Die Neue Zeit (Stuttgart), 31. Jg. 1912/13, 2. Bd., S. 828–843. 1
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 300–321.
I
Genau wie vor drei Jahren, als die Entfaltung der preußischen Wahlrechtsbewegung 2 die Losung des Massenstreiks in den Mittelpunkt der Erörterungen gerückt hatte, so auch jetzt beeilte sich Kautsky, in die durch den Ausfall der preußischen Landtagswahlen 3 und durch den Verlauf der Kampagne gegen die Militärvorlage 4 angeregte lebhafte Diskussion über den Massenstreik „dämpfend“ dazwischenzutreten. 5 Kautsky fühlt sich wieder berufen, die Partei vor schweren Gefahren zu retten. Er warnt vor „Abenteuern“, „Handstreichen“ und „Quertreibereien“, er wittert Syndikalismus, Putschismus, Blanquismus, „revolutionäre Gymnastik“, Moste und Hasselmänner 6, er denunziert „unsere Russen“, die jeglicher Organisation feind seien und die eifrig daran arbeiteten, den Massen den Kampf um parlamentarische Rechte zu verekeln. Schade nur, daß von diesem blühenden Phantasiebild dasselbe gilt, was von der Rolandschen Stute:
Wunderschön war diese Stute,
Leider aber war sie tot.
Sämtliche Gefahren, gegen die Kautsky zu Felde zieht, sind nichts als Windmühlen seiner eigenen Einbildungskraft.
Würde man Kautsky bitten, doch gefälligst Namen und Tatsachen zu nennen, nähere Angaben zu machen, von wem, wo und was für „Abenteuer“ und „Handstreiche“ in der Partei geplant werden, dann würde er wohl in nicht geringe Verlegenheit geraten. Wenn es genügt, die Notwendigkeit einer entschlossenen offensiven Politik, einer taktischen Initiative, einer energischen Wiederaufnahme des preußischen Wahlrechtskampf es zu betonen und im Zusammenhang damit das Problem des Massenstreiks zu erörtern, wenn dies genügt, um als Handstreichler, Abenteurer, Syndikalist und „Russe“ zu gelten, dann ist diese Kategorie von Bösewichtern allerdings erschreckend zahlreich in der Partei vertreten. Dann bestehen die Organisationen in Stuttgart, Essen, Solingen, im ganzen niederrheinischen Bezirk, in Berlin, im Herzogtum Gotha, in Sachsen, die Redaktionen der „Gleichheit“, der Braunschweiger, Elberfelder, Erfurter, Nordhäuser, Bochumer, Dortmunder Parteiblätter und vieler anderer aus lauter Abenteurern und Syndikalisten, dann wimmelt es in der deutschen Sozialdemokratie von „Russen“.
Aber Kautsky führt freilich mit Ingrimm sein Gefecht gegen eine ganz besondere Sorte von „Massenaktionären“. Diese Leute sündigen – nach seiner Darstellung – dadurch, daß sie leibhaftig „die russischen Methoden“ des Massenstreiks nach Deutschland verpflanzen wollen.
Glaubt man Kautsky, dann denken diese Leute Tag und Nacht an nichts anderes als an den Massenstreik, erblicken in ihm ein Allheilmittel und brennen vor Ungeduld, ihn in Deutschland zu entfesseln.
Kautsky berichtet von den „Massenaktionären“ erstens, daß sie „frischweg erklären, wie immer die ökonomischen und politischen Bedingungen sein mögen, die Massen seien stets bereit, auf die Straße zu gehen, stets bereit, zu streiken“, und wo das ausnahmsweise nicht der Fall, „sei die Schuld bei einzelnen Personen“ zu suchen. 7
Zweitens erzählt uns Kautsky von denselben „Massenaktionären“, daß sie „die spontane Erregung“ der deutschen Massen „möglichst bald verlangen und, da sie nicht kommen will, fordern sie kategorisch von der Partei, sie soll diese Spontaneität durch eine ‚kühne Initiative‘ künstlich schaffen, und zwar sofort“. 8
Drittens sehen diese Leute „in jeder starken Organisation ein hemmendes Moment der Aktion“, also sei die Konsequenz: „Zum Teufel mit der Organisation, wenn sie uns nur hemmt.“ 9
Da Kautsky die angebliche „Richtung“, die er bekämpft, hauptsächlich mit Äußerungen aus meinen Artikeln zu belegen sucht, so wird es das einfachste sein, die Behauptungen Kautskys mit meinen authentischen Äußerungen zu konfrontieren. In drei Artikeln der Leipziger Volkszeitung über Das belgische Experiment 10 gab ich mir alle Mühe, nachzuweisen, daß sich Massenstreiks nicht künstlich von oben herab auf Kommando machen ließen, daß ein Massenstreik sich nur dann als wirksam erweisen könne, wenn eine entsprechende Situation, das heißt ökonomische und politische Bedingungen gegeben sind, wenn er elementar aus der Steigerung der revolutionären Energie der Massen wie ein Sturm hervorbricht:
Hier heißt es: entweder – oder. Entweder führt man einen politischen Sturm der Massen herbei, richtiger – da ein solcher sich nicht künstlich herbeiführen läßt – entweder läßt man die erregten Massen im Sturm ausziehen, dann muß alles getan werden, was diesen Sturm unwiderstehlicher, gewaltiger, konzentrierter macht … oder man will keinen Massensturm – dann ist ein Massenstreik aber im voraus ein verlorenes Spiel. 11
Und weiter ausdrücklich:
Der politische Massenstreik ist eben nicht an sich, abstrakt genommen, ein wundertätiges Mittel. Er ist wirksam nur im Zusammenhang mit einer revolutionären Situation, als Äußerung einer hohen, konzentrierten revolutionären Energie der Massen und einer hohen Zuspitzung der Gegensätze. Losgeschält von dieser Energie, getrennt von dieser Situation, verwandelt in ein von langer Hand beschlossenes, pedantisch nach dem Taktstock ausgeführtes strategisches Manöver, muß der Massenstreik in neun Fällen gegen zehn versagen. 12
(Leipziger Volkszeitung vom 19. Mai.)
