Interessen sämtlicher Frauen zu verteidigen. Die historische Situation des 18. Jahrhunderts war jedoch so, dass eine einseitige Anerkennung der politischen Rechte der Frau dazu geführt hätte, dass die bestehenden Privilegien der Frauen, die zu den privilegierten Ständen gehörten, noch fester zementiert worden wären. Dies galt sowohl für Frankreich als auch für Amerika und England. Die Frauen aus dem Proletariat wären dabei wieder einmal leer ausgegangen. Die Frauenbewegung und ihre Forderung nach Anerkennung der Menschenrechte entstand am Ende des 18. Jahrhunderts und zwar aufgrund des allgemeinen Entwicklungsstandes in der Produktion und Volkswirtschaft und der wachsenden Rolle der Frau in der Produktion. Wir wollen am Beispiel von England, Frankreich und Amerika die Richtigkeit unserer Grundthese näher belegen; nämlich dass die gesellschaftliche Stellung der Frau abhängig ist von ihrer Bedeutung für die Produktion.

Die Ausbreitung der Frauenarbeit in der Manufakturperiode haben wir bereits an anderer Stelle ausführlich behandelt. Die Fabrikproduktion entwickelte sich in den beiden kapitalistischen Staaten Frankreich und England während des 18. Jahrhunderts. Diese Tatsachen sprechen wohl für sich selbst. Stimmt unsere Behauptung immer noch, wenn wir von Amerika reden? Im 18. Jahrhundert war Amerika nur eine von vielen Kolonien des mächtigen englischen Imperiums, zudem auch noch eine der wirtschaftlich rückständigsten. Es besaß eine schwach entwickelte Industrie und die Kleinproduktion dominierte in der Landwirtschaft. Die Bevölkerung bestand zum größten Teil aus Bauern. Warum wurde dann ausgerechnet Amerika die Wiege der Frauenbewegung? Warum forderten die Frauen in Amerika die Gleichberechtigung der Frau und Anerkennung ihrer politischen Grundrechte zu einem weit früheren Zeitpunkt als in den hochindustrialisierten Ländern Europas? Widerspricht dies nicht unserer Grundthese, derzufolge der Kampf der Frauen um Gleichberechtigung einzig und allein das Resultat ihrer Rolle in der Produktion ist? War es denn nicht vielleicht doch so, dass die Forderungen der Frauen nach politischen Rechten nur die logische Konsequenz aus den politischen Forderungen der Bourgeoisie und deren Kampf für Demokratie waren? Nein, so war es eben nicht. Amerika ist nur ein weiterer Beweis dafür, dass unsere Grundthese korrekt ist. Die politischen Forderungen der amerikanischen Frauen waren natürlich das direkte Resultat der ökonomischen Bedeutung der Frau für Nordamerikas wirtschaftliches Leben im 17. und 18. Jahrhundert, d. h. also jener Periode, in der Amerika nichts weiter war als eine englische Kolonie.

Nordamerika wurde von Emigranten aus der alten Welt – aus Europa – besiedelt, die meistens vor der Willkürherrschaft des Feudalismus oder vor Religionsverfolgungen geflohen waren. Ihre Arbeitskraft und Energie war das einzige, was sie besaßen. Meistens emigrierten diese europäischen Flüchtlinge mit ihrer ganzen Familie in die Neue Welt und nahmen Neuland in Besitz, wurden Siedler und Bauern. Da Arbeitskraft Mangelware war, musste die gesamte Familie in der Landwirtschaft arbeiten. Die Gattinnen und Töchter der Farmer arbeiteten deshalb genauso hart wie die Männer, um einen gewissen Wohlstand zu erreichen. Die Frauen teilten selbstverständlich die ökonomischen Sorgen ihrer Männer und rangen erbittert mit der wilden und noch unbezwungenen Natur. Die Frauen trugen wie ihre Männer Waffen und verteidigten die Farmen, die man gemeinsam aufgebaut hatte, gegen die Überfälle der Indianer. Deshalb war die Frau eine wertvolle Arbeitskraft, die zum Wohlstand der gesamten Siedlung beitrug. Aus dieser Zeit stammt also der große Respekt, den die Amerikaner bis auf den heutigen Tag gegenüber ihren Frauen beibehalten haben. Diese Hochachtung wird aber immer mehr durch den zunehmenden Einfluss des hochentwickelten Kapitalismus zerstört. Dieses System verwandelt die Frau entweder ausschließlich in einen Lohnsklaven oder aber in einen reinen Unterhaltungsgegenstand des Mannes.

Solange Amerika eine englische Kolonie war, galt folgendes Prinzip: Repräsentation für alle, die Steuern bezahlen. Alle Steuerzahler hatten also das Recht, an den Staatsgeschäften teilzunehmen, auch die Frauen. Deshalb war es auch selbstverständlich, dass die Frauen aktiv am amerikanischen Bürgerkrieg teilnahmen. Sie traten selbstverständlich für die Verteidigung der Unabhängigkeit ihres Staates ein und kämpften für die Unabhängigkeit jenes Landes, dessen blühender Wohlstand teilweise das Werk ihrer eigenen Hände war. Die Frauen kämpften begeistert bis zum letzten Tage des Unabhängigkeitskrieges für ein selbständiges Amerika und nahmen oft radikalere Positionen ein als die revolutionären Politiker. So forderte z. B. Mercy Warren bereits öffentlich die völlige Loslösung vom Mutterland zu einem Zeitpunkt, als selbst der Anführer der Separatisten, Washington, eine derart radikale Forderung noch nicht zu äußern wagte. Für diese Frauen war es selbstverständlich, dass die neue Republik in ihrer Verfassung die politische Mündigkeit der Frau garantieren würde, da diese ihnen nicht einmal unter der Periode, als Amerika noch eine britische Kolonie war, verweigert worden war. Da hatten sie sich aber sehr getäuscht. Zwar sprach sich die konstituierende Versammlung nie offen gegen das weibliche Stimmrecht aus (stattdessen wurde den Teilstaaten empfohlen, selber in dieser Frage zu entscheiden), doch dieses Stimmrecht wurde auch nicht ausdrücklich in der Verfassung festgelegt. Dieser Beschluss lässt sich leicht erklären: Ende des 18. Jahrhunderts war Amerika nicht mehr ein Land von Kleinbauern, sondern es entstand eine großkapitalistische Industrie. Die Frau hörte auf, eine nützliche, produktive Arbeitskraft zu sein und ihre Bedeutung für die Volkswirtschaft nahm ab. Wie schon so oft wurden die Frauen, als das Bürgertum seine Vorherrschaft gefestigt hatte, zu einem Dasein als Ehefrau, Familienmitglied und lebendiges Anhängsel des Mannes degradiert. Die den ärmeren Schichten angehörenden Frauen wurden Fabrikarbeiterinnen und gehörten künftig zu den geächteten Sklaven des Kapitals. Es ist bezeichnend, dass die industrialisierten US-Bundesstaaten, die sogenannten altenglischen Staaten, den Frauen das Wahlrecht wieder wegnahmen und durch ein Gesetz allein den Männern vollwertige Bürgerrechte gaben. Im Gegensatz dazu dehnten zwei typische Agrarstaaten, Virginia und New Jersey, die politischen Rechte in der Gemeindeverwaltung und im Staat auch auf die Frauen aus.

Wir stellen also interessanterweise fest, dass die Forderung der Frauen nach Gleichberechtigung von der amerikanischen Gesellschaft vor dem Bürgerkrieg allgemein unterstützt wurde, ganz besonders in den revolutionären Kreisen. Die Frau wurde von der Bourgeoisie auf jede erdenkliche Art und Weise ausgenützt und in den Bürgerkrieg hineingezogen. Man forderte von ihr staatsbürgerliche „Mannhaftigkeit“, Opferwilligkeit und Begeisterung für die Republik. Doch kaum hatte sich der Siegesjubel gelegt und der bisherige Feind – das feudale England – konnte die Interessen der amerikanischen Bourgeoisie nicht länger bedrohen, da flaute das Interesse sogar der leidenschaftlichsten Demokraten für die Forderung der Frauen nach Gleichberechtigung rasch ab. Wir können also aus diesen beiden Beispielen, Amerika und Frankreich, den Schluss ziehen, dass die Forderungen nach der Gleichberechtigung von Mann und Frau entstanden sind, nachdem die Frau sich zu einer produktiven Arbeitskraft in der Volkswirtschaft entwickelt hatte. Es war also nicht die Forderung nach Gleichberechtigung, die die Frauen ins Berufsleben getrieben hat, sondern gerade umgekehrt, die Rolle der Frau in der Produktion, die ihren Anspruch auf gesellschaftliche Gleichberechtigung hervorbrachte.

Wie aber lässt sich dann die Tatsache erklären, dass die Frauen in sämtlichen bürgerlichen Staaten nach wie vor im Verhältnis zum Manne diskriminiert werden? Dass der bürgerliche Staat und die kapitalistische Gesellschaft die Frau weder als Individuum noch als Bürger akzeptieren, obwohl die berufstätigen Frauen einen wichtigen Teil der arbeitenden Bevölkerung ausmachen?

Die Ursache dieses Missstandes liegt in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die auf Klassengegensätzen und auf Lohnarbeit beruht. In den bürgerlichen Staaten rekrutiert sich die Mehrzahl aller berufstätigen Frauen aus der Arbeiterklasse, d. h. es sind Lohnsklaven im Dienste des Kapitals. Genauso wie einst der Despot des Altertums seine Sklaven verachtete, die Menschen also, denen er in Wirklichkeit seinen gesamten Reichtum verdankte, so will heutzutage die Bourgeoisie um keinen Preis die Rechte jener Millionen von Proletariern anerkennen, die durch ihre Arbeitsleistung alle Werte produzieren und die das Fundament des Wohlstandes der bürgerlichen Gesellschaft bilden. Im kapitalistischen System führen weder der Arbeiter noch die Arbeiterin irgendeine selbständige Arbeit aus, die Produkte schafft, welche direkt an den Verbraucher gehen. Heute arbeiten beide für „Lohn“ und verkaufen ihre Arbeitskraft an den Unternehmer. In der Periode des Naturhaushaltes verkauften der Handwerker und der Heimarbeiter nicht ihre Arbeitskraft an den Verbraucher, sondern das fertige Produkt ihrer Arbeit. In der Periode der Lohnsklaverei muss der Arbeiter dagegen seine Arbeitskraft an den Kapitalisten verkaufen. Wir haben schon an anderer Stelle dargestellt, warum die bürgerlichen Ökonomen grundsätzlich nicht bereit sind, die menschliche Arbeitskraft als Hauptquelle des Reichtums anzuerkennen. Die bürgerlichen Volkswirtschaftler und die Unternehmer vertreten mit allen nur denkbaren Argumenten die Auffassung, dass der Unternehmer als Vermittler zwischen Arbeitskraft und Maschinerie den Reichtum erzeugt. Die Bourgeoisie vertritt die Auffassung, dass die Maschine jene Kraft ist, die alle neuen Werte schafft und der Arbeiter eine untergeordnete Rolle spielt. In diesen bürgerlichen Theorien sind Arbeiterin und Arbeiter ausschließlich lebendige Anhängsel der Maschinerie. Tatsächlich ist in den Köpfen der Unternehmer letzten Endes ihr eigenes Kapital die wahre Quelle aller Reichtümer.

Solange in einer Gesellschaft bürgerliche Produktionsverhältnisse herrschen, kann man nicht damit rechnen, dass die menschliche Arbeitskraft anders bewertet wird oder eine Neubewertung der Rolle der Arbeiterklasse und der Stellung der Frau in der Produktion vorgenommen wird. Die Lohnarbeit hat die Frau aus der Familie gerissen und sie in die Produktion hineingeschleudert. Das jetzige System der Lohnarbeit macht den Arbeiter und die Arbeiterin materiell und sozialpolitisch völlig abhängig von der Bourgeoisie. Ihre Arbeit wird unterbezahlt, ganz gleichgültig, ob Mann oder Frau. Die organisierten Versuche der Arbeiterklasse, ihre Rechte auszudehnen und den bürgerlichen Staat zu demokratisieren, wird von der Bourgeoisie mit gut organisiertem Widerstand und blindwütigem Hass beantwortet. Nicht der, der Werte schafft, sondern der, der von der Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft lebt, ist am besten dazu geeignet, die Staatsgeschäfte und die Organisierung der Gesellschaft zu besorgen. Das Schicksal der berufstätigen Frau ist identisch mit dem des gesamten Proletariats. Obwohl heute Millionen von Frauen zur Lohnarbeit gezwungen werden, verschlechtert sich die soziale Lage der Frauen ständig. Der Kapitalismus zwingt der Frau zusätzlich zur Sklaverei im eigenen Heim und ihrer Abhängigkeit in der Familie noch eine weitere Bürde auf: nämlich die Lohnarbeit beim Unternehmer.

Wir haben bereits besprochen, dass die Ehe die Proletarierin keineswegs vor dem Zwang, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, retten kann. In zunehmendem Maße werden verheiratete Arbeiterinnen gezwungen, eine Berufsarbeit außerhalb des Hauses mit der Haushaltsarbeit, der Erziehung der Kinder und der Bedienung des Mannes zu kombinieren. Ihr Leben verwandelt sich zu einem ewigen Schuften, sie schläft nie genug und hat keine Ahnung, was Ausruhen heißt. Sie ist die erste, die morgens aufsteht und sie geht auch zuletzt ins Bett. Trotzdem lösen sich die Arbeiterfamilien auf, das Heim verwahrlost, und die Kinder sind sich selbst überlassen. Die Frauen zerreißen sich umsonst und versuchen verzweifelt, die Familie zusammenzuhalten. Die Frau lebt immer noch in der Vergangenheit und bewertet Familie und Heim höher als der Mann, doch die unerbittlichen Produktionsverhältnisse nehmen auf die Wünsche der Menschen keine Rücksicht. Durch die Entstehung der Großproduktion schrumpft die Bedeutung der Familienökonomie. Eine Funktion nach der anderen fällt weg. Wichtige Aufgaben des Familienhaushaltes, die früher untrennbare Bestandteile der Hausarbeit gewesen sind, verschwinden. Es ist z. B. nicht mehr nötig, dass die Arbeiterfrau ihre kostbare Zeit mit Strümpfe stopfen, Seifenherstellung und Kleider nähen verschwendet, wenn gleichzeitig diese Massenkonsumartikel im Überfluss auf dem Markt vorhanden sind. Diese Tatsache spielt keine Rolle, solange sie nicht genügend Geld hat. Um Geld zu verdienen, muss sie ihre Arbeitskraft verkaufen, d. h. sich eine Arbeitsstelle suchen. Warum soll sich die Frau damit abplagen, Lebensmittel für den Winter zu konservieren, Brot zu backen oder Mittagessen zu kochen, wenn Hunderte von Konservenfabriken die nötigen Vorräte herstellen, die Bäcker genügend Brot backen und die Arbeiterfamilie für wenig Geld im nächsten Konsumgeschäft oder billigen Restaurant ein fertiges Mittagessen erstehen kann. Durch diesen Prozess wird die Arbeit der Frau für die Familie zunehmend überflüssig, sowohl nationalökonomisch gesehen, als auch aus der Sicht der Familie. Deshalb also löst sich die Familie, insbesondere in der Stadt, auf. Sie verschwindet mit der Entfaltung des kapitalistischen Warenaustausches und der Massenproduktion von Gütern. Die Familie, in der Periode des Naturhaushaltes eine Notwendigkeit, entwickelt sich zu einem Hemmschuh, der die Arbeitskraft der Frau auf eine für die nationale Ökonomie unnütze und unproduktive Art und Weise bindet.

Weil die Familie nicht mehr eine ökonomische Einheit ist, ist sie überflüssig geworden. In der UdSSR wird heute die Frauenarbeit in den Dienst des Kollektivs und nicht mehr in den der geschlossenen Familie gestellt. Die Zahl der in der Produktion beschäftigten Frauen nimmt zu. Der Weltkrieg bestätigte endgültig die Bedeutung der Frauenarbeit für die Weiterentwicklung der Produktivkräfte. Es gibt keine Branche, in der nicht im Verlauf der vergangenen sieben Jahre Frauen gearbeitet haben. Während des Krieges wuchs die Zahl der berufstätigen Frauen allein in Amerika und Europa um ungefähr zehn Millionen an und die Frauenarbeit wurde zu einer absoluten Notwendigkeit. Die Statistik zeigt, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Drittel aller Werte, die auf den Weltmarkt kamen, von Frauen produziert wurden. Inzwischen hat natürlich der Anteil der Frauen an der internationalen Warenproduktion weiter zugenommen. Die Frauenarbeit ist zu einem stabilen ökonomischen Faktor geworden. Trotzdem ist die „Frauenfrage“ nach wie vor ungelöst. Die Frauen aller Länder – mit Ausnahme von Russland – müssen noch einen langen Weg zurücklegen, bevor ihr Kampf um Gleichberechtigung Erfolg haben wird. Wissen wir doch, dass die Wurzel dieses Übels im kapitalistischen Produktionssystem und in der Teilung der bürgerlichen Gesellschaft in Klassen liegt, denn diese Gesellschaft hat das Privateigentum zur Grundlage. Wenn wir erst die Ursachen der Missstände erkannt haben, so sind wir auch fähig, die Kampfformen zu entwickeln, mit denen wir diese Missstände beseitigen können. Die rechtliche Diskriminierung der Frau und ihre Abhängigkeit können erst dann endgültig überwunden werden, wenn die Gesellschaft ein neues Produktionssystem schafft, in dem das Privateigentum durch kollektive Produktion und Konsumtion ersetzt wird – was den Sieg des Kommunismus bedeutet.

8. Die Bewegung der Feministinnen und die Bedeutung der Arbeiterinnen im Klassenkampf

Die „Frauenbewegungß war also das Resultat eines für den Kapitalismus typischen Widerspruches: der wachsende Anteil der Frauen in der Produktion entsprach keineswegs ihrer andauernden Diskriminierung in Gesellschaft, Ehe und Staat.

Es existiert keine spezielle selbständige „Frauenfrage“. Jene Kraft in der bürgerlichen Gesellschaft, die die Frau unterdrückt, ist ein Teil des großen gesellschaftlichen Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit. Der Widerspruch zwischen der Beteiligung der Frau in der Produktion einerseits und ihrer allgemeinen Rechtlosigkeit andererseits führte zur Entstehung einer bis dorthin völlig unbekannten Erscheinung: dem Aufkommen einer Frauenbewegung. Aber von Anfang an spaltet sich diese Bewegung in zwei einander diametral entgegengesetzte Richtungen: die eine Fraktion organisiert sich unter der Fahne der bürgerlichen Frauenbewegung, während die andere Fraktion ein Teil der Arbeiterbewegung ist. Die bürgerliche Frauenbewegung wich im 19. Jahrhundert von der politischen Bewegung der bürgerlichen Männer ab und war nur noch teilweise das Spiegelbild der ihr nahestehenden gesellschaftlichen Schichten. Die Frauenbewegung wuchs sprunghaft und bildete Ende des 19. Jahrhunderts in sämtlichen westlichen und asiatischen Staaten ein starkes Netz von Frauenorganisationen. Ihre Hauptaufgabe war die Anerkennung der Gleichberechtigung von Frau und Mann auf allen Gebieten im Rahmen der bestehenden kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft. Die bürgerlichen Wortführerinnen der Frauenbewegung hatten nicht das geringste Interesse für jene neue soziale Bewegung übrig, die der Befreiung der Frau eine wesentlich weitere Perspektive und das einzig solide Fundament gegeben hat. Sie standen dem Sozialismus völlig fremd gegenüber. Dass dann schließlich ein Teil der bürgerlichen Frauenrechtlerinnen gegen Ende des 19. Jahrhunderts Forderungen stellte, die man bei den Sozialisten entliehen hatte, lag nur daran, dass sie sich der Unterstützung der Proletarierinnen vergewissern wollten, ihre Mitarbeit erkaufen wollten, um so ihre eigene politische Bedeutung zu vergrößern. Es war auch kennzeichnend für die bürgerliche Frauenbewegung, dass sie sich selbst als klassenneutral begriff und dass ihre Forderungen und Aktivitäten diejenigen sämtlicher Frauen repräsentierten. Die Wirklichkeit sah natürlich so aus, dass die bürgerlichen Frauenrechtlerinnen nichts anderes taten, als die Forderungen und Interessen der bürgerlichen Frauen zu vertreten, wobei wir gar nicht ausschließen wollen, dass sich die bürgerliche Frauenbewegung aus den verschiedensten Schichten rekrutierte. Ein drittes Merkmal dieser Bewegung war es, dass es ihr gelang, einen ernsthaften Interessenkonflikt zwischen Mann und Frau auszulösen, indem sie in jeder Hinsicht versuchte, die Männer nachzuäffen. Die Feministinnen begingen außerdem noch einen großen Fehler. Sie nahmen keine Notiz von der doppelten gesellschaftlichen Verpflichtung der Frau und ließen völlig außer acht, dass jene „natürlichen Rechteß, auf die die Feministinnen sich mit Vorliebe beriefen, von den Frauen nicht nur forderten, dass sie produktive Arbeit für die Gesellschaft ausübten, sondern auch, dass sie den zukünftigen Generationen dieser Gesellschaft das Leben schenkten. Die Verteidigung und der Schutz der Frau als Mutter war aber keineswegs Bestandteil des Programms und der Politik der bürgerlichen Frauenbewegung. Als die Bewegung der Feministinnen das Problem des besonderen Schutzes der Mutterschaft am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts berücksichtigte, da war dies ein neues Element in ihrer Arbeit. Höchst ungern und unter großen Zweifeln nahmen sie die Forderungen für den gesetzlichen Mutterschutz und für besondere Gesetze zum Schutze der arbeitenden Frauen in ihr Programm auf. Die Feministinnen versuchten in ihrer Naivität, den Kampf für die Rechte der Frau vom stabilen Fundament des Klassenkampfes auf die Ebene des Kampfes zwischen den Geschlechtern zu überführen. So entstand ein Zerrbild, eine Karikatur. Das fehlende politische Fingerspitzengefühl der Feministinnen führte sie weg von der Hauptkampflinie.

Den Erfolg und die Unterstützung, den die bürgerlichen Feministinnen bisher bei den Männern ihrer eigenen Klasse gewinnen konnten, verloren sie, weil sie bei allen passenden oder unpassenden Gelegenheiten exklusive Frauenforderungen verfochten, anstatt die für die bürgerliche Klasse gemeinsamen Interessen zu verteidigen, die natürlich auch die Rechte dieser Frauen garantiert hätten. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts begannen politisch bewusste bürgerliche Frauen ihren eigenen Kampf mit dem einer bestimmten politischen Partei zu verbinden und traten von nun ab als Bestandteil dieser Partei auf. So arbeiteten zum Beispiel die weiblichen Kadetten zuerst im „Bund“ für die Gleichberechtigung der Frau und später dann in der „Liga für die Gleichberechtigung der Frau“.

Eine entsprechende Politik wurde auch von bestimmten englischen und deutschen Organisationen betrieben.

Weil sich die bürgerlichen Frauenrechtlerinnen so angestrengt darum bemühten, zu beweisen, dass die Frau dem Manne auf keinem Gebiet nachsteht, ignorierten sie völlig die besonderen biologischen Eigenschaften der Frau, die von der Gesellschaft eine besondere Rücksichtnahme verlangen. In der Periode des Urkommunismus respektierte der Stamm die Frauen, weil sie einerseits Hauptproduzenten der Stammeswirtschaft waren und andererseits, weil die Frauen durch die Geburt von Kindern den Stamm vergrößerten. In jenen historischen Perioden aber, in denen die Männer sämtliche Aufgaben in der Produktion ausführten, gibt es für die Gesellschaft keinen zwingenden Grund mehr, die Frau mit dem Manne gleichzustellen, obwohl sie nach wie vor Kinder zur Welt bringt. Nur dann, wenn Frau und Mann gesellschaftlich nützliche Arbeit ausüben, ist die Gesellschaft bereit, die zusätzliche soziale Funktion der Frau als Mutter und Erzieherin der Kinder durch besondere Rücksichtnahme und Fürsorge zu beantworten.

In ihrem glühenden und kämpferischen Engagement für die leeren Prinzipien der Gleichberechtigung wollten dies die bürgerlichen Feministinnen nicht einsehen. Sie machten ihren größten Fehler als sie glaubten, dass eine Anerkennung der Rechte der Frau identisch sei mit der totalen Gleichstellung von Mann und Frau. Deshalb kleideten sich die sehr fanatischen Feministinnen „aus Prinzipß wie die Männer, schnitten sich das Haar kurz, um ihnen zu gleichen und nicht aus Gründen der Bequemlichkeit, und gingen in großen Männerschritten einher.

Als diese Feministinnen erfuhren, dass Frauen zu Arbeiten im Hafen gezwungen wurden und schwere Lasten herumschleppten, da waren diese naiven Frauenrechtlerinnen zutiefst gerührt und schrieben tatsächlich in ihren Zeitschriften und Zeitungen: „Ein weiterer Sieg für die Gleichberechtigung der Frau. Weibliche Hafenarbeiter tragen Seite an Seite mit ihren männlichen Kollegen bis zu 200 kg auf ihren Schultern.“ Sie sahen auch nie ein, dass sie im Gegenteil hätten Artikel schreiben müssen, in denen die Profitgier des Kapitalismus, der durch schwere und unpassende Arbeit den weiblichen Organismus zerstörte und dadurch dem Interesse des gesamten Volkes schadete, entlarvt worden wäre. Ebenso wenig begriffen die Feministinnen, dass die Frau auf Grund bestimmter körperlicher Eigenschaften sich immer in einer Sonderstellung befinden wird und dass die Hochachtung der Gesellschaft gegenüber diesen speziellen Werten der Frau diese nicht im Geringsten zu beeinträchtigen braucht. Die Frau muss ja nicht unbedingt die gleiche Arbeit wie der Mann ausführen. Um ihre Gleichberechtigung mit dem Mann zu garantieren reicht es vollkommen, wenn sie eine für das Kollektiv gleichwertige Arbeit leistet. Diesen Zusammenhang begriffen die Feministinnen einfach nicht, und deshalb war ihre Bewegung entsprechend borniert und einseitig.

Die bürgerliche Frauenbewegung durchlief natürlich verschiedene Entwicklungsstadien. Die Forderung nach gleichen politischen Rechten, die in Amerika und in Frankreich noch im 18. Jahrhundert energisch und laut gestellt worden war, wurde mit der zunehmenden Verschärfung des Bürgerkrieges und der gleichzeitigen Festigung der Vormachtstellung der bürgerlichen Klasse von der Tagesordnung gestrichen. Stattdessen ging man zu einer wesentlich bescheideneren Parole über und forderte den freien Zutritt für alle Frauen zur Berufsausbildung. Diese Parole, die die Frauenbewegung zu Anfang des 19. Jahrhunderts prägte, lässt sich aus der Hauptforderung der Frauenbewegung ableiten, in der das Recht auf Arbeit gefordert wurde. Bereits während der französischen Revolution hatte Olympe de Gouges vollkommen zu Recht in ihrem politischen Manifest die Auffassung vertreten, dass eine einseitige Anerkennung der politischen Rechte der Frau im Grunde an ihrer Situation gar nichts ändern würde. Für die Frauen sei es genauso wichtig, sich den Zutritt zu sämtlichen Berufen zu erkämpfen.

Bereits zu dem Zeitpunkt, als Olympe de Gouges ihr Manifest veröffentlichte, zeichnete sich der Kampf der bürgerlichen Frauen für den uneingeschränkten Zugang der bürgerlichen Frau zu den akademischen Berufen ab. In der Blütezeit des Kapitalismus gingen nicht nur die Handwerker bankrott und verwandelten sich die Heimarbeiter in Fabrikarbeiter, sondern wurde auch die bisherige Gartenlaubenidylle der Kleinbürger und des Bürgertums zerstört. Das Einkommen der Männer dieser sozialen Schichten war plötzlich für die Versorgung der eigenen Familie unzureichend. Dies zwang die Söhne und Töchter weniger gut situierter Familien, sich Arbeit zu suchen. Die jungen Mädchen aus bürgerlichem Hause arbeiteten als Lehrerinnen, schrieben und übersetzten Romane und versuchten, eine Anstellung im Büro oder aber in einem der staatlichen Ämter zu finden, um ein sicheres Einkommen zu haben. Doch der Zutritt zu den typisch akademischen Berufen war den Frauen nach wie vor versperrt. Die bürgerliche Gesellschaft traute ihnen ganz allgemein, was Energie und Verstand anging, nicht allzu viel zu und gab ihnen nur widerwillig solche Arbeiten. Außerdem schätzten die Frauen auch selbst ihre intellektuellen Fähigkeiten geringer ein als die der Männer.

Normalerweise versorgte der Mann mit seiner Arbeit nicht nur sich selbst, sondern auch zusätzlich seine Familie. Die bürgerliche Frau hatte in der Regel nur eine „Nebenbeschäftigung“, wohnte bei ihrem Mann und benutzte ihr Einkommen zur Deckung „persönlicher Ausgaben“. Nach und nach jedoch wuchs die Anzahl jener Frauen aus dem Kleinbürgertum und der Bourgeoisie, die nicht nur gezwungen waren, sich selbst zu versorgen, sondern oft auch noch die eigene Familie ernähren mussten. Aber ihr Arbeitslohn wurde trotzdem so berechnet, als wäre diese Arbeit eine reine „Nebenbeschäftigung“. Auch die mangelhafte Berufsausbildung der Frau verursachte eine zusätzliche Verminderung ihres Einkommens. Nicht weil die Frauen dem „schwachen Geschlecht“ angehörten, versperrten die Unternehmer und staatlichen Behörden ihnen den Zutritt zur Schreibtischarbeit, zum Lehrerberuf oder zum staatlichen Dienst. Ihre Arbeit galt vor allem deshalb als weniger produktiv, weil die Frauen eben nicht über eine entsprechende Ausbildung verfügten. Die Konkurrenten der Frauen am Arbeitsplatz, die Männer, waren selbstverständlich äußerst erbost darüber, wenn sie ihre Arbeitsplätze im Büro oder in staatlichen Ämtern verloren. Die Feministinnen begingen jedoch einen schweren Fehler, als sie glaubten, die Männer würden den Frauen nur deshalb den Zutritt zu sämtlichen Berufen verweigern, weil sie „egoistisch“ seien und die Konkurrenz der Frauen fürchteten. Dass die bürgerlichen Frauen nur zwischen einer äußerst begrenzten Anzahl von Berufen auswählen konnten, lag an ihrer mangelnden Schul- und Berufsausbildung. Die Frauen konnten nur dann aus dieser Sackgasse ausbrechen, wenn es ihnen gelang, den Zugang zur akademischen Ausbildung zu erkämpfen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass in einigen Ländern, zum Beispiel in Deutschland und später auch in Russland, sich in der bürgerlichen Frauenbewegung folgende Kampfparole als wichtigste Forderung durchsetzte: Gleiche Bedingungen für Frauen und Männer in der akademischen Hochschulausbildung. Die Diskussion über bessere Ausbildungsmöglichkeiten für die Frauen war bereits im 18. Jahrhundert entbrannt. Der französische Schriftsteller Fénelon und später der Philosoph und Publizist Condorcet (besonders aktiv während der ersten Jahre der französischen Revolution) traten entschieden für die Ausbildung der Frau ein. In England wurde diese Frage bereits im 17. Jahrhundert von Daniel Defoe und Mary Astell aufgegriffen. Da sie beide jedoch mit ihrem Appell ziemlich isoliert dastanden, hatte er keine praktischen Konsequenzen. Das änderte sich jedoch im Laufe des 19. Jahrhunderts. Mary Wollstonecraft griff erneut das Ausbildungsproblem der Frau in ihrer Schrift Zur Verteidigung der Frauenrechte auf. In diesem Buch bewies sie übrigens einen solchen Mut und eine derartige Kühnheit, dass sie in uns Erinnerungen an die großen Leitbilder der französischen Revolution wachruft. Der Ausgangspunkt ihrer Argumente war äußerst originell. Sie forderte eine Verbesserung der Erziehung der Frau und die Anerkennung ihrer Rechte, indem sie die geistige Bedeutung der Mutterschaft der Frau hervorhob. Nur eine freie und bewusste Frau könne eine gute Mutter sein, die ihren Kindern die Pflichten als Staatsbürger und eine echte Freiheitsliebe beibringen kann. Von allen Vorkämpfern für die Rechte der Frauen war Mary Wollstonecraft tatsächlich die einzige, die, von den Pflichten der Mutterschaft ausgehend, die Gleichberechtigung der Frau forderte. Die einzige Ausnahme ist Jean Jacques Rousseau in Frankreich. Dieser Philosoph und Revolutionär des 18. Jahrhunderts erklärte die Gleichheit der Frau aus den „natürlichen Rechten der Menschheit“. In seiner freien Gesellschaft jedoch, in der die Klugheit das Kommando führen sollte, verwies er die Frau ausschließlich in ihre Mutterrolle und zwar in einem Geist, der stark an die bürgerliche Familiensituation erinnert.

Obwohl sich zahlreiche Denker bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für das gleiche Recht von Mann und Frau auf höhere Ausbildung eingesetzt hatten, blieben die Pforten der Universitäten – und häufig auch die der niederen Bildungsstätten – für die Frau nach wie vor verschlossen. Erst nach vielen Anstrengungen und nach Überwindung zahlreicher Hindernisse gelang es der Frau, sich die erforderlichen wissenschaftlichen und technischen Kenntnisse anzueignen und den Zutritt zur intellektuellen Arbeit zu erzwingen. Elisabeth und Amelia Blackwell, zwei Aktivistinnen in bürgerlichen Frauenbewegungen, erkämpften sich in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts Zutritt zu einer amerikanischen Universität. Amelia erhielt als erste Frau das Ärztediplom. Zur gleichen Zeit hatte sich die erste Journalistin Amerikas, Margaret Fuller, einen Namen gemacht. In den sechziger Jahren wurde Mary Mitchell als erste Frau mit einer Professur in Mathematik und Astronomie geehrt, übrigens ebenfalls in Amerika. In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde die Engländerin Caroline Herschel, eine Schwester des berühmten Astronomen Herschel, Mitglied der astronomischen Gesellschaft. Die Universitäten waren den Frauen jedoch nach wie vor verschlossen. So war z. B. die erste englische Ärztin, Elizabeth Garrett, gezwungen, in der Schweiz Medizin zu studieren. Erst am Ende des 19. Jahrhunderts begannen die Frauen sich Schritt für Schritt den Zutritt zu den Universitäten zu erkämpfen.

Auch in Russland kämpfte die bürgerliche Frauenbewegung anfangs unter der Parole „Freiheit der Bildung“. Diese Parole basierte auf der richtigen und notwendigen Forderung nach dem Recht auf Arbeit. Die Möglichkeit, sich durch die Arbeit in einem akademischen Beruf das tägliche Brot zu verdienen, war jenen Frauen, die weder eine Ausbildung noch sonstige Vorkenntnisse hatten, völlig versperrt.

Der Auflösungsprozess des Adels hat in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts begonnen und zwar nach der Befreiung der Bauern und jenen politischen Veränderungen, die den Kapitalismus begünstigten. Der wirtschaftliche Ruin der Grundbesitzer zwang ihre Kinder, die Söhne genauso wie die Töchter, sich nach einer Arbeit umzusehen. Ein neuer Frauentyp entstand: Frauen, die ihr Einkommen genauso wie die Männer durch die Ausübung eines akademischen Berufes verdienten. Gleichzeitig mit der Entwicklung des Kapitalismus entstand ein immer komplizierter werdender Staatsapparat, der ständig Arbeitskräfte, insbesondere für den Schul- und Gesundheitssektor, suchte. Dieser Tatbestand rief bei den entsprechenden staatlichen Behörden eine äußerst wohlwollende Einstellung gegenüber dem Wunsch der Frau nach akademischer Ausbildung hervor.

In Russland trugen die wachsende Nachfrage und der zunehmende Mangel an ausgebildeten Arbeitskräften dazu bei, dass unsere Frauen verhältnismäßig leicht Zutritt zu akademischen Berufen und den höheren Ausbildungsanstalten erhielten. Natürlich ging dies auch hier nicht völlig ohne Kämpfe. Das Trägheitsgesetz hindert ja immer und immer wieder eine Klasse daran, zu verstehen, dass bestimmte Reformen ihren eigenen Interessen äußerst dienlich sind. Die bekannte Mathematikerin Sofia Kowalewskaja stieß z. B. auf so großen Widerstand, dass sie ihr Studium im Ausland beenden musste. Sie wurde in den achtziger Jahren nicht etwa an einer russischen Universität Professorin, sondern an einer schwedischen, der Hochschule in Stockholm. Ich erinnere mich selbst noch sehr gut daran, welche Aura die beiden ersten russischen Ärztinnen Nadeschda Suslowa und Rudnowa umgab, die beide ihren Doktortitel im Ausland erhalten hatten.

Heutzutage – besonders seit dem Kriegsende, aber auch deshalb, weil die russische Revolution großen Einfluss auf die Entwicklung in allen anderen Ländern ausgeübt hat – ist die Frage, ob die Frau nun das Recht auf Zutritt zu höherer Ausbildung habe oder nicht, beinahe überall zufriedenstellend gelöst worden. Nur in Asien, in China, Indien und Japan müssen wir noch einige Fragezeichen setzen, was den Zutritt von Frauen zu einigen Wissenschaften und Berufen betrifft.

Aber auch dort ist es heute für diese Frauen leichter, sich Zugang zur Ausbildung und Ausübung von akademischen Berufen zu verschaffen, als es seinerzeit in Europa und Amerika der Fall war. Dieses verdanken wir der Entwicklung des Kapitalismus und dem wachsenden Bedarf eines immer komplizierteren Staatsapparates nach immer mehr Lehrern, Telegraphisten, Telefonistinnen, Büroangestellten, Buchhaltern usw.

In den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts gingen die bürgerlichen Frauen dann dazu über, an Stelle der bisherigen Forderung nach Gleichberechtigung im Ausbildungssektor die korrektere Forderung nach dem „Recht auf Arbeit“ zu stellen. Die bürgerliche Frauenbewegung kann stolz darauf sein, dass sie den Frauen den Weg zu einem selbständigen Arbeitseinkommen gebahnt hat. Dabei hat sie jedoch die wichtige Tatsache, dass die Frauenbewegung selbst ja ein Resultat der Integration der Frauen in die Produktion war, außer acht gelassen. Wir wissen durch die vorhergehenden Vorlesungen, dass diese Forderung in der Praxis, und zwar bevor sie von den Feministinnen formuliert worden war, längst von Millionen von Proletarierinnen realisiert wurde. Dieser Prozess wiederum war eine Folge der veränderten ökonomischen Bedingungen und der endgültigen Etablierung des kapitalistischen Systems.

