22. Januar 1910 // Artikel
Franz Mehring // Das preußische Beamtentum

Das preußische Beamtentum

22. Januar 1910

Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Erster Band, S. 609-612.
Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 482-485


Der längst verstorbene Graf Bethusy-Huc, der einmal den „Strom der Zeit an der Stirnlocke“ packte und durch ähnliche kühne Bilder die Heiterkeit des Reichstags zu entfesseln pflegte, nannte sich einmal auch die „Sardelle des Hohen Hauses“. Entkleidet man dies Wort seines unfreiwillig komischen Beigeschmacks und spricht man etwa von dem Salz des bürgerlichen Parlamentarismus, so ist nicht zu bestreiten, dass ihm dies Salz von seiner entschlossensten Gegnerin geliefert wird, nämlich von der Sozialdemokratie.

Die Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses, die sich sonst durch ihre langweilige Eintönigkeit auszeichneten, haben ein ganz anderes Relief erhalten, seitdem auch nur sechs Genossen in dem Hause sitzen. Es fehlt der Mehrheit sicherlich nicht an gutem Willen, die winzige Minderheit mundtot zu machen, und sie ist in diesem edlen Streben selbst nicht vor dem Schelmenstück zurückgeschreckt, auf die frivolsten Vorwände hin einige der sozialdemokratischen Mandate zu kassieren, von denen sie freilich nur eins wirklich geraubt hat. Aber bei alledem – gegen die Stimme des bösen Gewissens, die in der eigenen Brust schläft, vermag sich kein Mensch zu verhärten, und indem die ehrlichen und offenen Anklagen der sozialdemokratischen Redner diese Stimme erwecken, finden sie einen tönenden Widerhall.

So hat gestern, als über die Kattowitzer Beamtenmisshandlungen im preußischen Abgeordnetenhaus verhandelt wurde, der neue Reichskanzler sich trotz aller einstudierten Reserve bequemen müssen zu antworten, als der Genosse Karl Liebknecht ihm den ebenso schneidenden wie treffenden Vorwurf ins Gesicht warf, dass die preußische Regierung aus den Beamten „willenlose, korrumpierte Sklaven“ machen wolle. Von seiner angeblichen „Philosophie“ hat der „philosophische“ Reichskanzler dabei aber wenig spüren lassen; er leierte nur die alten sinnlosen Redensarten her, dass die Regierung keine Sklaven, sondern nur Männer zu Beamten haben wolle, die aus innerer Überzeugung dem Staate dienten, aber dass alle Machtmittel des Staates gegen diese Männer mobil gemacht werden müssten und würden, falls sie die Grundlagen der Staatsverfassung erschütterten. Das heißt aber, dass die Regierung in den Beamten nur „willenlose, korrumpierte Sklaven“ sieht. Denn was Herr v. Bethmann Hollweg tatsächlich unter „Staatsverfassung“ versteht, ist nur das Interesse einer kleinen Junkerclique, das sich sofort „erschüttert“ fühlt, wenn die Beamten auf Grund ihrer staatsbürgerlichen Rechte den Mut ihrer eigenen Meinung haben.

Das wirkliche Schicksal der preußischen Beamten hat Franz Ziegler, der aus eigener Erfahrung sprach, einmal in dem lapidaren Satze zusammengefasst, der an dieser Stelle wohl schon zitiert worden ist, aber nicht oft genug zitiert werden kann: „Es gibt nichts Raffinierteres als die Methode, womit der preußische Staat seine Beamten heranbildet und ihnen, bevor sie reif sind, in einer bewundernswürdigen Dressur alle geistigen und moralischen Rippen bricht.“ Wer dennoch aufzumucken wagt, wird sofort niedergeknüppelt, wobei es keineswegs darauf ankommt, ob sich die Methoden des Niederknüppelns angeblich oder wirklich „verfeinern“; eine „Versetzung im Interesse des Dienstes“ kann unter Umständen eine grausamere Strafe sein als einige Monate und selbst einige Jahre Gefängnis. Die einfache Entlassung aus dem Dienste ist oft genug eine Verurteilung zum Tode auf der qualvollen Folter des langsamen Verhungerns gewesen.

Wäre es möglich, dass die Masse der preußischen Beamten wirklich darauf verfiele, die Staatsverfassung zu erschüttern, so wäre die Drohung des Herrn v. Bethmann Hollweg, dagegen mit allen Machtmitteln des Staates einzuschreiten, nichts anderes als eine leere Rodomontade. Das entscheidende Machtmittel der kleinen Clique, die sich so unbedenklich als „Staatsverfassung“ proklamiert, wäre dann ja zerbrochen; sie könnte höchstens den betrübten Lohgerber mimen, dem die Felle fort geschwommen sind. Dagegen schützt sie sich durch jene „Dressur“, von der Ziegler spricht, wobei er in erster Reihe wohl an sich selbst denken mochte. Sicherlich hatte er sich nicht alle geistigen und moralischen Rippen brechen lassen, aber das halb peinliche, halb schmerzliche und immer lähmende Gefühl, aus der Kaste gefallen zu sein, ist er doch niemals losgeworden. Obgleich er ein Mann von hohen Gaben war und noch im frischesten Mannesalter stand, als er vom preußischen Beamtentum mit Schimpf und Schande ausgestoßen wurde, so hat er sein Leben nicht mehr aus vollem Holze zu zimmern verstanden.