In einem anderen Zusammenhang, bei der Erörterung des Massenstreiks als Kampfmittel um das preußische Wahlrecht, sage ich:
Der Massenstreik ist an sich genauso wenig ein wundertätiges Mittel, um die Sozialdemokratie aus einer politischen Sackgasse zu retten oder eine haltlose Politik zum Siege zu führen, wie der Wahlkampf und jede andre Kampfform. Er ist eben an sich auch nur eine Kampfform. Es ist aber nicht die technische Form, die den Ausgang des Kampfes, den Sieg oder die Niederlage entscheidet, sondern der politische Inhalt, die angewandte Taktik im ganzen. 13
Und weiter:
Wir leben in einer Phase, wo die wichtigsten politischen Fragen nur noch durch das eigene Eingreifen breiter Massen beeinflußt werden können … Aber umgekehrt garantiert die Anwendung des Massenstreiks durchaus noch nicht den Elan und die Wirksamkeit der sozialdemokratischen Aktion im ganzen … Nicht der Massenstreik in irgendeinem beistimmten Fall an sich ist das Entscheidende, sondern die politische Offensive in der Gesamthaltung der Partei. 14
Und endlich besonders in bezug auf den preußischen Wahlrechtskampf:
Jedennoch wäre es ein verhängnisvoller Irrtum, sich einzubilden, die preußische Wahlrechtsfrage könnte durch irgendeinen etwa vom Parteitag oder in dessen Auftrag beschlossenen Massenstreik wie der Gordische Knoten durch einen Schwerthieb durchhauen werden …, nicht die „Vorbereitung“ zu irgend„einem“ Massenstreik liegt uns gegenwärtig ob, sondern die Vorbereitung unsrer Organisation zur Tauglichkeit für große politische Kämpfe, nicht die „Erziehung der Arbeiterklasse zum Massenstreik“, sondern die Erziehung der Sozialdemokratie zur politischen Offensive. 15
So sieht die fanatische, putschistische, syndikalistische Propaganda des Massenstreiks aus, so die „kategorische Forderung“, die Partei soll einen spontanen Massenstreik „künstlich schaffen, und zwar sofort“.
Ebenso bringt es Kautsky fertig, meine Äußerungen über das Verhältnis von Organisierten und Unorganisierten bei großen Massenaktionen ungeniert auf den Kopf zu stellen. Was ich in der Leipziger Volkszeitung nachzuweisen suchte, war genau derselbe Gedanke, den ich bereits vor sieben Jahren in meiner Broschüre über den Massenstreik 16 – damals unter Kautskys lebhaftem Beifall – ausgeführt hatte: daß die Sozialdemokratie mit großen politischen Massenaktionen weder darauf zu warten brauche noch auch könne, bis die gesamte Arbeiterklasse gewerkschaftlich und politisch organisiert wird, vielmehr daß auch die unorganisierten oder gegnerisch organisierten Massen uns Heerbann leisten werden, wenn die Partei es versteht, sich in entsprechender Situation an die Spitze einer Massenaktion zu stellen.
Ich schrieb:
Die Sozialdemokratie hat allerdings dank der theoretischen Einsicht in die sozialen Bedingungen ihres Kampfes in einem nie gekannten Maße Bewußtsein in den proletarischen Klassenkampf hineingetragen, ihm Zielklarheit und Tragkraft verliehen. Sie hat zum erstenmal eine dauernde Massenorganisation der Arbeiter geschaffen und dadurch dem Klassenkampf ein festes Rückgrat gegeben. Es wäre aber ein verhängnisvoller Irrtum, sich nun einzubilden, daß seitdem auch alle geschichtliche Aktionsfähigkeit des Volkes auf die sozialdemokratische Organisation allein übergegangen, daß die unorganisierte Masse des Proletariats zum formlosen Brei, zum toten Ballast der Geschichte geworden ist. Ganz umgekehrt. Der lebendige Stoff der Weltgeschichte bleibt trotz einer Sozialdemokratie immer noch die Volksmasse, und nur wenn ein lebhafter Blutkreislauf zwischen dem Organisationskern und der Volksmasse besteht, wenn derselbe Pulsschlag beide belebt, dann kann auch die Sozialdemokratie zu großen historischen Aktionen sich tauglich erweisen. 17
(Leipziger Volkszeitung vom 27. Juni.)
Weil ich also die sozialdemokratische Organisation für das Rückgrat des Klassenkampfes erkläre, für das denkende Hirn der Masse, aus dem Bewußtsein und Zielklarheit der Bewegung ließen, so schließt Kautsky, ich erkläre jegliche Organisation für überflüssig, ja hemmend. Weil ich sage, zu jeder großen Klassenaktion gehören nicht nur Organisierte als Vorhut, sondern auch Unorganisierte als Nachhut, deduziert Kautsky, ich wolle nur mit Unorganisierten Aktionen machen. Weil ich wörtlich sage: „In Belgien lassen die gewerkschaftlichen wie die politischen Organisationen so ziemlich alles zu wünschen übrig, auf jeden Fall können sie sich mit den deutschen nicht entfernt messen. Und doch (also trotzdem!) kommt seit 20 Jahren ein imposanter Wahlrechtsstreik nach dem andern zustande“ 18, bringt Kautsky es fertig, mir wörtlich die umgekehrte Behauptung zuzuschreiben, daß in Belgien „die Massenaktionen gerade dadurch aufs kräftigste gedeihen, weil seine Organisationen so ziemlich alles zu wünschen übrig ließen“. 19
Man sieht, das Original meiner Auffassung gleicht in allen Stücken dem Kautskyschen Konterfei ungefähr so wie die marxistische Theorie und Taktik den üblichen revisionistischen Darstellungen. Wie sich unsere Revisionisten erst einen Popanz der „Verelendungstheorie“, der „reinen Negation“, der Verachtung der „praktischen Arbeit“ zurechtmachen, und an ihm mit Genuß den scharfen Stahl ihrer Kritik zu erproben, ebenso macht sich Kautsky entgegen den klarsten Worten und der ganzen Tendenz meiner Ausführungen aus freien Stücken ein Zerrbild zurecht, um an ihm seine Dämpfungskunst zu üben und das Vaterland zu retten.
Aber auch in diesem Falle hat der Kampf gegen eingebildete Gefahren die objektive Tendenz, dem aus der Situation geborenen Drang zur wirklichen Fortentwicklung der Parteitaktik in den Weg zu treten. Nichts beweist dies besser als die eigene Theorie Kautskys vom Massenstreik.
II
Kautsky unterscheidet vor allem „verschiedene Typen“ des Massenstreiks, und zwar – nach geographischen Gesichtspunkten. Wie er im Artikel zum dreißigsten Todestag von Marx im Vorwärts 20 die originelle Entdeckung gemacht hat, daß es einen deutschen, österreichischen, holländischen, russischen Marxismus gebe, so arbeitet er jetzt mit einem russischen, österreichischen, belgischen Massenstreik – zu dem Zwecke, allen diesen einen ganz neuen Typus des „deutschen Massenstreiks“ entgegenzustellen. Schade, daß diese professorale Schematisierung, die lebendige Zusammenhänge zerfasert, um sie sauber in Schubfächer einer ganz abstrakten Klassifikation einzuordnen, die einfachsten allgemein bekannten Tatsachen ignoriert. Was soll man zum Beispiel für einen „belgischen“ Massenstreik halten, da in Belgien von 1891 bis 1893, 1902 und 1913 total verschiedene „Typen“ des Massenstreiks in Anwendung kamen 21, die zueinander sogar im bewußten Widerspruch stehen? Was soll man für den „italienischen“ Typus halten, da in Italien sowohl politische Demonstrationsstreiks, so gegen den tripolitanischen Krieg 22, wie gewerkschaftlich-politische Kampfstreiks, so der berühmte Eisenbahnerstreik, wie rein gewerkschaftliche Massenstreiks der Landarbeiter wie endlich Sympathie- und Kampfstreiks in einem, wie der siegreiche Mailänder Generalstreik vom Juni dieses Jahres, ausgeführt worden sind?