Tatsächlich lebten die Bürgerinnen nach wie vor in der Schale ihres eigenen Heimes, und zwar glücklich; es ging ihnen ausgezeichnet, und das auf Kosten ihres Mannes oder Liebhabers. Zur selben Zeit hatten die armen Bauersfrauen und die geplagten Proletarierinnen bei ihrer ständigen Suche nach einem Arbeitsverdienst bereits im 17. und 18. Jahrhundert die Kampfparole der Feministinnen aus dem späten 19. Jahrhundert in der Praxis verwirklicht, nämlich: das Recht auf Arbeit. Die armen Frauen des vierten Standes kämpften für dieses Recht auf Arbeit bereits, als die bürgerlichen Frauen es noch als eine Schande ansahen, selbst arbeiten zu müssen. Der Weg jedoch, der die Frauen aus der Arbeiterklasse zu produktiver Arbeit führte, folgte anderen gesellschaftlichen Gesetzen. Die proletarische Frauenbewegung wählte einen anderen Weg, seitdem sie begonnen hatte, als ein Bestandteil der allgemeinen Frauenbewegung aufzutreten.

Zahlreiche Bücher in verschiedenen Sprachen sind über die bürgerliche Frauenbewegung geschrieben worden. Aber die Geschichte über den Kampf der Arbeiterfrauen für ihre Rechte als Mitglieder der Arbeiterklasse, als gleichwertige Produzenten in der Volkswirtschaft und obendrein noch als Garanten zukünftiger Geschlechter ist bis auf den heutigen Tag nicht geschrieben worden. Hier und da finden wir in den Büchern, die den Kampf und die Geschichte der Arbeiterklasse schildern, einzelne Fakten. Aber schon diese spärlichen Informationen zeigen uns, wie die Proletarierinnen sich langsam aber sicher den Zutritt zu einer Berufsgruppe nach der anderen erkämpften; sie schildern ihr erwachendes Bewusstsein über sich selbst als Teil einer Klasse und als Individuen. Wir können beobachten, wie die Arbeiterfrauen innerhalb der Arbeiterbewegung mitkämpften und wie sie besonders für jene Forderungen eintraten, die speziell mit der Situation der arbeitenden Frauen zu tun hatten. Ein Buch jedoch, das dieses Thema erschöpfend behandelt und den dornenreichen Weg der Frauen bis zu ihrer endgültigen Anerkennung als vollwertige Mitglieder des Proletariats beschreibt, lässt noch immer auf sich warten. Die proletarische Frauenbewegung ist selbstverständlich mit der übrigen Arbeiterbewegung aufs Engste und unauflöslich verbunden und ist ganz einfach ein organischer Bestandteil dieser. Wir würden jedoch den Fehler der Feministinnen wiederholen, wenn wir verneinen würden, dass sich die Situation des männlichen und weiblichen Teils des Proletariats nicht unterscheidet, wenn wir nur einfach behaupten würden, beide Teile hätten ja sowieso ein und dasselbe Ziel – den Kommunismus – und wären deshalb also aufgrund ihrer gemeinsamen Klasseninteressen bestens vereint. Es muss einfach betont werden, dass die körperlichen Eigenschaften der Frau und ihre soziale Aufgabe, Kinder zu gebären, nach wie vor existieren; dies wird auch dann noch so sein, wenn ihre Gleichberechtigung auf sämtlichen Gebieten verwirklicht ist. Gerade der Umstand, dass die Frau nicht nur Staatsbürger und Arbeitskraft ist, sondern auch Kinder gebiert, wird sie immer in eine besondere Lage bringen. Dies konnten und wollten die Feministinnen nie verstehen. Das Proletariat kann es sich jedoch nicht leisten, diese wichtigen Tatsachen zu ignorieren, wenn es jetzt darum geht, neue Lebensformen aufzubauen.

Lasst uns jetzt zur Rolle der bürgerlichen Frau in den kapitalistischen Ländern zurückkehren und kurz die weitere Entwicklung der Bewegung der Feministinnen umreißen.

Wir haben bereits betont, dass der Kapitalismus zahlreiche antagonistische Widersprüche reproduziert. Ein solcher Widerspruch ist die heutige Stellung der Frau. Dies gilt im Prinzip auch für die Frauen der bürgerlichen Klasse, selbst wenn die meisten von ihnen immer noch „hinter dem Rücken“ ihres Mannes als legalisierte Kurtisanen Schutz suchen. Tatsache ist, dass die Anzahl der bürgerlichen Frauen, die sich nach einer eigenen Arbeit umsehen, von Jahr zu Jahr wächst, und dass die komplizierte Maschinerie der großkapitalistischen Produktion in ihren unzähligen Ämtern, Verwaltungen und Büros einen ständigen Bedarf an einem Heer von Stenotypistinnen, Buchhalterinnen, Büroangestellten, Telefonistinnen, Dolmetscherinnen, Korrespondentinnen usw. hat. Diese Nachfrage ist wahrscheinlich nicht hauptsächlich dem Umstand zu verdanken, dass die weiblichen Arbeitskräfte billiger sind als die männlichen, sondern es ist sicherlich auch wichtig, dass sie allgemein als flexibler und zuverlässiger als ihre männlichen Kollegen angesehen werden.

Die heutige Produktion in den Großbetrieben kann einerseits auf die weibliche Arbeitskraft gar nicht mehr verzichten, andererseits kann die bürgerliche Gesellschaft, die auf dem privaten Besitzrecht gründet, auch nicht auf die Institution der Familie verzichten. Die wachsende Frauenarbeit und ihre zunehmende wirtschaftliche Unabhängigkeit machen die Frau dem Mann gegenüber immer selbständiger. Die Familie verliert ihre frühere Widerstandskraft, beginnt sich aufzulösen und zerfällt.

Die Bourgeoisie oder genauer die Kapitalisten locken die Frau aus ihren vier Wänden heraus und integrieren sie in die Produktion. Aber der bürgerliche Gesetzesgeber weigert sich gleichzeitig stur, dieser Tatsache Rechnung zu tragen. Das bürgerliche Recht geht vielmehr davon aus, dass die Frau nach wie vor unselbständig ist und ihre Interessen am besten vom Ehemann – dem „Versorger“ – gewahrt werden. Die Frau kann dieser Rechtsauffassung entsprechend unmöglich als eine selbständige Person betrachtet werden, sie ist eben nur das „Anhängsel“ des Mannes. Diese Situation ist natürlich auf die Dauer unhaltbar. Millionen von Frauen verdienen ihren eigenen Lebensunterhalt, haben aber keinerlei Möglichkeit, ihre eigenen Interessen dem Staat gegenüber zu verteidigen, da man ihnen ja die allen übrigen männlichen Staatsbürgern zustehenden Grundrechte kurzerhand verweigert.

Der Kampf für das Frauenstimmrecht und für das passive Wahlrecht war in der Frauenbewegung, die in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts entstand, die zentrale Forderung.

Die amerikanischen Frauen waren die Vorkämpferinnen dieser Bewegung. Sie beteiligten sich am Bürgerkrieg in den Vereinigten Staaten aktiv und kämpften für die Abschaffung der Sklaverei. Dieser Krieg war eine Entscheidungsschlacht zwischen den feudalistischen Südstaaten und den kapitalistischen Nordstaaten. Der Norden siegte und die Vereinigten Staaten von Amerika entwickelten sich zu einem Land, in dem das Großkapital herrscht und die Lohnsklaverei floriert. Laut Gesetz wurde die Negersklaverei abgeschafft. Wie immer bei derartigen gesellschaftlichen Konflikten, hatten sich besonders die Frauen aktiv am Bürgerkrieg beteiligt. Die neue Verfassung erweiterte die Rechte der Regierung und die Frauen bemühten sich natürlich, für ihre eigenen Forderungen Gehör zu finden. „Wenn der Neger als ein freier und selbständiger Mensch anerkannt wird, warum soll dann die Frau, die zur Abschaffung der Sklaverei beigetragen hat, als einzige vor dem Gesetz unmündig dastehen?“ Doch das bürgerliche Parlament der USA, der berühmte „freiheitsliebende und demokratische“ Kongress, hütete sich davor, der Frau die gleichen Rechte einzuräumen. So war die Situation nicht nur kurz nach der Beendigung des Bürgerkrieges, sondern so ist es noch auf Bundesebene bis auf den heutigen Tag. Im nordamerikanischen Staatenbund hat die Frau immer noch kein Stimmrecht. Dieses Recht hat sie nur in den einzelnen Teilstaaten.

Nach den USA entstand in England eine mächtige Frauenbewegung, die für das Stimmrecht kämpfte. Die Feministinnen, die jetzt in allen möglichen akademischen Berufen arbeiteten, verschoben den Schwerpunkt dieses Kampfes jedoch, so dass hauptsächlich das passive Wahlrecht der Frauen zur Debatte stand. Aus diesem Grund wurden eine Reihe von Frauenorganisationen gegründet. Die Feministinnen aus den verschiedenen Ländern arbeiteten in gemeinsamen Aktionen zusammen und veranstalteten seit dem ausgehenden Jahrhundert internationale Frauenkongresse. Sie bombardierten die bürgerlichen Parlamente mit Bittschriften und überschwemmten den Literaturmarkt mit Büchern, Broschüren und Aufrufen für das allgemeine Stimmrecht der Frauen. Als sich diese „friedliche“ Taktik jedoch als uneffektiv erwies, übernahmen die Feministinnen die militanten Methoden der „Suffragetten“. Diese militanten bürgerlichen Frauenrechtlerinnen waren in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts bis zu Ausbruch des 1. Weltkrieges sehr bekannt. Es ist jedoch typisch, dass dieselben Feministinnen in den verschiedenen Ländern, die bisher immer sehr viel Wert darauf gelegt hatten, dass sie die politischen Rechte aller Frauen vertreten, dann, als es wirklich darauf ankam, die Einführung des reaktionären Dreiklassenwahlrechts zu verhindern, dieses hinnahmen und akzeptierten, dass die Proletarierinnen ihres Stimmrechtes beraubt wurden. Während des Weltkrieges nahmen die Aktivitäten der Feministinnen ab. In einigen Ländern wurde die Bourgeoisie unter dem Druck der revolutionären Stürme, die Europa nach dem Kriege schüttelten, und vor allem als Folge der großen russischen Arbeiterrevolution gezwungen, auf gewissen Gebieten nachzugeben. Deshalb gab die Bourgeoisie in England, Schweden und Deutschland den Frauen ihr heißersehntes Stimmrecht und die Möglichkeit, sich an den Staatsgeschäften zu beteiligen. Man revidierte das Eherecht und das Erbrecht und zwar so, dass die Interessen der bürgerlichen Frau innerhalb der eigenen Familie gesichert wurden. So weit ging man zwar, aber sonst keinen Schritt weiter. Durch diese Entwicklung wurden viele der Forderungen, die die Feministinnen als wesentlich für die Lösung der Frauenfrage betrachtet hatten und für die sie sich deshalb so zäh geschlagen hatten, von der bürgerlichen Gesellschaft zugestanden. Dies zeigt uns klar, dass das Problem eben nicht mit dem einfachen Rezept der formellen Gleichberechtigung gelöst werden kann, sondern dass die ganze Angelegenheit wesentlich komplizierter und vielschichtiger ist.

In mehreren bürgerlich-kapitalistischen Ländern hat die Frau jetzt die gleichen politischen Rechte wie der Mann. Das Recht auf Arbeit hat sie sich überall erkämpft. In allen Nationen haben die Frauen zudem die Möglichkeit zum Studium. Das Verhältnis zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern ist jetzt so geregelt, dass die Frau wirklich bedeutende Rechte erhalten hat. Dennoch ist die sogenannte „Frauenfrage“, die Situation der Frau, nach wie vor ungelöst. Die formelle Anerkennung ihrer Rechte im Kapitalismus und der bürgerlichen Diktatur verschont sie in Wirklichkeit noch lange nicht vor einem Leben als Dienstmagd für die eigene Familie, vor der Diskriminierung durch Vorurteile und Sitten der bürgerlichen Gesellschaft, vor der Abhängigkeit vom Mann und schließlich – und das ist das Entscheidende – vor der Ausbeutung durch die Kapitalisten.

Die bürgerliche Frauenbewegung ist in einer Sackgasse gelandet. Nur die revolutionären Klassenorganisationen des Proletariats zeigen den Weg, den die arbeitende Frau gehen kann. Doch zuerst verstanden weder die Arbeiterin noch die Arbeiterklasse, dass das Endziel der Arbeiterbewegung auch gleichzeitig die Lösung der Frauenfrage mit sich bringen wird. Erst nach und nach und aufgrund teuer erkaufter Erfahrungen in mehreren Jahrzehnten wurde der Arbeiterklasse bewusst, dass es innerhalb des Proletariats keine antagonistischen Widersprüche oder Interessengegensätze gibt. Schon durch die Mechanisierung der Arbeit wurden die noch verbliebenen unterschiedlichen Arbeitstätigkeiten vereinigt, so dass die Arbeiterinnen und die Arbeiter heute dieselben Interessen und Ziele haben. Das Proletariat ist eine Einheit. Es ist eine Klasse, die keinen Platz hat für den Krieg zwischen den Geschlechtern und zu deren langfristigen Zielen auch die Befreiung der Frau gehört.

Die bürgerliche Frauenbewegung entwickelte sich unter der Parole Gleichberechtigung. Die erste Parole, die die Arbeiterinnen stellten, forderte: Recht auf Arbeit. In den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts kämpften die Arbeiterinnen für folgende Forderungen:

  1. Für den Zutritt zu den Gewerkschaften unter den gleichen Bedingungen wie die männlichen Kollegen.
     
  2. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit.
     
  3. Schutz der Frauenarbeit (diese Forderung tauchte bereits Ende des 19. Jahrhunderts auf).
     
  4. Umfassender Mutterschutz.

Keine der Forderungen befindet sich im Widerspruch zu den Klasseninteressen des Proletariats, ganz im Gegenteil, sie sind typisch proletarisch. Der Kampf um das Recht auf Arbeit charakterisierte bereits die Aktionen gegen die Zunftorganisationen des 18. Jahrhunderts, er wurde jedoch nicht ausschließlich von Arbeiterinnen geführt, sondern von allen unqualifizierten Arbeitern gemeinsam. Es ist auch völlig korrekt, die Mitgliedschaft von Frauen in den Gewerkschaften als eine Aufgabe der Arbeiterklasse anzusehen. Die Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit hat allen bisherigen Lohnkämpfen der Arbeiterklasse zugrunde gelegen und bestimmte die Lohnpolitik. Ihr müsst jedoch beachten, dass eine Klasse kurz nach ihrem Entstehen äußerst selten einsieht, was tatsächlich in ihrem Klasseninteresse liegt. Aufgrund mangelnder Erfahrung und falscher Perspektiven werden natürlich häufig schwere Fehler begangen. Durch die eigene Kampferfahrung gewinnt man jedoch ein festes und richtiges Bewusstsein und in der Sozialpolitik ein reifes Beurteilungsvermögen. So erging es auch dem Proletariat, als es durch die Entfaltung der Frauenarbeit in der Produktion gezwungen wurde, zu diesen Problemen Stellung zu nehmen. Die Geschichte des Proletariats ist überreich an solchen Geschichten, die uns zeigen, dass jedes Mal, wenn die Arbeiterinnen in einen neuen Produktionszweig eingegliedert wurden, sie große Schwierigkeiten hatten, ihre eigenen Klassenbrüder zu einem kameradschaftlichen Verhalten zu bewegen. Die Schwierigkeiten der Arbeiterinnen waren viel größer als die der bürgerlichen Frauen, als diese ihren Zugang zum akademischen Studium erkämpften. In zahlreichen Industriezweigen, (wie etwa im Maschinenbau, in der typographischen Branche usw., in denen qualifizierte Arbeitskräfte arbeiteten), wurde der Einzug der Arbeiterinnen in die Produktion von ihren männlichen Kollegen aktiv bekämpft. Viele Gewerkschaften hatten in ihren Satzungen spezielle Punkte, die den „Ausschluss unqualifizierter, weiblicher Arbeitskräfte, die die Einkommensmöglichkeit der Arbeiter verschlechtern“, forderten. Mächtige Gewerkschaften zwangen die Unternehmerschaft, auf die weibliche Arbeitskraft zu verzichten. Einzelne Arbeitergruppen waren noch extremer und ließen Frauen erst gar nicht als Mitglieder in ihren Gewerkschaften zu. Doch wir müssen sehen, dass diese tragischen Verhältnisse, die natürlich die Einheit der Arbeiterklasse bedrohten, trotz alledem eine verständliche Ursache hatten. Die mangelnde Berufsausbildung behinderte die Arbeiterinnen beim Einzug in jene Branchen und die bürgerlichen Frauen bei der Ausübung von akademischen Berufen. Bis auf den heutigen Tag bieten deshalb die Frauen ihre unqualifizierte und deshalb billigere Arbeitskraft an. Diese findet hauptsächlich auf dem Sektor der mechanischen Arbeit Verwendung. Sobald aber berufliches Können gefragt war, hatten die Frauen auch nicht die geringste Chance. Deshalb ist das Problem der Berufsqualifizierung auf der ganzen Welt für die Frauen aus der Arbeiterklasse ein übles Handikap. Daran hat sich bisher nichts geändert.

Die Arbeiter, die die Konkurrenz durch die billige Frauenarbeit fürchteten, unternahmen sogar den Versuch, sich gegen diese auf gesetzlichem Weg durch entsprechende Regeln für die Frauenarbeit zu wehren. Als in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts spontan eine Bewegung entstand, die für Arbeiterschutzgesetze kämpfte, führten die Arbeiter vor allem in ihren Argumenten die notwendige Regelung der Frauen- und Kinderarbeit an. Die meisten unterstützten natürlich diese Forderungen, doch aus Motiven, die alles andere als edel waren. Auf diese Art hofften sie nämlich, die Konkurrenz der billigen Frauen- und Kinderarbeit einzuschränken. Die Arbeiter versuchten aber niemals, die Frauenarbeit durch den Ausschluss der verheirateten Frauen aus der Produktion einzuschränken. Die Dynamik der Produktivkräfte war aber stärker als der Wille und die Wünsche von einzelnen Individuen oder sogar ganzer Organisationen. Die Frauenarbeit war nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Nachträglich sah die Arbeiterklasse auch ein, dass ihr kein anderer Ausweg blieb, als diese billige Arbeitskraft von einem unerwünschten Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt in einen treuen Bundesgenossen im Kampf gegen das Kapital umzufunktionieren. Anstatt wie bisher der Frau den Zutritt zu den Gewerkschaften zu verweigern und sie aus der Produktion auszusperren, begannen die Arbeiter jetzt, sich um die Mitgliedschaft der Frauen in ihren Organisationen zu bemühen. Zur Zeit haben die Gewerkschaften in Europa und den USA, in Australien und teilweise auch in Asien, Millionen von Frauen als Mitglieder. Nur die chinesischen und indischen Gewerkschaften zeigen nach wie vor offenen Unwillen gegenüber den Arbeiterinnen. In Japan organisierten sich die Arbeiterinnen bereits gemeinsam mit den Männern. Solange die Gewerkschaften den Frauen versperrt blieben, waren sie natürlich gezwungen, ihre eigenen Organisationen zu bilden. Diese Frauengewerkschaften hatten besonders in England viele Mitglieder; sie existierten jedoch ebenfalls in Frankreich, Deutschland und Amerika. Seitdem aber die Arbeiterbewegung ein revolutionäreres Klassenbewusstsein hat, sind auch die Barrieren zwischen Arbeitern und Arbeiterinnen beseitigt worden. Und die Frauengewerkschaften verschmolzen mit der übrigen Arbeiterbewegung zu einem gewaltigen einheitlichen Strom.

Das Proletariat begann einzusehen, dass die Frau als Lohnsklavin ein gleichberechtigtes Mitglied der ganzen Lohnarbeiterklasse ist. Ist sie zudem noch werdende Mutter, dann ist das Proletariat im Interesse zukünftiger Generationen gezwungen, die Rechte der Frauen zu verteidigen,und versucht deshalb eine Gesetzgebung zu erzwingen, die den Arbeiterinnen einen besonderen Schutz bietet. Seitdem die Arbeiterklasse sich in einer politischen Partei zusammengeschlossen hat und dazu übergegangen ist, echte Klassenkampfpolitik zu betreiben, verschwand auch das Bedürfnis der Arbeiterinnen, mit einem eigenen Programm aufzutreten. Die Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit hat allgemein Anklang gefunden. Selbst die gemäßigten sozialistischen Arbeiterparteien haben den Schutz für Frauen- und Kinderarbeit durch Gesetzgebung in ihr Programm aufgenommen. Es sieht jedoch jeder ein, dass der Frau eine endgültige Gleichberechtigung und Befreiung unter dem Kapitalismus verwehrt ist. Die Lösung der Frauenfrage ist praktisch erst in einem solchen Produktionssystem lösbar, in dem die Frau voll als eine nützliche Arbeitskraft anerkannt wird, die nicht nur für das Wohlergehen der eigenen Familie, sondern für das der Gesamtgesellschaft arbeitet.

Die endgültige und allseitige Befreiung der Frau ist erst unter dem Kommunismus möglich. Dies ist auch die Erklärung, warum die bewusstesten Teile des internationalen Frauenproletariats sich in die Reihen der kommunistischen Parteien gestellt haben. Wir wollen außerdem noch eine sehr wichtige Tatsache diskutieren, die wir auf gar keinen Fall überspringen dürfen. Obwohl nämlich die Mehrheit des Proletariats erst nachträglich einsah, dass der Kampf für die Befreiung der Frau ein Bestandteil des eigenen Klassenkampfes ist, hat die Avantgarde der Arbeiterklasse – die Sozialisten – dies von Anfang an begriffen. Bereits die utopischen Sozialisten des frühen 19. Jahrhunderts – Saint-Simon, Fourier und deren Anhänger – diskutierten die Frauenfrage. Die Utopisten konnten jedoch nicht die wirklichen Gründe für die Unterdrückung der Frau entdecken, d. h., sie erkannten leider nicht, dass die Versklavung der Frau deshalb entstand, weil sie aufgehört hatte, für das Gesamtkollektiv eine nützliche und produktive Arbeit zu leisten. Deshalb sahen sie die Lösung der Frauenfrage auch nicht in einem obligatorischen Arbeitseinsatz der Frau für die Gesellschaft. In ihren Augen blieb sie die Gattin oder freie Geliebte, d. h. aber beide Male ausschließlich „Freundin“ und Gehilfin des Mannes und nicht eine eigene selbständige produktive Arbeitskraft. Dass die Utopisten die Diskussion über die Gleichberechtigung der Frau jedoch überhaupt und obendrein noch äußerst polemisch in Gang gesetzt hatten und sich bei ihren kritischen Analysen nicht mit der Rolle der Frau in Beruf und vor dem Gesetz begnügten, sondern auch ihre Situation in der Ehe aufrollten, ist zweifellos ihr großes Verdienst. Claude-Henri Saint-Simon attackierte verbittert die „Doppelmoral“, dieses Kind der scheinheiligen bürgerlichen Gesellschaft. Was die Utopisten über das Thema Gleichheit zwischen den Geschlechtern, über die Liebe und die Ehe sagten und ihr Eintreten für die „Freiheit der Gefühle“, wurde von einer Reihe kritisch denkender Frauen im Laufe des 19. Jahrhunderts erneut aufgegriffen und weiterentwickelt. Diese Frauen hatten sich konsequent geweigert, an der bürgerlichen Frauenbewegung teilzunehmen, weil sie der Auffassung waren, dass die sogenannte „Frauenfrage“ eben eine wesentlich kompliziertere und umfassendere Angelegenheit sei als das Recht auf gleiche Bildung oder die Zulassung zu den Wahlurnen. Zu den faszinierenden und streitbaren Repräsentantinnen für das Recht der Frau auf Freiheit der Gefühle gehörten Georges Sand, eine französische Schriftstellerin und revolutionäre Aktivistin der französischen Revolution von 1848. Und die erste Journalistin in Amerika, Margaret Fuller. Sie waren Zeitgenossinnen. Margaret Fuller hat vor allem durch ihre persönliche Ausstrahlung und nicht so sehr durch reife und durchdachte, schriftstellerische Arbeiten die Diskussion dieses Aspektes der Frauenfrage entscheidend beeinflusst. Robert Owen – zwar Utopist, aber ein sehr praktischer – sah als Gründer der genossenschaftlichen Bewegung in England ein, wie wichtig die Mitarbeit der Frauen war. In seiner ersten Genossenschaft waren sehr viele Arbeiterinnen Mitglieder. Interessiert Ihr Euch für so was? Dann kann ich Euch nur sehr empfehlen, entweder bei Dobroljubow oder aber in dem gemeinsamen Buch von Sidney und Beatrice Webb über „Die Gewerkschaftenß nachzulesen, was da über Robert Owen berichtet wird.

Das »Manifest der Kommunistischen Partei« von Karl Marx und Friedrich Engels untersucht die Frauenfrage wissenschaftlich und zwar unter dem Aspekt der Familie und Ehe. Das Buch von Friedrich Engels: »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates« vertieft und entwickelt die Argumente aus dem „Manifestß während Karl Marx im Kapital von einer anderen Fragestellung aus nachwies, dass die Ausbreitung der Frauenarbeit und die Ausbeutung der Frauenarbeit durch das Kapital ein Produkt des Konzentrationsprozesses im kapitalistischen Produktionssystem sind.

In diesem Zusammenhang war die „Frauenfrage“ nicht mehr nur ein rein praktischer Aspekt des Klassenkampfes, sie war nun auch theoretischer Bestandteil des proletarischen Befreiungskampfes.

Die I. Internationale diskutierte auch jene Fragen, die mit der Frauenarbeit zusammenhängen, als sie ihre praktischen Forderungen aufstellten. Karl Marx verurteilte scharf den Vorschlag des rechten und kleinbürgerlichen Flügels in der Internationalen, der die Frauenarbeit aus Rücksicht auf die Familie einschränken wollte. Natürlich war die wirkliche Absicht dieses Scheinvorschlages, die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt einzuschränken. Die I. Internationale sah aber die Frauenarbeit als unvermeidlich an und verteidigte die Stellung der Frau als Mutter und forderte eine Reform der Gesetze, die die Arbeitskraft und Gesundheit der Frauen schützen sollten. Weil die I. Internationale auf der sozialen Notwendigkeit der Frauenarbeit bestand, gleichzeitig aber auch die Bedeutung der Befreiung der Frau erkannte und die zusätzliche Funktion der Frau als Mutter berücksichtigte, nahm sie von Anfang an in der Frauenfrage eine konsequente und richtige Stellung ein. Wir konstatieren hier, dass die Arbeiterklasse und die Feministinnen sich wirklich krass voneinander unterschieden und in der Frauenfrage gegensätzliche Auffassungen vertraten. Die Feministinnen engagierten sich ausschließlich für das Gleichheitsideal. Die Arbeiterklasse ist jedoch der Überzeugung, dass die Befreiung der Frau eben zwei Aspekte hat und dass nicht irgendwelche abstrakten Rechte die Lage der Frau verbessert, sondern im Gegenteil verschlechtert hätten. Derartige Gesetze würden, nebenbei bemerkt, das Leben sämtlicher Werktätigen verändern. Gleiche Rechte und ganz besonders die staatliche Fürsorge der Frau als Mutter waren das langfristige Ziel der Kommunisten; der Avantgarde des Proletariats in der „Frauenfrage“.

In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde das Buch von August Bebel »Die Frau und der Sozialismus« publiziert, das inzwischen in sämtlichen Sprachen, selbst chinesisch und japanisch, übersetzt worden ist. In Deutschland allein hat es bisher mehr als fünfzig Auflagen erlebt. Dieser Erfolg spricht für sich selbst. Man kann mit allem Recht behaupten, dass dieses Buch für die arbeitende Frau zu einem richtigen Evangelium geworden ist. Was in den Arbeiten von Marx und Engels nur angedeutet worden war und was schon immer das Rückgrat der Politik der I. Internationalen in der Frauenfrage ausgemacht hatte, formulierte Bebel nicht nur prägnanter, volkstümlicher und verständlicher, sondern er entwickelte diese Thesen weiter, indem er sie durch ein überwältigendes historisches Quellenmaterial unterstützte. Bebel bewies endgültig, dass die geschichtliche Aufgabe der Arbeiterklasse unauflöslich mit der Aufgabe, die Befreiung der Frau zu erreichen, verbunden ist. Er wies auch den richtigen Weg für die Befreiung der Frau: dieser Weg ist der Sieg der Arbeiterklasse und die Verwirklichung des kommunistischen Systems. Bebel diskutierte alle Aspekte der „Frauenfrageß und schrak auch nicht davor zurück, mit der Heuchelei der bürgerlichen Gesellschaft in der Geschlechtsmoral und Ehe seinen Schabernack zu treiben. Er diskutierte die Prostitution als soziales Phänomen und wies nach, dass auch dieses Problem in direktem Zusammenhang mit der Aufteilung der Gesellschaft in Klassen und mit der Ausbeutung der Arbeitskraft durch das Kapital steht. Sein größtes Verdienst ist es jedoch, dass er so exakt die doppelte Aufgabe der Arbeiterklasse in dem Prozess, der zur Befreiung der Frau führt, formuliert hat: Kampfeinheit. Einheit, was die kurzfristigen und langfristigen Ziele angeht, wobei er gleichzeitig unmissverständlich auf jene speziellen Aufgaben hinwies, die die Arbeiterklasse den Müttern gegenüber zu leisten hatte. Die proletarische Frauenbewegung ist dem einheitlichen Kampf der Arbeiterbewegung untergeordnet. Ihre besonderen Forderungen tragen zur Entwicklung und Verankerung der Arbeiterbewegung bei. Bebels Buch hatte einen großen Einfluss und war äußerst nützlich für die Frauen in der II. Internationalen, die unsicher und blind waren und nach dem richtigen Weg für die proletarische Frauenbewegung suchten.

Seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts wuchs die Mitgliederzahl der proletarischen Frauenbewegung in allen Ländern beträchtlich an. Die Arbeiterinnen vereinigten sich fest mit dem Kampf der Arbeiterklasse, traten in die Gewerkschaften und sozialistischen Parteien ein und nahmen an Streiks, Massenbewegungen, Demonstrationen und Weltkongressen des Proletariats aktiv teil. In der Zeit vor dem I. Weltkrieg konnte das Proletariat mit ungefähr einer Million organisierter Arbeiterinnen rechnen. In den sozialistischen Parteien gehörten die Frauen bezeichnenderweise sehr oft zur „Linken“.

Mit dem Anwachsen der Arbeiterbewegung und der gleichzeitigen Entfaltung und Stabilisierung der sozialistischen Ideen traten in die Arbeiterbewegung massenhaft politisch aktive Frauen ein. Eine Reihe von ihnen wurde durch ihre Praxis und ihre theoretischen Arbeiten Vorbilder für die sozialistische Bewegung.

Euch allen sind sicherlich solche Namen bekannt wie: Louise Michel – Organisatorin, begeisterte Agitatorin und uneigennützige Klassenkämpferin während der Pariser Kommune – oder aber Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Henriette Roland-Holst und Angelika Balabanowa. Ihr Einsatz im Kampf für den Kommunismus ist inzwischen allen bekannt und ihre Namen sind auf Grund ihrer großartigen Leistungen im Zusammenhang mit der Gründung der III. Internationalen Geschichte geworden. Ihre Beiträge haben die marxistische Theorie bereichert und vertieft.

Russlands jüngste Geschichte ist reich an kühnen Frauen, die rücksichtslos mit allen bürgerlichen Traditionen und Ansichten gebrochen haben und seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts Aktivisten im revolutionären Kampf gewesen sind. Die Geschichte der revolutionären Parteien Russlands, deren Anfänge mit der Formierung des russischen Proletariats zusammenfallen, weiß von zahlreichen Frauen zu berichten, die innere Stärke, Selbstlosigkeit und revolutionäre Entschlossenheit besaßen. Wir brauchen uns z. B. nur die Bardina in Erinnerung zu rufen, die erste Sozialistin Russlands, eine Frau, die „unters Volk“ ging mit der festen Absicht, unter den seit Jahrhunderten völlig entrechteten und von Unwissenheit geplagten Massen die Saat kommender Gerechtigkeit – des Sozialismus – zu säen. Ihr folgten die entschlossenen Schwestern Subbotina, die standhafte Lesjern und die selbstlose Ljubotowitsch. Weder Kerker noch Verbannung, ja selbst nicht der Tod, waren imstande, die feste Überzeugung dieser sozialistischen Vorkämpferinnen für die Befreiung des werktätigen Volkes zu zerstören.

In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts finden wir würdige Nachfolgerinnen in den verwegenen Terroristinnen; unter ihnen begegnen wir der willensstarken Sofia Perowskaja, ihre Persönlichkeit war eine geglückte Synthese von „männlicher Klugheit“ und einem sehr weiblichen „Ich“, eine Frau, die ihre Warmherzigkeit und innere Glut ganz in den Dienst der Revolution gestellt hatte. Seite an Seite mit ihr taucht das Porträt der Arbeiterin Gessi Helfman auf, die ein Opfer der zaristischen Folterknechte wurde. Vera Figner, die Wolkenstein und Vera Sassulitsch sind weitere Namen von Heldinnen und Märtyrerinnen der Revolution, und nicht die einzigen. (Die Gruppe „Befreiung der Arbeit“, der wir die Verbreitung des Marxismus im zaristischen Russland verdanken, zählte zu ihren Gründern nicht nur einen Pawel B. Axelrod und einen Georg Plechanow, sondern auch die Vera Sassulitsch Ihre wissenschaftlichen Arbeiten haben bis auf den heutigen Tag ihren Wert für die marxistische Theorie nicht eingebüßt.) Mit der Entstehung der III. Internationalen wurde die proletarische Frauenbewegung endgültig ein Teil des organisierten revolutionären Kampfes der Arbeiterklasse. Dies wurde auf dem I. Kongress der III. Internationalen im Jahre 1919 ausdrücklich festgestellt. Je stärker die revolutionäre Arbeiterbewegung wird und je höher sie ihre Ziele setzt, desto vollständiger wird die Frauenbewegung in ihr aufgehen, desto leichter dürfte es ihr auch fallen, unter der Periode der Diktatur des Proletariats jenen gordischen Knoten der sogenannten Frauenfrage zu lösen, an der die bürgerliche Gesellschaft so jämmerlich gescheitert ist. Je mehr wir uns dem Sieg der Arbeiterklasse und dem Triumph des kommunistischen Systems nähern, desto heller gestaltet sich die Zukunft der Frauen. Es hängt nun von den Frauen selbst ab, vom Grade ihres politischen Bewusstseins und ihrer revolutionären Aktivität, ob der Zeitpunkt ihrer endgültigen Befreiung in naher Zukunft liegt.

Bevor wir unser heutiges Gespräch abschließen, das sich wohl etwas in die Länge gezogen hat, wollen wir noch einmal versuchen, die Frage zu beantworten, ob es möglich ist, dass die Frau erneut an den häuslichen Herd und in den Kreis ihrer Familie zurückkehrt. Mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass die traditionelle Hausarbeit verschwindet und völlig überflüssig wird, gibt es einen weiteren, sehr wichtigen Grund, warum eine derartige Entwicklung heutzutage unmöglich geworden ist: Die ständige Entwicklung der Produktivkräfte. Diese erhöht nämlich laufend den Bedarf an zusätzlichen Arbeitskräften. Die Entwicklung der Technik führt bis auf weiteres dazu, dass jede eventuelle zukünftige Erfindung unmittelbar eine erhöhte Nachfrage an Arbeitskräften nach sich zieht, entweder auf anderen Gebieten oder bisweilen sogar auf dem Sektor, in dem die junge Erfindung zur Anwendung kommt.

Die Tendenzen der wirtschaftlichen Entwicklung scheinen so zu sein, dass auf absehbare Zeit nicht mit überschüssigen Arbeitskräften zu rechnen ist. Die Menschheit ist noch weit entfernt von einem Zustande des Überflusses. Immer noch steht sie auf einem relativ niedrigen Entwicklungsniveau und bahnbrechende Leistungen auf dem Gebiet der Kultur werden nach wie vor nur einer verschwindenden Minderheit zugänglich gemacht.

Solange jedoch der Bedarf an menschlicher Arbeitskraft zunimmt, wird auch die Nachfrage nach weiblichen Arbeitskräften und Energien wachsen. Schon heute ist die Frauenarbeit in der Volkswirtschaft eine Notwendigkeit. Ihr könnt Euch selbst ausmalen, welche wirtschaftliche Katastrophe erfolgen würde, wenn es möglich wäre mit irgendwelchen künstlichen Mitteln die 70 Millionen in Amerika und Europa arbeitenden Frauen aus der Produktion auszuschalten. Dies würde natürlich in der ganzen Welt zu einem völligen Chaos in der Produktion und zum Ruin und Untergang ganzer Branchen führen. Im 20. Jahrhundert ist die Frauenarbeit eben zu einem festen Bestandteil der Produktion geworden und es gibt wirklich keinen überzeugenden Grund dafür, warum wir mit einem Verschwinden der Faktoren rechnen müssten, die das Anwachsen der Frauenarbeit ausgelöst haben. Mit dem Übergang zur Diktatur des Proletariats und der kommunistischen Produktion hat sich die Frauenarbeit endgültig in der Volkswirtschaft durchgesetzt. Dies hat sich mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit am Beispiel Russlands gezeigt. „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“, lautet die Hauptparole des Kommunismus. In der Arbeiterrepublik wird die Arbeit also zu einer staatsbürgerlichen Pflicht. So wie die Verhältnisse heute sind, ist die Rückkehr der Frau in den engen Kreis der Familie und zu ihrem früheren Status der Rechtlosigkeit ein Ding der Unmöglichkeit geworden.

Die Lage der Frau, ihre Rechte und ihre gesellschaftliche Bedeutung werden also durch ihre ökonomische Rolle bestimmt. Dies ist der rote Faden durch alle bisherigen Vorlesungen gewesen. Daraus lässt sich nun mit absoluter Sicherheit schließen, dass die Tage ihrer Rechtlosigkeit, Abhängigkeit und Unterdrückung gezählt sind. Der Kommunismus, der die Produktion unter den Bedingungen der allgemeinen Arbeit löst, wird also die Frauenfrage endgültig lösen.

9. Die Frauenarbeit während des Krieges

Heute wollen wir die Frauenarbeit unter der Diktatur des Proletariats analysieren. Wir können uns aufgrund der anschaulichen Erfahrungen der großen russischen Revolution davon überzeugen, dass jeder Schritt in Richtung Kommunismus die Frauen tatsächlich der völligen und allseitigen Befreiung näher bringt Bevor wir uns jedoch über die Stellung der Frau in der proletarischen Räterepublik unterhalten, müssen wir noch kurz die Periode des imperialistischen Weltkrieges untersuchen, jene Periode also, die den Boden für die Diktatur des Proletariats vorbereitete.