Das scheint seinem ihm innerlich tief verhassten Parteigenossen Eugen Richter, der auch ein ausgestoßener Beamter war, besser gelungen zu sein, denn Richter hat mehrere Jahrzehnte als berufsmäßiger Parlamentarier und Parteiführer gewirkt. Allein dieser Schein trog, denn Richter hatte sich überhaupt nicht von der Kaste frei gemacht, sondern übertrug sie, weshalb Ziegler ihn in den Tod nicht ausstehen konnte, einfach in die Politik. Richter blieb immer der bornierte Bürokrat, dem das reale Volksleben ein Buch mit sieben Siegeln war; soweit seine Macht reichte, praktizierte er ganz die wilde Unterdrückungs- und Verfolgungssucht der preußischen Bürokratie, und es wurde sein tragikomisches Verhängnis, dass dieselben Eigenschaften, die ihm am grünen Tische des Finanzministeriums oder der Oberrechenkammer zu strahlender Zierde gereicht hätten, ihn im politischen Leben von Niederlage zu Niederlage führten.

So wie die preußischen Beamten heran dressiert und heran gedrillt werden, wirkt in ihnen mit der ganzen Gewalt eines natürlichen Instinktes das Bewusstsein, dass es außerhalb ihrer Kaste kein Heil für sie gibt. Und solange dies Bewusstsein herrscht, hat die Handvoll Leute, die den preußischen Staat regieren und repräsentieren, von den Beamten nichts zu fürchten. Deshalb leitet sie aber doch ihr Selbsterhaltungstrieb dazu an, unbarmherzig einzuschreiten, wo sich jenes Bewusstsein zu lockern scheint. Selbst von ihrem Standpunkt hätte es ratsam erscheinen können, lieber darüber hinwegzusehen, dass ein paar Beamte in Kattowitz sich nicht bemüßigt gesehen haben, ihre staatsbürgerlichen Rechte einem so ausgewachsenen Blödsinn wie der offiziellen Polenpolitik zu opfern, statt diese Beamten zu maßregeln und sich dadurch eine Blamage zuzuziehen, die ihrem Ansehen eine klaffende Wunde geschlagen hat. Indessen dies Ansehen ist ramponiert genug, als dass es der Regierung, die nach des Genossen Liebknecht treffender Äußerung an politischer Ehre nicht mehr viel zu verlieren hat, auf einen Puff mehr oder weniger ankommen sollte. Woran ihr in erster Reihe liegt und von ihrem Interessenstandpunkt auch liegen muss, ist die Sorge um die Bande frommer Scheu, durch die sie das Beamtentum gefesselt hält. Sie fühlt sich ihm gegenüber in der Rolle eines Tierbändigers, der die gezähmte Bestie keinen Augenblick aus den Augen lassen darf, wenn er nicht gewärtigen will, dass sie ihm in den Nacken springt.

Dabei spielt denn freilich auch wieder die Angst des bösen Gewissens mit. Selbst an einer so verrosteten Maschine, wie das preußische Beamtentum ist, wandelt die Zeit nicht spurlos vorüber; es gärt auch in dieser Klasse, und bis zu einem gewissen Grade wird es immer schwieriger, sie mit Zuckerbrot und Peitsche zu regieren. Aber eben doch nur bis zu einem gewissen Grade, und es wäre verfehlt, große Hoffnungen auf die oppositionellen Regungen innerhalb des preußischen Beamtentums zu setzen.

Höchstens für seine untersten Schichten, die schon mehr oder weniger mit dem Proletariat verschmelzen, sind solche Hoffnungen berechtigt. Allein was irgendeinmal eine Stufe innerhalb der Bürokratie erklommen hat, das ist für die Sache des Volkes verloren; schon die Brutalitäten der niederen Polizeiorgane, selbst in Fällen und unter Umständen, die ihre Karriere eher zu schädigen als zu fördern geeignet sind, zeigen jeden Tag, wie sehr hier Hopfen und Malz verloren ist.

Eine der Ursachen, an denen die Revolution von 1848 zunächst scheiterte, war das übermäßige Vertrauen auf das Beamtentum. Sowohl in die Berliner wie in die Frankfurter Versammlung wurde eine Unzahl von Beamten gewählt, die dann, als es zum Klappen kam, die Interessen ihrer Klasse über die Interessen der Nation stellten. Damals hatte die Sache noch einen gewissen historischen Sinn, denn die Beamten kannten allein den inneren Mechanismus des Staates, bei dessen Neubau ihre Hilfe nicht wohl zu entbehren war; heute verfügt die Arbeiterklasse schon über eine Unzahl geschulter Kräfte, die auf diesem Gebiet aller Technik der Beamten gewachsen oder auch überlegen sind. Unter allen Schwierigkeiten, die die Umwälzung des kapitalistischen Staates in die sozialistische Gesellschaft bieten mag, ist die geringste die Sorge darum, dass die Aufgaben, die das heutige Beamtentum zu lösen hat, nicht sofort von den Kräften, über die das Proletariat gebietet, gelöst werden könnten. Das preußische Beamtentum kann sofort ersetzt werden.

Daher sind die reaktionären Blätter sehr auf dem Holzweg, wenn sie das Eintreten der Sozialdemokratie für die misshandelten Beamten auf eigennützige Beweggründe zurückführen. Wird dadurch der borussische Despotismus erschüttert, umso besser, aber illusorische Erwartungen werden in diesem Punkte nirgends gehegt. Es sind allein ihre Grundsätze, die der Sozialdemokratie gebieten, einem System der Unterdrückung entgegenzutreten, das sich an grausamer Tücke recht wohl mit der spanischen Inquisition messen kann.