Vollends unbegreiflich ist, was man unter der „russischen Methode“ verstehen soll, mit der Kautsky heute mit Vorliebe arbeitet. Wer einigermaßen die russische Arbeiterbewegung seit zehn Jahren verfolgt, weiß, daß es keine Art und keinen Typus des Massenstreiks gibt, der dort nicht mehrfach vorgekommen wäre. Politische und ökonomische Streiks, Massenstreiks und partielle Streiks, Demonstrationsstreiks und Kampfstreiks, Generalstreiks einzelner Branchen und Generalstreiks einzelner Städte, ruhige Lohnkämpfe und Straßenschlachten, planmäßig hervorgerufene und in voller Disziplin abgebrochene Massenstreiks und spontane Ausbrüche – alles das lief in Rußland in der Revolutionsperiode durcheinander, nebeneinander, durchkreuzte sich, flutete ineinander über. Von irgendeiner besonderen Art des „russischen Massenstreiks“ kann nur reden, wer die Tatsachen entweder nicht kennt oder – sie ganz vergessen hat.
Vor wenigen Jahren gehörte Kautsky selbst noch zu denjenigen, die man von der rechten Seite als „Revolutionsromantiker“, als „Russenschwärmer“ denunzierte. Heute bekämpft er andere als „Russen“ und gebraucht die Bezeichnung „russische Methode“ als Inbegriff der Unorganisiertheit, der Primitivität, des Chaotischen und Wilden im Vorgehen. In seiner Darstellung erscheint der russische Arbeiter als der tiefststehende, „der bedürfnisloseste der europäischen Arbeiter“, der ohne Erwerb und Unterstützung länger aushalten könne „als irgendeine andere Arbeiterschaft des kapitalistischen Europas“. 23 Ich muß wieder wie in unserer Auseinandersetzung 1910 24 Kautsky entgegenhalten, daß seine Schilderung der russischen Arbeiterschaft und der russischen Revolution ein Pasquill auf das dortige Proletariat ist. Bis jetzt war es nur den Anarchisten vorbehalten, zu glauben, daß der höchste revolutionäre Idealismus aus der tiefsten materiellen Degradation, aus der Verzweiflung und dem Gefühl, daß „man nichts zu verlieren habe“, emporblüht. Jetzt will Kautsky die ganze revolutionäre Aktion des russischen Proletariats als einen Verzweiflungsakt von Heloten hinstellen, die deshalb kämpften, weil sie „nichts zu verlieren hatten“. Er vergißt, daß man mit Kulis, die keine Bedürfnisse haben, die mit einer Brotrinde und mit dem Sonnenschein zufrieden sind, keine Kampagne für den Achtstundentag durchführen kann, wie wir sie 1905 in Petersburg erlebt haben 25, keinen Kampf um politische Rechte und um moderne Demokratie, daß man mit einem solchen Proletariat keine regelrechten Gewerkschaftskämpfe auszufechten und moderne Gewerkschaftsorganisationen auszubauen vermag, wie dies 1905 bis 1907 in ganz Rußland getan wurde, daß man ein solches Proletariat nicht für die Ziele des internationalen Sozialismus, für Akte der höchsten Klassensolidarität, für Wunderwerke des proletarischen Idealismus begeistern kann, wie sie in Rußland bis auf den heutigen Tag an der Tagesordnung sind. Andererseits konnte Kautsky schon aus einfachen Zeitungsmeldungen entnehmen, wie falsch seine Behauptung ist, in Rußland sei es „seitdem bis heute mit den chronischen Massenstreiks still geworden“. 26 Gerade die vorjährige Maifeier, die zum Ersten Male in Rußland, und zwar von einer halben Million, durch Arbeitsruhe gefeiert worden ist, die „chronischen“ Protestmassenstreiks von Hunderttausenden aus Anlaß der Lena-Metzelei 27, aus Anlaß der Verurteilung der Matrosen in Kronstadt 28, aus Anlaß der Verfolgung der legalen sozialdemokratischen Blätter in Petersburg 29, die unzähligen wahrhaft „chronisch“ gewordenen ökonomischen Streiks in den letzten zwei Jahren beweisen, daß die proletarische Masse in Rußland, die während der Schrecken der Konterrevolution 1908 bis 1911 an der Oberfläche gänzlich erstarrt erschien, in Wirklichkeit in ihrem Kampfmut und ihrem Idealismus nicht gebrochen worden ist, daß ihre revolutionäre Aktion eben nicht ein Verzweiflungsausbruch tiefstehender Heloten, sondern eine Äußerung revolutionären Klassenbewußtseins und zäher Kampfenergie gewesen ist.
Gegenüber jener Auffassung, die das russische Proletariat als das tiefststehende und seine Kampfmethoden als Produkt der Rückständigkeit über die Achsel betrachtet, halte ich es also immer noch mit dem früheren Kautsky, der in seiner Sozialen Revolution, 2. Auflage, 1907, schrieb:
Gegen diese „Revolutionsromantik“ gibt es nur noch einen Einwand, der freilich um so häufiger vorgebracht wird, nämlich den, daß die Verhältnisse in Rußland nichts für uns in Westeuropa bewiesen, da sie von diesen grundverschieden seien.
Die Verschiedenheit der Verhältnisse ist mir natürlich nicht unbekannt, wenn man sie auch nicht übertreiben darf. Die jüngste Broschüre unserer Genossin Luxemburg 30 beweist klar, daß die russische Arbeiterklasse nicht so tief steht und so wenig erreicht hat, als man gewöhnlich annimmt. Wie die englischen Arbeiter es sich abgewöhnen müssen, auf das deutsche Proletariat als ein rückständiges Geschlecht herabzusehen, so müssen wir in Deutschland uns das gleiche gegenüber dem russischen abgewöhnen. (S. 59.)