Der Weltkrieg von 1914 bis 1918 war der bisher blutigste Krieg in der Geschichte der Menschheit. Sämtliche größeren Staaten in Europa und in Amerika nahmen an diesem Weltkrieg teil. Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft wurde in ihren Grundpfeilern erschüttert, und die kapitalistische Produktion wurde völlig aus ihrem Gleichgewicht gebracht. Millionen von Arbeitern wurden von ihren Arbeitsplätzen weg auf die Schlachtfelder geworfen. Dennoch durfte auf gar keinen Fall eine Produktionseinschränkung eintreten. Im Gegenteil. Der Charakter der Produktion veränderte sich jetzt wesentlich. An Stelle von Konsumgütern produzierte die Industrie jetzt Zerstörungs- und Todesmaschinen. Jedes Land brauchte für den Sieg eine ständig expandierende Rüstungsindustrie, die die Herstellung von Sprengstoffen, Kanonen usw. garantierte. Ein günstiger Kriegsausgang war nur dann denkbar, wenn zwischen der Front und dem Hinterland eine organische Verbindung kontinuierlich existierte. Denn das Schicksal der eigenen Armeen wurde nicht nur auf dem Schlachtfeld entschieden. Mindestens genauso wichtig war der Wettlauf zwischen den verschiedenen nationalen Rüstungsindustrien. Die Grundlage Im Erweiterung der Produktion war jedoch ein genügend großes Potential an Arbeitskräften. Da die Kriegsindustrie ein Produktionszweig der kapitalistischen Großindustrie war, beschäftigte sie auch unqualifizierte Arbeitskräfte. Es war deshalb an der Tagesordnung, dass die Frauen, Töchter, Schwestern und Mütter der Soldaten nach der allgemeinen Mobilmachung die verwaisten Arbeitsplätze in den Werkstätten besetzten. Von ihren Versorgern im Stich gelassen, mussten sich die Frauen beeilen, ein eigenes Arbeitseinkommen zu sichern. Die Unternehmer empfingen diese billigen Arbeitskräfte mit offenen Armen, da diese Frauen einerseits ein ausgezeichneter Ersatz für die Arbeiter waren, die jetzt in den Schützengräben saßen, und weil sie andererseits die Profite erhöhten. Wir registrieren in der Periode seit Kriegsausbruch bis zur Demobilisierung ein ständiges Anwachsen der Frauenarbeit. Dies gilt auch für die neutralen Länder, für deren Unternehmer der 1. Weltkrieg ein Riesengeschäft war. Deshalb zwangen sie natürlich alle vorhandenen Arbeitskräfte, Männer und Frauen, in die Produktion.

Die Stellung der Frau in der Gesellschaft veränderte sich während des 1. Weltkrieges gewaltig. Die bürgerliche Gesellschaft, die bisher darauf beharrt hatte, dass der richtige Platz der Frau der am häuslichen Herd sei, rühmte nun den „Patriotismus“ der Frauen, die bereit waren, „Soldaten hinter der Front“ zu werden und eine Arbeit im Interesse von Wirtschaft und Staat ausführten. Es gab Gelehrte, Politiker und schlaue Journalisten, die im gemeinsamen Chor mit den Mitgliedern der herrschenden Klasse denselben Ton anschlugen, um die Frau zur „Erfüllung ihrer staatsbürgerlichen Pflichten“ aufzufordern und sie eifrig zu ermahnen, dass sie ihre Pflichten in der „Küche“ und „gegenüber ihren Kindern“ jetzt lieber etwas vernachlässigen sollten, um dem Vaterland desto besser dienen zu können; das hieß aber, dass sie ihre Arbeitskraft billig an die Rüstungskonzerne verkaufen sollten. Die Zahl der in der Produktion beschäftigten Frauen wuchs rasch. Es gab keine Branche mehr, in der sich die Frauenarbeit nicht durchsetzte. Am stärksten war die Frauenarbeit während des Krieges in der Metallindustrie, in der Sprengstoffherstellung, in der Uniformfabrikation und in den Konservenfabriken verbreitet. Diese Branchen arbeiteten alle direkt für die Front. Aber auch in den anderen Branchen setzte sich die Frauenarbeit durch, sogar in solchen Sektoren, die bisher der Frau völlig versperrt waren. Wir können uns noch sehr gut daran erinnern, wie während des Krieges überall weibliche Straßenbahn- und Zugschaffner, Taxifahrer, Portiers, Pförtner, Hafenarbeiter und Gepäckträger auftauchten. Viele Frauen arbeiteten im Bergbau oder in der Bauindustrie und verrichteten auch Schwerarbeiten, die für den weiblichen Organismus schädlich waren. Die Anzahl der weiblichen Angestellten im öffentlichen Verkehr, in den Telefonämtern, Telegraphenstationen und bei der Post wuchs bis ins Unendliche. Die Frauen versuchten mit der Gewissenhaftigkeit einer frischgebackenen Angestellten oder Arbeiterin ihre Aufgabe nach bestem Gewissen zu erfüllen. Man sah überall bekümmerte Frauengesichter. In der Periode zwischen 1914 bis 1918 nahm die Frauenarbeit in den verschiedenen Branchen zwischen 70 und 400 % zu. In der deutschen Metallindustrie sogar um 408 %. In Frankreich verdoppelte sich die Anzahl der Arbeiterinnen in denselben Branchen. Auch in Russland kam es immer häufiger vor, dass in zahlreichen Berufsgruppen die weibliche Belegschaft die Majorität stellte. Sogar bei den russischen Eisenbahngesellschaften, wo die Frauen vordem Kriege nur als Putzfrauen oder Bahnwärterinnen geduldet worden waren, belief sich die Anzahl der Frauen auf 35 % des Personals. Auch in Frankreich mussten Millionen von Frauen in der Produktion arbeiten. In England wuchs die Anzahl der Arbeiterinnen um 1,5 Millionen und in Deutschland um 2 Millionen. Insgesamt nahm die Anzahl der Arbeiterinnen in Europa und in Amerika um nahezu 10 Millionen zu. Die Gründe für diese Entwicklung sind klar: einerseits Mangel an Arbeitskräften und andererseits die geringen Kosten der Arbeitskräfte. Die künstlich in die Höhe getriebenen Preise für Konsumartikel und die Teilnahme der „Familienversorger“ am Kriege trieben die Frauen auf den Arbeitsmarkt. Der Sold des Mannes reichte für den Unterhalt der Familien nicht aus. Nicht nur die alleinstehenden Frauen – Kriegerwitwen, die Frauen der einberufenen Soldaten und die unverheirateten Frauen –, sondern auch die Frauen, deren Männer noch in der Heimat arbeiteten, suchten sich einen Nebenverdienst, weil sonst das Haushaltsgeld nicht ausreichte. Aber in allen Ländern und in allen Industriebranchen waren die Löhne der Frauen niedriger als die der Männer. Es lässt sich im Allgemeinen sagen, dass sich die Gehälter der Frauen während der vier Kriegsjahre auf ein Drittel oder die Hälfte der Männergehälter beliefen. Die nackte Not jagte die Frauen in die Fabriken, in die Werkstätten, in die Büros und auch in die öffentlichen Verkehrsbetriebe. Um ihren eigenen Profit zu vergrößern, hatten die Unternehmer keinerlei Hemmungen, die Arbeiterinnen rücksichtslos auszubeuten. Die „heilige Pflicht der Frau“, die Mutterschaft und all die anderen schönen Worte, nämlich dass die Frau schwächer sei als der Mann und dass es deshalb unzulässig sei, dass die Frau in Männerberufen arbeite, all dies Gerede war jetzt gründlich vergessen. Falls die Unternehmer je solche Vorstellungen über die besonderen Eigenschaften des „schwachen Geschlechts“ gehabt hatten, so wurden sie durch ihre Profitgier sehr schnell davon befreit. An die Stelle dieser Vorstellungen trat jetzt die feste Entschlossenheit, aus den Vertreterinnen dieses „schwachen Geschlechtes“ möglichst den größten Profit herauszupressen.

Die Frauen waren schlechter als die Männer darauf vorbereitet, ihre Klasseninteressen zu verteidigen. Sie waren weniger selbstbewusst und unerfahren. Während in Wirklichkeit die Unternehmer ihre privaten Taschen füllten, waren die Frauen davon überzeugt, dass sie für ihr „Vaterland“ arbeiteten. Die Unternehmer nutzten diese Illusionen aus und bezahlten ihren Arbeiterinnen nur einen Bruchteil dessen, was ein Arbeiter für die entsprechende Arbeit erhalten hätte. Wenn zum Beispiel ein Arbeiter einen Wochenlohn von 42 Mark erhielt, dann bekam die Arbeiterin nur 8 Mark. Wenn die Frauen im Akkord arbeiteten, dann verdienten sie nur selten mehr als ein Drittel ihrer männlichen Arbeitskollegen. Vielleicht waren die Frauen weniger fleißig oder arbeiteten nicht gewissenhaft? Keineswegs. Die Unternehmer und auch ihre Ideologen erklärten ja selber, dass die Produktivität keinesfalls darunter gelitten habe, dass man die Arbeiter durch Arbeiterinnen ersetzte. Eine niedrigere Produktivität der weiblichen Arbeitskräfte in vereinzelten Branchen wurde durch eine höhere in anderen ohne weiteres ausgeglichen. Diese Tatsache lässt sich statistisch belegen. In bestimmten Ländern, wie zum Beispiel in Italien, sahen die Unternehmer die Frauen nicht nur deshalb gerne in ihren Fabriken, weil für die Produktion nicht genügend Arbeiter zur Verfügung standen, sondern auch ganz einfach deshalb, weil die Frauen angeblich „nachgiebiger und fügsamer als die Männer“ seien und weil die Unternehmer sie deshalb für solche Arbeiten, die Gewissenhaftigkeit, Fleiß und Ausdauer erforderten, für äußerst geeignet hielten. Der Kanonenkönig in Deutschland, Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, erklärte unverblümt, dass „die Frauenarbeit die Zukunftsmelodie“ sei. Vielerorts organisierten die Unternehmer Werkstätten, in denen nur Frauen arbeiteten und in denen Produkte hergestellt wurden, die besondere Fingerfertigkeit erforderten. In den bürgerlichen Zeitschriften für Techniker erschienen zahllose Lobgesänge auf die weibliche Arbeitskraft. Es wurde immerzu betont, dass die Frauen wesentlich lernfähiger als die Männer seien.

So schrieb zum Beispiel ein Ingenieur mit dem Namen Stern: „Die weiblichen Arbeiter sind wesentlich gehorsamer, bescheidener und lernbegieriger als ihre männlichen Kollegen.“ Die bürgerliche Presse forderte sogar für die Kriegszeit eine Arbeitsdienstpflicht für Frauen, eine Art organisierter Mobilmachung der „Soldaten hinter der Front“ und eine besondere kriegstechnische Ausbildung für die entsprechenden Berufszweige. Aber nicht nur die Unternehmer schlugen diesen Ton an, leider fielen auch bürgerliche Frauenrechtlerinnen und Sozialpatriotinnen in diesen Chor ein, allen voran Lilly Braun, die die Einführung eines Kriegshilfsdienstes für Frauen (in der Etappe) forderte. In Kreisen der bürgerlichen Frauenorganisationen erklärte man damals zum Beispiel: „Es ist absolut notwendig, unmittelbar, wie auf ein gemeinsames Kommando, die Einberufung der gesamten männlichen und weiblichen Bevölkerung verwirklichen zu können“. Die Sozialpatriotinnen in Deutschland und Frankreich unterstützten die Bemühungen der Kapitalisten, an den billigen weiblichen Arbeitskräften zu verdienen, ohne Vorbehalte. Der französische Sozialpatriot Albert Thomas schlug selbst vor, weibliche Arbeitskraft mehr als bisher auszunützen. Genau das Gleiche geschah in Russland und allen anderen Ländern, die von dem blutigen Krieg gepackt worden waren. Dass Frauen nun in das wirtschaftliche Leben einbezogen wurden, war natürlich an sich weder schädlich noch reaktionär. Im Gegenteil, hierdurch wurden die Ausgangsbedingungen für die künftige Befreiung der Frau verbessert. Nicht die Frauenarbeit an sich, sondern die Art und Weise, wie sie ausgebeutet wurde, waren schädlich. Die Unternehmer verdienten nicht nur an den niedrigen Frauengehältern, sie verstanden es auch, die Frauenarbeit geschickt gegen die organisierte und besser bezahlte männliche Arbeit auszuspielen. Außerdem versuchten sie ihre Profite auf Kosten der Frauen dadurch zu erhöhen, dass sie die weiblichen Arbeitskräfte bis an die Grenzen des Möglichen ausnützten. Nachtarbeit und Überstunden waren die Regel. Fast alle Gesetze zum Schutze der Frauenarbeit wurden für die Kriegszeit außer Kraft gesetzt. Ohne die geringste Scham ließen die Unternehmer die Frauen unter schädlichen Arbeitsbedingungen Schwerarbeiten ausführen. Jetzt trat der wahre, schlimme Charakter des Kapitalismus offen, ungeniert und abstoßend hervor. Der Kapitalismus in seiner unersättlichen Profitgier versuchte gar nicht mehr, sich hinter einem Feigenblatt humanitärer Absichten zu verstecken. In England waren Überstunden für Frauen obligatorisch. Dies führte zu 12- bis 15-stündigen Arbeitstagen. Nachtarbeit war jetzt Gang und Gäbe. Die ganze heuchlerische Empörung des Bürgertums über die schädlichen Folgen der Nachtarbeit, die angeblich einen „Zerfall der Familiensitten“ mit sich bringe, brach jetzt in sich zusammen. Selbst die von der Arbeiterklasse hart erkämpfte unzureichende Gesetzgebung zum Schutze der Arbeiterinnen wurde jetzt außer Kraft gesetzt.

Bei ihrem Versuch, diese Gesetze außer Kraft zu setzen, gingen die Unternehmer im zaristischen Russland besonders frech vor, obwohl diese Gesetze sowieso den enormen Appetit dieser Herren nicht zügeln konnten. Der Kongress der Kriegskomitees forderte ganz offen eine verstärkte Rekrutierung weiblicher Arbeitskräfte und das hauptsächlich nicht etwa wegen eines allgemeinen Arbeitsmangels, sondern weil das Komitee den billigeren weiblichen Arbeitskräften den Vorzug gab. Die Herren Gutschkow, Konowalow und Rjabuschinskij forderten erst mal für die „Dauer des Krieges“ eine schnelle Aufhebung der bestehenden gesetzlichen Kontrolle der Kinder- und Frauenarbeit. In zahlreichen Fabriken in Russland arbeiteten 12- und 13-jährige Mädchen. Die ausländischen Unternehmer in Russland folgten dem Beispiel ihrer russischen Kollegen. Es gab nur einen Unterschied. Unser einheimischer Tit Titytscher (russischer Spitzname für profitgierige Kaufleute) schwang keine großen Reden und gab ohne weiteres zu, dass er die Arbeiterin als billiges „Arbeitstier“ brauchte und nicht etwa, weil ein Mangel an männlichen Arbeitskräften bestand.

In anderen Ländern dagegen versteckten die Industriemagnaten ihre „Berechnungen“ hinter einer Nebelfront patriotischer Phrasen. Die Frau solle auf den Spuren von Jeanne d’Arc das Vaterland retten und an der Heimatfront als Soldat dienen. Zwar nicht mit einem Vorderlader bewaffnet, hoch zu Pferd, sondern hinter einer Maschine, und die „Besitzer“ kassierten derweil ihre Profite. Die Frauenarbeit wurde jetzt überall als absolut unentbehrlich bezeichnet. An und für sich ein Neuling auf dem Arbeitsmarkt, wurden die Frauen während des Krieges in allen Produktionsbereichen eingesetzt und fassten überall festen Fuß.

Was sprang jedoch bei der ganzen Sache für die Arbeiterin selbst dabei heraus? Veränderte sich etwa ihre soziale Lage? Ging es ihr jetzt besser? Wir wissen, dass die Rolle der Frau in der Gesellschaft durch ihre Mitarbeit in der Produktion bestimmt wird. Wurde nun diese These durch das Schicksal der Frau im 1. Weltkrieg bestätigt? Es muss für uns ein für allemal klar sein, dass unter der Vorherrschaft des Kapitalismus nicht die Lohnarbeit zählt, sondern nur die Arbeit des „Organisators“, also des Unternehmers, gewürdigt wird. Erst dann begreifen wir auch, dass sich trotz der wachsenden Anzahl der Lohnarbeiterinnen die Situation der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft noch lange nicht verbessert. Im Gegenteil, die Lage der arbeitenden Frauen war im Krieg unerträglich. Die äußerst anstrengende und durch kein Gesetz mehr zeitlich eingegrenzte Arbeitszeit führte überall zu einer Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes der Frauen und zu einer erhöhten Frauensterblichkeit. Auch dies lässt sich ebenfalls ohne weiteres statistisch belegen. Die bürgerliche Gesellschaft war zwar über die Verbreitung der Tuberkulose und einer Reihe anderer Krankheiten, die eine Folge der allgemeinen Erschöpfung waren, beunruhigt, die Bourgeoisie jedoch berauschte sich an ihren Kriegsprofiten, sie wies diese unangenehmen Fakten von sich und bezeichnete sie als den „notwendigen Preis, den wir für den Krieg bezahlen müssen“. Die Lebensbedingungen der Arbeiterinnen verschlechterten sich von Tag zu Tag. Die hohe Arbeitsintensität, die ständige Akkordhetzerei, die endlosen Arbeitstage und dann vor allem noch die ewige Inflation verschlechterten den Lebensstandard der Arbeiterklasse. Aber die bisherige bürgerliche Lebensweise veränderte sich deshalb noch lange nicht. Wie seit eh und je existierte der Einfamilienhaushalt weiter, und die Frauen mussten auch diese Arbeit verrichten. Wenn nach einem langen und ermüdenden Arbeitstag die Arbeiterin, die Büroangestellte, die Telefonistin oder Schaffnerin endlich nach Hause kamen, dann mussten sie sofort wieder los rennen und ich in verschiedene Schlangen einreihen, um erst einmal Lebensmittel, Brennholz und Petroleum einzukaufen. Überhaupt wurde damals überall Schlange gestanden. In London, Paris, Berlin, Moskau und Petersburg. Die „Warteschlangen“ waren gleichmäßig über die gesamte Welt verteilt. Dies bedeutete für die Menschen sinnlose und langweilige Stunden. Viele Frauen erkrankten oder verloren die Nerven. Neurosen und Geisteskrankheiten nahmen immer mehr zu, und die Inflation verursachte eine systematische Unterernährung. Neugeborene Kinder hatten keine Haut,oder sie waren blind und rachitisch. Sie starben noch, bevor sie gelernt hatten, zwischen Tag und Nacht zu unterscheiden. Ihre Mütter waren zu erschöpft gewesen. Zusätzlich zu all diesen körperlichen Entbehrungen lauerte im Hintergrund wie eine Gewitterwolke die ständige Sorge um die Angehörigen an der Front. Die Herzen krampften sich zusammen aus Angst über das Schicksal des geliebten Ehemannes, Sohnes oder Bruders. Blut und Jammer an der Front, Entbehrung und Tränen zu Hause. Was unternahm aber das Bürgertum, nachdem es die „patriotischen Frauen“ in der Öffentlichkeit mit seinen Lobhudeleien überschüttet hatte? Versuchte etwa die bürgerliche Gesellschaft, die Situation der Arbeiterinnen während dieser schweren Kriegsjahre zu erleichtern? Schließlich hatte die Frauenarbeit hinter der Front entscheidend zu den Kriegserfolgen beigetragen. Wenn sich die Bourgeoisie schon weigerte, die Frauenrechte anzuerkennen, dann hätte doch zumindest ihr einfacher Menschenverstand sie dazu bringen müssen, die Arbeiterinnen vor ihrer Doppelbelastung zu schützen. Den besitzenden Klassen wurde dieses Problem aber nicht einmal bewusst. Während der gesamten Kriegszeit unternahm die Bourgeoisie so gut wie nichts, um das Leben der Frauen zu erleichtern und sie von ihren hauswirtschaftlichen Pflichten zu befreien. (Für die Arbeiterkinder war die private Wohltätigkeit dann auch die einzige Fürsorge). „Zuerst kommt der Krieg. Nach dem Kriege werden wir dann alles wieder in Ordnung bringen“.

Die bürgerlichen Regierungen regelten z. B. mit der Kriegshinterbliebenenfürsorge in gewisser Hinsicht die Lebensverhältnisse der Soldatenfrauen. Sie unternahmen also ausnahmsweise einmal etwas, was im Interesse der Frauen lag. Soldatenfrauen, Kriegerwitwen und Waisen erhielten vom Staat eine feste Unterstützung und gewisse Rechte, zum Beispiel zahlten sie keine Miete für die Wohnung. Diese Regelung hatte man aber nicht den Frauen zuliebe angeordnet, sondern um „die Kampfmoral der Soldaten zu erhöhen“. Trotz der Rente war die Situation der Soldatenfrauen nach wie vor entsetzlich schlecht. In Russland erhielten sie als Unterstützung nur ein paar Pfennige. Im April 1917 – während der Übergangsregierung Kerenskis – als das Existenzminimum bei mehreren hundert Rubeln lag, bekamen die Frauen der Soldaten nach wie vor 79 Rubel im Monat.

Die zunehmende Säuglingssterblichkeit zwang die Regierungen in England, in Frankreich und in Deutschland dazu, den unverheirateten Müttern eine gewisse Beihilfe zu gewähren. Doch auch dieser Beschluss war nur unzureichend und halbherzig. Denn in Wirklichkeit lebten auch diejenigen Mütter und Säuglinge unter wesentlich schlechteren Verhältnissen als früher, deren „Familienversorger“ an der Front kämpften. Die Bourgeoisie sorgte sich nicht um die Mütter und Kleinkinder. Deshalb war es auch völlig natürlich, dass während der gesamten Kriegsperiode die Frauen ganz besonders unruhig waren. Bereits im Frühjahr 1915 organisierten die Arbeiterinnen von Berlin eine gewaltige Demonstration zum Reichstag, wo sie Karl Liebknecht feierten und Philipp Scheidemann auspfiffen. In den meisten Ländern kam es zu Protesten gegen Krieg und Inflation. In Paris stürmten die Frauen im Jahre 1916 die Geschäfte und plünderten die Kohlelager. Österreich erlebte im Juni 1916 einen „dreitägigen Aufstand“, als die Frauen gegen Krieg und Inflation protestierten. Nach der Kriegserklärung und während der Mobilmachung verbarrikadierten in Italien die Frauen die Eisenbahnlinien, indem sie sich auf die Schienen legten, um so wenigstens für einige Stunden die Fahrt der Soldaten in die Hölle und den Tod zu verzögern.

In Russland initiierten die Frauen im Jahre 1915 Unruhen, die wie eine Sturmflut sich von Petersburg und Moskau aus über das gesamte Land ausbreiteten. Zur selben Zeit, als die profitgierigen Unternehmer noch den „weiblichen Patriotismus“ besangen, die Frauen in ihre Fabriken einluden und sich aus Vorfreude über die zukünftige Gewinnspanne die Hände rieben, nahmen die Arbeiterinnen aktiv an den Streikkämpfen teil. Der Krieg brachte den Frauen nur neuen Kummer, dies ist auch die Ursache für die „Frauenunruhen“. Am 23. Februar 1917 (8. März des neuen 3 Kalenders) trat das Frauenproletariat, besonders die Textilarbeiterinnen in Petersburg, auf die historische Bühne und artikulierte den wachsenden Missmut der arbeitenden Klassen. Dieser Aufstand war das Startsignal für die große russische Revolution.

In Bern trafen sich bereits am 26. März 1915 mehrere Sozialistinnen – ich spreche jetzt über den Internationalismus und nicht über den Sozialchauvinismus – zu einer Internationalen Frauenkonferenz, um dort gemeinsam den Protest der Arbeiterinnen gegen den Krieg zu artikulieren und die gemeinsamen Richtlinien für den Kampf der Arbeiterinnen gegen den Weltkrieg festzulegen. Dies war überhaupt der erste internationale Kongress seit Kriegsbeginn. Es gab auf diesem Kongress zwei politische Grundlinien. Die Majoritätsfraktion verurteilte zwar den Krieg, ohne aber von den Sozialchauvinisten Abstand zu nehmen. Die Minoritätsfraktion, unsere russischen Bolschewistinnen, forderten eine Verurteilung der Verräter an der internationalen Solidarität des Proletariats und eine unmissverständliche Antwort auf den imperialistischen Krieg, die Ausrufung des Bürgerkrieges.

Dass dieser erste Internationale Kongress von Sozialistinnen einberufen wurde, war kein Zufall, wir brauchen nur an die unerträgliche und sich ständig verschärfende soziale Lage der Arbeiterinnen während des Weltkrieges denken.

Zwar nahm die Frauenarbeit während des Krieges ständig zu, aber unter Bedingungen, die gleichzeitig verhinderten, dass sich die Lage der Arbeiterinnen verbesserte. Im Gegenteil, sie verschlechterte sich. Der Krieg war nur für die Frauen der Spekulanten, der Kriegsfabrikanten und der vermögenden Schichten ein vorteilhaftes Geschäft. Kurz und gut, es sind jene parasitäre Schichten der Gesellschaft, die nur konsumieren und nicht produzieren, die das Nationaleinkommen verschleudern und verprassen, also dieser Ballast jeder Volkswirtschaft.

Der Krieg brachte dem arbeitenden Volke Leiden und Kummer von bisher unbekanntem Ausmaß. Gleichzeitig jedoch führte die Kriegskonjunktur zu einer raschen Umgruppierung von Industriezweigen und zur Entstehung und Etablierung gigantischer Unternehmen, in denen die Mechanisierung der Produktion sehr hoch entwickelt war. Dieser Prozess erleichterte den Zustrom von unqualifizierten Arbeitskräften in die Produktion. Die Frauenarbeit wurde jetzt ein wichtiger Faktor in der Volkswirtschaft, sie wurde zur Produktionsreserve gerechnet, und die wirtschaftlichen Organisationen (Unternehmerverbände und Gewerkschaften) erkannten die Wichtigkeit der Frauenarbeit uneingeschränkt an. Die Frauenarbeit erhielt einen neuen Stellenwert. Man hörte nirgends mehr das alte Geschwätz über die Pflichten der Frau als „Gattin und Hausfrau“.

Mit der Demobilisierung und dem Übergang zur Friedensökonomie zeigten sich in den kapitalistischen Ländern eindeutige Tendenzen, dass die Frauen wieder aus der Produktion heraus gedrängt werden sollten. Die weibliche Arbeitslosigkeit wuchs wieder rasch an. Die Ursache dafür ist, dass alle am Weltkrieg beteiligten Länder in den Jahren 1918 und 1919 von einer schweren wirtschaftlichen Krise getroffen wurden. Die Demobilisierung der Armeen und der Übergang von Rüstungs- zur Friedensproduktion führte notwendigerweise zu sämtlichen krankhaften Erscheinungen, die einen wirtschaftlichen Zusammenbruch begleiten. Dieser wirtschaftliche Kollaps wurde durch den finanziellen Ruin der Großmächte, die gegenseitige Verschuldung, den Mangel an Rohstoffen und die schreiende Armut der Bevölkerung natürlich noch wesentlich verstärkt. Die Krise, die England, Frankreich, Deutschland und die übrigen europäischen Länder in den Jahren 1918–1919 erlebten, hatte zur Folge, dass die Produktion in zahlreichen Industriezweigen ins Stocken geriet und zur Schließung von Fabriken und Entlassungen von Arbeitern führte. Die Frauen verloren massenweise ihre Arbeitsplätze. Es war aber nicht nur diese ernste Krise, diese allgemeine Aussperrung der Arbeiter, die die zunehmende Arbeitslosigkeit der Arbeiterinnen verursachten, tatsächlich gingen die Unternehmer auch in völlig normal funktionierenden Branchen der Industrie dazu über, die Frauen wieder auf die Straße zu setzen. Hatte ein Unternehmer auf dem Arbeitsmarkt die Wahl zwischen einem Heimkehrer von der Front und einer Arbeiterin, so entschied er sich für gewöhnlich für den Mann. Das mag paradox erscheinen, schließlich waren die Arbeiter damals wenig kooperationsbereit, forderten höhere Löhne und wurden auch im allgemeinen höher bezahlt. Unter anderen gesellschaftlichen Verhältnissen hätten die Unternehmer selbstverständlich die billigeren weiblichen Arbeitskräfte vorgezogen. Wir dürfen aber heute nicht vergessen, dass die Demobilisierung zu einem Zeitpunkt durchgeführt wurde, als sich die Bevölkerung in einer revolutionären Stimmung befand. Seitdem die russische Arbeiterklasse in der Oktoberrevolution die Richtung aufgezeigt hatte, befanden sich die arbeitenden Massen in den anderen Ländern in einem Zustand der angespannten Unruhe. Die Heimkehrer aus dem Kriege waren nervös und gereizt, sie konnten mit dem Gewehr umgehen und waren daran gewöhnt, dem Tod ins Auge zu sehen. Wenn es die Unternehmer gewagt hätten, diesen unruhigen und verbitterten Menschen keinen Arbeitsplatz zu geben, dann wäre für das bürgerliche System eine tödliche Gefahr entstanden. Die Unternehmer zogen aus dieser Situation die Konsequenzen und sahen selber ein, dass es nun günstiger war, auf jenen Teil des Profits zu verzichten, den sie bisher aus der billigen Frauenarbeit gezogen hatten. Sie mussten ihre Vorherrschaft gegenüber der lauernden roten Gefahr verteidigen. Politische Rücksichten hatten nun also den Vortritt gegenüber wirtschaftlichen Überlegungen. In Deutschland, England, Frankreich und Italien mussten jetzt die bisher so beliebten patriotischen Frauen, diese „Heldinnen der Arbeit“ von gestern, diese „Soldaten hinter der Front“, ihre Arbeitsplätze für die heimkehrenden Soldaten räumen. Mit der langsamen Normalisierung der völlig verzerrten Produktion und dem Abflachen der Nachkriegskrise können wir dann auch eine Reduzierung der weiblichen Arbeitslosigkeit feststellen. Doch muss betont werden, dass das Problem der Frauenarbeit noch lange nicht gelöst ist. Im Gegenteil, aufgrund des jetzigen Entwicklungsstadiums der kapitalistischen Weltproduktion, die durch den Konzentrationsprozess in der technisch hochentwickelten Großindustrie gekennzeichnet ist, bleibt dieses Problem weiter bestehen. Natürlich kann von einem erneuten Rückzug der Frau in die vier Wände ihres Einfamilienhauses überhaupt nicht die Rede sein. Zwar sind die Produktionskapazitäten durch die Rüstung ungleichmäßig entwickelt worden, doch sind in den vergangenen Friedensjahren die Branchen der Verbrauchsgüterindustrien inzwischen wieder in Gang gekommen. Deshalb stieg auch der Bedarf an Arbeitskräften, und wie schon in der Vergangenheit sucht sich das Kapital die billigsten Arbeitskräfte aus. Jetzt sehen wir erneut, dass sich die Frauenarbeit in den Fabriken ausbreitet. Der wirtschaftliche Aufschwung in den kapitalistischen Staaten stößt jedoch heute auf gewisse Schwierigkeiten: Auf die immer noch bestehende Lohnarbeit; auf die Tatsache, dass der größte Teil des erwirtschafteten Mehrwertes nach wie vor in die Taschen der Unternehmer fließt; das Fehlen einer gesamtwirtschaftlichen Planung, (z. B. ein statistischer Überblick und eine rationelle Einsetzung aller vorhandenen Arbeitskräfte), und das Missverhältnis zwischen Produktion und Konsumtion. Diese Faktoren setzen der Entfaltung der Produktivkräfte im Rahmen des kapitalistischen Systems unüberwindbare Grenzen. Das kapitalistische Produktionssystem hat ganz einfach ein Stadium erreicht, in dem kein Spielraum mehr vorhanden ist für eine unbegrenzte Entfaltung der Produktivkräfte. Der Kapitalismus hat den Höhepunkt seiner Entwicklung überschritten. Die krisenhafte Entwicklung der kapitalistischen Weltwirtschaft auf der einen Seite und der Sieg der sozialistischen Revolution in Russland haben das Fundament des kapitalistischen Systems erschüttert und noch krisenanfälliger gemacht. Jetzt können sich in den kapitalistischen Ländern die Produktivkräfte nur noch krampfartig und in spastischen Intervallen entwickeln. Die Konjunkturkurve wird ohne Zweifel immer häufiger fallen und steigen. Der für den Kapitalismus typische Wechsel zwischen Hochkonjunktur, stagnierender Wirtschaft und der Krise wird das kapitalistische Produktionssystem immer brutaler in Frage stellen. Es besteht nicht die geringste Hoffnung, dass die Entwicklung der Produktivkräfte unter dem Kapitalismus krisenfrei verlaufen kann, d. h., wir müssen auch in Zukunft mit schweren Wirtschaftskrisen und damit zusammenhängenden Massenentlassungen von Arbeitern rechnen. Von der weiter bestehenden Kriegsgefahr wollen wir gar nicht erst reden, denn diese ist, solange die imperialistische Politik noch nicht zu einem abgeschlossenen Kapitel der Geschichte gehört, immer gegenwärtig. Wie sah nun aber die Perspektive für die Frauenarbeit in jenen Ländern aus, in denen es der Arbeiterklasse nicht gelungen war, dem kapitalistischen System den Garaus zu machen und die jetzt eine ständig sprunghafte Entwicklung durchmachten?

Jeder konjunkturelle Aufschwung, sowohl in den einzelnen Betrieben, wie auch in der Gesamtwirtschaft, hat eine wachsende Anzahl von Frauen in der Produktion zur Folge. Die Zunahme der Frauenarbeit hängt einerseits mit den billigen Frauenlöhnen und andererseits mit der erhöhten Nachfrage nach Arbeitskräften in den expandierenden Industriezweigen zusammen. Jeder Hochkonjunktur folgt unmittelbar eine Stagnation der Wirtschaft. Das Resultat: ein geringeres Angebot an Arbeitsplätzen und Entlassungen. Die Unternehmer werden aus politischen Überlegungen heraus versuchen, die männliche Belegschaft so lange wie möglich zu beschäftigen und deshalb zuerst die Arbeiterinnen rausschmeißen, denn sie machen erfahrungsgemäß als „Freigestellte“ weniger Ärger. Der von mir eben beschriebene Zusammenhang ist im Allgemeinen für den Kapitalismus typisch. In der augenblicklichen Weltlage tritt jedoch diese Dialektik (also der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privatkapitalistischen Aneignung) in einer besonders zugespitzten Form in Erscheinung. Jede neue Krise führt zu immer heftigeren Erschütterungen in der gesamten Volkswirtschaft, zieht immer größere Kreise und erfasst immer breitere Bevölkerungsschichten. Solange der Kapitalismus noch nicht abgeschafft ist, bleibt das Problem der Frauenarbeit, das ja ein Bestandteil der gesamten Problematik ist, die mit dem Verhältnis von Arbeit und Kapital zusammenhängt, ungelöst. Die Arbeiterinnen, als Bestandteil der Arbeiterklasse, können in den kapitalistischen Ländern nicht mit einer Verbesserung ihrer Lage rechnen, solange das Kapital noch über die Arbeit herrscht und das Privateigentum noch einer Produktions-, Konsumtions- und Exportplanung im Wege steht.

Genossinnen, ihr müsst euch darüber im Klaren sein, dass das Problem der Frauenarbeit sich solange nicht lösen lässt, solange das Gespenst der Arbeitslosigkeit die werktätigen Frauen verfolgt. Solange dies der Fall ist, kann überhaupt nicht die Rede davon sein, dass die so schwierige Frauenfrage in ihrer Gesamtheit irgendwie gelöst werden kann.

Zwar waren einige bürgerliche Staaten seit dem Kriegsende gezwungen, eine Reihe von Reformen durchzuführen, die auch etwas mit der Lage der Frau zu tun haben, aber diese Kompromisse, für die die militanten Suffragetten im vorigen Jahrhundert in England mit der Bombe in der Hand gekämpft hatten und die wesentlich friedlicheren bürgerlichen Frauenrechtlerinnen in unzähligen Bittschriften erfolglos gebettelt hatten, diese Kompromisse sind der Bourgeoisie nur aus zwei Gründen abgerungen worden: Zum einen durch das für die Bourgeoisie so abschreckende Beispiel der Revolution in Russland und zum anderen durch die in den Massen weitverbreitete Stimmung für eine Demokratisierung der Gesellschaft. Um diese weitverbreitete revolutionäre Stimmung zu dämpfen und um den Arbeitern zu beweisen, dass eine „soziale Revolution“ überflüssig sei, weil es auch andere erfolgreiche Möglichkeiten gäbe, an die Macht zu kommen, verteilte die Bourgeoisie Almosen, wie etwa die Wahlrechtsreform (das Frauenstimmrecht eingeschlossen). Figuren wie David Lloyd George, Hjalmar Karl Branting, Philipp Scheidemann und Gustav Noske „kümmerten sich um das Wohlergehen der Arbeiter“ und behaupteten, dass sie für die Arbeiter zwar noch nicht die ganze Staatsmacht, aber immerhin einen „gerechten Anteil“ erkämpft hätten.

In England, Deutschland, Schweden und Österreich erhielten die Frauen nach dem Kriege das Stimmrecht aufgrund bestimmter politischer Erwägungen und nicht als Belohnung für ihre „patriotischen Leistungen“.

Dieses formale Recht veränderte aber nicht die tatsächliche Stellung der Frau in der bürgerlichen Klassengesellschaft. Auch nach dem Kriege befand sich die Frau noch immer in der gleichen gesellschaftlichen Rolle wie vor dem Kriege. Sie ist in sämtlichen bürgerlichen Ländern noch immer die Dienstmagd der Familie und der Gesellschaft. Die Reform der bürgerlichen Gesetzgebung zugunsten der Frau und auch die einzelnen Gesetzesinitiativen, die die Gleichstellung der Ehegatten zum Ziel hatten, haben im Großen und Ganzen nur zu unbedeutenden Verbesserungen geführt. Im Grunde genommen haben sich die alten Verhältnisse, die alte Diskriminierung und die alte Packerei nicht geändert.

In den bürgerlichen Ländern ist die Frauenfrage bestimmt nicht gelöst. Im Gegenteil, die Frauenfrage spitzt sich vor dem Hintergrund der sozialen Situation der Frauen immer mehr zu. Wie sollen die Frauen ihre Berufsarbeit mit ihrem Familien- und Eheleben vereinbaren? Wie werden die Frauen die ewige Hausarbeit los, die nur unnötige Energien verbraucht? Diese Energien könnten die Frauen wirklich vernünftiger verwenden, z. B. für wissenschaftliche Arbeiten oder im Dienste einer Idee.

Die ungelösten Probleme, die die Frauenfrage aufwirft: Die Mutterschaft, die Abtreibung, der Gesundheitsschutz und die Kindererziehung, werden im Kapitalismus zementiert. Es ist für die Frauen unmöglich, aus diesem Labyrinth auszubrechen. Die Unantastbarkeit des Privateigentums, das Fortbestehen des privaten Einfamilienhaushaltes, das zähe Überleben der individualistischen Gewohnheiten und Traditionen und die mangelnde Erfahrung mit kollektiven Gesellschaftsformen haben die Frauenfrage im Kapitalismus zu einem komplizierten und unlösbaren Knoten verschlungen. Auch jene Männer, die an und für sich den Frauen freundschaftlich gesinnt sind, werden zur Lösung der Frauenfrage wenig beitragen können, solange die Macht des Kapitals ungebrochen ist.

Erst wenn das Proletariat sich erhebt, wird es auch imstande sein, diesen Knoten zu zerschlagen. Die Erfahrung in Russland während der ersten vier Revolutionsjahre zeigen uns, dem Weltproletariat und ganz besonders den Proletarierinnen, wie wir aus dieser Sackgasse herauskommen können. Welcher Weg bringt den Frauen nicht nur eine formale und oberflächliche Gleichberechtigung, sondern eine wirkliche und inhaltliche Befreiung?

Wie wir dieses Ziel erreichen können, dies werden wir in der nächsten Vorlesung untersuchen.