Und noch weiter (S. 63):
Die englischen Arbeiter stehen als politischer Faktor heute noch tiefer als die Arbeiter des ökonomisch rückständigsten, politisch unfreiesten europäischen Staates: Rußland. Es ist ihr lebendiges revolutionäres Bewußtsein, was diesen ihre große praktische Kraft gibt; es war der Verzicht auf die Revolution, die Beschränkung auf die Interessen des Augenblicks, die sogenannte Realpolitik, was jene zu einer Null in der wirklichen Politik machte. 31
Doch dies nebenbei. Was weiß uns Kautsky im Gegensatz zur „russischen Methode“ über die „deutsche Methode“ des Massenstreiks zu sagen? Hier lehnt er vor allem mit Entrüstung jeden Hinweis auf die ausschlaggebende Mitwirkung der Nichtorganisierten ab. Wer bildet denn diese unorganisierte Masse? ruft er. Sie setzt sich zusammen aus kraftlosen, gedrückten, isolierten, verkommenen Elementen, aus unwissenden, gedankenlosen, in Vorurteilen befangenen oder gesinnungslosen Subjekten. Und solche Elemente sollen die energischste Streitmacht für unsere Kämpfe abgeben? Auf diese Frage der Theorie, die mit der Stange im Nebel herumfährt, antwortet die Praxis des politischen wie des gewerkschaftlichen Kampfes mit einfachen Tatsachen. Jeder größere gewerkschaftliche Kampf ist seit jeher auf die Unterstützung der Unorganisierten angewiesen, und nur aus großen Kämpfen, an denen Unorganisierte mitwirkten, ist seit jeher der Hauptzuwachs der Organisation hervorgegangen. Ohne die Mitwirkung unorganisierter Massen wären die wichtigsten Kämpfe der Gewerkschaften und ohne diese Kämpfe ihr Wachstum als Organisation einfach undenkbar. Dafür nur ein Beispiel. Im Frühjahr 1910 ist in Hagen in Westfalen jene erste Kraftprobe des Metallarbeiterverbandes mit den Metallindustriellen ausgefochten worden, deren ausgezeichneter Verlauf von großer Bedeutung war, da er dem Industriellenverband als Vorpostengefecht die Lust zu der geplanten Generalaussperrung in hohem Maße benommen hatte. An der Aussperrung waren zirka 20000 Arbeiter beteiligt, darunter 2790 Organisierte und 17000 Unorganisierte. Und diese Masse hielt unter der Leitung der Organisation während 17 Wochen tadellos im Kampfe aus. Als Schlußresultat ergab sich nach der Aussperrung eine Verdoppelung der Mitgliederzahl des Metallarbeiterverbandes in Hagen.
Ein anderes Beispiel politischer Natur. Am letzten Massenstreik in Belgien waren nach den Angaben des Vorwärts 400.000 bis 450.000 Arbeiter beteiligt. Die Zahl der Parteimitglieder in Belgien beträgt nach dem offiziellen Bericht an den letzten Internationalen Kongreß in Kopenhagen 32 184.000; die Zahl der an die Gewerkschaftskommission der Partei angeschlossenen sowie der unabhängigen Gewerkschaften – nach demselben Bericht – 72.000, die Zahl aller auf dem Boden des Klassenkampfes gewerkschaftlich Organisierten 126.000, endlich die Zahl der Genossenschaftsmitglieder 141.000. Wohlgemerkt handelt es sich in den drei Kategorien in den allermeisten Fällen um dieselben Personen. Daraus ergibt sich schwarz auf weiß, daß zirka drei Fünftel der Masse im letzten Wahlrechtskampf in Belgien von Unorganisierten gestellt worden sind.
Die Kraftlosen, Gedankenlosen und Verkommenen scheinen entgegen der Kautskyschen Theorie eine ganz tüchtige und unentbehrliche Hilfe bei ökonomischen wie bei politischen Entscheidungsschlachten zu sein. Ja, wo wären wir mit unserer parlamentarischen Aktion, wenn wir bloß auf die Organisierten angewiesen wären Bei einer Million politisch, bei zweieinhalb Millionen gewerkschaftlich Organisierten, wovon noch ein gut Teil Frauen und junge Leute unter 25 Jahren, haben wir viereinviertel Millionen Wähler. Sind das auch alles „die Schwachen, die Feigen, die Unentschlossenen“, die über die Hälfte unserer Wählermasse bilden? Die Kautskysche Theorie des starren Gegensatzes zwischen der organisierten Vorhut und der übrigen Masse des Proletariats ist ebenso undialektisch, ebenso falsch und unzureichend für die gewöhnliche gewerkschaftliche und parlamentarische Klassenaktion wie für besondere Momente großer Massenschlachten. Mit der Behandlung der Unorganisierten als des feigen Janhagels verschüttet man sich das Verständnis sowohl für die lebendigen historischen Bedingungen der proletarischen Aktion wie für die der Organisation und ihres Wachstums.
Kautsky beruft sich freilich auf den Bergarbeiterstreik. 33 Dieser habe deutlich gezeigt, daß wir uns auf keine andere Macht verlassen dürfen als auf unsere eigenen Organisationen. Nun, es wäre noch zu untersuchen, Inwiefern zu dem Mißlingen des Bergarbeiterstreiks nicht gerade die zaghafte, bremsende Leitung beigetragen hat, die seit Jahren jede große Auseinandersetzung zu lokalisieren und hinauszuschieben, ihr jeden politischen Charakter zu nehmen sucht, auf diese Weise aber den Massen nur den Elan und die Sicherheit nimmt. Ich halte es auch da mit dem früheren Kautsky, der 1905 über Die Lehren des Bergarbeiterstreiks 34 im Ruhrrevier schrieb:
Nur auf diesem Wege lassen sich erhebliche Fortschritte für die Bergarbeiterschaft erzielen. Der Streik gegen die Grubenbesitzer ist aussichtslos geworden; der Streik muß von vornherein als politischer auftreten, seine Forderungen, seine Taktik müssen darauf berechnet sein, die Gesetzgebung in Bewegung zu setzen … Diese neue gewerkschaftliche Taktik – die des politischen Streiks –, der Verbindung von gewerkschaftlicher und politischer Aktion, ist die einzige, die den Bergarbeitern noch möglich bleibt, sie ist überhaupt diejenige, die bestimmt ist, die gewerkschaftliche wie die parlamentarische Aktion neu zu beleben und der einen wie der anderen erhöhte Aggressivkraft zu geben. 35
Schließlich muß Kautsky selbst, wenn er die Bedingungen des Massenstreiks auch in Deutschland näher angeben soll, zum folgenden Resultat kommen:
Im allgemeinen kann man von ihm sagen, die Vorbedingung seines Gelingens ist eine Situation, die die Arbeiterklasse so sehr erregt, daß alle ihre Schichten einmütig nach den schärfsten Mitteln der Aktion verlangen: die Parteigenossen nicht nur, sondern auch die freien Gewerkschaften, ja die Masse in den gegnerischen Organisationen und die unorganisierten Massen selbst.
Hört! Hört! Also die Vorbedingung eines siegreichen Massenstreiks stellt sich auch in Deutschland letzten Endes als ein einmütiges Zusammenwirken sowohl der Organisierten wie der „Schwachen, Feigen, Unentschlossenen, also der Nichtorganisierten“ heraus, als das Resultat einer Erregung, die beide Schichten gleichmäßig ergreift. Oder, wie ich in der Leipziger Volkszeitung schrieb:
„Nur wenn ein lebhafter Blutkreislauf zwischen dem Organisationskern und der Volksmasse besteht, wenn derselbe Pulsschlag beide belebt, dann kann auch die Sozialdemokratie zu großen historischen Aktionen sich tauglich erweisen.“ 36
Wenn dem aber so ist, ergibt sich dann nicht für den organisierten, klassenbewußten Teil des Proletariats die klare Pflicht, nicht bloß auf jene „Erregung“ passiv zu warten, sondern sich auch die leitende Rolle der Vorhut zu sichern? Ergibt sich da nicht für die Sozialdemokratie die geschichtliche Aufgabe, sich durch ihre ganze Haltung jetzt schon den größten Einfluß auf die unorganisierte Masse zu verschaffen, durch die Kühnheit ihres Vorgehens, durch entschlossene Offensive das Vertrauen der weitesten Volkskreise zu gewinnen, den eigenen Organisationsapparat für die Anforderungen großer Massenaktionen anzupassen.
Ja, Kautsky, der den Massenstreik in Deutschland nur als einen einmaligen „Äußersten Kampf“, als eine Art Jüngstes Gericht schildert, versichert uns gleichwohl wiederholt, daß bei den jetzigen gespannten Verhältnissen über Nacht eine Situation eintreten kann, die uns zwingt, zu unseren schärfsten Waffen zu greifen. Man bedenke: Wir können von heute auf morgen, „über Nacht“ zum Massenstreik, das heißt nach Kautskys Schema zur Generalschlacht auf Tod und Leben mit dem herrschenden System, gelangen. Und angesichts solcher Möglichkeiten soll die Partei nicht durch offensive Taktik jetzt schon ihre Waffen schärfen, durch die Vorbereitung der Massen auf ihre großen Aufgaben den kommenden Ereignissen zielbewußt begegnen? Die Verhältnisse seien derart, daß „über Nacht“ eine Katastrophe eintreten kann. Wir leben nach Kautsky gewissermaßen auf dem Vulkan. Und in einer solchen Situation sieht Kautsky für sich nur die eine Aufgabe: diejenigen als „Putschisten“ zu denunzieren, die der Kampftaktik der Sozialdemokratie mehr Wucht und Schärfe verleihen, die sie aus dem Schlendrian herausreißen wollen! Kautsky gebraucht bei seinen taktischen Plänen gern kriegerische Worte. Man hört bei ihm viel von Schlachten, Feldzügen und Feldherren. Nun, ein Feldherr, der „über Nacht“ eine Generalschlacht erwartete und, statt für die äußerste Ausrüstung seines Lagers zu sorgen, etwa die Order ausgeben würde, ruhig weiter die Knüpfe blank zu putzen, verdiente eine Verewigung freilich nicht in der Kriegsgeschichte, sondern im Wahren Jacob. 37
III
Nicht durch bewußte Anpassung der Organisation und der Taktik an die Massenkämpfe, die eine kommende Situation erfordern wird, gelangen wir zu dem „deutschen Massenstreik“. Dazu führt nach Kautsky der folgende verschlungene Weg. Ein Massenstreik um das preußische Wahlrecht ist erst dann möglich, wenn die Massen in Preußen den Nutzen des allgemeinen Wahlrechts richtig begriffen haben und das Wahlrecht als Lebensfrage für sich betrachten. Dies werden sie erst lernen, wenn sie einen Anschauungsunterricht haben, der ihnen den Nutzen des allgemeinen Wahlrechts vordemonstriert. „Dieser Anschauungsunterricht fehlt, solange das allgemeine, gleiche Wahlrecht zum Reichstag nicht eine Volksvertretung liefert, die für das Proletariat an ‚positiver Arbeit‘ weitaus mehr leistet als das Dreiklassenhaus.“ 38 Das war bisher noch nicht der Fall. Der Reichstag hat beinahe so wenig Positives geleistet wie der preußische Landtag. „Aber das kann sich ändern.“ Wenn wir noch mehr Sozialdemokraten hineinkriegen, können wir vielleicht im Reichstag dahin gelangen, „daß wir ihn zu Sozialreformen drängen. Gelänge es, die Praxis im Reichstag so zu gestalten, daß sie den Massen zeigte, das Reichstagswahlrecht besitze für sie großen praktischen Wert [Hervorhebung – R.L.], dann würden sie auch die Wichtigkeit seiner Erringung für den preußischen Landtag begreifen.“ 39
Mit dieser Klappe hätten wir aber sogar zwei Fliegen erschlagen: Die „positiven Errungenschaften“ im Reichstag würden nicht bloß den Massen die nötige Begeisterung zum Kampfe um das preußische Wahlrecht einflößen. Sie würden zugleich die Reaktion zu einem Staatsstreich, zur Kassierung des Reichstagswahlrechts treiben. Und da hätten wir auf einmal Gelegenheit zu zwei „deutschen“ Massenstreiks: einem zur Verteidigung des Reichstagswahlrechtes und einem zur Erringung des preußischen Wahlrechtes.