10. Die Diktatur des Proletariats: Die Arbeitsorganisation

Der Weltkrieg hat alle objektiven Voraussetzungen für die Befreiung der Frau geschaffen. Die Frauenarbeit ist heute ein wichtiger Faktor in der Volkswirtschaft. Die meisten Frauen im arbeitsfähigen Alter führen eine gesellschaftlich nützliche Arbeit aus. Trotzdem war es bisher unmöglich innerhalb des bürgerlich-kapitalistischen Systems die Befreiung der Frau zu verwirklichen.

Wir lassen deshalb jetzt die Welt des Kapitalismus mit seinen komplizierten sozialen Problemen hinter uns und untersuchen eine Staatsform, wie sie die Menschheit bisher noch nicht kannte, die Diktatur des Proletariats. In unserem Lande ist die Arbeiterklasse aufgestanden und hat die Macht in ihre eigenen Hände genommen. Wir werden uns also jetzt mit der ersten Arbeiterrepublik beschäftigen. Im revolutionären Russland liegt die Staatsmacht in den Händen der Werktätigen. Der Arbeiter- und Bauernklasse ist es zum ersten Male gelungen, die Bourgeoisie vernichtend zu schlagen. Diese hat ihre Privilegien und Autorität eingebüßt. In den Räten (Sowjets) hat die Bourgeoisie kein Stimmrecht, denn es gibt für Faulpelze und Räuber in unserer Arbeiterrepublik keinen Platz mehr. Das Privateigentum an Produktionsmitteln ist abgeschafft, und den privaten Handel und die Anhäufung von Kapital in privaten Händen gibt es bei uns nicht mehr. Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen haben wir überwunden.

Die Kommunistische Partei Russlands (KPR) als Avantgarde der Arbeiterklasse hat die Republik der Sowjets proklamiert. Das Leben hat sich von Grund auf geändert, das Fundament der bürgerlichen Klasse ist erschüttert, das Alte wird vernichtet, und an seiner Stelle bauen wir etwas völlig Neues auf.

In den ersten drei Jahren unserer Revolution haben wir die Voraussetzungen für eine neue Produktionsweise geschaffen. An die Stelle des Kapitalismus, des Privateigentums und der Ausbeutung von Lohnarbeit tritt das sozialistische Wirtschaftssystem. Die Großindustrie, der Bergbau, das Transportwesen, Grund und Boden, alles ist jetzt Eigentum des Volkes und wird vom Staatsapparat zentral verwaltet. Zwar existiert die Lohnarbeit noch, doch wandert der von den Arbeitern geschaffene Mehrwert nicht länger in die Taschen von irgendwelchen Privatunternehmern, sondern wird zur Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse verwandt: zur Entwicklung der Produktion, zur Verwirklichung eines neuen gesellschaftlichen Bewusstseins und zur Versorgung der Roten Armee, die während der Periode der revolutionären Diktatur des Proletariats absolut notwendig ist.

In seinen eigenen Verwaltungsorganen erarbeitet sich das Proletariat selbst Richtlinien für die Wirtschaft, plant die Produktion und den Handel und organisiert die Verteilung von Gebrauchsgütern, die die Bedürfnisse des Proletariats befriedigen. Doch alle diese großartigen Initiativen stecken noch immer in ihrem Anfangsstadium. Nichts hat bereits seine endgültige Form erhalten. Auf allen Gebieten erleben wir eine rasche Entwicklung. In der revolutionären Praxis werden überall neue Erfahrungen gesammelt und es entstehen laufend neue Ideen. Die Arbeiterklasse legt das Fundament für eine neue Produktionsweise und überwindet und zerstört all jene Hindernisse und Überbleibsel aus der Ära der bürgerlichen Gesellschaft, die die Entfaltung der Produktivkräfte beeinträchtigen. Es ist die Hauptaufgabe dieser neuen Gesellschaft, den Weg für diese neue Produktionsweise zu bahnen.

Natürlich ist das eine schwere und verantwortungsvolle Arbeit. Vor den Augen der Menschheit unternimmt ein riesiges Kollektiv eine bisher einzigartige und gemeinsame Willens- und Kraftanstrengung: Es erschüttert die Grundfesten des Kapitalismus, der kurz vor dem Zusammenbruch steht. Das heilige Prinzip des Privateigentums hat sich in Staub aufgelöst. Die Bourgeoisie verliert den Kopf und flieht überstürzt ins Ausland, um von dort aus den bewaffneten Überfall gegen die rebellierenden und ungehorsamen Sklaven zu organisieren. Die Atmosphäre ist kriegsgeladen. Täglich ereignen sich blutige Zusammenstöße an der Front. Wir hören das verbitterte Geschrei der ehemaligen Machthaber und den mutigen Kampfesruf unserer jungen Generation, die die neue Zukunft verteidigt. Die Welt ist beunruhigt. Das „rote Gespenst“ geht um. Die Zukunft erscheint im roten Licht, den einen als Bedrohung, den anderen als lang erwartete Morgenröte.

Kennzeichnend für das neue Wirtschaftssystem in Russland ist die zentrale staatliche Planung von Produktion und Konsum. Alle Reichtümer der Nation werden statistisch erfasst, gleichzeitig wird jeder russische Bürger in seiner Funktion als Produzent und Verbraucher registriert. Unsere Produktionsweise lässt keine wirtschaftliche Anarchie zu. Sie kennt kein Konkurrenzverhalten, keine Wirtschaftskrisen und keine Arbeitslosigkeit. Die früher vorherrschende Arbeitslosigkeit verschwindet, und bereits im dritten Jahr der Revolution gibt es so gut wie keine freien Arbeitskräfte mehr, wir können eher schon von einem Arbeitskräftemangel sprechen. Durch die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln haben wir uns von jener Parasitenklasse „befreit“, die für die Volkswirtschaft keine nützliche Arbeit leistete, sondern nur konsumierte. Deshalb handeln wir im Sowjetrussland nach der Auffassung: „Wer nicht arbeiten will, braucht auch nicht zu essen“. Aktionäre, die ein arbeitsfreies Einkommen beziehen und Deserteure, die ihren Arbeitsplatz verlassen, werden von der Tscheka (Außerordentliche Kommission zum Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage) den Gesetzen unserer Republik entsprechend verfolgt. Der Sowjetstaat erwartet von der gesamten Bevölkerung eine äußerste Kraftanstrengung, um die wichtigsten aktuellen Bedürfnisse unserer Gesellschaft zu befriedigen. Der durch den Weltkrieg und die Misswirtschaft der zaristischen Beamten völlig auf den Hund gekommenen Industrie muss wieder auf die Beine geholfen werden. Außerdem müssen wir die Rote Armee, die unsere Revolution verteidigt, unterstützen.

Natürlich gibt es in unserer neuen Gesellschaft auch keinen Platz für weibliche Parasiten – z. B. für wohlgenährte Mätressen, die sich von ihren Männern oder Liebhabern aushalten lassen oder für die berufsmäßigen Prostituierten – denn bei uns gilt: „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“. Deshalb ist auch die Verteilung von Konsumgütern streng geregelt, ganz besonders natürlich in den Städten. Nur wer selber arbeitet, erhält auch eine Ration. Durch diese Wirtschaftspolitik (Neue Ökonomische Politik) verändert sich das Verhältnis zwischen den Geschlechtern total. Die Frau umschmeichelt nicht mehr wie früher ihren Gatten/Versorger, und sie unterwirft sich auch nicht mehr seinen Wünschen. Sie steht jetzt auf eigenen Füßen, geht zur Arbeit, hat ein eigenes Arbeitsbuch und ihre eigene Bezugskarte (für rationierte Lebensmittel und andere Gebrauchsgegenstände). Der Mann kann sich nicht mehr als Herr im Haus, als Familienvorstand oder Oberhaupt aufspielen. Was bleibt ihm auch anderes übrig, seitdem jede Frau ihre eigene Bezugskarte hat, auf der auch die Kinder aufgeführt sind.

Die Frau war also nicht mehr von einem Privatunternehmer und von ihrem Gatten/Familienversorger abhängig. In Sowjetrussland gibt es nur noch ein Oberhaupt für die Arbeiterinnen und Arbeiter: die Sowjetunion. Die Beteiligung der Frauen an den Aufbauarbeiten hat für unser ganzes Volk eine so wichtige Bedeutung, wie sie in einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft unmöglich wäre. Das kapitalistische Wirtschaftssystem setzt ja gerade die Existenz von aufgesplitterten privaten Einfamilienhaushalten voraus und basiert unter anderem auf der Unterdrückung und Unmündigkeit der Frau. Die wichtigste Tat der Revolution ist die Einführung der allgemeinen Arbeitspflicht für alle erwachsenen Männer und Frauen. Dieses Gesetz hat im Leben der Frau zu einer Veränderung ohne Beispiel in der bisherigen Geschichte geführt. Es hat die Rolle der Frau in Gesellschaft, Staat und Familie wesentlich stärker verändert als all die anderen Dekrete seit der Oktoberrevolution, die die politische und staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Frau verkündigten. Wie z. B. das Recht der Frauen, in Arbeiterräte und sonstige Volksvertretungen gewählt zu werden oder aber auch das neue Eherecht vom 18. und 19. Dezember 1917, in dem festgestellt wird, dass die Ehe eine Partnerschaft zwischen gleichberechtigten Individuen ist. Diese Rechtsnorm bedeutet eigentlich nur eine formale Gleichheit vor dem Gesetz; in Wirklichkeit wurde die Frau jedoch aufgrund der noch bestehenden bürgerlichen Traditionen weiterhin diskriminiert und entmündigt. Wir sprechen jetzt über Bewusstseinsformen, Traditionen, Gewohnheiten und die Moral. Erst durch die allgemeine Arbeitspflicht veränderte sich die Rolle der Frau in der Volkswirtschaft. Sie ist jetzt allgemein als eine Arbeitskraft akzeptiert, die teilnimmt an der gesellschaftlich nützlichen Arbeit für das Kollektiv. Wir können aus dieser Entwicklung die Schlussfolgerung ziehen, dass die Gleichberechtigung der Frau auf allen anderen Gebieten mit der Zeit verwirklicht werden wird. Denn wir wissen, dass die Rolle der Frau in der Gesellschaft und das Verhältnis zwischen den Geschlechtern von ihrer Funktion in der Produktion abhängt. Deshalb müssen wir uns genau darüber klar werden, welche revolutionierende Bedeutung die Einführung der allgemeinen Arbeitspflicht für die Befreiung der Frau hat.

Die neue Produktionsweise in Russland setzt drei Dinge voraus: 1. eine exakte Berechnung und sinnvolle Verwendung aller vorhandenen Arbeitskräfte, einschließlich der Frauen, 2. den Übergang vom Einfamilienhaushalt und dem privaten Familienkonsum zur gesellschaftlichen Planung der Wirtschaft und zum kollektiven Verbrauch, 3. die Durchführung eines einheitlichen Wirtschaftsplans. Der lange Krieg – zuerst der imperialistische Krieg und dann der revolutionäre Befreiungskrieg hat die Wirtschaft des Landes unterminiert, das Transportwesen zerstört und die technische Entwicklung gebremst. Die private Aneignung der gesellschaftlichen Reichtümer hat zwar aufgehört, aber die Arbeiterrepublik steht jetzt vor der gewaltigen Aufgabe, den Wiederaufbau der Wirtschaft und die Entfaltung der Produktivkräfte voranzutreiben. Auch die kapitalistischen Länder erleben zur Zeit eine Periode der wirtschaftlichen Unsicherheit und des inneren Zerfalls. Die gesamte kapitalistische Wirtschaft taumelt in eine unausweichliche und globale Wirtschaftskrise. Heute hat das russische Proletariat ein für allemal sichergestellt, dass sich die Produktivkräfte auch in der Zukunft entfalten können. In den bürgerlichen Staaten versuchen die Kapitalisten und Finanzspekulanten zur selben Zeit, mehr oder weniger halbherzig, die Produktion wieder anzukurbeln. Die kapitalistische Wirtschaft befindet sich nach einer kurzen Periode des Aufschwungs erneut in einer Krise, viele Betriebe wurden stillgelegt und die Wirtschaft näherte sich dem Zusammenbruch. Die Arbeiterklasse hat heute begriffen, dass es nur eine wirksame Medizin gegen den Zerfall und die Zerstörung der Volkswirtschaft gibt: die Einführung einer neuen Produktionsweise, denn dies ist die einzige Alternative zum Rückfall der Menschheit in die Barbarei. Heute ist die Sowjetunion damit beschäftigt, diese neue Produktionsweise zu entwickeln. Solange jedoch die Arbeiterklasse in der Sowjetunion noch auf eine im Kapitalismus entwickelte Technik angewiesen ist, ist eine wirklich reibungslose Entwicklung der Produktivkräfte nicht möglich, da wir aufgrund der chaotischen politischen Situation in den kapitalistischen Staaten kurzfristig nicht mit der wirtschaftlichen Hilfe neuentstandener Arbeiterregierungen in Europa rechnen können. Wir sind deshalb zur Zeit noch darauf angewiesen, durch eine planvolle Organisation der menschlichen Arbeitskraft die notwendige Weiterentwicklung der Produktivkräfte selbst durchzuführen.

Deshalb steht die Bevölkerung in der Sowjetunion zur Zeit vor der Aufgabe, die Produktivität jedes einzelnen Arbeiters und jeder einzelnen Arbeiterin zu erhöhen. Bis jetzt kann von einer durchgreifenden Reform der allgemeinen Lebensbedingungen noch nicht die Rede sein, denn der größte Teil der Arbeiterklasse lebt heute noch unter Bedingungen, die ein Erbe der bürgerlichen Vergangenheit sind. Die Energien der Arbeiterinnen werden teilweise durch unproduktive Dienstleistungen für die eigene Familie verschwendet und gehen für die Produktion von gesellschaftlichen Werten und Gebrauchsgütern verloren. Die Arbeiterinnen bringen also ihre Energien nur zum Teil in den Produktionsprozess ein. Dies hat natürlich zur Folge, dass sie häufig unqualifizierte Arbeit leisten und außerdem, dass die Qualität ihrer Arbeit zu wünschen übrig lässt. Die Frauen haben einfach keine Zeit, um sich in ihren Berufen weiterzubilden. Es ist einleuchtend, dass ihre Arbeitsqualität in der Produktion sich umso mehr verschlechtert, je stärker die Arbeitskräfte der Frauen außerhalb des gesellschaftlichen Produktionsprozesses verbraucht werden. Die Arbeiterin und Mutter, die nächtelang an der Wiege des Säuglings wacht und die gezwungen ist, sich während ihrer Freizeit der Familie und dem Haushalt zu widmen, ist natürlich am Arbeitsplatz weniger aufmerksam als der Mann, der nachts ungestört schlafen kann und sich außerdem nicht um allerlei Familienpflichten zu kümmern braucht. Wenn wir die Arbeitsproduktivität der Arbeiterklasse und ganz besonders die der Arbeiterinnen verbessern wollen, dann müssen zuerst die Lebensbedingungen verändert werden. Wir müssen schrittweise, aber zielbewusst das Fundament für eine kollektive Lebensweise legen – und dies heißt, dass wir zuerst ein weitverzweigtes Netz von Säuglingsheimen und Kindergärten aufbauen müssen und eines Tages auch völlig neue Produktionsstätten errichten werden. Erst danach dürfen die staatlichen Wirtschaftsplanungsinstanzen in der Sowjetunion und die Gewerkschaften von den Arbeiterinnen eine Arbeitsproduktivität erwarten, die den allgemeinen Leistungsnormen entspricht. Erst zu diesem Zeitpunkt ist es gerechtfertigt, die Arbeiterinnen für Versäumnisse oder schlampig durchgeführte Arbeiten zu kritisieren. Diesen Zeitpunkt haben wir jedoch erst dann erreicht, wenn alle Arbeiterinnen, und ihre Zahl geht in die Millionen, auch außerhalb ihres Arbeitsplatzes Lebensbedingungen vorfinden, die sicherstellen, dass ihre Arbeitskraft nicht mehr durch privat-wirtschaftliche oder familiäre Bedürfnisse verschlissen wird. Dieser Verschwendung von weiblicher Arbeitskraft muss ein Ende gesetzt werden, und dass dies notwendig ist, leuchtet ohne weiteres ein. Es ist wirklich wichtig, dass die ungeheuren Verluste, die durch die heutigen Lebensbedingungen für unsere sozialistische Volkswirtschaft entstehen, endlich eingeschränkt werden. Wir können die Arbeitsproduktivität nicht dadurch erhöhen, dass wir einseitig die Anzahl der Arbeitskräfte erhöhen. Genauso wichtig ist die Veränderung der Lebensbedingungen, unter denen unsere Arbeiterklasse lebt. Deshalb müssen wir nach und nach den Einfamilienhaushalt durch den ökonomisch effektiveren Kommunehaushalt ersetzen. Nur so können wir die Arbeitskraft der Frau schonen.

Heute ist die Arbeitsproduktivität in der Sowjetunion noch weitgehend von der Zahl der Beschäftigten abhängig, deshalb versucht der „Rat für Arbeit und Verteidigung“ die Anzahl der Parasiten zu reduzieren, da diese Menschen auf Kosten der Arbeiterklasse leben, ohne durch eine eigene Arbeitsleistung zum Wohlstand der Gesellschaft beizutragen. Seitdem in unserer Arbeiterrepublik der Privatbesitz an Produktionsmitteln abgeschafft worden ist, sind die Voraussetzungen für die Entfaltung der Produktivkräfte verbessert worden. Der geschaffene gesellschaftliche Mehrwert wird heute für die Erweiterung der Produktivkräfte oder zur Befriedigung unvorhergesehener Bedürfnisse verwendet. Der geschaffene gesellschaftliche Mehrwert kommt also jetzt dem gesamten Volke zugute und wird nicht mehr für den Privatkonsum der herrschenden Klasse verschwendet. In der bürgerlichen Gesellschaft produzierte nur ein Teil der Gesellschaft, die Arbeiterklasse, den gesellschaftlichen Mehrwert. Die Klasse derer, die selber nichts produzierten, haben aber eine neue Schicht hervorgebracht, die sie mit äußerst unproduktiven Arbeiten beschäftigten, um ihre privaten Konsumbedürfnisse und Launen zu befriedigen: die Dienerschaft, die Hersteller von Luxusgütern, die Unterhaltungskünstler der leichten Muse, die Pseudokünstler und Pseudowissenschaftler und die ständig anwachsende Anzahl von Bettgespielinnen und Prostituierten. Die Kapitalisten verschwendeten einen immer größeren Teil des gesellschaftlichen Reichtums für ihre skrupellosen Vergnügungen. Der unproduktive Anteil der Bevölkerung in den bürgerlich-kapitalistischen Ländern war aber auch deshalb besonders groß, weil sich viele Frauen von ihren Ehemännern versorgen ließen. Bis zum Beginn des 1. Weltkriegs ließen sich mehr als die Hälfte der Frauen von ihren Ehemännern oder Vätern aushalten. Dieser Missstand ist eine Folge der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur und behindert die Entfaltung der Produktivkräfte und gleichzeitig auch den notwendigen Kampf gegen die chaotischen Zustände in diesen Ländern.

Das kommunistische Wirtschaftssystem funktioniert dagegen ganz anders. Das Fundament der sozialistischen Wirtschaft ist eine planmäßige Leitung des ganzen Wirtschaftsprozesses, die sich aber nicht mehr an den Bedürfnissen einer kleinen Clique orientiert, sondern an den Bedürfnissen des gesamten Volkes. Die historisch überlebte kapitalistische Warenproduktion verschwindet, und die Produktivkräfte erleben im Sozialismus einen gewaltigen Aufschwung. Als erstes benötigen wir eine zentrale Statistik über die vorhandene Anzahl aller Arbeitskräfte, erst danach ist ein planvoller Einsatz dieser Arbeitskräfte möglich. Aufgrund der freien Konkurrenz herrscht auf dem kapitalistischen Arbeitsmarkt offene Anarchie. Deshalb kann in einem Betrieb die Arbeitslosigkeit herrschen, während in einem anderen Betrieb zur selben Zeit ein offenkundiger Mangel an Arbeitskräften zu verzeichnen ist. Aufgrund der schweren körperlichen Arbeit erkranken in einigen Industriebranchen die Arbeiter, während in anderen Industriezweigen der Produktionsprozess ständig unrationell organisiert ist, weil die Maschinerie und das niedrige Lohnniveau den Kapitalisten trotzdem einen hinreichend hohen Profit garantieren. Nur durch eine planvolle Erfassung und Verteilung der menschlichen Arbeitskraft können die Arbeiter und Arbeiterinnen vor dem schrecklichen Gespenst der Arbeitslosigkeit bewahrt werden. In der Sowjetunion ist die Arbeitslosigkeit heute vollständig verschwunden. Dies ist natürlich für die gesamte Arbeiterklasse eine wesentliche Verbesserung.

Ein weiterer wichtiger Schritt in der Sowjetunion zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität ist der unmittelbare Übergang zur kommunistischen Distribution. Die bisherige enorme Verschwendung weiblicher Arbeitskraft (schließlich ist der Bevölkerungsanteil der Frauen in Russland größer als der der Männer) ist eine Konsequenz des äußerst unwirtschaftlichen Einfamilienhaushalts. Diese Verschwendung kann erst dann gebremst werden, wenn wir zum kollektiven Kommunehaushalt übergehen. Die von den Sowjets eingerichteten Kindergärten, Kinderkrippen, öffentlichen Kantinen und Freizeitheime ersparen der Frau unproduktive Arbeit. Erst wenn die Frau von der eintönigen Haushaltsarbeit und den anderen Familienpflichten entlastet ist, kann sie ihre gesamte Arbeitskraft für eine gesellschaftlich nützliche Arbeit verwenden. Erst nach einer Veränderung der Lebensbedingungen und einer gründlichen Reform der Lebensgewohnheiten nach sozialistischen Prinzipien kann die allgemeine Arbeitspflicht erfolgreich eingeführt werden. Wenn aber die Einführung der allgemeinen Arbeitspflicht nicht gleichzeitig mit einer Veränderung der Lebensbedingungen und Lebensgewohnheiten gekoppelt ist, dann bedeutet dies für unsere Frauen nur eine zusätzliche Arbeitsbelastung, die auf die Dauer zu einer derartigen Überanstrengung der Frauen führen muss, dass wir von einer echten Gefährdung ihrer Gesundheit und ihres Lebens sprechen müssen. Deshalb wäre auch in der kapitalistischen Gesellschaft die Einführung einer allgemeinen Arbeitspflicht und die damit verbundene Doppelbelastung der Frau eine äußerst reaktionäre Entwicklung. In den sozialistischen Arbeiterrepubliken dagegen bedeutet die Einführung der allgemeinen Arbeitspflicht und parallel dazu die Schaffung neuer Lebensbedingungen, wie z. B. der Ausbau des kollektiven Kommunehaushalts, die Errichtung eines soliden Fundaments für die zukünftige Befreiung der Frau.

Die Überreste der bürgerlichen Traditionen sind aber noch immer ein zäher Bestandteil unserer Sitten und Gebräuche und erhalten eine zusätzliche Unterstützung durch die kleinbürgerlichen Sitten der Bauernklasse. Diese Traditionen erschweren das Leben der Frauen sehr. Die Männer haben unter diesen bürgerlichen Traditionen wesentlich weniger zu leiden, weil auch innerhalb der Arbeiterfamilien die eigene Ehefrau, Mutter oder Schwester die Auswirkungen dieser Traditionen aushalten müssen. Diese doppelte Arbeitsbelastung hat für die Frauen natürlich Konsequenzen. Warum sollen gerade die Frauen ihre Gesundheit aufs Spiel setzen? Deshalb liegt auch eine Umorganisierung des Alltags im Interesse der Arbeiterinnen. Da die Frauen nun einmal geschickte und erfahrene Hausfrauen sind, haben sie auch bisher wesentlich mehr Eigeninitiative und Unternehmungslust entwickelt, als es darum ging, das tägliche Leben wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Wir brauchen also weiter nichts zu tun, als ihre Eigeninitiative zu unterstützen und den notwendigen Spielraum für ihre Initiativen zu sichern. Die Proletarierin ist es gewöhnt, ein ,,Heim aus dem Nichts“ aufzubauen und den Familienhaushalt mit minimalen materiellen Mitteln zu führen. Deshalb ist es auch so wichtig, das Interesse der Frauen an einer kollektiven Organisation des täglichen Lebens zu wecken, weil nur so eine Umorganisierung des täglichen Alltags möglich ist. Eine solche Entwicklung wäre für die Frauen und auch für die gesamte Bevölkerung äußerst vorteilhaft. Wir dürfen uns aber nicht einseitig auf die Veränderungen der Lebensbedingungen fixieren. Genauso wichtig ist es für die Frauen, dass sie selbstbewusster werden. Wir dürfen in unserem Kampf für die Mitarbeit der Frauen in allen lokalen Selbstverwaltungsorganen nicht nachlassen, wenn wir wirklich eine Veränderung der Lebensbedingungen für die Arbeiterklasse erreichen wollen. Aber ohne diese durchgreifende Veränderung der allgemeinen Lebensbedingungen Wird jeder Versuch, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen, ein Schlag ins Wasser bleiben. Deshalb muss es auch im Interesse der übergeordneten Planungs- und Wirtschaftsbehörden sein, dass auch im Betrieb ein Teil der Arbeitszeit für die Veränderung der allgemeinen Lebensbedingungen verwendet wird. Also z. B. die Einrichtung einer Kantine im Betrieb, eines Betriebskindergartens usw. Die Arbeitsstunden, die von den Arbeitern und Arbeiterinnen für die Einrichtung dieser kommunistischen Institutionen verwendet werden, müssen als Teil der obligatorischen Arbeitszeit angerechnet werden. Nur dann können wir eine durchgreifende Veränderung der allgemeinen Lebensbedingungen erreichen. Die Frauenabteilungen müssen zusammen mit der Betriebs- und Gewerkschaftsleitung Modelle entwickeln, die einerseits eine möglichst produktive Verwendung der weiblichen Arbeitskraft garantieren und andererseits die Arbeiterinnen vor Arbeitsüberlastung beschützen. Arbeitszeit und Freizeit gehören zusammen. Die Planung des kommunistischen Alltags ist genauso wichtig wie die Planung der Produktion. Wenn wir wirklich eine volle Entfaltung der Produktivkräfte anstreben, dann muss diese notwendige Vorarbeit geleistet werden. Bei der Planung und der Organisation der Produktion müssen also alle Faktoren berücksichtigt werden, die den täglichen Alltag erleichtern und dem sinnlosen und unwirtschaftlichen Verschleiß der weiblichen Arbeitskraft ein Ende machen. Ich wiederhole noch einmal: Die Veränderungen der Lebensbedingungen müssen Hand in Hand mit der Einführung der allgemeinen Arbeitspflicht erfolgen. Dies bedeutet eine Intensivierung der Initiativen, die prinzipiell die kollektive Kommunehaushaltung anstreben. Wenn uns dies gelingt, dann wird das sozialistische Wirtschaftssystem, das zur Zeit unter der Diktatur des Proletariats aufgebaut wird und das auf die aktive Mitarbeit der gesamten Bevölkerung in der Produktion angewiesen ist, zu einer in der bisherigen Geschichte der Menschheit noch nicht dagewesenen Veränderung führen: zur gleichberechtigten Stellung der Frau in der Gesellschaft.

In der Sowjetunion müssen sich heute alle Frauen zwischen dem 16. und 40. Lebensjahr (soweit sie nicht in der Produktion oder in der staatlichen Verwaltung beschäftigt sind) an Arbeitseinsätzen beteiligen. Nach den allgemeinen Wirren muss endlich die Produktion wieder in Gang kommen. Diese Arbeitspflicht gilt nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem Lande. Auch für die Bäuerinnen, die genauso wie die Bauern diese periodisch sich wiederholenden Arbeitseinsätze für die Gesellschaft leisten. Die Bäuerinnen und Bauern werden zu Kutscherdiensten herangezogen, sie helfen beim Transport des Brennholzes, beim Straßenbau oder bei der Einrichtung von Baumschulen. Einige Bäuerinnen nähen auch Uniformen für die Soldaten der Roten Armee. Diese Arbeitspflicht bedeutet für die Bäuerinnen ganz eindeutig eine zusätzliche Belastung, da sich bis heute die Lebensbedingungen auf dem Lande nicht verändert haben. Dort gibt es weder Kinderheime noch Werkskantinen,und dies bedeutet natürlich, dass die Bäuerinnen nach wie vor die gesamte Hausarbeit allein verrichten müssen. Dennoch wird die Tatsache dass die Gesellschaft die Bäuerinnen als produktive Arbeitskraft anerkennt, auf die Dauer ihr Leben verändern und zu einer Aufwertung ihres sozialen Status führen. Der Bauer selbst denkt sich: „Wenn sogar der Staat meine Alte als selbständige Arbeitskraft akzeptiert, na ja, dann taugt sie vielleicht doch was.“ Die zutiefst traditionelle und grenzenlose Unterschätzung der „Alten“ auf dem Lande muss jetzt einer neuen Einsicht weichen. Zwar hat eine gewisse Kräfteverschiebung im Verhältnis von Mann und Frau stattgefunden, jedoch können wir noch nicht von einer Hochachtung des Mannes gegenüber der Frau sprechen.

In den Städten gilt die Arbeitspflicht für all die Frauen, die kein Arbeitsbuch besitzen, d. h. die weder in einer Fabrik oder in einer Werkstatt noch in der Parteiarbeit beschäftigt sind. Diese Frauen arbeiten im Gesundheitswesen, im Krankenhaus oder beim Schneeschippen. Andere Frauen verteilen das rationierte Brennholz oder kehren die Straßen und Treppen der Stadt. Diese allgemeine Arbeitspflicht hat sich bereits jetzt als eine wichtige Antriebskraft für die soziale Befreiung der Frau erwiesen. Ihr ganzes Leben hat sich von Grund auf geändert, dadurch wird natürlich auch das Verhältnis von Mann und Frau beeinflusst. Es wäre jedoch naiv, wenn wir annehmen würden, dass durch die Einführung der Arbeitspflicht bereits eine ausreichende Grundlage für eine echte Befreiung der Frau geschaffen worden ist. Wir dürfen nicht die verschiedenen Funktionen der Frauen in der Gesellschaft vergessen, einerseits als produktive Arbeitskräfte für die Volkswirtschaft, andererseits als Mütter der Generationen von morgen. Kein Arbeiterstaat darf diese besonders wichtige Aufgabe der Frau übersehen. Unsere Partei hat aufgrund einer Initiative der Frauenabteilung und in sehr enger Zusammenarbeit mit uns eine Regelung ausgearbeitet, durch die die Gesundheit und die Arbeitskraft der Frau geschützt werden. Bei dieser gesetzlichen Regelung berücksichtigten wir besonders die Lebensbedingungen in der jetzigen Transformationsperiode. Da alle Bürger in der Sowjetunion eine produktive Arbeit für die Gesellschaft leisten müssen, galt unser Interesse den Müttern und Hausfrauen, für die eine besondere gesetzliche Regelung getroffen wurde. Alle Männer zwischen dem 16. und 50. Lebensjahr unterliegen der allgemeinen Arbeitspflicht, für Frauen ist aber die entsprechende obere Altersgrenze das 40. Lebensjahr. Alle Arbeiter und Arbeiterinnen, die nachweisen können, dass ihre Gesundheit gefährdet ist, werden von der allgemeinen Arbeitspflicht befreit; diese Regelung gilt auch für Frauen, die 45 % ihrer Arbeitsfähigkeit eingebüßt haben. Natürlich gilt die allgemeine Arbeitspflicht nicht für Schwangere. Die Regelung bestimmt, dass jede werdende Mutter 8 Wochen vor und nach der Geburt von jeder Arbeit befreit wird. Die Regelung bestimmt außerdem, dass eine Mutter, die ein Kind von unter 8 Jahren zu versorgen hat, nicht arbeiten darf, wenn kein andres Familienmitglied ihr Kind zu Hause betreut. Auch jene Frauen, die eine Familie von mehr als 5 Personen versorgen müssen, sind von der allgemeinen Arbeitspflicht befreit. In den Erläuterungen des „Rates für Arbeit und Verteidigung“ wird außerdem betont, dass die Frauen in der Regel nur für leichte Arbeiten eingesetzt werden sollen. Alle Frauen in den Städten mit Kindern unter 14 Jahren und alle Frauen auf dem Lande mit Kindern unter 12 Jahren sind von einem Arbeitseinsatz außerhalb ihres Wohnortes befreit.

All die Fragen, über die wir heute gesprochen haben, haben natürlich überhaupt nichts mit den abstrakten Prinzipien über die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern zu tun, die die bürgerlichen Feministinnen aufgestellt hatten! Wir vertreten in unserer Sowjetrepublik folgende Auffassung zur Frage der Frauenarbeit: Gleichberechtigung, Mutterschutz und besondere Rechte. Die allgemeine Arbeitspflicht ist ein wichtiger Bestandteil unserer neuen Gesellschaftsordnung, und sie ist außerdem auch ein Instrument für eine gründliche Lösung der Frauenfrage. Diese Tendenz muss jedoch durch einen erweiterten Schutz der Mutter unterstützt werden, nur so können wir die Arbeitskraft und die Gesundheit kommender Generationen garantieren. Nur wenn die Arbeiterklasse die Macht im Staate übernimmt, und die Frauen gesellschaftlich nützliche Arbeit leisten, kann der schon seit Jahrtausenden andauernden Entmündigung der Frau unwiderruflich ein Ende gesetzt werden. Der Weg zur völligen Befreiung der Frau geht über die Diktatur des Proletariats.

11. Die Diktatur des Proletariats: Arbeitsbedingungen und Arbeitsschutzbestimmungen

Während der letzten Vorlesung haben wir die neue Produktionsweise, die unter der Diktatur der Arbeiterklasse entsteht, nur in ihren groben Umrissen skizzieren können. Wir haben aber bereits herausgearbeitet, welchen Stellenwert die allgemeine Arbeitspflicht für die Befreiung der Frau in unserer Arbeiterrepublik hat und werden uns heute mit der Frauenarbeit noch genauer beschäftigen. Wir werden außerdem untersuchen, wie sich die Lebensbedingungen im Detail verändern werden, wenn der private Einfamilienhaushalt durch öffentliche Speiseanstalten, durch ein staatliches Erziehungswesen und den gesetzlichen Mutterschutz ersetzt worden ist. In Russland lebten vor der Revolution ungefähr 5 Millionen berufstätige Frauen. Zahlenmäßig waren diese arbeitenden Frauen also eine große Gruppe; dennoch machten sie nicht mehr als 8 % der gesamten weiblichen Bevölkerung Russlands aus. Während des Weltkrieges wuchs die Zahl der arbeitenden Frauen rasch an. Bereits im Jahre 1914 stieg der Anteil der Frauenarbeit in der Industrie auf 32 % und im Januar 1918 auf 40 % an. 40 % aller Arbeiter und Angestellten waren laut einer Berufszählung aus dem Jahre 1918 Frauen. Eine äußerst unvollständige Statistik des „Gesamtrussischen Zentralrates der Gewerkschaften“ lässt vermuten, dass zum Jahresende 1921 in der Industrie und im Transportwesen mehr als zwei Millionen Frauen beschäftigt waren. (In dieser Statistik sind auch die Landarbeiterinnen erfasst, während die selbständigen Bäuerinnen unberücksichtigt bleiben.) In sechs Berufszweigen und den dazugehörigen Berufsgewerkschaften stellen die Frauen die Majorität. In den öffentlichen Volkskantinen sind 74,5 % der Gesamtbelegschaft Frauen, in den Schneiderwerkstätten 74,2 %, in der Tabakindustrie 73,5 %, in der Berufsgewerkschaft „Kunst“ 71,4 %, im Gesundheitswesen 62,6 %, und in der Textilindustrie sind es 58,8 %. In den Privathaushalten stellen die Frauen außerdem 53,2 % aller Dienstboten. Die meisten Frauen arbeiten also in der Textilindustrie, im Gesundheits- und Transportwesen, in den Schneiderwerkstätten, in der öffentlichen Verwaltung, in der Metallindustrie, in künstlerischen Berufen, in den Schulen und Propagandakomitees.

In sechs Produktionszweigen arbeiten heute mehr Frauen als Männer, und in zehn weiteren Produktionszweigen liegt der Anteil der Frauenarbeit zwischen 25 und 50 Prozent der Gesamtbelegschaft. Die Frauenarbeit ist also nicht mehr die Ausnahme, aber ungeachtet dessen müssen wir leider feststellen, dass die aktive Mitarbeit der Frauen in der Wirtschaftsverwaltung, in den Betriebskomitees und in den Volkswirtschaftsräten außerordentlich gering ist. Das Bewusstsein und die traditionellen Sitten können offenbar nicht Schritt halten mit den gewaltigen Veränderungen im Produktionssektor, deren Zeugen wir heute alle sind. Die Frauenarbeit ist heute ein fester Bestandteil der Volkswirtschaft. Nur durch die Mitarbeit der Frauen können wir eine Produktionssteigerung erreichen. Es darf keine Parasiten mehr geben, dies ist das Prinzip, auf dem wir unser gesamtes gesellschaftliches System aufbauen. Zu diesen Parasiten rechnen wir auch die berufsmäßigen Bettgespielinnen, und es spielt überhaupt keine Rolle, ob sie diese Funktion als Ehefrauen oder Prostituierte ausüben. Trotz alledem ist das Vorurteil über die Minderwertigkeit der Frau in den Köpfen so fest verankert, dass auch in der Sowjetunion, wo die juristische Gleichstellung von Mann und Frau verwirklicht worden ist, wo die Frauen in allen gesellschaftlichen Sektoren mitarbeiten, wo die Frauen aktiv in den Reihen der Roten Armee mitkämpfen, dieses Vorurteil noch so stark ist, dass es dem Selbstbewusstsein der Frau häufig einen bösen Streich spielt. Ich möchte dies nun anhand einiger typischer Zahlenangaben illustrieren:

Anteil der Frauen an der Gesamtzahl der Gewerkschaftsmitglieder und Anteil der Frauen in den Betriebskomitees

Gewerkschaft derFrauen in % der
Mitglieder
Frauen in % der
Betriebskomitees
Arbeiter der Volksernährung (Öffentliche Volkskantinen)73,5 %30,9 %
Schneider69,1 %25,7 %
Tabakarbeiter67,8 %36,6 %
Lehrer (Volksaufklärung)65,2 %37,7 %
Textilarbeiter60,2 %  9,3 %
Medizin- und Sanitätsarbeiter52,7 %20,2 %
Künstler39,3 %  9,2 %
Chemiearbeiter35,6 %  8,6 %
Arbeiter in der Papierindustrie34,3 %10,1 %
Arbeiter in den Sowjets (Öffentlicher Dienst)34,3 %11,4 %
Druckereiarbeiter33,3 %  9,6 %
Journalisten32,5 %13,2 %
Arbeiter in den Kolchosen22,5 %  8,1 %
Land- und Forstarbeiter19,8 %  6,2 %
Arbeiter in der Lebensmittelindustrie18,3 %  4,3 %
Metallarbeiter16,6 %  1,8 %
Holzarbeiter16,4 %  5,5 %
Transportarbeiter14,5 %  5,0 %
Arbeiter in der Lederindustrie13,8 %  2,7 %
Bauarbeiter11,8 %  2,9 %

In der Textilindustrie z. B. ist der absolute und relative Anteil der Frauenarbeit sehr groß. Von den 194 Mitgliedern der leitenden Organe der Textilarbeiter in 38 Gouvernements in Russland sind aber nur 10 Arbeiterinnen. In den Betriebskomitees der Textilfabriken ist die Mitarbeit von Frauen immer noch eine Ausnahme.