Kautsky sagt:
Das erscheint mir zur Zeit als der aussichtsreichste Weg, den Massenstreik für den preußischen Wahlrechtskampf vorzubereiten: Nur durch das Wachstum der Bedeutung des Reichstags im Bewußtsein der Volksmassen [Hervorhebung – R.L.] gewinnen sie die Erkenntnis von der Bedeutung des Reichstagswahlrechtes. Der entgegengesetzte Weg der Massenaktionsschwärmer, die Leistungsfähigkeit des Reichstags und damit des Reichstagswahlrechtes als recht gering hinzustellen, ist der verkehrteste Weg dazu. 40
Man weiß nicht, was man zuerst bewundern soll an diesem verwünscht gescheiten taktischen Feldzugsplan, dem an der Stirn geschrieben steht, daß er in der stillen Denkerstube am Schreibtisch ausgeklügelt worden ist. Wir sollen „dazu gelangen“, den Reichstag zu Sozialreformen, zu großartigen Leistungen, zu „positiver Arbeit“ zu bringen! Es ist jetzt nachgerade Gemeingut auch des bescheidensten Agitators der Sozialdemokratie geworden, daß der Reichstag je weiter, je mehr mit Unfruchtbarkeit geschlagen ist, daß er für die Arbeiterklasse immer mehr nur noch Steine statt Brot übrig hat, daß unsere Sozialreform sich je länger, je mehr aus einem Arbeiterschutz in Arbeitertrutz verwandelt – und da sollen wir erst in Zukunft dazu gelangen, von diesem Distelstrauch der bürgerlichen Reaktion die schönsten sozialreformerischen Feigen zu pflücken! Und zwar wodurch? Lediglich dadurch, daß wir noch mehr Abgeordnete in den Reichstag hineinwählen! Noch zehn, noch zwanzig Sozialdemokraten im Reichstag, und auf dem steinigen Boden der Reaktion beginnt allmählich das goldene Kornfeld „positiver Arbeit“ zu wogen! Daß die sozialreformerische Unfruchtbarkeit des deutschen Reichstags, wie übrigens der meisten kapitalistischen Parlamente heute, kein Zufall ist daß sie nur ein natürliches Produkt der zunehmenden Verschärfung des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit, daß im Zeitalter zunehmender Kartellierung der Industrie, der scharfmacherischen Arbeitgeberverbände, der Massenaussperrungen und des Zuchthauskurses unmöglich im Parlament ein neuer sozialreformerischer Frühling erblühen kann, daß jegliche „positive Arbeit“ im Parlament mit jedem Jahre aussichtsloser wird in dem Maße, wie der eherne Tritt des Imperialismus alle bürgerliche Opposition niederstampft, dem Parlament jede Selbsttätigkeit, Initiative und Unabhängigkeit nimmt, es zur verächtlichen Jasagemaschine für Militärbewilligungen degradiert – all das verschwindet plötzlich vor dem verklärten Blick Kautskys. Die geschichtliche Erfahrung von fünfzig Jahren parlamentarischer Arbeit, die ganze Summe komplizierter ökonomischer und politischer Faktoren der jüngsten internationalen Entwicklungsphase des Kapitalismus, die zunehmende Verschärfung der Gegensätze auf allen Gebieten – alles das wird offenbar bloß zur boshaften Erfindung von „Massenaktionsschwärmern“, die die Verkehrtheit begehen, vom Niedergang des Parlamentarismus zu reden und den Reichstag despektierlich zu behandeln. Nun, dieser „Verkehrtheit“ haben sich schon andere Leute schuldig gemacht. Bebel sagte in Dresden 1903:
Ich kann Ihnen nur sagen, wir können nicht mehr Initiativanträge bringen; und wenn wir nach dem Vorschlag … eine soziale Kommission einsetzen, die sich mit den Arbeiterschutzgesetzen zu beschäftigen und alle Anträge zu berücksichtigen hätte, bilden Sie sich wirklich ein, es sei dann etwas zu machen? … Es ist nicht Allein die geschäftsordnungsmäßige Unmöglichkeit, alle diese Dinge endgültig zu erledigen neben dem anderen Beratungsstoff … – nein, das Entscheidende ist, daß die ganze Gesetzgebungsmacherei im Deutschen Reich und auch in den anderen Parlamenten der Welt eine so erbärmliche, so ungenügende und mangelhafte ist, daß, wenn heute ein Gesetz fertig ist, morgen bereits alle Welt sieht, daß es abermals wieder geändert werden muß … Woher kommt das? Weil die Klassengegensätze immer schärfer geworden sind, so daß man schließlich nur halbe Gesetze macht, weil man keine ganzen mehr machen kann … Ich habe mich oft gefragt: Ist denn bei diesem Zustand der Dinge die parlamentarische Tätigkeit die Mühe an Arbeit, Zeit, Geld wert? Wir leisten vielfach Tretmühlenarbeit im Reichstag. Ich habe mich das manchmal gefragt, aber selbstverständlich, ich bin viel zu kampflustig, als daß ich dem lange nachgehangen hätte. Ich sagte mir: Das hilft nun alles nichts, das muß durchgefressen und durchgehauen werden! Man tut, was man kann, aber man täusche sich nicht über die Situation! Das will ich Ihnen nur ausführen, damit Sie nicht glauben, weil wir jetzt 81 Mann, müßten wir parlamentarische Bäume ausreißen. 41 [Hervorhebungen – R.L.]
(Protokoll des Dresdener Parteitags, S. 307.)
So sprach von der parlamentarischen Tätigkeit ein Mann, der auf ihrem Gebiet ein Menschenalter gearbeitet, der die sozialdemokratische Parlamentstaktik geschaffen hat. Und jetzt verspricht uns Kautsky, daß, wenn wir nur noch mehr Abgeordnete hineinwählen, sie parlamentarische Bäume ausreißen werden! Bebel rief in Dresden über die Aussichten des Parlamentarismus: „Also keine Illusionen, auf keinem Gebiete! Das schadet Ihnen nicht an Leib und Seele; im Gegenteil, das kann Ihnen nur nützen.“ 42 [Hervorhebungen – R.L.] Heute sucht Kautsky die gefährlichsten Illusionen in bezug auf den Parlamentarismus zu wecken.
Sein schlauer taktischer Plan hat aber noch eine interessante Seite. Wir sollen erst durch „positive Errungenschaften“ im Reichstag das Interesse der Massen für das preußische Wahlrecht wecken. Nur dieser „Anschauungsunterricht“ vermag entschlossene Kämpfer für das preußische Wahlrecht zu schaffen. Also ohne „Positive Errungenschaften“ versteht die Masse den Wert der parlamentarischen Tätigkeit nicht? Nun, wie sind wir denn zu unseren 4¼ Millionen Stimmen zum Reichstag gekommen? Wie sind wir seit 40 Jahren von Wahlsieg zu Wahlsieg vorgeschritten, ohne daß wir bis jetzt, wie Kautsky selbst zugibt, im Reichstag irgendwelche namhafte „positive Arbeit“ haben verrichten können? Haben wir vielleicht nach dem Kautskyschen Rezept die Massen durch den Köder „positiver Errungenschaften“ für den Gebrauch ihres Wahlrechtes zu gewinnen gesucht? Hören wir wieder, was Bebel darüber schon in Erfurt 1891 gegen Vollmar ausführte:
Für uns aber handelt es sich darum, daß wir den Massen zeigen, wie ihnen die Gegner auf ihrem eigenen Boden die elementarsten und gerechtfertigtsten Forderungen verweigern. Diese Aufklärung der Massen über unsere Gegner ist die Hauptaufgabe für unsere parlamentarische Tätigkeit und nicht die Frage, ob zunächst eine Forderung erreicht wird oder nicht. Von diesen Gesichtspunkten aus haben wir unsere Anträge stets gestellt … Und unsere Tätigkeit in diesen Dingen hat in den weitesten Kreisen der Arbeiter, wie zahlreiche Zuschriften beweisen, die allergünstigste Beurteilung gefunden. Wir haben also stets den Standpunkt vertreten, es handelt sich zunächst nicht darum, ob wir dies oder jenes erreichen; für uns ist die Hauptsache, daß wir gewisse Forderungen stellen, die keine andere Partei stellen kann. 43 [Hervorhebungen – R.L.]
(Protokoll des Erfurter Parteitags, S. 174.)
Es war also nicht die „positive Arbeit“, sondern die aufklärende Agitation im Reichstag, was uns die wachsenden Scharen der Anhänger bei den Wahlen gewonnen hat. Die Opportunisten in der Partei waren es bis jetzt, die behaupteten, den Massen müsse man unbedingt mit „positiven Errungenschaften“ in der Hand kommen, sonst wird uns das Volk „nicht verstehen“. Die Partei in ihrer Mehrheit hat es stets verschmäht, die Massen durch Verheißungen „positiver Errungenschaften“ zu ködern. Und doch haben wir Millionen Wähler gewonnen, und doch haben wir unter stürmischer Zustimmung der Massen schon 1905 erklärt, zur Verteidigung dieses Reichstagswahlrechtes, das fast noch keinen Deut an „positiven Errungenschaften“ eingebracht hat, müsse das Äußerste getan werden. 44
Der ganze taktische Plan Kautskys bewegt sich also im falschen Geleise, er ist opportunistische Spekulation auf einen sozialreformerischen Altweibersommer des Reichstags und auf opportunistische Köderung der Massen durch „positive“ parlamentarische Arbeit.
Doch abgesehen davon, was bleibt denn Greifbares an taktischer Weisung für die Partei übrig, wenn man in diesem Plan das Wenn und Aber der Zukunftsmusik ausscheidet? Was sollen wir schließlich tun, um vorwärtszukommen? Reichstagswahlen, Mandatgewinn – das ist das Allheilmittel, das ist das A und O. Nichtsalsparlamentarismus – das ist alles, was Kautsky der Partei heute zu empfehlen weiß.
IV
Seit Jahren haben wir in unseren Reihen kein so allgemeines lebhaftes Bedürfnis verspürt, vorwärtszukommen, unserer Taktik eine größere Wucht und Schlagfertigkeit, unserem Organisationsapparat eine größere Beweglichkeit zu verleihen, wie jetzt. Die Kritik an den eigenen Mängeln im Parteileben und in den Kampfmethoden, wie stets die erste Vorbedingung jedes inneren Fortschritts in den Reihen der Sozialdemokratie, ist diesmal aus dem Schoße der Organisationen selbst herausgekommen, sie hat in den weitesten Kreisen der Partei ein kräftiges Echo gefunden. Und es sollte scheinen, daß zu einer solchen Selbstkritik Anlaß genug vorhanden ist. Der preußische Wahlrechtskampf ist nach dein glänzenden Anlauf im Jahre 1910 in völlige Stagnation geraten. Die Aktion der Partei wie der Fraktion im Kampfe gegen die Militärvorlage war nach allgemeinem Empfinden nicht auf der Höhe; speziell die Taktik der Fraktion gegenüber der Deckungsvorlage 45 hat eine tiefe Beunruhigung in den Parteikreisen hervorgerufen. Der Stand der Organisation und der Abonnenten unserer Presse weist den minimalsten Fortschritt, den wir seit dem Bestehen der Partei zu verzeichnen haben, stellenweise sogar einen Rückgang auf. Geben alle diese Erscheinungen auch gar keinen Grund zu Bußtagspredigten über unsere hoffnungslose „Verbürgerlichung“, so sind sie für eine Kampfpartei, namentlich für eine Partei der Selbstkritik wie die unsere, Grund zur ernsten Prüfung der eigenen Kräfte und Kampfmethoden. Wie die Parteipresse und der Verlauf der Parteiversammlungen von allen Seiten dartun, empfinden die weitesten Kreise der Genossen das ernste Bedürfnis, sich mit all den auftauchenden Fragen, Zweifeln und Problemen auseinanderzusetzen.
Nur Kautsky, derselbe Kautsky, der bei mir „mangelnde Vertrautheit mit dem Fühlen und den Lebensbedingungen des Proletariats“ 46 bemängelt, hat von diesem Drängen und von dieser Unruhe unserer Massen nicht das geringste verspürt. Er seinerseits findet an unserem Parteileben gar nichts auszusetzen. Ist auch die Fortsetzung der Wahlrechtsdemonstrationen, die Kautsky selbst im Mai 1910 für notwendig erklärte, ausgeblieben und ist der Wahlrechtskampf seit drei Jahren eingeschlafen, Kautsky findet alles in Ordnung und erklärt, daß nur Most und Hasselmann sich nach etwas anderem sehnen könnten. Kritisiert man unser Verhalten bei der Militärvorlage als mangelhaft, dann fordert Kautsky, man solle ihm doch zeigen die Massenaktionen gegen solche Vorlagen in Frankreich, Italien, Österreich, ja er hat sogar den grimmigen Humor, vom heutigen Rußland das Vorbild der Aktion gegen den Militarismus für die deutsche Sozialdemokratie mit ihrer Million Organisierter zu fordern.
Wenn die Parteigenossen draußen im Lande die flaue Stimmung der Massen im Kampfe gegen die Militärvorlage als eine bittere und, beschämende Enttäuschung empfinden, findet Kautsky diese Flauheit ganz begreiflich und ruft kühl bis ans Herz hinan: Weshalb sollten sich denn die Massen erregen? Handelte es sich doch nach ihm um nichts als um die Ausdehnung der allgemeinen Wehrpflicht auf alle wehrhaften Männer, wonach die ungeheuerlichste aller Militärvorlagen beinahe so harmlos aussieht wie die Verleihung eines Ordens vierter Güte an einen fortschrittlichen Führer.
Während Kautsky noch im Jahre 1909 das Verhalten der Fraktion bei der Finanzvorlage 47 scharf kritisierte, durchaus eine Obstruktion forderte, auf dem Leipziger Parteitag entschieden gegen die Abstimmung für direkte Steuern auftrat, weil sie mit indirekten verkoppelt waren, und erklärte: „Niemals dürfen wir dem heutigen System eine Steuer bewilligen zu Zwecken, die wir verwerfen“ 48 (Leipziger Parteitagsprotokoll, S. 349) [Hervorhebung – R.L.], findet er heute kein Wort gegen das Verhalten der Fraktionsmehrheit. Ja, er feiert es als einen herrlichen Sieg und den Beginn eines ganzen Frühlings „positiver Arbeit“ im Reichstag. Und selbst der Rückgang der Organisation und der Abonnenten vermag Kautsky nicht aus der beschaulichen Ruhe eines Philosophen herauszubringen. Er sagt:
Kein Zweifel es ist im Parteileben augenblicklich ein gewisser Stillstand zu verzeichnen, der an manchem Orte sogar zu einem Rückgang der Abonnentenzahlen der Parteipresse und der Mitgliederzahlen der Parteiorganisationen geführt hat. Das ist sicher nicht erfreulich, aber noch lange keine bedenkliche Erscheinung. 49 [Hervorhebung – R.L.]