Dies gilt besonders seit der Einsetzung von verantwortlichen Betriebsinspektoren. Es ist außergewöhnlich selten, dass eine Frau in einer Haupt- oder Zentralverwaltung (Glawki oder Zentren) mitarbeitet. Auf dem VIII. Parteitag der Kommunistischen Partei Russlands im März 1919 fasste die Frauenabteilung des Zentralkomitees aufgrund dieser Entwicklung einen Beschluss, in dem gefordert wurde, dass die Arbeiterinnen und Bäuerinnen an der Arbeit sämtlicher Volkswirtschaftsräte und zwar in allen Produktionssektoren beteiligt werden. Dieser Beschluss stieß bei den Parteitagsdelegierten übrigens auf starken Widerstand und wurde erst angenommen, nachdem der Genosse Samoilow und ich uns geduldig, aber auch äußerst energisch und zäh für diese Resolution eingesetzt hatten. Wir sollten uns selber nichts vormachen, denn es war teilweise unser eigener Fehler, wenn wir Frauen auch heute kaum in den Haupt-und Zentralverwaltungen vertreten sind. In der ersten Zeit nach der Revolution konzentrierten die Frauenabteilungen ihre Arbeit hauptsächlich darauf, die Frauen für die Mitarbeit in den örtlichen Räten zu gewinnen. Vor allem jene Arbeitsbereiche der Räte waren damals für uns attraktiv, die die Bedingungen für die Befreiung der Frau schufen und ihr tägliches Leben erleichterten. Es waren dies die Bereiche der Erziehung, Öffentliche Volkskantinen und Mutterschutz. Seit dem Herbst 1920 hat sich der Schwerpunkt unserer Agitation verlagert. Wir sind optimistisch und wir haben alle Gründe dazu, denn unsere Frauenabteilungen propagieren eine verstärkte Mitarbeit der Frauen beim Wiederaufbau der Industrie, und wir sind davon überzeugt, dass der Anteil der Arbeiterinnen und Bäuerinnen, die sich aktiv am Aufbau der neuen Produktionsweise beteiligen, rasch zunehmen wird. Wir wollen nun jedoch zu den Problemen zurückkehren, die durch die Frauenarbeit in der Sowjetunion entstanden sind. Wie sind eigentlich die Arbeitsbedingungen in dieser ersten Arbeiterrepublik in der Menschheitsgeschichte, in diesem Experimentierfeld, auf dem die Saat zukünftiger kommunistischer Gesellschaften zu keimen beginnt?

Obwohl die Frau seit dem Mittelalter Seite an Seite mit dem Manne ihre Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt anbieten musste, wurde die Frau für dieselbe Arbeit schlechter bezahlt als der Mann. Deshalb ist es für uns besonders wichtig, dass wir uns mit der Frage des Arbeitslohns für Frauen beschäftigen. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts vertreten nicht nur die bürgerlichen Feministinnen Forderung „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, sondern so lautete auch eine Forderung des klassenbewussten Proletariats, die aber in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung nie durchgesetzt werden konnte.

Der Grund für diese Entwicklung war folgender: die organisierte Arbeiterklasse war zwar durchaus in der Lage, diese Forderung in einzelnen Produktionszweigen durchzusetzen und auch zu verteidigen, zur selben Zeit strömten aber ununterbrochen neue und gewerkschaftlich unorganisierte weibliche Arbeitskräfte auf den Arbeitsmarkt. Natürlich führte dies in der Regel zu einer Senkung der relativen Arbeitslöhne für die Frauen im gesamten Lande. Dieses Missverhältnis, das im Kapitalismus nicht zu beseitigen ist, wurde in der Räterepublik nach der Revolution sofort aufgehoben. Die Geschlechtszugehörigkeit bestimmt nicht länger die Höhe des Arbeitslohnes. In allen Produktionszweigen, im Verkehrswesen, in der Landwirtschaft und im öffentlichen Dienst werden die Tarifverträge zwischen der jeweiligen Gewerkschaft und dem „Gesamtrussischen Zentralrat der Gewerkschaften“ vereinbart. Die Höhe des Arbeitslohnes ist also vom Typ der geleisteten Arbeit abhängig, und die Bewertungskriterien für die verschiedenen Lohnkategorien sind z. B.: Notwendige vorherige Ausbildung, eventuelle Gefahrenmomente, besonderer Schwierigkeitsgrad usw. Angebot und Nachfrage bestimmen nicht mehr länger die Höhe des Arbeitslohnes. Der Arbeitslohn ist auch nicht länger das Resultat von Lohnkämpfen der Gewerkschaften gegen die Unternehmer. Heute ist der Arbeitslohn kein Glückstreffer mehr, sondern er wird von den Arbeitern selbst festgelegt. Die vom „Gesamtrussischen Zentralrat der Gewerkschaften“ akzeptierten Tarife sind für alle Betriebe der betreffenden Branche verbindlich und zwar in der gesamten Arbeiterrepublik. Eine Umfrage unter den Arbeitern in Moskau zeigt uns, dass das Durchschnittseinkommen der jugendlichen Arbeiterinnen unter 18 Jahren in mehreren Branchen dem Durchschnittseinkommen der jugendlichen Arbeiter unter 18 Jahren entspricht oder dieses sogar übertrifft. Die folgende Tabelle zeigt den durch Tarifverträge geregelten Durchschnittslohn für einige Produktionszweige auf:

ProduktionszweigArbeiterArbeiterinnen
Chemische Industrie6,27,1
Tabakindustrie4,35,7
Kolchos6,35,0
Gesundheitswesen2,85,1
Textilindustrie3,74,1
öffentliche Volkskantinen3,53,2

Wenn wir diese durchschnittlichen Tariflöhne für Arbeiter und Arbeiterinnen miteinander vergleichen, dann entsteht der Eindruck, dass die Arbeiterinnen unter 18 Jahren im Vorteil sind. Dieselbe Umfrage zeigt aber auch, dass der Durchschnittslohn aller Frauen halb so groß ist wie der Durchschnittslohn aller männlichen Arbeiter. Diese Ungleichheit der Arbeitslöhne erklärt sich durch die Tatsache, dass auch in unserer Räterepublik die Quote der unqualifizierten Arbeiterinnen größer ist als die der unqualifizierten Arbeiter. Solange die Berufsausbildung für Frauen nicht stärker gefördert wird, bleibt das von unserer Arbeiterrepublik feierlich verkündigte edle Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ nichts als leeres Wortgeklingel.

Nach der Oktoberrevolution bemühte sich der „Oberste Volkswirtschaftsrat“ den Arbeitslohn nicht nur durch Lohn, sondern auch in Form von Naturalien zu vergüten. Neben dem Hauptteil des Lohnes als Geldlohn erhält der Arbeiter nicht nur die obligatorische Brotration, auf die jeder Sowjetbürger mit einem Arbeitsbuch ein Anrecht hat, sondern auch Naturalzuweisungen in Form von Brennholz, Petroleum, Arbeitskleidung, Kantinenessen und Wohnung. Für diese Zuweisungen brauchten die Arbeiter entweder gar nichts zu bezahlen oder einen durch den örtlichen Sowjet festgelegten Preis.

Nachdem der „Rat für Arbeit und Verteidigung“ erneut eine Kursänderung in der Wirtschaftsordnung vorgenommen hat, werden wir auch zu einem neuen Lohnsystem übergehen. Ich wollte Euch heute jedoch vor allem auf die Entlohnung in Form von Naturalien aufmerksam machen, wie sie in den ersten Jahren nach der Revolution in unserem Lande praktiziert worden ist. Diese Naturalwirtschaft ist ein wichtiger Versuch gewesen, den Produktionssektor organisch mit dem Konsumsektor zu verbinden, um die tiefe Kluft zu überbrücken, die durch das kapitalistische System zwischen beiden Sektoren geschaffen worden ist. Durch eine Weiterentwicklung der Naturalwirtschaft würde natürlich der Handel überflüssig. Diese Errungenschaft des Kapitalismus wäre dann dem Untergang geweiht. Leider können wir jedoch dieses kühne und historisch wichtige Experiment nicht fortsetzen. Unsere große Armut, die Krise unserer Industrie und die völlige Isolierung vom Weltmarkt machen es uns im Moment unmöglich, das Fundament unserer gesamten Volkswirtschaft zu reorganisieren. Sowohl die Bezahlung in Form von Naturalien als auch die Einrichtung von Kantinen sind Entlohnungsformen, die im Prinzip auch in einer kapitalistischen Wirtschaft möglich sind. Diese Formen des Entgeltes können zwar zeitweilig zu einer höheren Arbeitsproduktivität führen, für sich allein genommen führen sie aber nicht zum Aufbau einer neuen Produktionsweise.

Sind die im Augenblick für die Arbeiterinnen geltenden Lohnkategorien zufriedenstellend? Nein. Natürlich nicht. Die Versorgung der Bevölkerung im heutigen Sowjetrussland lässt noch einiges zu wünschen übrig. Es kommt immer noch vor, dass die Naturalzuweisungen unvollständig oder verspätet eintreffen. Andererseits herrscht kein Mangel an Textilartikeln, und Brennholz und Petroleum erreicht den Einzelverbraucher oft schneller als die Betriebe. Nach wie vor müssen die Arbeiterinnen aber immer noch Waren auf dem freien Markt kaufen. Die ständig steigenden Preise für diese Waren bringen die Arbeiterin in eine schwierige Situation. Die großartigen Errungenschaften der Revolution werden in den Augen der Arbeiterinnen durch die gegenwärtig noch bestehenden Schwierigkeiten in den Schatten gestellt. Andererseits werden diese Errungenschaften von der Arbeiterklasse aber auch nicht in Frage gestellt. Wenn heute irgend jemand den Arbeitern den Vorschlag machen würde, das Rad der Geschichte in die Periode des Kapitalismus zurückzudrehen, dann wären ganz bestimmt nur sehr wenige Arbeiter dazu bereit, diesen Schritt aus dem Reich der Zukunft in das Reich der bürgerlichen Vergangenheit mitzugehen.

Um eine umfassende Vorstellung über die Situation der Frauen unter der Diktatur des Proletariats zu erhalten, werden wir jetzt untersuchen, wie die allgemeinen Regeln über den Arbeitsschutz in der Arbeitsgesetzgebung in Sowjetrussland aussehen. Die wichtigste Errungenschaft der Revolution ist für die Arbeiter und Arbeiterinnen natürlich der Achtstundentag. Falls der Entwicklungsstand der Produktivkräfte die Einführung des Dreischichtenbetriebes nicht ermöglicht, darf die durchschnittliche Beschäftigungszeit für alle erwachsenen Arbeiter die Achtundvierzigstundenwoche nicht überschreiten. In besonders gesundheitsschädlichen Betrieben – z. B. in der Tabakindustrie und in einigen Fabriken der chemischen Industrie – ist die tägliche Arbeitszeit auf sechs beziehungsweise sieben Stunden herabgesetzt worden. Es gibt ein generelles Verbot der Nachtarbeit für Frauen und für männliche Arbeiter wurde die Nachtarbeit auf sieben Stunden begrenzt. Die Büroarbeitszeit für Angestellte und Intellektuelle ist auf sechs Stunden verkürzt worden. Die Mittagspause muss mindestens eine halbe bis zwei Stunden lang sein. Jeder Arbeiter hat einen Anspruch auf eine wöchentliche Ruhepause, die 42 Stunden ohne Unterbrechung dauern muss. Der Jahresurlaub beträgt vier Wochen beziehungsweise zwei Wochen innerhalb eines halben Jahres. Die Beschäftigung von Jugendlichen unter 16 Jahren ist generell verboten und Jugendliche zwischen dem 16. und dem 18. Lebensjahr dürfen höchstens sechs Stunden am Tag arbeiten.

Diese Vorschriften werden in der Praxis leider nicht überall eingehalten. In den hektischen Jahren des-Bürgerkrieges war man häufig gezwungen, gegen diese Vorschriften zu verstoßen. Oft mussten direkt hinter der Front notwendige Arbeiten intensiv durchgeführt werden. Die Urlaubszeit für männliche Arbeiter wurde von vier auf zwei Wochen reduziert, die Anzahl der Überstunden und die Nachtarbeit nahmen ständig zu, und für die 14- bis 16jährigen wurde eine Arbeitszeit von vier Stunden täglich erlaubt. Das Volkskommissariat für Arbeit ordnete am 4. Oktober 1919 eine Sonderregelung an, die Nachtarbeit für Frauen nach einer vorherigen Absprache zwischen der örtlichen Gewerkschaft und der lokalen Kommission für Arbeitsschutz in bestimmten Industriezweigen zeitweilig zulässt. Für werdende Mütter und stillende Frauen ist die Nachtarbeit nach wie vor verboten.

Die sowjetischen Arbeitsgesetze schützen die Frauen. Überstunden, Nachtarbeit und Frauenarbeit im Untertagebetrieb sind verboten. Aufgrund des großen Arbeitskräftemangels und der Notwendigkeit, alle verfügbaren Arbeitskräfte in den Produktionsprozess einzugliedern, werden im allgemeinen Durcheinander diese Vorschriften jedoch nicht befolgt.

Aufgrund besonderer Verordnungen dürfen Frauen nur zu solchen Arbeiten herangezogen werden, die ihre „Kräfte nicht überanspruchen“ und die Beschäftigung von weiblichen Arbeitern in gesundheitsschädlichen Produktionszweigen ist generell verboten. Z. B. verbietet eine der erwähnten Verordnungen den Einsatz von Arbeiterinnen in allen Arbeitsverrichtungen, bei denen Gegenstände angehoben werden müssen, die mehr als 10 Pfund wiegen. Aber alle diese Arbeitsschutzvorschriften für unsere Männer und Frauen werden in der Praxis weitgehend ignoriert. Ursprünglich gingen unsere Arbeiter- und Bauerndeputierten davon aus, dass diese Vorschriften genau eingehalten werden. Der augenblicklich chaotische Zustand unserer Volkswirtschaft und teilweise auch der Mangel an Arbeitskräften machten dies aber unmöglich. Während in den kapitalistischen Staaten eine ständige Arbeitslosigkeit existiert, leidet unsere Arbeiterrepublik permanent unter einem Arbeitskräftemangel. Ein zweckmäßiger, aber auch funktionierender Arbeitsschutz in unseren Betrieben und Werkstätten setzt die Installierung der entsprechenden hygienischen Einrichtungen voraus, erst dann können die sanitären Vorschriften auch tatsächlich eingehalten werden. Z. B. braucht man für den Einbau von notwendigen Entlüftungsanlagen, Zentralheizungen und Kanalisationen entsprechende Arbeitskräfte, Baumaterialien und technisches Wissen, aber in unserer armen Arbeiterrepublik fehlen eben diese Voraussetzungen. Es ist ein äußerst schwieriges Problem, die Arbeitsintensität unter unerträglichen sanitären und hygienischen Bedingungen zu erhöhen und die Gesundheit und das Leben unseres Proletariats zumindest zeitweilig ernsthaft zu schützen. Unsere Arbeiterrepublik kann also auf dem Sektor des allgemeinen Arbeitsschutzes noch keine rühmlichen Leistungen vorweisen, andererseits kann sie dennoch mit Recht auf unsere Sozialgesetzgebung auf dem Gebiet des Mutterschutzes und der Säuglingsfürsorge stolz sein.

Auf diesem Sektor haben wir nicht nur weitgehend die bisher fortschrittlichsten Länder überholt, sondern sogar die radikalsten Forderungen der Sozialistinnen übertroffen. Den Gesetzen zum Schutze der Mutter liegt eine ausführliche und programmatisch gegliederte Resolution zugrunde, die auf dem 1. allrussischen Arbeiterinnen-Kongress im November 1919 angenommen wurde. Der Grundgedanke dieser Gesetze ist folgender: Nur die berufstätigen Frauen haben ein Anrecht auf den staatlichen Mutterschutz, jene Frauen also, die nicht von der Ausbeutung der Arbeitskraft anderer leben. Der Staat garantiert allen Frauen, die physische Arbeit verrichten, 16 Wochen Schwangerschaftsurlaub. Berufstätige Frauen, die Kontor- oder geistige Arbeit verrichten, erhalten 12 Wochen Schwangerschaftsurlaub. Die Höhe des staatlichen Urlaubsgeldes entspricht dem bisherigen durchschnittlichen Arbeitsverdienst, eventuelle Lohnprämien und bezahlte Überstunden eingeschlossen. Natürlich erhalten auch die Ehefrauen von Arbeitern eine staatliche Unterstützung, die aufgrund des örtlichen Durchschnittseinkommens berechnet wird. Das Volkskommissariat für Arbeit erließ darüber hinaus im November 1920 eine Verordnung, die auch Angestellte, die eine besonders anstrengende Arbeit verrichten, mit der Gruppe der Industriearbeiterinnen gleichstellt. Telefonistinnen, Stenotypistinnen, Ärztinnen, Krankenschwestern usw. haben ebenfalls ein Anrecht auf einen bezahlten 16wöchigen Schwangerschaftsurlaub. Eine weitere Verordnung vom November 1920 garantiert den schwangeren Frauen und Müttern auch während dieser Urlaubszeit die bisherige Lebensmittel- und Brennholzration.

Stillende Mütter erhalten während der ersten neun Monate nach der Geburt zusätzlich noch eine finanzielle Unterstützung. Dieses Stillgeld entspricht der Hälfte des tariflich festgelegten Mindestmonatsgehaltes am Wohnort. Zusätzlich hat jede Mutter einen Anspruch auf eine Ration Babyausstattungsartikel und auf 15 Arschin Stoff Trotz des großen Mangels sorgt die Arbeiterrepublik für die Mütter und Kleinkinder. Die Säuglings- und Mutterschutzabteilung ist in letzter Zeit dazu übergegangen, Babykleidung an die Mütter zu verteilen. Aufgrund des Arbeitsschutzgesetzes dürfen stillende Mütter nicht gezwungen werden, in Orten zu arbeiten,die mehr als 2 Werst von ihrem Wohnort entfernt liegen.

Wir haben eine einheitliche Ration für alle berufstätigen Menschen eingeführt. Dies bedeutet, dass bewaffnete Abteilungen von Arbeitern alle zugänglichen Nahrungsvorräte auf dem Lande requirieren und dass diese Lebensmittel anhand eines Kartensystems an die Werktätigen verteilt werden.

Diese Mutterschutzversorgung kostete unserer Arbeiterrepublik im Jahre 1920 mehr als 34 Milliarden Rubel. Genosse Lebedjew hat mit Recht darauf hingewiesen, dass eine solche Verteilung von staatlichen Mitteln nur unter der Diktatur des Proletariats möglich ist. Denn die Arbeiterklasse ist selbstverständlich am Wohlergehen der kommenden Generationen ernsthaft interessiert und zwar ganz einfach schon deshalb, weil diese Generationen die zukünftige kommunistischen Gesellschaft aufbauen werden.

Der Schutz und die Verteidigung der Mutterschaft ist auf dem sozialen Sektor die größte Errungenschaft unserer Revolution. Diese Initiative erleichtert nicht nur die Eingliederung der Frauen in das Kollektiv, sondern auch die natürliche Aufgabe der Frau in der Gesellschaft, die der Mutterschaft. Unsere Arbeiterrepublik kann auf diesen Mutterschutz wahrhaftig stolz sein.

Hiermit schließe ich meinen Bericht über die allgemeinen Gesetze über den Arbeitsschutz für Frauen in unserer heutigen Arbeiterrepublik ab. Lasst uns nochmal zusammenfassen. Durch die Einführung der allgemeinen Arbeitspflicht hat die Frauenarbeit in unserer Arbeiterrepublik auch auf lange Sicht ihren Stellenwert gesichert. In der Industrie spielt die Frauenarbeit schon heute eine wichtige Rolle. Von den sechs Millionen Arbeitern sind zwei Millionen Frauen. Sie machen also ein Drittel aller Beschäftigten in der Industrie, im Transportwesen, in den landwirtschaftlichen Genossenschaften und Kolchosen und im öffentlichen Dienst (Dienststellen der örtlichen Sowjets) aus. Die Sowjetregierung hat das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ in die Tat umgesetzt, aber die mangelhaften Berufskenntnisse der Arbeiterinnen haben leider zu der Konsequenz geführt, dass die meisten Frauen in unserer Arbeiterrepublik zumindest in den ersten Jahren nach der Revolution unqualifizierte und schlecht bezahlte Arbeiten ausführten. Diese Erfahrung muss jetzt natürlich von den kommunistischen Parteien in den kapitalistischen Staaten verwertet werden, besonders aber von deren Jugendorganisationen.

Die Frage der Berufsqualifizierung der männlichen und weiblichen Arbeiterjugend muss von ihnen aufmerksam beobachtet werden. Denn eine qualifizierte Berufsausbildung kommt in der Periode der Diktatur des Proletariats nicht nur den Arbeiterinnen selbst zugute, sondern auch der sozialistischen Volkswirtschaft. In Sowjetrussland ist der gesetzliche Arbeitsschutz nach wie vor nicht zufriedenstellend, aber wir verteidigen konsequent den Schutz der Frauenarbeit und der Mutterschaft. Der Versuch, den Arbeitslohn durch Naturalienzuteilung zu begleichen, war revolutionär; wir mussten allerdings zeitweilig dieses Experiment abbrechen. Dennoch haben uns die Erfahrungen in den ersten Jahren nach der Revolution davon überzeugt, dass eine derartige gesellschaftliche Initiative unter veränderten ökonomischen und politischen Bedingungen durchaus verwirklicht werden kann.

Damit wollen wir für heute abschließen.

12. Die Diktatur des Proletariats: Die revolutionäre Veränderung des Alltags

In des letzten beiden Vorlesungen haben wir uns mit den objektiven Ausgangsbedingungen für das neue Wirtschaftssystem vertraut gemacht, das das Proletariat in Russland seit seiner Machtergreifung errichtet hat. Die allgemeine Arbeitspflicht ist ein sehr wichtiger Teil dieser neuen Produktionsweise, und wir haben auch gezeigt, wie sich durch diese allgemeine Arbeitspflicht die gesellschaftliche Situation der Frau von Grund auf geändert hat. Heute wollen wir untersuchen, ob und wie dieses neue Wirtschaftssystem den Alltag der Menschen, ihre Gewohnheiten, ihr Bewusstsein und ihre Erwartungen verändert hat. Wir werden außerdem die Anschauungen untersuchen, die diesem neuen Wirtschaftssystem zugrunde liegen, das das Fundament der kommunistischen Gesellschaft sein soll.

Jeder logisch denkende Mensch muss zugeben, dass sich das tagtägliche Leben gewaltig verändert hat. Während der letzten vier Jahre haben wir z. B. in unserer Arbeiterrepublik mit den Ursachen der seit Jahrhunderten währenden Rechtlosigkeit der Frau gründlich aufgeräumt. Unsere Sowjetregierung mobilisiert die Frauen für die Produktion, und der Alltag der Frauen wird nach völlig neuen Prinzipien umgestaltet. Es entstehen überall kollektive Verhaltensweisen, Traditionen, Vorstellungen und Begriffe, welche schon heute auf die künftige kommunistische Gesellschaft hinweisen. Eine der notwendigen Voraussetzungen für die kommunistische Wirtschaft ist die Umorganisierung des Konsums. Die Reorganisierung des Konsumsektors muss aufgrund kommunistischer Prinzipien erfolgen und darf sich keineswegs nur auf die möglichst genaue Berechnung der zukünftigen Nachfrage oder die gerechte Verteilung der vorhandenen Waren beschränken. Seit Herbst 1918 verwirklichen wir in sämtlichen Städten das Prinzip der öffentlichen Volkskantinen, der Einfamilienhaushalt wird durch die öffentlichen Kantinen der örtlichen Sowjets und das kostenlose Mittagessen für Kinder und Jugendliche verdrängt. Ein weiterer Ausbau der öffentlichen Volkskantinen und eine Verwirklichung dieses Prinzips für die gesamte Gesellschaft wird durch unsere Armut und den Mangel an Waren verhindert. Im Prinzip aber praktizieren wir bereits dieses kollektive Versorgungssystem und richten die notwendigen Verteilerstellen ein. Leider fehlen uns aber die Nahrungsmittel für eine planmäßige und zentrale Versorgung.

Die imperialistischen Staaten haben über unser verarmtes Land eine wirkungsvolle und hinterhältige Blockade verhängt. Sie verhindern, dass andere Völker uns Produkte liefern, die wir zentral an die Bevölkerung verteilen könnten, solange wir noch unter einem allgemeinen Mangel an Waren leiden. Trotzdem haben wir es erreicht, dass die öffentlichen Volkskantinen ein fester Bestandteil im Alltag der Stadtbevölkerung geworden sind und dass diese Einrichtung allgemein akzeptiert wird, obwohl die Versorgung unzureichend und das Essen schlecht ist. Es fehlen aber nicht nur Nahrungsmittel, sondern die vorhandenen werden auch oft falsch verwendet. Dennoch wurden in den Jahren 1919–20 fast 90 % der gesamten Bevölkerung in Petersburg und 60 % der Bevölkerung in Moskau durch unsere öffentlichen Volkskantinen versorgt. Im Jahre 1920 wurden zwölf Millionen Menschen in den Städten, einschließlich der Kinder, durch öffentliche Volkskantinen verköstigt. Es ist einleuchtend, dass allein schon diese Veränderung den „Alltag“ der Frauen beeinflusst. Der Küchendienst hatte, noch stärker als die Mutterschaft, die Frau in Fesseln gelegt. Heute ist die Küche nicht länger eine der Säulen, auf der die Existenz der Familie beruht. Natürlich spielt der Einfamilienhaushalt in den Übergangsperiode noch eine wichtige Rolle; daran wird sich auch nicht sehr viel ändern, solange der Kommunismus noch ein Fernziel ist, die bürgerlichen Verhaltensnormen noch nicht überlebt sind und die Volkswirtschaft noch nicht von Grund auf neu organisiert ist. Der häusliche Herd hat aber bereits in der Übergangsperiode seinen Ehrenplatz verloren. Sobald wir unsere Armut und unseren Hunger gebannt haben werden und den allgemeinen Zerfall der Produktivkräfte gestoppt haben, werden wir die Qualität der öffentlichen Volkskantinen erheblich verbessern und die Familienküche wird zur gelegentlichen Aushilfsküche degradiert werden. Denn die Arbeiterin sieht ja schon heute selbst ein, dass sie mit Hilfe von Fertigmahlzeiten enorm viel Zeit sparen könnte. Warum aber schimpft die Arbeiterin heute noch über die öffentlichen Volkskantinen? Die Mahlzeiten, die heute ausgegeben werden, sind nicht nahrhaft genug und sättigen kaum. Deshalb sind die Arbeiterinnen nach wie vor gezwungen, in ihrer eigenen Küche eine Zusatzmahlzeit herzurichten, obwohl sie dazu eigentlich überhaupt keine Lust mehr haben. Wenn die Qualität des Essens in den Volkskantinen besser wäre, würden nur noch sehr wenige Frauen daheim kochen. In der bürgerlichen Gesellschaft war die Frau sehr eifrig bemüht, mit Hilfe ihrer Kochkünste ihren Ehemann und Ernährer bei guter Laune zu halten, denn der Mann war der Versorger der Familie. In einem Arbeiterstaat ist aber die Frau ein selbständiger Mensch und ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft. Ich kann es mir einfach nicht vorstellen, dass es bei uns sehr viele Frauen geben soll, die aus reinem Zeitvertreib am häuslichen Herd stehen wollen, nur um ihren Mann zu beglücken. Wir müssen eben die Männer so umerziehen, dass sie die menschliche Anziehungskraft und Persönlichkeit ihrer Frau und nicht deren Kochkunst schätzen. Vor dem Hintergrund der Geschichte der Frau ist die „Trennung von Küche und Ehe“ tatsächlich eine sehr wichtige Reform; für die Frau nicht weniger wichtig, als die Trennung von Staat und Kirche. In der Praxis ist jedoch die Trennung von Küche und Ehe noch nicht überall verwirklicht, obwohl in unserer Arbeiterrepublik schon in den ersten Monaten nach der Revolution mit der Einrichtung von öffentlichen Volkskantinen begonnen wurde. Die Volkskantinen sind im Gegensatz zum Einfamilienhaushalt eine sinnvolle und gewinnbringende Einrichtung, denn wir sparen Arbeitskräfte, Energie und Nahrungsmittel. Diese praktischen Erfahrungen sind für uns sehr wichtig, weil die Richtlinien für unsere zukünftige Wirtschaftspolitik auf den bisherigen Erfahrungen aufbauen sollen. Die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage hat außerdem zu einem verstärkten Ausbau der öffentlichen Volkskantinen geführt.

Die Lebensbedingungen und das Bewusstsein unserer Frauen werden natürlich auch durch die neuen Wohnverhältnisse beeinflusst. In keinem anderen Land gibt es so viele kollektive Wohnformen wie in unserer Arbeiterrepublik. Kollektive Wohnkommunen, Familienheime und besonders auch die Wohnungen für allein stehende Frauen sind bei uns weit verbreitet. Ihr müsst auch beachten, dass sich sehr viele Menschen um einen Platz in diesen Wohnkommunen bemühen; und zwar tun sie dies nicht aufgrund von irgendwelchen frommen „Prinzipien“ oder aus Überzeugung, wie z. B. die Fourieristen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die damals unter dem Einfluss der sozialistischen Ideen von Charles Fourier durch und durch künstliche und dementsprechend ungemütliche „Phalansterien“ errichteten.

Nein, in unseren Wohnkommunen suchen die Menschen deshalb einen Platz, weil man dort besser und auch bequemer wohnt als in einer Privatwohnung. Die Wohnkommunen werden ausreichend mit Brennholz und Elektrizität versorgt, in den meisten Wohnkommunen gibt es außerdem eine gemeinsame Küche und einen Heißwasserspeicher. Die notwendigen Reinigungsarbeiten werden von bezahlten Putzfrauen erledigt, in einigen Wohnkommunen gibt es eine zentrale Wäscherei, eine Kinderkrippe oder einen Kindergarten. Je stärker sich die allgemeine Krise der Volkswirtschaft bemerkbar machte, Brennholz und Petroleum zu Mangelware wurden und niemand mehr die veralteten Wasserleitungen instand hielt, desto mehr Menschen suchten angestrengt nach einem Wohnplatz in einer Hauskommune. Die Wartelisten für kollektive Hauskommunen werden länger und länger, und die Bewohner unserer Kommunen werden von den Bewohnern der Privatwohnungen beneidet.

Natürlich hat die Hauskommune noch lange nicht das Mietshaus verdrängt und die meisten Stadtbewohner müssen nach wie vor im traditionellen Privathaushalt und in einer abgekapselten Familie leben. Der große Fortschritt besteht jedoch darin, dass wir heute dabei sind, die Sozialnormen des traditionellen Familienlebens zu überwinden. Nun gut, heute mag es ja noch so sein, dass viele alleinstehende Männer und Frauen, aber auch Familien, sich nur aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Situation, in der sie sich befinden, um einen Platz in einer Hauskommune bemühen. Trotzdem ist für uns die Tatsache äußerst interessant, dass unsere Hauskommunen, die ja auch unter ungünstigen Bedingungen entstehen, von vielen Stadtbewohnern in mehrfacher Hinsicht den privaten Mietwohnungen vorgezogen werden. Natürlich werden die kollektiven Wohnformen, sobald ein wirtschaftlicher Aufschwung auch auf dem Wohnungssektor zusätzliche Investitionen ermöglicht, den unwirtschaftlichen Einfamilienhaushalt, in dem die Arbeitskräfte unserer Frauen vergeudet werden, endgültig aus der Konkurrenz werfen. Mehr und mehr Frauen nämlich wird schon heute klar, welche Vorteile das Leben in den Wohngemeinschaften gerade denjenigen Frauen bietet, die unter der Doppelbelastung von Beruf und Familie leiden. Gerade für die werktätigen Frauen bedeutet ein Leben in einer Wohngemeinschaft eine ungeheure Erleichterung; die gemeinsame Küche, die zentrale Wäscherei, die gesicherte Versorgung mit Brennholz, heißem Wasser und Elektrizität und die Arbeit von Putzfrauen ersparen ihr zahlreiche Arbeiten. Jede berufstätige Frau müsste sich deshalb besonders eines wünschen: dass es bald wesentlich mehr Hauskommunen gibt, um der in jeder Hinsicht unproduktiven und kräfteverschleißenden Hausarbeit für immer ein Ende zu machen.

Natürlich gibt es auch noch solche Frauen, die sich verbissen an vergangene Zeiten klammern; bei diesem Durchschnittstypus einer „Ehefrau“ dreht sich das ganze Leben ausschließlich um den häuslichen Herd. Diese legalen Mätressen – häufig auch die Gattinnen von Arbeitern – finden sogar noch innerhalb einer kollektiven Wohngemeinschaft einen Weg, ihr Leben im Dienste des eigenen Kochtopfes zu verbringen. Wenn sich die kommunistische Produktionsweise in unserer Gesellschaft immer mehr durchsetzt, werden diese ausgebeuteten Geschöpfe eines Tages einfach historisch überholt sein. Die Erfahrungen der letzten Revolutionsjahre haben uns bewiesen, dass die kollektiven Hauskommunen nicht nur aus verwaltungstechnischen Gründen eine zweckmäßige Antwort auf die Wohnungsfrage geben, sondern dass diese Wohnform auch den Alltag der berufstätigen Frauen erleichtert. Sogar in der augenblicklichen Übergangsphase bleibt den Frauen, die in Wohngemeinschaften leben, schon jetzt mehr Zeit für ihre Familie und ihren Beruf. Der Einfamilienhaushalt wird deshalb mit der beschleunigten Einrichtung von Hauskommunen mit individuellen Wohneinheiten – die sich selbstverständlich den Bedürfnissen und dem individuellen Geschmack entsprechend unterscheiden werden – endgültig verschwinden. Zugleich wird damit aber auch eine der Säulen der heutigen bürgerlichen Familie fallen. Wenn die Familie aufhört, eine ökonomische Einheit der kapitalistischen Gesellschaft zu sein, kann sie in ihrer jetzigen Form nicht mehr länger existieren. Ich bin jedoch sicher, dass diese Erklärung bei den Anhängern der bürgerlichen Familie und des egoistisch abgekapselten Einfamilienhaushaltes heute noch kein allzu großes Erschrecken auslösen wird. In der jetzigen Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus, also in der Phase der Diktatur des Proletariats, tobt ununterbrochen ein äußerst erbitterter Kampf zwischen den kollektiven Lebens- und Konsumformen und den traditionellen Lebensformen des privaten Einfamilienhaushaltes. Leider gibt es auf diesem Gebiet noch sehr viel zu tun.

Nur durch ein entschlossenes Auftreten jenes Teils der Bevölkerung, der am meisten an einer konsequenten Veränderung der bürgerlichen Familienformen interessiert sein müsste – unsere berufstätigen Frauen also – kann die Entwicklung in die Richtung beschleunigt werden.

Die statistischen Materialien über das Wohnungswesen sind in unserer Republik noch äußerst mangelhaft; dennoch reichen die uns zugänglichen Informationen aus Moskau aus, um die bedeutende soziale Rolle der Hauskommunen zumindest in den größeren Städten aufzuzeigen. Nach diesen Angaben gab es im Jahre 1920 in Moskau insgesamt 23.000 Häuser. In nahezu 40 % dieser Häuser, d. h. in ca. 9.000, gab es entweder kollektive Wohngemeinschaften oder Hauskommunen mit individuellen Wohneinheiten. Wir haben also in unserer Arbeiterrepublik bereits in den ersten Jahren Mittel und Wege gefunden, um die Frauen langsam aber sicher von der unproduktiven Hausarbeit zu befreien.

Dies ist jedoch nur ein weiterer Aspekt der Gesamtproblematik, denn schließlich ist die Frau auch für die Erziehung und den Unterhalt ihrer Kinder verantwortlich. Diese anstrengende Aufgabe fesselt die Frauen besonders fest an ihr Heim und ihre Familie. Durch ihre Politik aber schützt die Sowjetregierung nicht nur die soziale Funktion der Mutterschaft, sondern entlastet die Mütter, indem sie die soziale Verantwortung für die Kinder auf die Gesamtgesellschaft überträgt. Wir konnten eine Reihe von Fehlern bei der Suche nach neuen proletarischen Lebensformen nicht vermeiden und mussten deshalb die allgemeinen Verordnungen mehrfach verändern und verbessern. Trotzdem haben wir in unserer Arbeiterrepublik folgende Probleme richtig angefasst und gelöst: die Fragen des Mutterschutzes und des Arbeitsschutzes für Mütter. Wir erleben auf diesem Gebiet deshalb im Moment eine sehr tiefgreifende und umfassende Revolutionierung der bisherigen Traditionen und Denkweisen, weil wir einerseits bei uns das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft haben und andererseits, weil wir unsere Familienpolitik vor dem Hintergrund der beabsichtigten Industrialisierungspolitik entwickeln. Das wichtigste Problem der kapitalistischen Gesellschaft haben wir auf jeden Fall gelöst.

So haben wir z. B. in unserer Sowjetrepublik die Frage des Mutterschutzes in voller Übereinstimmung mit den wichtigsten ökonomischen Aufgaben gelöst. Um die Produktion wieder in Gang zu setzen und um die Produktivkräfte in unserem Lande zu entwickeln, müssen wir alle potentiellen Arbeitskräfte von ihrer bisherigen unproduktiven Arbeit befreien und diese noch vorhandenen Arbeitskräftereserven für den Wiederaufbau der Volkswirtschaft nützen. Aber gerade deshalb müssen wir auch besonders darauf achten, dass kommende Arbeitergenerationen die Existenz unserer Arbeiterrepublik garantieren. Unsere Arbeiterregierung entwickelt jedenfalls zur Zeit völlig neue Perspektiven. Wenn man diese Perspektiven für richtig hält, dann muss man auch einsehen, dass sich das Problem der Frauenbefreiung und der Mutterschaft bei uns von allein löst. Die Unterhaltspflicht für die kommende Generation ist jetzt nicht länger Aufgabe der Familie, sondern Aufgabe des Staates und der Gesellschaft, und die besondere Fürsorge für unsere Mütter geschieht nicht nur aus Rücksicht auf diese Frauen, sondern weil unser Arbeiterstaat in dieser Übergangsperiode wichtige ökonomische Aufgaben lösen muss: Wir müssen die Frauen von der unproduktiven Arbeit im Dienste der Familie befreien, damit sie endlich auf eine vernünftige Art und Weise – auch im Interesse der Familie – arbeiten können. Die Gesundheit der Frauen muss besonders geschützt werden, weil nur so eine positive Entwicklung des Bevölkerungswachstums in unserer Arbeiterrepublik garantiert werden kann. In der bürgerlichen Gesellschaft verhindert der Klassenantagonismus, die Aufsplitterung der Gesellschaft in Einfamilienhaushalte und natürlich auch die kapitalistische Produktionsweise eine Diskussion über die Frage des Mutterschutzes. Dagegen wird in unserer Arbeiterrepublik in der der Einfamilienhaushalt der kollektiven Volkswirtschaft untergeordnet ist und wo die Gesellschaftsklassen sich auflösen und verschwinden werden, die oben dargestellte Lösung der Frage des Mutterschutzes von der gesellschaftlichen Dynamik selbst gelöst werden. Die augenblickliche Notsituation diktiert diese Lösung geradezu; und außerdem werden die Frauen bei uns als potentieller oder aktueller Teil der Arbeiterklasse behandelt. Die Mutterschaft ist bei uns keine private und familienrechtliche Angelegenheit mehr, sondern eine wichtige soziale und zusätzliche Funktion der Frau. Genossin Wera P. Lebedjewa, erklärte: „Der Mutterschutz und die Fürsorge für die Kleinkinder“ ist ein „Faktor“ innerhalb unserer Politik für die Eingliederung der „Frau in den Arbeitsprozess“.

Wenn wir den Frauen die Mitarbeit in der Produktion ermöglichen wollen, dann muss das Kollektiv den Frauen sämtliche Bürden der Mutterschaft abnehmen, weil sonst die natürliche Funktion der Frauen von der Gesellschaft ausgenutzt wird. Arbeit und Mutterschaft sind dann miteinander vereinbar, wenn die Erziehung der Kinder nicht mehr länger eine private Aufgabe der Familien, sondern eine soziale Aufgabe des Arbeiterstaates ist. Unsere Sowjetregierung hat die Betreuung und Erziehung der Kleinkinder und Kinder zu ihrem Anliegen gemacht. Verantwortlich für diese Aufgabe ist die Abteilung für Mütter und Säuglingsschutz, die unter der Leitung der Genossin Wera P. Lebedjewa steht, und die Abteilung für Sozialpädagogik beim Volkskommissariat für das Bildungswesen. Die Mutter soll prinzipiell von allen Belastungen der Mutterschaft befreit werden, und sie soll das Zusammensein mit dem Kind voll genießen können. Tatsächlich haben wir dieses Ziel noch lange nicht erreicht. Wir stoßen beim Aufbau dieser neuen proletarischen Lebensformen, die die berufstätigen Frauen von ihren Familienpflichten befreien sollen, immer und immer wieder auf dasselbe Hindernis: die wirtschaftliche Not. Doch die wesentlichen Vorarbeiten haben wir bereits geleistet und die richtige Methode für die Lösung der Mutterschaftsfrage entwickelt. Jetzt müssen wir entschlossen auf dem bereits eingeschlagenen Weg weitergehen. In der letzten Vorlesung habe ich die sozialpolitischen Maßnahmen für die Mütter dargestellt. Wir geben uns aber in unserer Arbeiterrepublik nicht damit zufrieden, die Mutterschaft finanziell und materiell abzusichern, sondern versuchen vor allem, die Existenzbedingungen und die Lebensweise der Frauen so zu verändern, dass die Frauen unter den günstigsten Voraussetzungen ihre Kinder zur Welt bringen, und dass die Kinder außerdem die notwendige Fürsorge und Pflege erhalten, die ihre Gesundheit und Entwicklung garantieren. Deshalb hat unser Arbeiter- und Bauernstaat seit der Revolution versucht, ein engmaschiges Netz von sozialen Einrichtungen für die Mütter und die Kleinkinder im ganzen Lande zu errichten. Als ich Volkskommissarin für soziale Fürsorge war, habe ich als erstes die Verordnung über den Frauenschutz ausgearbeitet.

Damals wurde beim Volkskommissariat für das Gesundheitswesen eine Abteilung für Mütter- und Säuglingsschutz, sowie ein „Mutterschutzpalais“ eingerichtet. Seitdem hat sich das System des staatlichen Mutterschutzes natürlich weiterentwickelt und unter der entschlossenen Anleitung unserer mutigen Genossin Wera P. Lebedjewa fest etabliert. Im zaristischen Russland gab es insgesamt nicht mehr als sechs Beratungsstellen für schwangere und stillende Frauen. Heute gibt es dagegen mehr als 200 solcher Beratungsstellen und darüber hinaus noch 138 Milchküchen.

Die Funktion der Mutter muss nicht notwendigerweise darin bestehen, um jeden Preis die Windeln ihres Kindes selbst zu waschen, ihr Baby selbst zu baden und an seiner Wiege zu sitzen. Es ist deshalb unsere Hauptaufgabe, die berufstätige Frau bei der unproduktiven Pflegearbeit für ihr Kind zu entlasten, denn die soziale Funktion der Mutter besteht ja schließlich darin, gesunde und lebensfähige Kinder zur Welt zu bringen. Dies ist auch der Grund, warum unsere proletarische Gesellschaftsordnung die bestmöglichsten Bedingungen für die Schwangerschaft garantiert und warum die Frau ihrerseits sich an die notwendigen hygienischen Vorschriften halten muss. Die Frau muss einsehen, dass sie während der Schwangerschaftsmonate eben nicht ganz und gar ihre eigene Herrin ist. Denn die Frau steht sozusagen im Dienste der Gesellschaft und „produziert“ mit ihrem Körper ein neues Mitglied der Arbeiterrepublik. Es ist außerdem eine weitere Aufgabe der Frau, die sich aus der sozialen Funktion der Mutterschaft ergibt, dass sie ihr Kind mit Ammenmilch ernährt. Nur wenn sie dies tut, hat sie ihre soziale Pflicht gegenüber ihrem Kind erfüllt. Die weitere Fürsorge für die kommende Generation kann nämlich dann vom Kollektiv übernommen werden. Der starke Mutterinstinkt darf natürlich nicht unterdrückt werden, aber warum sollten sich Fürsorge und Liebe der Mutter auf das eigene Kind beschränken? Ist es nicht menschlicher, wenn die Mütter ihren wertvollen Instinkt auf eine sinnvollere Weise verwenden und zwar für die Fürsorge aller schutzbedürftigen Kinder? Denn nicht nur das eigene Kind braucht Liebe und Zärtlichkeit. Deshalb wird in unserer Arbeiterrepublik bei den Frauen folgende Parole propagiert: Du bist nicht ausschließlich die Mutter für deine eigenen Kinder, sondern Mutter für alle Arbeiter- und Bauernkinder. Hinter dieser Losung steht die Absicht, die mütterlichen Gefühle unserer berufstätigen Frauen dauernd wachzuhalten, denn wir können es z. B. nicht zulassen, dass eine Mutter, vielleicht sogar eine Kommunistin, einem fremden Kinde ihre Muttermilch verweigert. Einem Kinde, das aufgrund von Unterernährung sehr geschwächt ist, darf man nicht die Hilfe verweigern, weil es nicht das eigene Kind ist. Aufgrund seiner kommunistischen Gefühle und Gedanken wird der zukünftige Mensch einem solch egoistischen und unsozialen Verhalten gegenüber ungefähr so befremdet sein, wie etwa wir heute den Kopf über Erzählungen schütteln, in denen uns von Frauen primitiver Stämme berichtet wird, die einerseits ihr eigenes Kind zärtlich lieben und andererseits ein zu einem fremden Stamm zugehöriges Kind mit gutem Appetit verspeisen.

Noch so ein Irrsinn: Dürfen wir es etwa einer Mutter gestatten, ihrem eigenen Kind die Brust zu verweigern, nur weil ihr die Mutterpflicht zu beschwerlich ist? Es ist in der Sowjetrepublik heute eine traurige Tatsache, dass die Anzahl der Kinder zunimmt, die von ihren eigenen Eltern verlassen wurden. Solche Erscheinungen zwingen uns unter anderem dazu, das Problem der Mutterschaft richtig zu lösen. Dies ist uns jedoch noch nicht zufriedenstellend gelungen. In der jetzigen schwierigen Übergangsperiode leiden Hunderttausende von Frauen unter einer doppelten Last: Unter der Lohnarbeit und unter der Mutterschaft. Es gibt viel zu wenig Kinderkrippen, Kindergärten und Mütterheime, und auch die finanzielle Unterstützung für die Mütter hält mit der Verteuerung der Waren auf dem freien Markt nicht Schritt. Dieser Prozess führt dazu, dass die Arbeiterin vor der Bürde der Mutterschaft entsetzt zurückschreckt. Einerseits zwingen diese Verhältnisse die Frauen dazu, ihr Kind an den Staat zu „übergeben“, andererseits aber zeigt die Anzahl der ausgesetzten Kinder uns auch, dass die Frauen in unserer Arbeiterrepublik noch nicht voll und ganz begriffen haben, dass die Mutterschaft eben eine soziale Pflicht und nicht eine Privatsache ist. Ihr werdet mit Frauen zusammenarbeiten. Deshalb müsst ihr dieses Problem besonders genau durchdenken, um unseren Industriearbeiterinnen, Bäuerinnen und Landarbeiterinnen eingehend erklären zu können, welche besonderen Pflichten in unserer Arbeiterrepublik eine Mutter hat. Gleichzeitig müssen wir aber auch den gesetzlichen Mutterschutz und das Schulsystem verbessern. Je weniger Komplikationen unseren Frauen aus der Kombination von Berufsleben und Mutterschaft entstehen, desto geringer wird auch die Anzahl der von ihren eigenen Eltern verlassenen Kinder sein.

Wir haben bereits darüber diskutiert, dass die Funktion der Mutterschaft nicht darin besteht, dass die Kinder ständig in der unmittelbaren Nähe ihrer Mutter sind und dass auch nicht ausgerechnet die Mutter einzig und allein für das körperliche Wohlergehen und die geistige Erziehung ihres Kindes verantwortlich sein muss. Andererseits ist es aber die Pflicht jeder Mutter, ihr Kind in einem Milieu aufwachsen zu lassen, das für die Entwicklung des Kindes tatsächlich auch günstig ist.

Schaut euch doch die bürgerliche Gesellschaft an. In welcher Klasse dieser Gesellschaft findet man die aufgewecktesten und gesündesten Kinder? Natürlich bei den wohlhabenden Schichten. Bei den armen Leuten könnt ihr lange suchen und erfolglos. Und warum ist dies so? Etwa deshalb, weil sich die bürgerliche Mutter ausschließlich der Erziehung ihres Kindes widmet? Davon kann gar nicht die Rede sein. Gerade die bürgerlichen Frauen überlassen nämlich mit Vorliebe bezahlten Hilfskräften die Fürsorge für ihr Kind: Kinderfrauen, Ammen und Erzieherinnen. Nur bei den armen Leuten müssen ausschließlich die Mütter selbst die ganze Bürde der Mutterschaft tragen. Meistens sind deren Kinder dann auch sich völlig selbst überlassen und werden von der Straße und vom Zufall erzogen. In den kapitalistischen Ländern sterben die Arbeiterkinder und die Kinder aus den anderen armen Bevölkerungsschichten trotz der Fürsorge ihrer Mütter wie die Fliegen. Von einer Erziehung im ursprünglichen Sinne des Wortes kann überhaupt keine Rede sein. Deshalb versucht natürlich auch in der bürgerlichen Gesellschaft jede vernünftige Mutter, wenigstens einen Teil der Fürsorgepflicht für das eigene Kind an die Gesellschaft abzugeben. Sie versucht, ihre Kinder in den Kindergarten, in die Schule oder in ein Ferienheim zu schicken. Denn jede vernünftige Mutter sieht natürlich von selbst ein, dass die gesellschaftliche Erziehung ihrem Kinde etwas bieten kann, was durch Mutterliebe allein nicht ersetzt werden kann. Wer es sich in der bürgerlichen Gesellschaft wirtschaftlich leisten kann, legt den allergrößten Wert darauf, dass sein Kind durch beruflich qualifizierte Kinderschwestern, Kindergärtnerinnen, Ärzte und Lehrer betreut wird. Die körperliche Fürsorge und geistige Erziehung des Kindes wird weitgehend durch bezahlte Kräfte und nicht von der Mutter wahrgenommen. Diesen Müttern bleibt tatsächlich nur noch die biologische Aufgabe, die ihnen niemand abnehmen kann, nämlich ihre Kinder auf die Welt zu bringen. Natürlich nimmt in unserer Arbeiterrepublik niemand den Müttern ihre Kinder mit Gewalt weg, wie dies in der bürgerlichen Propaganda gern behauptet wird, wenn dort die Schrecken der „Bolschewistenherrschaft“ in grellen Farben geschildert werden. Wir bemühen uns aber darum, staatliche Einrichtungen aufzubauen, die allen, nicht nur den wohlhabenden Müttern die Möglichkeit bieten, ihre Kinder in einer normalen und gesunden Umwelt aufwachsen zu lassen. Während die bürgerlichen Frauen die Fürsorge für ihre Kinder bezahlten Hilfskräften überlassen, ist es das Ziel der Sowjetregierung, dass alle Arbeiterinnen und Bäuerinnen mit gutem Gewissen zur Arbeit gehen können, weil sie wissen, dass ihr Kind in einem Säuglingsheim, Kindergarten oder in einem Tagesheim gut versorgt wird. Diese sozialen Einrichtungen, die für alle Kinder unter 16 Jahren offen stehen, sind die notwendige Voraussetzung für das Entstehen eines neuen Menschen. In dieser Umgebung stehen die Kinder tagtäglich unter der fachlichen Aufsicht von Pädagogen und Ärzten und natürlich auch unter der Kontrolle der Mütter selbst, denn diese müssen im Kindergarten auch regelmäßig selbst mitarbeiten. Schon in frühester Kindheit werden diese Kinder durch ihre Umwelt im Säuglingsheim, im Kindergarten so beeinflusst, dass bei ihnen gerade jene Eigenschaften entwickelt werden, die für die Entfaltung des Kommunismus notwendig sind. Die Kinder, die in diesen Einrichtungen unserer Arbeiterrepublik herangewachsen sind, werden sich später wesentlich besser in ein Arbeitskollektiv einleben können als die Kinder, die in der abgeschlossenen Sphäre egoistischer Kleinfamilien aufgewachsen sind.

Schaut euch doch selbst unsere kleinen Kinder an, die bereits in den allerersten Jahren nach der Revolution in unseren Säuglings- und Kinderheimen gelebt haben. Das sind Kinder, die bereits die liebevolle und individuelle Erziehung ihrer eigenen Klasse erhalten haben. Diese Kinder haben bereits gemeinsame Verhaltensweisen entwickelt. Sie denken und handeln im Kollektiv. Das folgende Beispiel ist typisch für das Leben in unseren Kinderheimen: Ein neu aufgenommenes Mädchen weigert sich, an den Aktivitäten ihrer Gruppe teilzunehmen. Die Gruppenmitglieder versammeln sich um die,,Neue“ und versuchen, sie zu überzeugen. Die Stimmung ist äußerst erregt. Ist es wirklich unmöglich für dich, beim Reinemachen unseres Heimes mitzuhelfen, wenn „unsere“ Gruppe dran ist? Kannst du nicht an einem Spaziergang teilnehmen, den „unsere“ Gruppe plant? Musst du wirklich einen solchen Lärm veranstalten, wenn „unsere“ Gruppe Arbeitsruhe hat? Dieses Kind entwickelt kein Besitzdenken, im Gegenteil, es baut es ab: „Bei uns gibt es nicht Dein und Mein, bei uns gehört allen alles.“ Ein vierjähriger Knirps erklärt dem Mädchen eifrig die Hauptregeln im Dasein dieser Kinder. In diesem Kinderheim passen die Kinder schon selbst sehr genau darauf auf, wer da „unsere“ Sachen kaputt macht. Die Kinder schützen das Eigentum des Kinderheimes selbst.

Doch wir wollen jetzt noch einmal über die Rolle der Mütter sprechen. Unsere Arbeiterrepublik errichtet überall dort Mütterheime, wo ein Bedarf besteht. Denn nur so können wir die Mütter der kommenden Generationen wirklich gesundheitlich schützen. Im Jahre 1921 gab es 135 Mütterheime, die nicht nur den ledigen Müttern einen Zufluchtsort für die schwierigste Periode ihres Lebens bieten. Diese Heime ermöglichen es auch verheirateten Frauen, während der letzten Schwangerschaftsmonate und während der ersten Monate nach der Geburt, sich zeitweilig vom eigenen Heim, der Familie und dem ganzen anderen Kleinkram und Kummer zu befreien. Während der ersten kritischen Wochen nach der Geburt kann sich die Mutter so ausschließlich um die Pflege des Kindes kümmern und sich auch selbst ausruhen. Danach ist die ständige Anwesenheit der Mutter ja nicht mehr so wichtig. Während der ersten Wochen nach der Geburt existiert jedoch ein sehr enges physisches Band zwischen Mutter und Kind, und während dieser Periode ist es deshalb auch schädlich, wenn man Mutter und Kind voneinander trennt.

Ihr wisst ja selbst, Genossinnen, wie gerne ledige und auch verheiratete Arbeiterinnen diese Mütterheime aufsuchen; denn dort werden sie gepflegt und können sich richtig ausruhen. Deshalb besteht auch überhaupt kein Grund, bei den Frauen für diese Mütterheime zu agitieren. Unsere materielle Armut und das augenblickliche Chaos in Russland machen es uns jetzt leider unmöglich, zusätzliche Mütterheime einzurichten und unsere gesamte Arbeiterrepublik mit einem engen Netz von derartigen „Rettungsstationen“ für berufstätige Frauen zu überziehen. Auf dem Lande gibt es leider noch überhaupt keine Mütterheime. Ganz allgemein ist unsere Hilfe für die Bäuerinnen noch sehr unterentwickelt. Bisher konnten wir auf dem Lande nur „Sommerkindergärten“ organisieren. Diese Einrichtungen erleichtern es den Bäuerinnen, bei der Ernte mitzuarbeiten, ohne dass darunter die Kinder zu leiden haben. Im Jahre 1921 gab es 689 Sommerkindergärten für 32.180 Kinder.

In den Städten stehen den Arbeiterinnen und Angestellten entweder Betriebskindergärten oder entsprechende Einrichtungen in ihrem Stadtteil zur Verfügung. Es steht außerhalb jeder Diskussion, dass diese Kindergärten eine wesentliche Erleichterung für die berufstätigen Frauen bedeuten. Es ist deshalb unser großer Kummer, dass es immer noch nicht genügend Kindergärten gibt. Zur Zeit können wir nicht einmal 10 Prozent des tatsächlichen Bedarfs befriedigen. Zu einem wirklichen Netz von solchen sozialen Einrichtungen, die die Mütter von der zermürbenden Kinderpflege freistellen, gehören weitere Kindergärten, Säuglingskrippen und Spielschulen für die Kinder zwischen dem dritten und siebten Lebensjahr. Und für die Schulkinder brauchen wir weitere Kinderclubs, Gemeindehäuser und Kinderkolonien. In diesen Einrichtungen erhalten die Kinder auch kostenlose Mahlzeiten. Die Genossin Wera Weletschkina war eine besonders energische Pionierin auf diesem Gebiet, und sie starb auf ihrem revolutionären Posten. Durch ihren mutigen Einsatz hat sie uns während der Bürgerkriegsjahre sehr geholfen,und sie hat viele Arbeiterkinder vor einem kläglichen Hungertod gerettet. Diese Arbeiterkinder bekamen zusätzliche kostenlose Milchrationen, und die ärmsten von ihnen wurden außerdem mit Kleidung und Schuhen versorgt. Nach wie vor sind diese sozialen Einrichtungen natürlich noch unterentwickelt, und bis jetzt waren wir nur in der Lage, einen kleinen Teil der Gesamtbevölkerung zu versorgen. Niemand kann uns jedoch den Vorwurf machen, dass wir einen falschen Weg eingeschlagen haben, denn es ist richtig, dass wir die Eltern von ihrer Erziehungspflicht entlasten. Es ist vielmehr unser Hauptproblem, dass wir aufgrund unserer großen Armut einfach noch nicht in der Lage sind, alle Pläne der Sowjetregierung in die Tat umzusetzen. Aber die Richtung der Politik in der Mutterschaftsfrage ist völlig korrekt, und nur die mangelhaften Hilfsquellen verzögern die Lösung des Problems. Bisher handelt es sich um nichts anderes als um einen äußerst bescheidenen Versuch, und trotzdem haben wir bereits jetzt schon erfreuliche Resultate erzielt, die das Familienleben revolutionieren und die Beziehung zwischen Frau und Mann gründlich verändern. Doch über dieses Thema wollen wir in der nächsten Vorlesung sprechen.

Es ist die Aufgabe der Sowjetrepublik, dafür zu sorgen, dass die Arbeitskraft der Frau nicht für unproduktive Hausarbeit oder Kinderbetreuung verschwendet wird, sondern sinnvoll für die Produktion neuer gesellschaftlicher Reichtümer eingesetzt wird. Außerdem muss die Gesellschaft die Interessen und die Gesundheit der Mütter und Kleinkinder schützen, weil die Frau nur so Berufsleben und Mutterschaft miteinander vereinbaren kann. Deshalb bemüht sich auch unsere Sowjetregierung darum, für die Frauen solche Lebensbedingungen zu schaffen, die sicherstellen, dass eine Frau mit einem schwierigen Ehemann nicht mehr deshalb weiter zusammenleben muss, weil sie sonst einfach nicht weiß, wo sie mit den Kindern unterkommen kann. Wir wollen es nicht irgendwelchen Menschenfreunden überlassen, diesen Frauen mit ihrer demütigenden Wohltätigkeit zu Hilfe zu kommen, wenn sie in Not geraten sind. Nein, die eigenen Klassengenossen beim Aufbau des Sozialismus, die Arbeiter und Bauern streben danach, der Frau die Bürde der Mutterschaft zu erleichtern. Die Frauen, die Seite an Seite mit ihrem Mann schwere Arbeit beim Wiederaufbau unserer Volkswirtschaft leisten, fordern deshalb mit gutem Recht von.ihrer Arbeiterrepublik, dass das gesamte Kollektiv die Verantwortung für sie übernimmt, wenn der Augenblick kommt, in dem sie der Gesellschaft ein neues Mitglied schenken. In der jetzigen Übergangsperiode befindet sich die Frau wirklich in einer sehr schwierigen Situation, denn es gibt in Sowjetrussland insgesamt nur 524 Mutterschutzeinrichtungen. Diese sozialen Einrichtungen reichen natürlich überhaupt nicht aus, denn das alte Fundament der Familie ist zerstört worden, und das neue befindet sich erst im Aufbaustadium. Deshalb müssen sich die Partei und Sowjetregierung ganz besonders und in wesentlich stärkerem Umfang als bisher mit dem Problem der Mutterschaft beschäftigen. Eine konkrete Lösung dieser Frage kommt unseren Frauen, unserer Produktion und der gesamten Volkswirtschaft zugute. Am Ende dieser Vorlesung noch einige Worte zu einer Frage, die aufs Engste mit dem Problem der Mutterschaft zusammenhängt. Ich spreche jetzt von der Stellung der Sowjetregierung zur Abtreibung. Wir haben in unserer Arbeiterrepublik eine Verordnung vom 18. November 1920, die die Unterbrechung der Schwangerschaft legalisiert. Natürlich leiden wir in Russland heute eher unter Arbeitskräftemangel als an Arbeitskräfteüberschuss. Unser Land ist nicht dicht, sondern schwach besiedelt; und wir sind unter diesen Umständen bemüht, alle Arbeitskräfte zu erfassen. Warum konnten wir in einer solchen Situation die Abtreibung legalisieren? Weil das Proletariat keine Politik der Heuchelei und der Scheinheiligkeit duldet. Solange die Existenzbedingungen der Frau nicht gesichert sind, werden auch Abtreibungen durchgeführt. Wir sprechen hier nicht über die Frauen der bürgerlichen Klasse, die für den Abort gewöhnlich ganz andere Motive haben: z. B. den Wunsch, eine Aufteilung des „Erbes“ zu vermeiden, oder das Bedürfnis, ein vergnügliches und arbeitsfreies Leben zu führen, die Entsagungen der Mutterschaft zu vermeiden, ihre Figur zu retten oder sogar die Befürchtung, dass man für einige Monate die „Unterhaltungssaison“ verpasst, etc.

Es wird heute in allen Ländern abgetrieben, und daran ändern irgendwelche Strafgesetze überhaupt nichts, Für die Frauen gibt es immer einen Ausweg, aber diese „heimliche Hilfe“ zerstört die Gesundheit unserer Frauen und verwandelt sie zumindest zeitweilig zu einer Belastung des gesamten Arbeiterstaates und verringert das Arbeitskräftereservoir. Eine Abtreibung durch einen Chirurgen unter normalen Bedingungen ist für die Gesundheit der Frau weitaus ungefährlicher, und außerdem können die Frauen dann auch wieder viel schneller in die Produktion zurückkehren. Die Sowjetregierung ist sich völlig darüber im Klaren, dass die Abtreibungen erst dann aufhören werden, wenn wir in Russland ein weitverzweigtes Netz von Mutterschutzeinrichtungen und anderen sozialen Einrichtungen errichtet haben. Die Sowjetregierung ist sich aber auch darüber im Klaren, dass die Mutterschaft eine soziale Pflicht ist. Vor diesem Hintergrund haben wir die Abtreibung in hygienisch einwandfreien Kliniken legalisiert. Andererseits ist es aber gleichzeitig unsere Aufgabe, den natürlichen Mutterinstinkt der Frauen zu stärken und zwar einerseits durch den Ausbau der Mutterschutzeinrichtungen und andererseits, indem wir die Funktion der Mutterschaft und der Frauenarbeit fürs Kollektiv in Übereinstimmung bringen. Nur so können wir dafür sorgen, dass die Abtreibungen überflüssig werden. Wir haben auf diese Frage, die für die Frauen in allen bürgerlichen Staaten nach wie vor unbeantwortet ist, eine Antwort gefunden.

In den bürgerlichen Staaten kämpfen die Frauen erbittert gegen ihre doppelte Ausbeutung in dieser furchtbaren Nachkriegsperiode: Lohnarbeit im Dienste des Kapitals und Mutterschaft. Im Gegensatz dazu haben in unserem Arbeiterstaat die Arbeiterinnen und Bäuerinnen die traditionellen Lebensbedingungen abgeschafft, die die Frau in eine Sklavin verwandelt hatten. Erst die Mitarbeit der Frauen in der „Kommunistischen Partei Russlands“ hat das Fundament für die Errichtung eines völlig neuen Lebens ermöglichst. Die im Leben aller Frauen so entscheidende Frage kann aber erst dann endgültig gelöst werden, wenn die Frauenarbeit vollständig in unsere Volkswirtschaft integriert ist. In der bürgerlichen Gesellschaft gibt es dagegen für die Frauen keinen Ausweg aus diesem Dilemma, denn die Arbeit im abgeschlossenen Einfamilienhaushalt ergänzt das kapitalistische Wirtschaftssystem.

Die Befreiung der Frau kann erst nach einer grundsätzlichen Revolutionierung der traditionellen Verhaltensnormen verwirklicht werden. Dieser Prozess setzt aber eine tiefgreifende Veränderung der Produktionsweise, also die Errichtung einer kommunistischen Wirtschaft, voraus. Wir sind heute selbst Zeugen dieses umfassenden Revolutionierungsprozesses der Verhaltensnormen. Deshalb ist auch in unserem Alltag die praktische Befreiung der Frau ein selbstverständlicher Bestandteil unseres Lebens.

13. Die Diktatur des Proletariats: Die Revolutionierung der Lebensgewohnheiten

Wir sprachen während der letzten Vorlesung über die Revolutionierung der Lebensgewohnheiten unter der Diktatur des Proletariats. Natürlich beschränkt sich dieser Prozess nicht nur auf die Einrichtung von öffentlichen Volkskantinen und Kinderkrippen und auf die Einführung des gesetzlichen Mutterschutzes und des staatlichen Schulsystems. Die momentanen gesellschaftlichen Veränderungen sind weit umfassender und wesentlich durchgreifender und erfassen nahezu sämtliche Lebensbereiche. Dieser Prozess zeigt sich besonders deutlich bei der Umwälzung der traditionellen Lebensgewohnheiten und Denkweisen. Die Generationen der zukünftigen Geschichtswissenschaftler werden deshalb unsere heutige Epoche mit besonders großem Interesse studieren: Denn wir leben in einer Zeit, in der wir mit dem Althergebrachten konsequent brechen. Wir bauen eine neue Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung auf, und zwischen den Menschen entstehen neue Beziehungen. Und all dies entwickelt sich ungeheuer schnell. Deshalb sind wir auch zur Zeit außerstande, selbst zu entscheiden, inwiefern unsere heutige Gesellschaft bereits Ansätze für eine hoffnungsvollere Zukunft entwickelt hat. Denn wir sind ganz einfach noch blind für die zahlreichen jungen, aber schon lebensfähigen Pflanzkeime einer kommunistischen Zukunft, die auf den Schlachtfeldern des Bürgerkrieges herangereift sind. Wir können diese Keime deshalb noch nicht sehen, weil sie von den Trümmern der Vergangenheit noch zugedeckt sind und weil unsere eigenen Augen noch blind sind von Tränen und Blut. Aber auch noch dort, wo diese Pflanzkeime unter dem Staub der letzten Jahrhunderte verschüttet waren, wurden diese Ablagerungen durch einen gewaltigen Orkan – der durch den erbitterten Kampf zweier Welten ausgelöst worden ist – zuerst aufgepeitscht und endlich abgetragen. Und wenn auch unsere großartige Initiative mit dem vergossenen Blut teuer bezahlt worden ist: Wir haben den Anfang gemacht. Wir haben das jahrtausendealte Eis aufgesprengt und die Strahlen der wärmenden Frühlingssonne umschmeicheln nun die freigegebene Erde. Die lebenslustigen Frühlingsbäche schwemmen die Eisschollen weg und waschen die Erde rein. Schaut euch doch selbst in Russland um: Ist dies etwa noch dasselbe Land wie vor fünf Jahren? Sind dies etwa noch dieselben Arbeiter, Bauern oder gar „Kleinbürger“, wie wir sie unter der Diktatur des Zarismus gekannt haben? Ihre Gedanken, ihre Gefühle und die Inhalte ihrer Arbeit haben sich verändert. Mit einem Wort, in der Sowjetrepublik herrscht heute eine ganz andere Atmosphäre als früher. Jedes Mal wenn heute einer von uns in ein bürgerlich-kapitalistisches Land fährt, hat er dort das Gefühl, plötzlich wieder in einem anderen Jahrhundert zu leben; denn wir beurteilen die Gegenwart dieser historisch zurückgebliebenen Länder von der hohen Warte der Zukunft aus. Wir haben durch unsere eigenen Erfahrungen die Zukunft konkret kennengelernt, die unsere Schwestern und Brüder in den bürgerlich-kapitalistischen Ländern eben nur verstandesmäßig begriffen haben und nicht aufgrund ihrer eigenen Praxis. Manchmal erschaudern wir, wenn wir uns dessen bewusst werden, wie „klug“ wir eigentlich schon sind und welch ungeheuren Erfahrungsschatz uns die Revolution doch gebracht hat. Genau diese Erfahrungen haben uns nämlich einerseits von unserer eigenen Vergangenheit, die tatsächlich zeitlich noch gar nicht so lange zurückliegt und die nach wie vor äußerst aktuell ist, entfremdet und andererseits zu gleicher Zeit unserer eigenen Zukunft näher gebracht. Deshalb fällt es uns auch leichter, in die Zukunft statt in die Vergangenheit zu blicken. Im Vergleich mit den Genossen, denen die Erfahrungen des vierjährigen Bürgerkrieges fehlen, haben wir einen gewaltigen Vorsprung: Aufgrund unserer fieberhaften Experimente und unserem Suchen nach dem „kürzesten Weg“ zum Kommunismus begreifen wir heute die Probleme wesentlich schneller als vor der Revolution. Obwohl wir viele Fehler gemacht haben, ist unser revolutionäres Experiment ein kühner und wichtiger Versuch, die Lebensbedingungen so zu verändern, dass ein viele Millionen umfassendes Kollektiv durch eine organisierte Willensanstrengung die blinden Kräfte der kapitalistischen Wirtschaft unter Kontrolle bringt. Mit der Arbeiterrevolution in Russland beginnt ein neues Kapitel der Menschheitsgeschichte, auch wenn der Weg zum Kommunismus noch sehr lange und anstrengend ist: Wir haben zumindest das Fundament für die kommunistische Gesellschaftsordnung gelegt, und das Proletariat wird von den eigenen Fähigkeiten überzeugt und im Bewusstsein seiner historischen Rolle dieses Endziel ohne Zaudern anstreben. Denn dieses Endziel ist schon längst nicht mehr eine bloße Zukunftsträumerei; die Arbeiterklasse kann bereits heute, wenn sie ihre Hände der Zukunft tastend entgegenstreckt, die kommunistische Wirklichkeit mit ihren Fingerspitzen berühren.

Die gesellschaftlichen Veränderungen, die durch die Oktoberrevolution ausgelöst worden sind, spiegeln sich besonders deutlich im subjektiven Denken der Arbeiter und ihrer Einstellung zum Leben wider. Sprecht mit den Arbeitern! Denken sie noch genauso wie vor der Revolution? Vor der Revolution hatten die Arbeiter kein Selbstvertrauen. Diese Arbeiter glichen oft gehorsamen Sklaven, sie waren verbittert, verarmt, eingeschüchtert und vereinzelt. Im Bewusstsein dieser Arbeiter waren die Rechtsnormen der ungerechten Gesellschaftsordnung, durch die die Arbeiter ständig unterdrückt wurden, zeitlos und unveränderbar. Hätte irgendjemand damals zu den Arbeitern gesagt: „Ihr könnt die Macht ergreifen, wenn das Millionenheer des Proletariats nur will“, dann hätten die Arbeiter nur misstrauisch mit dem Kopf geschüttelt.

Und heute? Das Proletariat leidet natürlich augenblicklich noch sehr unter dem herrschenden Mangel an Lebensmitteln, Textilien und Schuhen. Natürlich bringt die Arbeiterklasse zur Zeit noch große Opfer, und trotzdem hat die Arbeiterklasse ein Selbstbewusstsein gewonnen und ist heute eine gesellschaftliche Kraft. Aber von all diesen Veränderungen ist die Einsicht des Proletariats, dass die Gesellschaft von Grund auf verändert werden kann, wenn die Arbeiterklasse sich nicht mit der Reform der Gesetzgebung oder der zwischenmenschlichen Beziehungen zufriedengibt, sondern unter seiner Führung die gesamte Gesellschaft verändert, weitaus am wichtigsten. Die Diktatur der Zaren, Industriellen und Gutsherren unterscheidet sich inhaltlich völlig von der Diktatur des Proletariats. Und heutzutage ist die Arbeiterklasse der Bauherr einer neuen Gesellschaft. Es ist zwar gut möglich, dass die Arbeiterklasse nicht immer der geschickteste Bauherr ist; entscheidend ist im Moment aber, dass sie die Macht im Staate in Besitz genommen hat. Es ist der bisher größte Sieg in der Geschichte der arbeitenden Menschheit, dass die gesetzmäßige Entwicklung der ursprünglichen Akkumulation in der Übergangsperiode durch das Kollektiv gemeistert wird. Wir wollen diesen Prozess anhand der Rolle, die die Arbeiterinnen heute haben, verdeutlichen, denn ihr Bewusstsein hat sich ja noch deutlicher wahrnehmbar verändert als das der Arbeiter. Für die Mehrheit unserer Frauen ist es durchaus typisch, dass die Arbeit im Kollektiv ein gesellschaftliches Bewusstsein und eine zwischenmenschliche Solidarität hervorgebracht.hat. Diese Frauen fühlen sich für ihre Gesellschaft verantwortlich. Wenn wir uns daran erinnern, dass die Frauen jahrhundertelang dazu erzogen worden sind, die Einzelfamilie als wichtigsten Lebensinhalt zu verinnerlichen, dann ist diese Entwicklung etwas Revolutionäres. Sowohl die Industriearbeiterin als auch die nichtberufstätige Ehefrau des Arbeiters sind sich heute sehr wohl darüber im Klaren, dass sie gleichberechtigte Staatsbürgerinnen sind. Auch wenn die Frauen heute noch keine gesellschaftliche Arbeit ausüben, so haben sie doch sehr wohl ein Bedürfnis nach Selbstbestätigung. Diese Frauen weisen uns dann regelmäßig auf ihre Arbeiten im Haushalt und auf die Kindererziehung hin und kritisieren, dass wir noch nicht über genügend Betreuungsstellen für Kinder verfügen und dass das Essen in den öffentlichen Volkskantinen wirklich miserabel sei. Wenn wir dies alles erst einmal richtig in Ordnung gebracht hätten, dann bestünde auch für sie die Möglichkeit, politische Arbeit in einer Frauenabteilung der Partei oder der Gewerkschaft zu leisten.

Die Revolution hat die Frau also nicht nur aus der abgeschlossenen und erstickenden Atmosphäre der Einzelfamilie befreit und ihr endlich Zutritt zur Gesellschaft verschafft, sondern sie hat der Frau auch unglaublich schnell ein Solidaritätsgefühl mit dem Kollektiv vermittelt. Der große Erfolg der Subbotnikbewegung ist für diese Entwicklung ein eindrucksvolles Beispiel. Sowohl Arbeiterinnen, die in der Partei organisiert sind, als auch parteilose Arbeiterinnen, nichtberufstätige Ehefrauen aus Arbeiterfamilien und Bäuerinnen haben an unseren kommunistischen Samstagen freiwillig mitgearbeitet. Im Jahre 1920 nahmen z. B. in 16 Gouvernements insgesamt 150.000 berufstätige Frauen teil. Natürlich ist auch dies ein Zeichen dafür, dass das gesellschaftliche Bewusstsein der Frauen sich entwickelt und dass die Frau einsieht, dass die allgemeine Bürgerkriegsverwirrung, die Massenerkrankungen, der Hunger und die Kälte nur durch gemeinsame Anstrengungen des Kollektivs bekämpft und schließlich überwunden werden können. Diese freiwillige Subbotnikbewegung ergänzt die allgemeine Arbeitspflicht und die notwendige Arbeit, und sie wird von der Arbeiterklasse nicht mehr wie früher als Zwang erlebt wie etwa zu der Zeit als die Arbeiter noch Lohnsklaven waren. Die Arbeit ist zu einer gesellschaftlichen Pflicht geworden, nur noch vergleichbar mit jener Arbeit, die während der Frühgeschichte der Menschheit jedes Stammesmitglied für das Gesamtkollektiv geleistet hat. Beobachtet doch einmal die Kolonnen der parteilosen Frauen, die ihren Herd verlassen, um nur ja pünktlich zum Beginn ihres Subbotniks zu kommen. Diese Frauen schleppen Brennholz, schippen Schnee, nähen Uniformen für Soldaten unserer Roten Armee, putzen in den Krankenhäusern und Kasernen, etc. Viele dieser Frauen haben selbst eine Familie und wenn sie nach Hause gehen, dann wartet dort schon wieder Arbeit auf sie, die unbedingt sofort erledigt werden muss. Trotzdem ist aber bei unseren Frauen ein Bewusstsein dafür entstanden, dass es für die Frauen am vorteilhaftesten ist, wenn sie ihren eigenen kleinen Einzelhaushalt vernachlässigen und stattdessen im Volkshaushalt mitarbeiten. Deshalb lassen die Frauen ihre Haushaltsarbeiten halbfertig zuhause liegen und verrichten innerhalb der Subbotnikbewegung gesellschaftlich nützliche und dringende Arbeiten, Nun werden einige von euch aber wahrscheinlich sagen: „Na ja, das trifft doch tatsächlich nur auf eine Minderheit der parteilosen Arbeiterinnen und Bäuerinnen zu.“ Natürlich habt ihr mit dieser Bemerkung völlig recht. Aber es werden eben laufend mehr Frauen und nicht weniger, und außerdem ist es halt sehr wichtig, dass es nicht nur Kommunistinnen, sondern auch Frauen sind, die nicht in der Partei organisiert sind. Diese Minorität erzieht durch ihre Aktivitäten die Majorität der Frauen. Redet doch einmal mit einer Arbeiterin, die sich noch nie an einem Subbotnik beteiligt hat. Wie leidenschaftlich und heftig verteidigt diese Arbeiterin ihr Recht, die freiwillige Arbeit für die Gesellschaft zu vernachlässigen. Diese Arbeiterin hat unglaublich viel Argumente zur Verfügung, warum gerade sie das moralische Recht habe, sich dieser Arbeit zu entziehen. Die letzten vier Jahre haben das Bewusstsein unserer Frauen über den Zusammenhang zwischen dem Wiederaufbau unsrer Volkswirtschaft und der Befriedigung ihrer persönlichen Bedürfnisse dermaßen geschärft, dass sie auf diese Frage alle sehr ähnlich reagieren. Denn es gibt einerseits kein Brennholz, andererseits stehen jedoch mehrere Güterwagen mit Brennholz auf dem örtlichen Bahnhof herum. Ein Subbotnik ist also fällig, denn diese Güterwagen müssen entladen werden. Ein anderes Beispiel: Eine ansteckende Seuche bricht in der Stadt aus. Die Bevölkerung muss also einen Subbotnik organisieren, um die Straßen der Stadt ordentlich zu säubern. In einer solch zugespitzten Situation verurteilt die Arbeiterklasse natürlich diejenigen, die selbst nicht bereit sind, einen an und für sich unbedeutenden Beitrag an dieser freiwilligen, aber gleichwohl gesellschaftlich nützlichen Arbeit zu leisten. Denn genau dieselben Leute fordern vom örtlichen Sowjet, dass ihre Bedürfnisse befriedigt werden. Aufgrund dieser Entwicklung entsteht ein neuer Moralkodex in der Arbeiterschaft, und ein neuer Begriff setzt sich mehr und mehr durch: Produktionsdeserteur.

In der bürgerlichen Gesellschaft wird der faule und schlechte Arbeiter zwar einerseits getadelt, andererseits aber vertritt die Bourgeoisie die Auffassung, dass Arbeit eine Privatsache ist. Wenn du arbeiten willst, bitte sehr. Wenn du aber keine Lust hast zu arbeiten, dann musst du eben verhungern, oder du lässt andere für dich arbeiten. Die letztere Einstellung, der sogenannte „Unternehmergeist“, genießt in den kapitalistischen Ländern besonderes Ansehen und die Bourgeoisie verurteilt einen Leichtfuß auch nur dann, wenn er nicht auf eigene Rechnung sondern auf die eines kapitalistischen Unternehmers arbeitet. Wenn z. B. ein Arbeiter seine Arbeitskraft an einen Unternehmer verkauft, aber seine Arbeitskraft nur teilweise in den Arbeitsprozess einbringt, dann vertritt der Unternehmer den Standpunkt, dass er betrogen worden ist, weil sein Mehrwert verringert worden ist. Natürlich verurteilt die Bourgeoisie eine solch nachlässige Haltung des Arbeiters. Andererseits aber kann der Sohn eines Bourgeois oder Aristokraten, der seinen Arbeitsplatz sowieso nur aufgrund seines Namens und gesellschaftlichen Ranges erhalten hat, der übelste Drückeberger und Leichtfuß sein, ohne dass die Bourgeoisie seine Produktionsdesertion rügt. Denn: „Der Mensch darf selbst bestimmen, ob er arbeiten will oder nicht. Es ist seine eigene persönliche und höchst private Angelegenheit.“ Dies war und ist die Auffassung der Bourgeoisie. Beachtet bei diesem Argument auch bitte, dass z. B. ein selbständiger Bauer, der seine Landwirtschaft miserabel verwaltet, oder ein kleiner Unternehmer, der seine Firma herunterwirtschaftet, nicht wegen der wirtschaftlichen Schäden, die sie der Volkswirtschaft zufügen, kritisiert werden, sondern weil sie nicht fähig waren, ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen besser wahrzunehmen.

Die Produktionsweise in unserer Arbeiterrepublik unterscheidet sich prinzipiell von der der bürgerlichen Gesellschaften. In der Praxis des sozialistischen Produktionsprozesses werden die Werktätigen in einem völlig neuen Geist erzogen, sie denken und fühlen anders als früher, und natürlich fordert diese Einstellung gegenüber der Arbeit sehr viel Selbstdisziplin. Dieses Bewusstsein hat übrigens zu grundsätzlich neuen Beziehungen der Menschen untereinander geführt, die auch das Verhältnis zwischen dem Kollektiv und dem Individuum neu regeln. Im Gegensatz dazu regeln die zwischenmenschlichen Verhaltensnormen der bürgerlichen Gesellschaften zumeist nur die Beziehungen der einzelnen Individuen untereinander, während dem Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtgesellschaft nur eine zweitrangige Bedeutung zukommt. Es gab im Zarenreich wesentlich weniger Verhaltensregeln, die die Pflichten des Individuums gegenüber der Gemeinschaft regelten als entsprechende Normen, die das Verhältnis der Menschen untereinander festlegten. Zu den Pflichten des Einzelnen gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft gehörte im zaristischen Russland insbesondere die Pflicht, das Vaterland zu verteidigen und dem Zaren treu zu dienen. Das Gebot: „Du sollst nicht töten“ wurde in der Praxis durch die jeweiligen Umstände relativiert. Besonders wichtig war damals natürlich die lange Liste von Gesetzen und Verordnungen, die das Recht auf Privateigentum und andere private Vorrechte garantierten: Du sollst nicht stehlen. Du darfst nicht faul sein. Lass deine Finger von einer verheirateten Frau. Betrüge nicht beim Geschäftemachen. Du musst sparsam sein.

In unserer proletarischen Gesellschaft verdeutlichen die Verhaltensnormen dagegen die Interessen der Gemeinschaft. Wenn deine Handlungen dem Kollektiv nicht schaden, dann gehen sie auch keinen Bürger etwas an. Andererseits wird aber in unserer Arbeiterrepublik so manche Verhaltensweise, die in der bürgerlichen Gesellschaft als respektabel gilt, allgemein abgelehnt. Welche Einstellung hat z. B. die bürgerliche Moral dem Geschäftsmann gegenüber? Solange er seine Buchhaltung korrekt führt, keinen betrügerischen Konkurs gemacht hat, sich nicht beim Betrügen erwischen lässt oder auf andere Art und Weise seine Kunden offen hintergeht, erhält der Geschäftsmann von der bürgerlichen Gesellschaft den Ehrentitel „tadelloser Bürger“ oder „ehrlicher Mann“.

Wir waren während der Revolution gezwungen, unsere Einstellung gegenüber den Geschäftsleuten grundsätzlich zu ändern, denn der „tadellose Bürger“ von Anno dazumal entpuppte sich als Spekulant. Wir teilen an solche Bürger bestimmt keine Ehrentitel aus. Ganz im Gegenteil. Denn bei uns werden solche Herren der Tscheka übergeben, die sie dann in ein Arbeitslager einweist. Und warum tun wir dies? Weil wir eben ganz genau wissen, dass wir den Kommunismus nur dann aufbauen können, wenn alle erwachsenen Staatsbürger produktive Arbeit leisten. Wer aber, anstatt selbst zu arbeiten, auf Kosten der anderen leben möchte, ist für die Gesellschaft und den Staat ein Schädling, und deshalb verfolgt die Polizei auch alle Aktionäre, Händler, Grossisten, d. h. alle Individuen, die ohne selbst zu arbeiten von der Arbeit der anderen leben.Solche Menschen werden von uns aufs Schärfste verurteilt.

Aufgrund der neuen Produktionsweise entstehen aber auch neue sittliche Normen. Natürlich können wir unmöglich alle Menschen innerhalb von drei, vier oder sogar zehn Jahren zu herausragenden Kommunisten machen. Aber wir sehen doch andererseits, dass bei den meisten Menschen ein neues Bewusstsein entsteht. Dieser Prozess ist sehr wichtig, und wir sollten wirklich darüber erstaunt sein, wie schnell unser aller Denken und Fühlen sich der neuen gesellschaftlichen Entwicklung angepasst haben und dass bereits jetzt neue Verhaltensnonnen entstanden sind. Diese Entwicklung merken wir am deutlichsten, wenn wir die Beziehung zwischen Mann und Frau studieren. Die Widerstandsfähigkeit der Einzelfamilie hat bereits während dem Weltkrieg nachgelassen; und diese Entwicklung können wir nicht nur in Russland, sondern auch in allen anderen Staaten, die an dem Krieg beteiligt waren, studieren. Zunächst nahm der Anteil der Frauenarbeit in der Produktion zu. Diese Entwicklung führte natürlich zu einer größeren wirtschaftlichen Selbständigkeit der Frauen und außerdem zu einem Anstieg der Anzahl der unehelichen Kinder. Menschen, die sich liebten, fanden jetzt zueinander, ohne sich noch lange um die Vorurteile der bürgerlichen Gesellschaft oder der Kirche zu kümmern. Sogar der bürgerliche Staat sah sich gezwungen, die unehelichen Kinder in den Soldatenfamilien, zumindest finanziell,genauso zu behandeln wie die ehelichen Kinder.

In der Sowjetrepublik verliert die Ehe immer mehr an Bedeutung. Bereits in den ersten Monaten nach der Revolution wurde die kirchliche Trauung abgeschafft und alle bisherigen gesetzlichen Unterschiede zwischen den unehelichen und den ehelichen Kindern aufgehoben. Die mit diesen Maßnahmen einhergehende Einführung der allgemeinen Arbeitspflicht trug ebenfalls dazu bei, dass die Frau als eigenständiger Faktor in unserer Gesellschaft anerkannt wurde. In der bürgerlichen Gesellschaft ist die Eheschließung ein gegenseitiger Vertrag zwischen Mann und Frau, durch Trauzeugen bekräftigt und durch den göttlichen Segen für unverletzlich und unauflösbar erklärt. Einerseits verpflichtet sich der Ehemann dazu, seine Ehefrau zu versorgen, und andererseits verpflichtet sich die Ehefrau dazu, das Eigentum des Ehemannes zu schützen und zu pflegen, den Mann und seine Kinder – also die Erben seines Vermögens – zu bedienen, ihm ewige Treue zu halten und die Familie nicht durch uneheliche Kinder zusätzlich zu belasten. Denn durch einen Ehebruch der Frau könnte das Gleichgewicht des Familienhaushaltes gestört werden. Deshalb ist es auch durchaus logisch, dass die Ehebrecherin durch das bürgerliche Gesetz schonungslos verfolgt wurde, während es gleichzeitig dem Ehebrecher gegenüber recht großzügig verfuhr. Denn die Seitensprünge des Ehemannes gefährdeten ja schließlich nicht die Existenz des privaten Familienhaushaltes. Habt ihr euch eigentlich schon einmal darüber Gedanken gemacht, warum die bürgerliche Gesellschaftsordnung die unverheiratete Mutter diskriminiert? Die Antwort ist sehr einfach. Wer soll denn für das Kind aufkommen, wenn das Liebesverhältnis nicht legalisiert worden ist? Entweder müssen die Eltern des „gefallenen Mädchens“ für das Kind sorgen, was natürlich nicht im Interesse der Familie des Mädchens ist, oder aber die örtlichen staatlichen Stellen müssen für die Kosten aufkommen. Dies ist aber wiederum nicht im Interesse des bürgerlichen Staates, der sich grundsätzlich davor scheut, soziale Aufgaben zu finanzieren.

Andererseits müsst ihr natürlich berücksichtigen, dass seit Mitte des letzten Jahrhunderts die Frau vom Manne immer stärker wirtschaftlich und finanziell unabhängig wurde, weil sie sich durch eigene Arbeit ernährte. Genau seit diesem Zeitpunkt hat sich auch die Einstellung der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber dem unehelichen Kind etwas geändert. In einer Reihe von Romanen und wissenschaftlichen Studien wurde nun das „Recht“ der Frau und Mutter diskutiert und das Existenzrecht der unverheirateten Mütter verteidigt. Heute gibt es in unserer Arbeiterrepublik (zumindest in den Städten) die Tendenz, den privaten Einzelhaushalt durch neue gesellschaftliche Formen des kollektiven Lebens und Konsums – d. h. durch die Einrichtung von Hauskommunen, öffentlichen Volkskantinen, etc. – zu ersetzen. Die berufstätige Frau erhält ihre eigene Lebensmittelkarte und ein dichtes Netz von sozialen staatlichen Einrichtungen ist im Entstehen. Deshalb hat sich der Charakter der Ehe verändert, die Partnerschaft beruht auf gegenseitiger Sympathie und nicht mehr auf wirtschaftlicher Berechnung. (Natürlich gibt es noch Ausnahmen von dieser Regel, die ich später noch behandeln, werde.) Es ist deshalb auch nicht mehr notwendig, dass ein Liebespaar heiratet, da jeder von ihnen einen Anspruch auf Wohnraum, Brennholz, Lebensmittel und Textilien hat, die aufgrund der Bezugsscheine und durch Sonderzulagen des eigenen Betriebs garantiert werden. Die Höhe der Zuteilung hängt von der Arbeitsleistung ab. Durch eine Heirat verbessert sich die materielle Situation der Partner nicht. In den Landesteilen, wo unsere Arbeiterrepublik aufgrund der großen Armut noch nicht in der Lage ist, diese sozialen Verpflichtungen einzuhalten und die geplanten Produktionsziele zu erreichen, sind die Menschen natürlich nach wie vor auf das Warenangebot auf dem freien Markt angewiesen. Das hat aber zur Konsequenz, dass der private Familienhaushalt weiter existiert, dass die Familienmitglieder z. B. selbst Brennholz organisieren müssen, etc. Aufgrund dieser Tatsache ist die Ehe auch noch immer ein wirtschaftliche Einrichtung, und eine Frau kann z. B. in eine Situation kommen, in der sie sich dazu durchringen muss, mit einem Mann zusammenzuleben, nicht etwa weil sie ihn liebt, sondern weil er ein eigenes Zimmer in einer Hauskommune besitzt. Oder aber ein Mann heiratet eine Frau einfach deshalb, weil man mit einer doppelten Brennholzration das Zimmer besser heizen kann. Solche Erscheinungen sind entwürdigend und abstoßend. Wir werden aber dies Überbleibsel aus unserer Vergangenheit so lange nicht überwinden, wie es uns noch nicht gelungen ist, das allgemeine wirtschaftliche Chaos in unserer Arbeiterrepublik zu beseitigen. Trotzdem weist die allgemein vorherrschende Entwicklungstendenz darauf hin, dass der offizielle Ehevertrag in der heutigen Sowjetrepublik kaum noch materielle Vorteile mit sich bringt und dass deshalb auch die freien Liebesverhältnisse ständig zunehmen.

Zwar sieht das Dekret Über die Zivilehe noch vor, dass beide Partner verpflichtet sind, für den jeweils anderen zu sorgen, wenn dieser nicht arbeiten kann; diese Bestimmung berücksichtigt jedoch den spezifischen Charakter der Übergangsperiode, in der nämlich die Arbeiterrepublik noch nicht in der Lage ist, die notwendigen sozialen Einrichtungen zu entwickeln, den kollektiven Lebensstandard zu erhöhen und die arbeitsunfähigen Bürger zu versorgen. Die jetzigen Verhältnisse aber werden in der Zukunft von allein verschwinden, sobald die Volkswirtschaft wieder in Gang gekommen ist. Dann werden wir auch sofort die sozialen Einrichtungen ausbauen und die obige Bestimmung wird in der Praxis bald keine Rolle mehr spielen. Denn was besagt diese Bestimmung „den arbeitsunfähigen Ehepartner zu versorgen“ eigentlich genau, wenn jeder Ehepartner seine eigene Ration zugeteilt bekommt? Es bedeutet nichts anderes, als dass der eine Ehepartner seine Ration mit dem anderen teilen muss. Tatsächlich sind dazu nur wenige Menschen bereit. Außerdem würden sich in einer normalisierten gesellschaftlichen Situation beide Ehepartner an die staatlichen Stellen wenden, die für die Versorgung der erkrankten Bürger ja normalerweise auch verantwortlich sind, und den Kranken entweder in ein Krankenhaus, Sanatorium, Alters- oder Kriegsversehrtenheim einliefern würden. Kein vernünftiger Mensch würde in einer solchen Situation dem gesunden Ehepartner daraus einen Vorwurf machen, obwohl die oben zitierte Bestimmung eigentlich noch vorschreibt, dass nicht die Gesellschaft sondern der zweite Ehepartner die wirtschaftliche Versorgung des arbeitsunfähigen Partners übernehmen muss. Es erscheint mir außerdem vollkommen korrekt, dass in einer solchen Situation der Ehepartner von den im Dekret vorgeschriebenen Versorgungspflichten gegenüber seinem Partner befreit wird, mögen sich die beiden Menschen auch noch so lieb haben. In einem solchen Fall ist es die Aufgabe der Gesamtgesellschaft, diese Verantwortungslast zu übernehmen, denn das Gesamtkollektiv ist verpflichtet, seine Mitglieder materiell zu versorgen, so lange sie arbeitsunfähig sind. Solange dieser Mensch nämlich noch arbeitsfähig war, hat er durch seine Arbeit jene Gebrauchsgüter produziert, die heute von der Gesellschaft auch an die kranken, alten oder invaliden Bürger verteilt werden. Er hat also selbst die Vorräte für die notwendigen Rationen produziert.

Vor unseren Augen spielt sich eine gewaltige Veränderung der bisherigen Ehebeziehungen ab. Besonders beachtenswert ist aber, dass sich dieses neue Bewusstsein und die sich abzeichnenden neuen Verhaltensnormen auch in vielen bürgerlichen Familien durchsetzen. Denn von dem Augenblick ab, von dem die bürgerlichen Frauen – diese ehemaligen Schmarotzerinnen – in den sozialen Einrichtungen der örtlichen Sowjets mitarbeiten und viele zum ersten Male ihr eigenes Brot verdienen, gewinnen sie auch eine unabhängigere Stellung gegenüber ihren Männern. Es ist auch gar nicht so selten, dass die Ehefrau mehr verdient als der Ehemann, und in einer solchen Situation verwandelt sich die ehemals unterwürfige und gedemütigte Gattin auf einmal in das Oberhaupt der Familie. Sie geht zur Arbeit, und der Ehemann bleibt zuhause. Er hackt Holz, heizt den Ofen an und geht auf den Markt einkaufen. Früher erlebten diese damals noch sehr eleganten Damen einen hysterischen Anfall, wenn ihr Gatte nicht bereit war, einen neuen Hut für den Frühling oder ein Paar neue Schuhe zu erstehen. Heute wissen diese Frauen selbst sehr gut, dass sie von ihren Männern nichts mehr zu erwarten haben; deshalb sparen sie sich ihre hysterischen Anfälle lieber für den Abteilungsleiter ihrer staatlichen Behörde oder für ihren Bürochef auf und erpressen sich so eine Sonderzuteilung oder Extraration.

Wir müssen aber auch gerechterweise sehen, dass viele der Frauen, die früher zu den besseren Kreisen gehörten, die großen Anstrengungen der Übergangsperiode wesentlich besser bewältigt haben als ihre dahinsiechenden intellektuellen Ehemänner. Denn diese Frauen haben gelernt, einerseits ihren Haushalt und andererseits ihren Beruf miteinander zu vereinen, und sie haben sich trotz aller Schwierigkeiten und Misserfolge tapfer durchs Leben geschlagen. Deshalb ist es auch durchaus typisch, dass wir sogar in den großbürgerlichen Familien Ansätze für eine Rationalisierung der Hausarbeit finden können. Außerdem besteht auch in diesen Familien vielfach die Tendenz, von dem kollektiven Konsum Gebrauch zu machen und z. B. die Kinder in einen öffentlichen Kindergarten zu schicken.

Kurz und gut, wir können also auch hier eine Auflockerung der Familienbande feststellen. Diese augenblickliche Entwicklung wird sich in der Zukunft noch weiter verstärken, und die bürgerliche Familie wird aussterben. An ihre Stelle wird ein neuer Typus von Familie – das arbeitende Kollektiv – treten. In dieser neuen Grundform leben nicht Menschen aufgrund irgendwelcher Blutsbande zusammen, sondern sie sind durch ihre gemeinsame Arbeit, ihre gemeinsamen Interessen und Pflichten solidarisch vereint und erziehen sich gegenseitig.

Unser neues Wirtschaftssystem und die neuen Produktionsverhältnisse schaffen auch ein neues Bewusstsein. Diese neue Gesellschaftsform wird auch einen neuen Menschen schaffen: Den Menschen, der wirklich kommunistisch denkt und fühlt. Sobald die Eheschließung für die Betroffenen keine materiellen Vorteile mehr mit sich bringt, wird die Ehe auch unbeständiger. Beachtet bitte, dass die Anzahl der Scheidungen schon heute wesentlich größer ist als früher. Denn wenn die frühere Liebe und Zuneigung nicht mehr vorhanden sind, dann versuchen die Menschen nicht mehr länger, wie es ja früher durchaus typisch war, das Eheleben um jeden Preis aufrecht zu erhalten, um den Schein zu wahren. Die Gemeinsamkeit besteht nicht mehr im gemeinsamen Haushalt oder in den gemeinsamen Pflichten beider Eltern dem Kind gegenüber. Und auch das Ritual der kirchlichen Trauung wird immer mehr in Frage gestellt. Natürlich hat sich diese neue Einstellung noch nicht überall durchgesetzt. Zweifellos wird sie aber schon von sehr vielen Menschen vertreten, und sie wird sich in unserer Gesellschaft in dem Maße durchsetzen, wie neue kommunistische Verhaltensnormen entwickelt und allgemein akzeptiert werden. Im Kommunismus wird das Eheleben von allen materiellen Überbleibseln gereinigt werden. Deshalb haben wir z. B. in unserer Arbeiterrepublik auch die Küche durch die Errichtung der öffentlichen Volkskantinen vom Eheleben getrennt. Die Intensität der Beziehung zwischen zwei Menschen hängt ja wirklich nicht nur von der Möglichkeit ab, ein „Heim“ zu gründen. Wenn früher ein Mann heiraten wollte, dann musste er sich erst einmal ausrechnen, ob er sich überhaupt einen solchen Luxus leisten konnte. Ob es für ihn überhaupt vorteilhaft war, eine Gattin zu versorgen. Dies hing dann davon ab, ob die Braut auch von ihren Eltern mit einer stattlichen Aussteuer versehen wurde. Aufgrund dieser Voraussetzungen versuchten dann die beiden Ehepartner, sich „ihr eigenes kleines Nest zu bauen“. Wer genügend Geld besaß, kaufte sich eine eigene Wohnung. Wer kein Geld hatte, kaufte sich nur einen Samowar. Beide Paare gründeten aber jeweils einen Familienhaushalt und lebten pflichtgemäß zusammen. Verkrachte sich ein solches Paar, so kam es vor, dass es sich trennte. Meistens lebte es aber trotzdem weiter zusammen. Heute dagegen gibt es viele Paare, die einander sehr lieben, aber trotzdem nicht zusammenleben.

Ziemlich oft geht ein solches Paar zur örtlichen Verwaltung und lässt sich entsprechend dem Dekret vom 18. Dezember 1917 als Ehepaar registrieren, obwohl beide Partner gar nicht zusammen leben. Die Frau wohnt vielleicht an einem Ende der Stadt und der Mann am anderen. Oder aber sie lebt in Moskau und er in Taschkent. Sie lassen ihre Ehe nur deshalb registrieren, weil sie sich gegenseitig zeigen wollen, dass sie es mit ihrer Beziehung „ernst meinen“. Denn wenn man einmal ineinander verliebt ist, dann will man seine Liebe gleich für ewig erklären. Andererseits sehen sie sich aber nur sehr selten, denn beide arbeiten, und die Arbeit und die anderen gesellschaftlichen Pflichten haben gegenüber dem Privatleben Vorrang. Dieser Typus von Ehe ist unter den Parteimitgliedern besonders häufig denn bei den Kommunisten ist das soziale Pflichtgefühl schon jetzt besonders stark entwickelt. Vergesst bitte nicht, dass besonders die Frauen früher einen „eigenen Haushalt“ anstrebten, denn sie konnten sich ein Leben ohne eigenen Herd nicht vorstellen. Die Ehe wäre sonst unvollständig geblieben. Heute dagegen redet vor allem der Mann darüber, wie sinnvoll es doch wäre, wenn man eine eigene Wohnung mit einer eigenen Küche sein Eigentum nennen könnte, und wie schön es doch wäre, wenn die Frau Tag und Nacht in seiner Nähe sein könnte. Die Frauen und ganz besonders natürlich die schnell ansteigende Zahl der Industriearbeiterinnen, die in den Fabriken der Arbeiterrepublik tätig sind, wollen aber nichts mehr vom „eigenen Heim“ hören: „Bevor ich mich in ein Familienleben und den dazu gehörigen Kleinkram stürze, lasse ich mich lieber scheiden. Denn jetzt kann ich endlich für die Revolution arbeiten. Würde ich mich erst einmal auf so eine Geschichte einlassen, dann wäre ich angeschmiert. Nein. In einem solchen Falle ist es wirklich besser, wenn ich mich scheiden lasse.“ Die Männer müssen sich diesem Entschluss fügen. Natürlich akzeptieren nicht alle Männer dieses neue Bewusstsein ihrer Frauen freiwillig, und es ist vorgekommen, dass der Ehemann den Parteiausweis seiner Frau verbrannt hat, weil er sich darüber empörte, dass sie sich mehr um ihre Arbeit in der Frauenabteilung als um ihn und den Familienhaushalt gekümmert hat. Die Frauen dürfen sich von solchen Ausnahmeerscheinungen aber nicht beeindrucken lassen. Denn wir müssen solche Erscheinungen im Gesamtzusammenhang interpretieren: Es gibt in unserer Arbeiterrepublik eine Entwicklungstendenz zur Auflösung der Ehe. Wenn wir die allgemeine gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung bei uns analysieren, dann ist es ganz offenbar, dass das Arbeitskollektiv früher oder später die traditionelle bürgerliche Einzelfamilie zersetzen und schließlich ablösen wird.

Die veränderte Einstellung der Gesellschaft gegenüber unverheirateten Müttern ist ein weiteres Indiz für diese Entwicklung, die wir ausschließlich den veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen verdanken und natürlich der Tatsache, dass die Frau heute als selbstständige Arbeitskraft anerkannt ist. Zeigt mir den Mann, der sich heute noch weigert, eine Frau zu heiraten, die er liebt, nur weil diese Frau keine Jungfrau mehr ist. Diese „Unschuld“ war in der bürgerlichen Gesellschaft deshalb eine notwendige Voraussetzung für eine Eheschließung, weil nur so das Privateigentum geschützt werden konnte. Die Abstammung des Kindes war nämlich für die bürgerliche Gesellschaft aus zwei Gründen wichtig: erstens um die Erbfolge zu sichern, denn nur den eigenen Kindern sollte das Familienvermögen vererbt werden, und zweitens um die Versorgung des Kindes durch den Vater zu gewährleisten. In unserer Arbeiterrepublik dagegen spielt das Privateigentum keine Rolle mehr. Die Eltern können nämlich ihren Kindern kein Vermögen mehr vererben. Deshalb ist es auch völlig gleichgültig, in welcher Familie ein Kind zur Welt gekommen ist, denn nur das Kind selbst, also der zukünftige Arbeiterast wichtig.

Unsere Arbeiterrepublik hat sich verpflichtet, für die Kinder zu sorgen, unabhängig davon, ob sie aus einer gesetzlich geschlossenen Ehe oder aus einer freien Beziehung stammen. Durch diese Entwicklung ist ein völlig neues Frauen- und Mutterbild entstanden. Wir sorgen in unserer Arbeiterrepublik für jede Mutter, ganz gleich ob sie verheiratet ist oder nicht und auch unabhängig davon, ob der Vater das Kind als sein eigenes anerkennt oder nicht. In der täglichen Praxis stoßen wir aber natürlich immer wieder auf Überreste aus der Vergangenheit. So z. B. beim Ausfüllen der Formulare, wo einem häufig noch die verrückte Frage gestellt wird: Sind sie verheiratet oder ledig? Bei der Miliz wird man sogar nach den Ehepapieren gefragt. Solche Beispiele zeigen natürlich nur, wie stark der Einfluss der Vergangenheit heute noch ist, und dass sich die Arbeiterklasse nicht von heute auf morgen von allen Vorurteilen der bürgerlichen Vergangenheit befreien konnte. Andererseits sehen wir jedoch auch eindeutige Fortschritte. Welches Mädchen oder welche ledige Mutter begeht heute z. B. noch Selbstmord? Früher kam so etwas noch sehr oft vor. Gibt es noch jene unglücklichen Kindermörderinnen? Heute wagt einfach niemand mehr, zu behaupten, dass ein uneheliches Kind eine „Schande“ sei. In unserer Gesellschaft ist also die Ehe mehr und mehr zu einer Privatangelegenheit der Betroffenen geworden, während die Mutterschaft, und zwar unabhängig von der Ehe, eine äußerst wichtige gesellschaftliche Aufgabe ist. In die Ehebeziehungen dagegen darf und soll die Gesellschaft nur eingreifen, wenn beide oder einer der Partner krank ist. Dieses Problem ist aber ein spezielles Kapitel, und die Gesundheitsbehörden müssen noch entsprechende Empfehlungen ausarbeiten.

Aber nicht nur unser Verhältnis zur Ehe und Familie hat sich geändert, sondern auch unsere Einstellung gegenüber der Prostitution. Die verschiedenen Erscheinungsformen der Prostitution, wie sie in der bürgerlichen Gesellschaft existieren und sich ausbreiten, gehen in unserer Arbeiterrepublik immer mehr zurück. Diese Prostitution war eine Konsequenz der unsicheren gesellschaftlichen Stellung der Frau und ihrer Abhängigkeit vom Mann. Seitdem wir uns mit der Einführung der allgemeinen Arbeitspflicht darum kümmern, dass jeder Arbeit bekommt, ist natürlich auch die berufsmäßige Prostitution sehr zurückgegangen. An den Orten, wo die Prostitution in unserer Arbeiterrepublik noch immer vorkommt, wird sie von den Behörden bekämpft. Wir bekämpfen aber die Prostitution nicht als Vergehen gegen die Sittlichkeit, sondern weil es sich hierbei um eine Erscheinungsform der Produktionsdesertion handelt; denn eine professionelle Prostituierte vermehrt durch ihre Arbeit nicht den Reichtum der Gesamtgesellschaft, sondern sie lebt in Wirklichkeit von der Ration der anderen. Deshalb verurteilen wir die Prostitution und bekämpfen sie als eine Form der Arbeitsverweigerung. Die Prostituierten sind in unseren Augen keine besonders verwerfliche Kategorie von Menschen, und es spielt auch in unserer Arbeiterrepublik überhaupt keine Rolle, ob eine Frau ihren Körper nun an mehrere oder nur an einen Mann verkauft, also ob sie sich von einem Ehemann aushalten lässt oder als Berufsprostituierte von mehreren Männern. Denn in beiden Fällen ernähren sich die Frauen nicht durch eigene produktive Arbeit. Deshalb werden alle Frauen, die der allgemeinen Arbeitspflicht nicht nachkommen und die auch keine Kleinkinder in der Familie zu versorgen haben, genau so zu Zwangsarbeit verurteilt wie die Prostituierten. In dieser Frage können und wollen wir nämlich keinen Unterschied machen zwischen einer Hure und einer ordentlich getrauten Gattin, die sich von ihrem Ehemann aushalten lässt. Und da hilft es der Gattin auch gar nichts, wenn sie mit einem politischen Kommissar verheiratet ist, denn wir beurteilen alle Produktionsdeserteure gleich. Die Gesamtgesellschaft macht einer Frau nicht deshalb Vorwürfe, weil sie mit mehreren Männern schläft, sondern weil sie sich genau so wie die gesetzlich getraute, aber nicht berufstätige, Ehefrau vor der produktiven Arbeit für die Gesellschaft drückt. Die Einstellung unserer Gesellschaft zu diesem Problem ist eine völlig neue Betrachtungsweise, da sie diese Frage zum ersten Male unter dem Aspekt gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge diskutiert.

Die Prostitution ist bei uns zum Aussterben verurteilt, und in unseren Großstädten, z. B. in Moskau und Petrograd, gibt es heute im Gegensatz zu früher nicht mehr 10.000 Prostituierte, sondern höchstens noch einige Hundert. Dies ist ein großer Fortschritt, aber dennoch dürfen wir uns über dieses Problem keine Illusionen machen und voreilig behaupten, dass das Problem der Prostitution bei uns endgültig gelöst sei. Die jetzigen Arbeitslöhne für Frauen garantieren keine ausreichende soziale Sicherheit. Solange aber die Frau vom Manne aufgrund der chaotischen und verwirrenden wirtschaftlichen Verhältnisse noch abhängig ist, wird die offene und verschleierte Prostitution auch bei uns weiter vorkommen. Ist es etwa keine Form der Prostitution, wenn sich eine Sekretärin des örtlichen Sowjets mit ihrem Vorgesetzten einlässt, obwohl sie ihn nicht liebt, nur weil sie befördert werden will oder eine Sonderration braucht? Oder wenn eine Frau mit einem Mann schläft, um ein Paar kniehohe Stiefel und manchmal auch nur, um ein ein bisschen Zucker oder Mehl zu ergattern? Oder wenn eine Frau einen Mann heiratet, nur weil er ein eigenes Zimmer in einer Hauskommune besitzt? Handelt es sich nicht um eine verschleierte Form von Prostitution, wenn eine Arbeiterin oder Bäuerin, die mit einem leeren Sack hamstern geht, sich dem Zugschaffner hingibt, um einen Platz auf einem Eisenbahnwaggon zu ergattern? Oder wenn eine Frau mit dem Kommandanten einer Kontrollstelle schläft, um ihren Sack Mehl heil durch die Sperre zu bringen?

Natürlich ist auch dies eine Form der Prostitution und sie ist für die Frauen sehr erniedrigend, abscheulich und bitter und außerdem schädlich für das gesellschaftliche Bewusstsein. Hinzu kommt noch, dass diese Art von Prostitution durch die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten die Gesundheit des Volkes gefährdet und die Moral der Bevölkerung untergräbt. Trotzdem müssen wir begreifen, dass ein erheblicher Unterschied besteht zwischen der klassischen Form der Prostitution und dieser neuen Erscheinungsform. Denn die Frauen, die früher ihren Körper verkauften, waren aus der Gesellschaft ausgestoßen und als Huren abgestempelt. Die Männer, die diese Frauen missbrauchten, betrachteten es als ihr gutes Recht, diese Frauen obendrein noch zu verhöhnen. Diese Frauen wagten natürlich nicht, dagegen zu protestieren, denn ihr „gelber Ausweis“ stempelte sie als Freiwild ab. Aber auch die Frauen, die diesen „gelben Ausweis“ noch nicht verpasst bekommen hatten, lehnten sich gegen die Demütigungen nicht auf, da sie ja jederzeit von der Polizei als Prostituierte hätten registriert werden können und deshalb erpressbar waren. Diese Verhältnisse haben sich heute grundlegend geändert. Seitdem die Frauen ein eigenes Arbeitsbuch besitzen, unterliegen sie nicht mehr dem Marktgesetz von „Angebot und Nachfrage“ Wenn sich heute noch eine Frau aus materiellen Erwägungen heraus mit einem Mann einlässt, dann sucht sie sich trotzdem einen, der ihr gefällt; denn das ökonomische Motiv, das ja auch bei neun von zehn bürgerlichen Ehen eine wesentliche Rolle gespielt hat, ist heute trotz alledem nicht mehr vorherrschend. Und außerdem benimmt sich der Mann gegenüber einer Frau, mit der er aufgrund einer solchen Absprache ein Verhältnis eingeht, völlig anders, als gegenüber einem „Straßenmädchen“. Der Mann wird versuchen, der Frau zu imponieren, die Frau wird sich nichts gefallen lassen, und wenn sie genug hat, wird sie ihm den Laufpass geben, und dies viel schneller, als es eine Ehefrau je tun würde. Solange die Frauen nach wie vor in den am schlechtesten bezahlten Berufen arbeiten, solange wird es auch die verschleierte Form der Prostitution geben, denn solange braucht die Frau vorerst eine zusätzliche Einnahmequelle, um existieren zu können. Solange dies so ist, ist es auch vollkommen gleichgültig, ob jemand eine Ehe aus wirtschaftlicher Berechnung eingeht oder ob er sich der Gelegenheitsprostitution hingibt.

Der momentane Kurs unserer Wirtschaftspolitik bedroht unsere Frauen allerdings erneut mit dem Gespenst der Arbeitslosigkeit. Diese Entwicklung ist für die Frauen bereits jetzt spürbar, und sie wird letzten Endes auch zu einer Zunahme der professionellen Prostitution führen; unser augenblicklicher Kurs in der Wirtschaftspolitik bremst aber auch die Entwicklung eines neuen Bewusstseins. Wir können tagtäglich beobachten, wie dieser Prozess auch die Entstehung eines neuen und wirklich kommunistischen Verhältnisses zwischen Mann und Frau behindert. Aber es ist hier, nicht der richtige Ort, diese neue politische Entwicklung zu analysieren, obwohl sie eine Renaissance vergangener Verhältnisse hervorrufen könnte. Denn das Wirken der Arbeiterklasse ist auf die Zukunft gerichtet, und für das internationale Proletariat ist es beim Aufbau des Kommunismus möglicherweise weniger wichtig, wie man sich bei uns heute schon wieder an bereits überholte wirtschaftliche Verhältnisse anpasst. Von daher ist für das internationale Proletariat auch von viel größerer Bedeutung, was wir in der Blütezeit der Diktatur des Proletariats bereits erreicht haben. An euch liegt es jetzt zu analysieren, was wir bis jetzt aufgebaut haben.Ihr müsst diesen Versuch, ein neues Bewusstsein zu schaffen, bewusst aufnehmen und für euch nutzen. Trotz alledem ist es eine Tatsache, dass sich der Charakter der Ehe zur Zeit verändert. Die traditionellen Familienbande werden schwächer, und die Mutterschaft ist heute eine gesellschaftliche Pflicht. In der heutigen Vorlesung haben wir natürlich längst noch nicht sämtliche Versuche besprochen, die wir unter der Diktatur des Proletariats eingeleitet haben, um die Traditionen und Gewohnheiten zu verändern. Wir werden auf dieses Thema in der nächsten Vorlesung noch zurückkommen. Ich muss aber noch einmal ausdrücklich betonen: Die praktischen Erfahrungen der Revolutionsjahre beweisen, dass die Stellung der Frau in der Gesellschaft und in der Ehe einzig und allein von ihrer Stellung in der Produktion abhängt. Also davon, ob die Frau an der Arbeit der Gesamtgesellschaft teilnimmt, denn die Arbeit in der privaten Einzelfamilie verwandelt die Frau zur Sklavin. Nur die gesellschaftlich nützliche Arbeit kann die Frau befreien.

14. Die Frauenarbeit heute und morgen

Wir beendeten unsere letzte Vorlesung mit einem Überblick über die revolutionären Veränderungen im Alltag der sowjetrussischen Frauen und Familien. Wir schließen also unsere Vorlesungsreihe mit einer Bestandsaufnahme ab, die nicht nur für das russische, sondern auch für das internationale Proletariat wichtig ist. Da das Proletariat bei der Durchführung der Revolution auf seine eigene Kraft angewiesen ist, stellt sich für uns die Frage, auf welchen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ebenen die Frauenarbeit besonders produktiv sein kann.

Seitdem alle russischen Staatsbürger ohne Rücksicht auf ihr Geschlecht, gesellschaftlich produktive Arbeit verrichten müssen, hat die Befreiung der Frau rasche Fortschritte gemacht. Dieser Prozess erfasste jedoch hauptsächlich das städtische Industrieproletariat, während er an der ländlichen Bevölkerung nahezu spurlos vorübergegangen ist. Die Lage der Bäuerinnen hat sich im Kern nicht wesentlich geändert, denn auf dem Lande herrscht nach wie vor die private Familienwirtschaft vor. Die Bäuerin ist noch immer die Hilfskraft des Bauern. Außerdem spielt in der Landwirtschaft im Gegensatz zur Maschinenwelt der Industrie die menschliche Muskelkraft noch immer eine unvergleichlich wichtige Rolle. Trotzdem hat sich natürlich auch das Leben auf dem Dorfe verändert. Es gibt heute bereits acht Millionen mehr Bäuerinnen als Bauern. Auf dem Lande leben also bereits acht Millionen Frauen, die ökonomisch nicht mehr von Männern abhängig sind. Diese Frauen haben ihre Männer entweder im imperialistischen Weltkrieg oder im Bürgerkrieg verloren; oder ihre Ehemänner sind noch immer Soldaten der Roten Armee. Für diese selbständigen Bäuerinnen hat sich natürlich das Leben auf dem Lande verändert. Ihr Status innerhalb der Dorfgemeinschaft brachte den Frauen mehr Gleichberechtigung. Außerdem zwingt die allgemeine Arbeitspflicht die örtlichen Gebiets- und Dorfverwaltungen, den besonderen Status der Kriegerwitwen zur Kenntnis zu nehmen. Die Sicherstellung des Saatgutes und der Naturalsteuern ist nur durch die Mitarbeit der Frauen zu verwirklichen. Durch den Bürgerkrieg wurden also unsere „Bauernweibchen“ gezwungen, ihre hundertjährige Beobachterposition endlich aufzugeben. Besonders in der Ukraine, im Don-Gebiet und am Kuban haben die Frauen aktiv am Bürgerkrieg teilgenommen, und zwar auf beiden Seiten. Ähnlich wie während der französischen Revolution die Bäuerinnen in der Bretagne und der Normandie aktiv am Girondistenaufstand teilgenommen hatten, unterstützten viele Bäuerinnen in der Ukraine die führenden Batjuschkas. Seitdem aber die örtlichen Sowjets die Frauen sozial und politisch unterstützen, sympathisieren viele der Bäuerinnen mit der Sowjetmacht. Seit kurzem organisiert die Kommunistische Partei in allen Gouvernements für die Arbeiterinnen und Bäuerinnen Delegiertenkonferenzen und Kongresse. Die Frauenabteilungen der Partei richten außerdem auf dem Lande Schulungszirkel für die Bäuerinnen ein, in denen das notwendige Wissen vermittelt wird, das den Bäuerinnen helfen soll, den Alltag zu meistern. Wir wollen hier nur über zwei Entwicklungstendenzen sprechen, die beweisen, dass die Bäuerinnen nicht nur über ihr bisheriges Leben nachdenken, sondern auch begreifen, dass seit der Oktoberrevolution auch die Bedingungen für ihre persönliche Emanzipation gegeben sind. Zum einen zeigt das die zunehmende Anziehungskraft der großen Städte, in denen den Bäuerinnen zahlreiche Ausbildungsmöglichkeiten angeboten werden. Alleine unter den 402 Studentinnen und Studenten der Swerdlow-Universität, die an diesem Ausbildungskurs teilnehmen, sind 58 Bäuerinnen. In den von den örtlichen Sowjets eingerichteten lokalen Parteischulen ist der Anteil der Frauen an den Kursen noch höher. An den verschiedenen Arbeiterfakultäten sind zehn bis fünfzehn Prozent der Studentinnen und Studenten Bäuerinnen. Zum anderen fällt die wachsende Anzahl der Bäuerinnen auf, die in den Arbeiter- und Bauernräten mitarbeiten oder in die Provinz- und Gouvernementsräte gewählt werden. Denn wir hatten in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution überhaupt keine Bäuerinnen, sondern nur Arbeiterinnen in den Räten. Heute dagegen beteiligen sich an den örtlichen Räten bereits mehr Bäuerinnen als Arbeiterinnen. Allerdings arbeitet bis zum heutigen Tag noch keine einzige Bäuerin im Allrussischen Sowjetkongress mit.

Die Bäuerinnen in den örtlichen Räten haben häufig sehr verantwortliche Positionen inne und organisieren gewissenhaft die Verwaltung der Dorfgemeinde. Viele Bäuerinnen arbeiten aber auch in den Institutionen der Arbeiter- und Bauerninspektionen mit. Überall dort, wo die Kommunistische Partei in der Bevölkerung noch keine politische Massenaufklärung entfaltet hat, sind die Bäuerinnen bereits heute wesentlich zuverlässigere Anhängerinnen des Kommunismus als die Bauern. Das ist auch leicht verständlich, denn der Bauer ist gleichzeitig Herr im Hause und alleiniger Besitzer des Hofes. Der Bauer verteidigt natürlich diese Tradition, die alle Mitglieder des Hofes, einschließlich der Bäuerin, dazu verpflichtet, sich dem Willen des Hausherrn bedingungslos unterzuordnen. Da der Bauer nicht davon ausgehen kann, dass die veränderten Lebensformen seine Stellung in der Familie stärken oder absichern, steht er dem Kommunismus abwartend oder sogar feindlich gegenüber. Für die Bäuerin dagegen ist die Einrichtung von landwirtschaftlichen Genossenschaften, einer dörflichen Molkerei und anderen kollektiven Einrichtungen äußerst begrüßenswert, ganz abgesehen von der Veränderung ihres Alltags durch Gemeinschaftseinrichtungen wie Kindergarten, öffentliche Bäckerei und Wäscherei. Diese Einrichtungen erleichtern den Bäuerinnen das Alltagsleben. Das ist auch die Erklärung dafür, warum die Bäuerinnen die Ziele des Kommunismus wesentlich besser begreifen als die Bauern: Die konkrete Verbesserung ihres Lebens macht sie zu begeisterten Anhängerinnen des Kommunismus auf dem Lande.

Vor der Oktoberrevolution gab es auf dem Lande so gut wie überhaupt keine Ehescheidung. Manchmal ließ der Mann zwar seine Frau im Stich; dass aber eine Bäuerin ihren Ehemann verließ, kam alle Jahrhunderte nur einmal vor und erregte in der Dorfgemeinschaft ein ungeheures Aufsehen. Seitdem aber die Ehescheidung durch das Dekret von 1917 wesentlich erleichtert wurde, ist es besonders bei der jüngeren Generation auf dem Lande gar nicht mehr so ungewöhnlich, dass sich ein Ehepaar scheiden lässt. Diese Tatsache zeigt deutlich, dass auch auf dem Lande das scheinbar unerschütterliche Fundament der Institution Familie ins Wanken geraten ist. Wenn heute eine Bäuerin ihren Mann verlässt, so löst sie durch diesen Schritt keine große Unruhe mehr in der Dorfgemeinschaft aus. Je mehr die Bäuerin innerhalb der kommunistischen Landwirtschaft selbständige Arbeit ausführt, als gewähltes Mitglied im örtlichen Sowjet mitarbeitet und sich an den gemeinsamen Arbeitseinsätzen beteiligt, desto einfacher wird es für sie auch sein, die traditionelle Vorstellung von der Minderwertigkeit der Frau zu überwinden. Auf diese Weise wird die Emanzipation der Frau auf dem Lande vorangetrieben. Hinzu kommt noch, dass durch die Mechanisierung der Landwirtschaft, die geplante Elektrifizierung und die Einrichtung von landwirtschaftlichen Kooperativen diese Entwicklung beschleunigt wird. Wenn diese Technisierung erst einmal ein bestimmtes Niveau erreicht haben wird, werden auch auf dem flachen Lande Bedingungen entstanden sein, die eine allgemeine Revolutionierung der Lebensformen und die endgültige Emanzipation der Frau ermöglichen. Die Revolutionierung der Lebensformen wird zwar zur Zeit durch die Kursänderung in der Wirtschaftspolitik ernsthaft gefährdet, und dadurch verzögert sich wiederum die Befreiung der Frauen und die Entwicklung neuer Formen des Verhältnisses der Geschlechter zueinander, die auf gegenseitiger Achtung und Zuneigung aufbauen und nicht, wie bisher üblich, auf wirtschaftlicher Berechnung. Aber gerade deshalb ist es heute, wo die Keime der neuen Gesellschaft noch jung und kraftvoll sind und ihr Wachstum von den feindlichen Elementen noch nicht ernsthaft aufgehalten werden kann, besonders notwendig, die bisherigen Veränderungen der Lebensformen und Gewohnheiten zu dokumentieren, so wie sie sich in den ersten Revolutionsjahren – und zwar wegen des engagierten Einsatzes der kommunistischen Aktivisten – abgezeichnet haben. Eine Bestandsaufnahme dieser Erfahrungen und eine Analyse dieser neuen Lebensformen wird für die Zukunft von uns allen von allergrößten Nutzen sein. Eine derartige Aufarbeitung der objektiven Bedingungen des heutigen Entwicklungsprozesses würde nämlich dem internationalen Proletariat unsere aktuellen Erfahrungen – und zwar in einer verständlichen Sprache – zur Verfügung stellen. Durch eine solche Arbeit könnten wir den Genossinnen und Genossen im Ausland helfen, jenes Werk zu vollenden, das die Arbeiter und Arbeiterinnen in Russland begonnen haben. Auch wenn wir uns selbst im Augenblick in einer düsteren und unerfreulichen Periode allgemeiner Stagnation befinden, so haben wir doch bereits mit dem, was wir seit der Oktoberrevolution im Jahre 1917 vollbracht haben, in der Geschichte der Menschheit und natürlich auch besonders in der Geschichte der Frau eine unauslöschliche Spur hinterlassen. Solange die augenblickliche Pause beim Aufbau der neuen Lebensformen anhält, sollte es die Aufgabe unserer revolutionären Frauenabteilung sein, eine vollständige Bestandsaufnahme über die erfolgreichen Veränderungen der Gewohnheiten und des Bewusstseins zu erarbeiten und diese Erfahrungen an breite Schichten der Bevölkerung weiterzugeben. Denn nur so können die Massen ein eben so hohes Bewusstseinsniveau erreichen, wie es die führende Schicht des Proletariats schon heute besitzt. Daneben müssen die Frauenabteilungen durch eine entsprechende Propagandaarbeit den Arbeiterinnen in allen anderen Ländern der Welt unsere praktischen Erfahrungen vermitteln, um so in ihren Herzen die feste Überzeugung zu wecken, dass die tatsächliche Verwirklichung der Befreiung der Frau in der Übergangsphase zum Kommunismus verwirklicht werden kann. Denn es ist eine Tatsache, dass die russische Revolution das Fundament für die Befreiung der Frau nicht nur in der Theorie sondern auch in der Praxis geschaffen hat. Darüber hinaus hat die Sowjetmacht – als erste Regierung überhaupt – Mutter und Kind unter ihren besonderen Schutz gestellt. Wir haben außerdem Bedingungen geschaffen, die es uns ermöglichen, die Prostitution – die zu den skandalösesten Erscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft gehört – zu beseitigen. Die bisherige Familienform mit ihren aus der Zeit der Leibeigenschaft herrührenden charakteristischen Zügen wurde in unserer Räterepublik durch eine freiere, gesündere und flexiblere Form der Ehe ersetzt. Die große russische Revolution ist die Befreierin unserer Frauen, und wir dürfen auf keinen Fall vergessen, dass für die Verwirklichung der Revolution der Einsatz der Arbeiterinnen und Bäuerinnen genauso wichtig gewesen ist wie das Engagement unserer Arbeiter und Bauern. Denn die Arbeiterinnen und Bäuerinnen haben nicht nur bei der Auslösung der Revolution eine wichtige Rolle gespielt – ich möchte in diesem Zusammenhang nur an ihren historischen Auftritt am internationalen Tag der Arbeiterinnen, dem 23. Februar 1917, erinnern –, sondern sie haben auch während all der schweren Bürgerkriegsjahre aktiv am revolutionären Prozess teilgenommen. Doch alle diese Tatsachen kennt ihr ja längst, denn sie sind schon heute ein Teil der Geschichte der proletarischen Frauenbewegung und der Geschichte unserer Partei. Ich möchte aber trotzdem noch einmal betonen, dass es keinen gesellschaftlichen Bereich gibt, in dem unsere Arbeiterinnen und Bäuerinnen nicht seit der allerersten Stunde der Revolution aktiv mitgekämpft hätten. Die Liste der Namen von Frauen in unseren Geschichtsbüchern für die kommenden Generationen, in denen ihr mutiger Kampf für Sowjetrussland geschildert wird, ist beachtlich. So finden wir schon während der Kerenski-Periode die Namen von Arbeiterinnen und Bäuerinnen in den Mitgliederverzeichnissen der ersten Räte. Sowjetrussland ist auch das erste Land der Welt, in dem Frauen in die Regierung gewählt wurden: denn bereits im ersten Monat nach der Eroberung der Macht durch die Arbeiter und Bauern saß eine Frau als Volkskommissarin für soziale Fürsorge in der Sowjetregierung. In der Ukraine bekleidete ebenfalls eine Frau, die Genossin Majorowa, bis zum Herbst 1921 ein entsprechendes Amt, und auf der Provinzebene gibt es in allen wichtigen Ressorts zahlreiche Kommissarinnen, oft Arbeiterinnen oder Bäuerinnen, die direkt aus der Produktion gekommen sind. Wir wollen hier nur beispielhaft die Namen der Genossinnen Klimowa, Nikolajewa, Tjerhysjewa, Kalygina und Ikrjanistowa nennen. Nur in der Glut des revolutionären Kampfes, in der Schmiede des Kommunismus, konnte diese Generation sowjetischer Arbeiterinnen so schnell entstehen. Denn ohne die aktive Mitarbeit und das engagierte Mitdenken unserer Arbeiterinnen und Bäuerinnen wäre die Sowjetmacht überhaupt nicht imstande gewesen, auch nur einen Bruchteil jener Initiativen zu verwirklichen, die von der Avantgarde des Proletariats geplant gewesen sind. Wären nämlich die durch den revolutionären Prozess aktivierten Arbeiterinnen und Bäuerinnen den kämpfenden Arbeitern und Bauern nicht zu Hilfe gekommen, dann wäre es in dem allgemeinen Bürgerkriegschaos vollkommen unmöglich gewesen, unsere heutigen Institutionen aufzubauen und arbeitsfähig zu erhalten. Spätere Geschichtswissenschaftler werden bei ihren Studien diese Tatsache als einen für unsere Revolution in Russland typischen Charakterzug hervorheben, durch den sich unsere Revolution von der französischen Revolution der Jahre 1789 bis 1795 wesentlich unterscheidet. Auf dem Ersten Allrussischen Arbeiterinnen- und Bäuerinnen-Kongress im November 1918 zeigte sich bereits eindeutig, dass die Revolution bei den Frauen eine starke Unterstützung gefunden hatte. Die Idee, einen solchen Kongress einzuberufen, war in den Frauenabteilungen der Partei nur knapp einen Monat vorher, also im September, entstanden, und eine Gruppe von ungefähr fünfzehn Genossinnen begann seinerzeit mit den Kongressvorbereitungen. Obwohl diese äußerst mangelhaft sein mussten, war das Echo unter den werktätigen Frauen sehr groß, und 1.147 Delegierte kamen aus allen Gegenden Russlands angereist. Diese Tatsache ist ein besonders eindrucksvoller Beweis für meine These, dass der revolutionäre Prozess die Frauen in Russland aus ihrem jahrhundertelang währenden Dornröschenschlummer aufgeweckt hat. Um aber festzustellen, welch wesentliche Rolle die Frau in diesem Prozess gespielt hat, würde es schon genügen, nur ein einzelnes Detail dieses Prozesses zu untersuchen. Solch ein besonders typisches Beispiel ist die aktive Teilnahme der Arbeiterinnen und Bäuerinnen an der militärischen Verteidigung der Revolution. Denn dieses Engagement lag tatsächlich außerhalb des traditionellen Lebensbereiches der Frau, und einige Menschen werden auch noch heute die Meinung vertreten, dass Frauen sich eigentlich nicht für derartige Aktivitäten eignen. Das Klassenbewusstsein dieser Arbeiterinnen und Bäuerinnen war jedoch schon so weit entwickelt, dass sie sich aktiv an der Unterstützung der Roten Armee beteiligten, und so kämpften bereits während der Oktoberrevolution, Frauen in den Reihen der Revolutionäre. Sie organisierten Feldküchen, Sanitätsabteilungen und Kurierdienste. Das revolutionäre Russland demonstrierte seine neue Einstellung gegenüber den Frauen, indem es weibliche Arbeitskräfte für die Landesverteidigung einsetzte. Das Bürgertum dagegen hat schon immer die Auffassung vertreten, dass es die Rolle der Frau sei, den häuslichen Herd zu hüten, während der Mann von Natur aus dazu berufen sei, diesen Herd, oder drücken wir es einmal lieber weniger poetisch aus, den Staat, zu verteidigen. Denn das sogenannte Kriegshandwerk ist in der bürgerlichen Vorstellungswelt reine Männersache. Frauen in die Reihen der Soldaten aufzunehmen, war für das Bürgertum eine äußerst unnatürliche Vorstellung, denn eine solche Entwicklung hätte ja die Grundpfeiler der bürgerlichen Familie untergraben – und damit auch die des Privateigentums und des bürgerlichen Klassenstaates. Der Arbeiterstaat vertritt in dieser Frage eine ganz andere Auffassung, da in der Bürgerkriegsperiode die gesellschaftlich nützliche Arbeit unlösbar mit der Pflicht, den Sowjetstaat zu verteidigen, verbunden war. Der kommunistische Staat benötigt für die Entfaltung der Produktivkräfte die Mitarbeit aller erwachsenen Bürger. Deshalb können die Kommunisten auch nicht auf die Mitarbeit der Frauen verzichten. Der Verteidigungskampf des Proletariats gegen die Diktatur der Bourgeoisie erfordert auch den Einsatz der Arbeiterinnen und Bäuerinnen in der Armee und Marine. Die Mobilisierung der Arbeiterinnen und Bäuerinnen für den Kriegsdienst war aber nicht nur ein mehr oder weniger zufälliges Resultat militärischer Überlegungen, wie im Falle der bürgerlichen Regierungen während des imperialistischen Weltkrieges, sie war vielmehr das Resultat des Existenzkampfes der Arbeiterklasse. Denn je mehr Werktätige für militärische Aufgaben mobilisiert wurden, desto erfolgreicher konnte die Arbeiter- und Bauernarmee die Revolution verteidigen. Und die Rote Armee war auf die aktive Mitarbeit der Arbeiterinnen und Bäuerinnen angewiesen. Nur so konnten wir den Sieg an der Front sicherstellen. Dieser Sieg war aber auch gleichzeitig eine notwendige Voraussetzung für die allseitige Befreiung der Frau und eine Garantie für jene Rechte, die in der Oktoberrevolution für unsere Frauen erkämpft worden sind. Deshalb wäre es auch ganz falsch, den Einsatz der Arbeiterinnen und Bäuerinnen an der Front nur unter Leistungskriterien zu betrachten, denn wir müssen ebenso bedenken, welche langfristigen Auswirkungen diese Mobilisierung der Frauen für deren Bewusstsein hat. Denn ebenso wie die Oktoberrevolution das Fundament für die Beseitigung der traditionellen Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern geschaffen hat, so wurden auch durch die Beteiligung der Frauen an den beiden wichtigen Fronten – der Arbeitsfront und der Roten Front – die letzten Vorurteile gegenüber den Frauen beseitigt. Unsere Auffassung, dass die Frau ein vollwertiges Mitglied der menschlichen Gesellschaft ist, wurde nicht zuletzt auch durch die Mitarbeit unserer Frauen in der Roten Armee prinzipiell bestätigt. Das Bild von der Frau als einem Anhängsel des Mannes ist deshalb auch – ebenso wie die Institution des Privateigentums und der Diktatur der Bourgeoisie – auf dem besten Wege, auf dem Müllhaufen der Geschichte zu landen.

Kommunistinnen standen oft als Agitatorinnen an der militärischen Front, und sie arbeiteten in den revolutionären Komitees der verschiedenen Formationen der Roten Armee. Die Arbeiterinnen und Bäuerinnen bekleideten in der Roten Armee also vorwiegend politische Positionen. Diese politischen Aufgaben – als Rotarmistinnen und als Rote Schwestern – wurden in den Jahren 1919 und 1920 von über 6.000 Arbeiterinnen und Bäuerinnen an der Front ausgeübt. In der Roten Armee übernahmen Frauen auch Kurierdienste und arbeiteten als Sekretärinnen in den militärischen Verwaltungsstellen. Teilweise kämpften die Frauen aber auch in den Reihen der Rotarmisten direkt an der Front. Diese Fälle waren jedoch Ausnahmen und nicht die Regel. An unseren Lehrgängen für Offiziere nehmen zur Zeit eine große Anzahl von Studentinnen teil, und eine Frau studiert sogar auf der Generalstabsakademie. Allein im Jahre 1920 beteiligten sich insgesamt 5.000 Arbeiterinnen und Bäuerinnen an solchen Schulungskursen der Roten Armee. Keine einzige Mobilisierungskampagne für die Rote Armee fand ohne die Mitarbeit von Arbeiterinnen und Bäuerinnen statt. Frauen gingen außerdem in die Militärkrankenhäuser und pflegten kranke und verwundete Rotarmisten, sie sammelten Kleider für die Truppe und halfen im Kampf gegen die Deserteure. Seit der Oktoberrevolution ist bei uns keine Mobilisierung mehr ohne Beteiligung der Arbeiterinnen und Bäuerinnen durchgeführt worden. Unsere Aufrufe an das Proletariat die Revolution zu verteidigen, weckte in den Herzen der Arbeiterinnen und Bäuerinnen glühende Begeisterung – vor allem bei den Industriearbeiterinnen in den großen industriellen Ballungsgebieten. Aufgrund ihres Klassenbewusstseins ahnten diese Arbeiterinnen, dass es eine dialektische Verknüpfung zwischen der allgemeinen Befreiung der Frau und unserem militärischen Sieg an der Front gab. Besonders in den kritischen Perioden des Bürgerkrieges, als tatsächlich sämtliche Errungenschaften der Revolution gefährdet waren, leisteten die werktätigen Frauen durch ihren aktiven und massenhaften Einsatz einen wichtigen Beitrag zur Verteidigung des revolutionären Räterussland. Die Angriffe der Weißen Armee auf das Don-Gebiet und Lgansk im Jahre 1919, die militärische Bedrohung von Petersburg durch die weißgardistischen Truppen der Generäle Denikin und Judenitsch im Jahre 1920 sind Beispiele für diese kritischen Perioden. In der Nähe der ukrainischen Industriestadt Lugansk gelang es nur mit Hilfe der aktiv in den Kampf eingreifenden Arbeiterinnen und Arbeiter die Angriffe der weißen Banditen abzuwehren. Historisch bedeutend ist die Resolution der Arbeiterinnen aus Tula, die von ihnen verabschiedet wurde, als General Denikin die Industriestadt angriff: „Nach Moskau kommt Denikin nur über unsere Leichen.“ So lautete ihr Wahlspruch. Sie kämpften an der Front, hoben Schützengräben aus und waren für den Nachrichtendienst verantwortlich. Die Rolle der Arbeiterinnen bei der militärischen Verteidigung von Petersburg gegen die angreifenden Truppen des Generals Judenitsch ist ja allgemein bekannt. Tausende von Industriearbeiterinnen kämpften in Maschinengewehrabteilungen, im Nachrichten- und Kundschafterdienst. Unter Selbstaufopferung hoben diese Frauen im bitterkalten Herbstwetter Schützengräben aus und legten um die Stadt ein Netz von Stacheldrahtverhauen Mit der Waffe in der Hand bewachten Frauen die zahlreichen Straßensperren und hinderten Deserteure an der Fahnenflucht. Wenn diese Weichlinge von bewaffneten Frauen angehalten wurden, die selbst bereit waren, auf ihrem Posten zu kämpfen und notfalls zu sterben, waren sie moralisch ganz einfach gezwungen, schamerfüllt auf ihre Posten zurückzukehren. Bei der militärischen Verteidigung der russischen Sowjetrepublik haben die Frauen eine moralisch bedeutende, wenn auch militärisch untergeordnete Rolle gespielt. In anderen Bereichen unserer Sowjetrepublik haben die Frauen Avantgardeleistungen vollbracht. Wir wollen es der zukünftigen Geschichtsschreibung überlassen, darüber zu entscheiden, welche praktischen Lösungen auf sozialem Gebiet und besonders bei der Organisierung des staatlichen Mutterschutzes wir der Initiative unserer Arbeiterinnen und Bäuerinnen zu verdanken haben. Trotz des allgemeinen wirtschaftlichen Chaos und der Tatsache, dass die Arbeiterklasse noch nicht über einen eigenen Verwaltungsapparat verfügte, war die Sowjetregierung in der Lage, diese Sozialarbeit auf breiter Ebene in Gang zu setzen. Das wäre allerdings nicht möglich gewesen, wenn unsere Frauen dieser Frage gegenüber negativ eingestellt gewesen wären und unsere Bemühungen sabotiert hätten. Es ist bezeichnend, dass wir die besten Ergebnisse in unserer Zusammenarbeit mit den Arbeiterinnen und Bäuerinnen auf den Gebieten zu verzeichnen hatten, die direkt mit der Befreiung der Frau zusammenhängen.

Das heißt jedoch keineswegs, dass nicht auch viele Frauen in anderen Sektoren der Gesellschaft aktiv mitarbeiten: im Schulwesen, in den Sowjets, in den Volkskommissariaten, im Obersten Volkswirtschaftsrat und in zahlreichen anderen Stellen der staatlichen Verwaltung. In der unmittelbaren Periode nach der Oktoberrevolution interessierte sich aber die Mehrheit unsrer Arbeiterinnen und Bäuerinnen in erster Linie für solche Aufgaben, die ihren bisherigen Erfahrungen am nächsten standen, und die sie auch am leichtesten lösen konnten – und dies war natürlich auch das Problem der Mutterschaft. Die Frauen wurden für die Mitarbeit an den sozialen Einrichtungen für den Mutterschutz, der Erwachsenenerziehung und den öffentlichen Volkskantinen am erfolgreichsten mobilisiert. Im Gegensatz dazu erklärten sich nur sehr wenige Frauen bereit, in den Wohnungsämtern mitzuarbeiten. Unsere werktätigen Frauen hatten ganz offenkundig nicht begriffen, dass die Lösung der Wohnungsfrage für die praktische Befreiung der Frau genauso wichtig ist wie die Einrichtung von öffentlichen Volkskantinen. Die speziellen Kommissionen für Agitation und Propaganda bei den Frauen, die den heutigen Frauenabteilungen in der Partei entsprachen, hatten sich damals weitgehend darauf beschränkt, die Arbeiterinnen und Bäuerinnen für bestimmte Bereiche unserer Gesellschaft zu mobilisieren zu versuchen, denn die Mitarbeiterinnen in diesen Kommissionen vertraten die Auffassung, man müsse damit beginnen, die kollektive Frauenarbeit auf den Gebieten zu entwickeln, die den Frauen schon vertraut sind. Erst später gingen wir dann auch dazu über, die Frauen für die Aufbauarbeiten in anderen Bereichen zu mobilisieren. Aber bereits in den ersten Tagen nach der Oktoberrevolution engagierte sich die Mehrheit der Frauen für Veränderungen der Lebens- und Familienformen. Denn die Beendigung ihres Daseins als Dienstmagd beschleunigte ihren Befreiungsprozess und wurde engagiert und begeistert begrüßt. Die Sowjetrepublik verdankt diesen Frauen, dass das kühne und umfassende Programm für alle Sektoren der Gesellschaft nicht gescheitert ist. Es entstand eine natürlich Arbeitsteilung. Die werktätigen Frauen arbeiteten vorwiegend in den gesellschaftlichen Sektoren, die ihnen traditionell nahestanden und mit deren Problemstellungen sie vertraut waren: So z. B. dem Problem der Mutterschaft oder dem der allgemeinen Hausarbeiten, die zu verrichten die Frauen seit Jahrhunderten erzogen worden sind. Auf diesen Gebieten waren die Frauen nicht nur Hilfskräfte der Männer, sondern ergriffen häufig selbst die Initiative. Aber in anderen Sektoren des Staatsapparates dominierten nach wie vor die Männer, und dort nahmen die Frauen in der Regel nur recht unbedeutende Positionen ein, wenn es natürlich auch einige Ausnahmen gab. Diese Arbeitsteilung fraktionierte jedoch das Proletariat nicht nach Geschlechtern, sondern führte im Gegenteil zu einer ganz normalen und tragfähigen Konsolidierung der Initiativen in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Diese Entwicklung bedeutet für uns nun aber keineswegs, dass Frauen unfähig sind, Aufgaben außerhalb des Sozial- und Bildungssektors zu lösen. Ganz im Gegenteil. Wir wissen ja, welch außerordentlich wichtige Rolle die Arbeiterinnen und Bäuerinnen im revolutionären Prozess und bei den wirtschaftlichen Wiederaufbauarbeiten spielen. Denn ohne die aktive Mitarbeit der werktätigen Frauen wäre unser Kampf gegen die Konterrevolution und die Spekulation weit weniger erfolgreich verlaufen. Ist es denn nicht so, dass z. B. durch die unbezahlbare Mitarbeit unserer Arbeiterinnen und Bäuerinnen im Kampf die Epidemien die Aufgaben im Gesundheitssektor überhaupt erst gelöst werden konnten? Es ist auch schon oft betont worden, das die verschiedenen Kampagnen im ökonomischen und sozialen Bereich nur deshalb erfolgreich waren, weil die Mehrheit der Arbeiterinnen und Bäuerinnen – oft durch freiwillige und wochenlange Arbeitseinsätze – sich an diesen Kampagnen beteiligt hat. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass bei der Entwicklung neuer Lebensformen und eines veränderten Bewusstseins in der jetzigen Periode die Frauen aufgrund ihrer Erfahrungen spontan bei der Lösung solcher Fragen mitarbeiten, die für sie unmittelbar am wichtigsten sind und die gleichzeitig auch das Kollektiv stärken. Unsere eigenen Erfahrungen seit der Oktoberrevolution beweisen, dass diese Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, wie sie aufgrund der geschichtlichen Erfahrungen des gesamten Proletariats und des gesunden Menschenverstandes zustande gekommen sind, richtig war. Denn gerade weil die Frauen auf den Gebieten mitarbeiteten, mit deren Problemen sie besonders vertraut waren – die öffentlichen Volkskantinen, die staatlichen Mütter- und Säuglingseinrichtungen – konnten sie ihre Arbeitskraft bei der Lösung der dringendsten Wiederaufbauarbeiten erfolgreich einbringen und haben so der gesamten Sowjetrepublik geholfen. In der jetzigen Phase der Diktatur des Proletariats können sich die Proletarierinnen noch weniger als früher für die abstrakten Prinzipien des Feminismus, also für die abstrakte Gleichberechtigung der Frau, engagieren. Eine vernünftige Planung in Sowjetrussland muss gerade im Gegenteil die seelischen und körperlichen Eigenschaften der Frauen berücksichtigen und die unterschiedlichen Arbeitsaufgaben zwischen den Geschlechtern so aufteilen, dass die Planung den gemeinsamen Zielen des Kollektivs am besten dient. Denn unsere Arbeiterinnen und Bäuerinnen können in der Periode der Diktatur des Proletariats nicht für die Gleichberechtigung als solche kämpfen, sondern müssen dafür eintreten, dass die weibliche Arbeitskraft zweckmäßig eingesetzt wird und dass der Mutterschutz garantiert wird.

Die Genossinnen und Genossen aus anderen Ländern müssen aus den Erfahrungen der russischen Revolution lernen. Wenn das Proletariat nach seiner Machtübernahme damit beginnt, neue Lebensformen zu entwickeln, dann benötigt es nicht nur proletarische Experten, die über die entsprechenden Spezialkenntnisse in den verschiedenen Produktionsbereichen und im Militärwesen verfügen, sondern auch Frauen, die wissen, wie man neue kommunistische Lebensformen entwickelt, wie man Säuglings-, Kleinkinderheime und öffentliche Volkskantinen plant und organisiert, etc. Frauen, die also wissen, wie man das Zusammenleben der Menschen neu ordnen kann und die die besten Formen kollektiver Einrichtungen kennen. Denn das Proletariat kann ohne die aktive Mitarbeit der Frauen keine neuen Lebensformen entwickeln; und eben deshalb ist auch die Erziehung der Frauen im kommunistischen Geiste eine wesentliche Aufgabe für das internationale Proletariat. Aber deshalb kann auch die Frauenarbeit nicht ausschließlich Angelegenheit der Proletarierinnen sein. In Sowjetrussland erleben wir zur Zeit eine verschärfte Periode des Klassenkampfes. Heute stehen keine bescheidenen Reformvorschläge auf der Tagesordnung, sondern eine umfassende Revolutionierung der Volkswirtschaft und des Bewusstseins. Aus diesem Grunde ist auch die Frage eines sinnvollen und geplanten Einsatzes der Arbeitskraft unserer Frauen in der gesellschaftlichen Arbeit und beim Wiederaufbau der Industrie eine der wichtigsten politischen Fragen. Die Feinde des Proletariats wissen dies ganz genau, und es hat schon seine guten Gründe, wenn sich die verschiedenen bürgerlichen Regierungen plötzlich gegenüber den Frauen so zuvorkommend verhalten und an die Frauen Almosen – in Form der politischen Gleichberechtigung und eines reformierten Eherechts – verteilen. Durch diese Politik wollen sie die Unzufriedenheit der Frauen und deren gefährliche Kritik an den bestehenden Verhältnissen abdämpfen. Als Antwort auf dieses Vorgehen müssen wir Kommunisten unsere internationale Frauenarbeit verstärken, und das Internationale Frauensekretariat der Kommunistischen Internationale hat sich dieser Frage auch bereits angenommen. In unsrer Arbeit müssen wir davon ausgehen, dass das Proletariat beiderlei Geschlechts gemeinsame Interessen hat; daher müssen wir die Solidarität und die allgemeinen Ziele der Arbeiterbewegung bei dieser Arbeit betonen, gleichzeitig aber auch die Sonderstellung der Frau, die sich aus ihrer sozialen Rolle als Mutter ergibt, berücksichtigen. Der Arbeiterstaat muss also die Arbeitskraft der Frauen so einsetzen, dass sie ihre Fähigkeiten in Bereichen entfalten können, die ihren Erfahrungen am besten entsprechen, und der Arbeiterstaat darf nie vergessen, dass die Frau eben nicht nur eine Arbeitskraft ist, sondern dass sie auch eine gesellschaftliche Funktion als Mutter zu erfüllen hat. Denn die Frauen arbeiten Seite an Seite mit den Männern und schenken der Gesellschaft darüber hinaus noch neue Mitbürger und Arbeitskräfte. Deshalb ist der Arbeiterstaat auch verpflichtet, für die Frauen besonders zu sorgen. In der Phase der Diktatur des Proletariats ist es nicht unsere Aufgabe, eine völlige Gleichheit zwischen den Geschlechtern zu erreichen, sondern den vernünftigen Einsatz der weiblichen Arbeitskraft sicherzustellen und ein entsprechendes System staatlicher Mutterschutzeinrichtungen einzurichten.

Im kapitalistischen System, das auf der Institution des Privateigentums aufbaut, das mit dem Privatkonsum der Kleinfamilie unlösbar verbunden ist, ist die Frau zur unproduktiven Arbeit im Familienhaushalt verurteilt. Auch wenn die bürgerlichen Regierungen in den kapitalistischen Ländern sich gegenwärtig dazu bereiterklären, den Frauen eine formal-juristische Gleichberechtigung und andere Almosen zuzugestehen, so ist ihre Befreiung doch nicht möglich. Denn das Beispiel der Sowjetrepublik zeigt, dass nur durch eine grundsätzliche Änderung der Rolle der Frau im Produktionsprozess und damit einhergehend auch in allen übrigen gesellschaftlichen Bereichen ein Fundament für die Befreiung der Frau geschaffen werden kann.

Mit diesen Ausführungen beschließen wir nun unsere Vorlesungsreihe. Ich hoffe, dass euch während der vierzehn Vorlesungen klar geworden ist, dass Stellung und Rechte der Frau in der Gesellschaft von ihrer Funktion in der Produktion bestimmt werden. Aus diesem Grunde kann im Kapitalismus auch die Frauenfrage nicht gelöst werden. In der Sowjetrepublik wird die Frauenfrage gelöst werden, weil alle arbeitsfähigen, erwachsenen Frauen gesellschaftlich nützliche Arbeit leisten und am Aufbau einer kommunistischen Volkswirtschaft und der Entwicklung neuer Lebensformen mitarbeiten. Ihr, die ihr mit den Frauen in Russland zusammenarbeitet, müsst euch über folgendes im Klaren sein: Mögen auch heute noch Arbeiterinnen und Bäuerinnen als sogenannte Alte oder Leibeigene eine bittere Existenz führen, es gibt für sie einen Ausweg aus dieser Situation. Denn je mehr Energie wir für die Entwicklung neuer Produktions- und Lebensformen aufbringen, desto schneller werden sich die Frauen von den Fesseln der seit Jahrhunderten währenden Sklaverei befreien. Die Oktoberrevolution in Russland bietet unseren werktätigen Frauen eine wirkliche Chance für ihre Befreiung. Ob die Frauen sie verwirklichen, hängt jetzt tatsächlich nur noch von ihrem eigenen Willen und ihren Fähigkeiten ab. Sie müssen selbst erkennen was zu tun ist. Das Fundament für ihre Befreiung ist gelegt. Der Weg ist eindeutig bezeichnet. Was jetzt noch zu tun bleibt? Aufbauen. Aufbauen. Aufbauen. Durch die Diktatur des Privateigentums ist die Frau Jahrhunderte lang versklavt worden. Durch die Diktatur des Proletariats wurde die Frau befreit.


Anmerkungen

1. Die Neue Ökonomische Politik (NEP), die die russische Gesellschaft aus den ökonomischen Schwierigkeiten des Kriegskommunismus herausführen sollte, hatte die objektiven Bedingungen für die soziale, politische und ökonomische Emanzipation der Frau tatsächlich verschlechtert. Vergleiche 10. bis 14. Vorlesung.

2. Schreibfehler für „blühenden“?

3. In der Vorlage fälschlich „alten“.