Man denke: Derselbe Kautsky, der sich überhaupt nur auf Organisierte verlassen, nur mit ihnen alle Schlachten des Klassenkampfes schlagen will, der in der Organisation nicht bloß den bewußten Kern und die leitende Vorhut des Proletariats, sondern überhaupt das all und einzige des Klassenkampfes und der Geschichte sieht, derselbe Kautsky entwickelt plötzlich eine merkwürdige Gelassenheit, wenn man selbst einen Rückgang unserer Organisationen feststellt! Ja, er versteigt sich, um diesen Rückgang „unbedenklich“ erscheinen zu lassen, zu der höchst bedenklichen Theorie, daß man ja „an den Zielen unserer Bewegung dasselbe Interesse nehmen könne, ob man in der Organisation steht oder nicht“. 50 Ein Glück, daß die Neue Zeit keine allzu große Verbreitung in den Massen findet, sonst würden ja die Organisationsfaulen bei unserem Obertheoretiker die schönste Rechtfertigung ihres sträflichen Verhaltens finden. Wenn unsereiner zu behaupten wagt, daß die Unorganisierten in einzelnen stürmischen Momenten, in bestimmten historischen Situationen, beim Kampfe um große volkstümliche Ziele neben den Organisierten und unter ihrer Anführung mitmachen müssen, dann gerät Kautsky in die edelste Entrüstung ob solchem Blanquismus, Putschismus, Syndikalismus. Wenn es aber gilt, das Bestehende mit seinen Mängeln zu beschönigen und die Selbstkritik der Partei einzulullen, dann entdeckt Kautsky plötzlich, was keiner vor ihm wußte: daß man sogar an den Zielen unserer Bewegung „dasselbe Interesse“ nehmen könne, ob man organisiert sei oder nicht!
Das ist ein Offiziösentum, wie es reiner in unserer Partei und jedenfalls im Organ des geistigen und theoretischen Lebens der Sozialdemokratie nie vertreten worden ist. Und jedenfalls ist das ein Gebrauch der Theorie, der mit dem Geiste des Marxismus nichts gemein hat. In Marxens Geist ist die theoretische Erkenntnis nicht dazu da, um hinter der Aktion einherzugehen und für alles, was von den „obersten Behörden“ der Sozialdemokratie jeweilig getan oder gelassen wird, einen rechtfertigenden Beruhigungsschleim zu kochen, sondern umgekehrt, um der Aktion der Partei führend vorauszugehen, um die Partei zur ständigen Selbstkritik anzustacheln, um Mängel und Schwächen der Bewegung aufzudecken, um neue Bahnen und weitere Horizonte zu zeigen, die in den Niederungen der Kleinarbeit unsichtbar sind.
Kautsky hingegen bekämpft den Gedanken an eine Offensive in unserer Taktik, er bekämpft die Forderung der Initiative, er bekämpft die Losung des Massenstreiks. Was er aber zu bieten weiß, sind nur die gefährlichsten Illusionen in bezug auf den Parlamentarismus. Im Frühjahr 1910, als die Partei mitten in den preußischen Wahlrechtsdemonstrationen die Frage der weiteren Kampfmittel erörterte, trat Kautsky dazwischen, um zu der Abrüstung im Wahlrechtskampf die Theorie zu liefern und im Sinne der leitenden Parteikreise die ganze Aufmerksamkeit und Energie auf die bevorstehenden Reichstagswahlen zu lenken. Reichstagswahlen! Das war Kautskys einzige taktische Losung. Auf die Reichstagswahlen sollten alle Hoffnungen konzentriert werden. Nach den Reichstagswahlen versprach Kautsky „eine ganz neue Situation“ und stellte einen „neuen Liberalismus“ in Aussicht. Freilich, auch dieser „neue Liberalismus“ war, wie alle politischen Horoskope Kautskys, in lauter Wenn und Abers gewickelt, und jede positive Behauptung wurde nachträglich durch einschränkende Bedingungen wieder aufgehoben. Doch der einzige begreifliche Zweck und der Kern seiner Ausführungen sowie des Schlagwortes vom neuen Liberalismus war doch nur der, Hoffnungen auf den „neuen Mittelstand“ zu wecken und den Schwerpunkt des politischen Kampfes ins Parlament zu verlegen.
Kautsky schrieb am 25. Februar 1912 im Vorwärts:
Die Gunst der heutigen Situation liegt nicht darin, daß in den Liberalen plötzlich entschlossene Kämpfer für eine demokratische Revolution auf den Plan getreten sind, sondern darin, daß die Haltung der Liberalen uns Gegenüber alle Pläne der Reaktionäre zuschanden macht. Unser Wahlsieg hat diese nicht überrascht, mit dem rechnete alle Welt. Aber sie erwarteten, daß unter dem Eindruck des proletarischen Wahlsiegs die Liberalen, von panischem Schrecken ergriffen, in hellen Haufen ins reaktionäre Lager abschwenken, das Wort von der reaktionären Masse zur Wahrheit machen würden …
Und das wäre sicher auch geschehen ohne den neuen Mittelstand. So ist aber nicht bloß die starke Sozialdemokratie gekommen, sondern neben ihr auch ein Liberalismus, der zum Kampfe gegen die Rechte bereit ist – ihnen Gegenüber diese in der Minderheit. 51 [Hervorhebungen – R.L.]
Und gegen Schluß:
Die Machtverhältnisse der verschiedenen Parteien und Klassen, wie sie der jüngste Wahlkampf nicht geschaffen, wohl aber enthüllt hat, sie haben eine politische Situation hervorgerufen, die ihres gleichen in der bisherigen Geschichte Deutschland nicht findet. Man braucht nicht parlamentarischem Kretinismus verfallen zu sein, noch die Macht des Reichstages und die Kraft des Liberalismus zu überschätzen, um zu der Anschauung zu kommen, daß der Schwerpunkt unserer politischen Entwicklung wieder einmal im Reichstag ruht und die parlamentarischen Kämpfe uns in der gegebenen Situation ein erhebliches Stück vorwärts bringen können – natürlich nicht durch sich selbst allein, sondern durch ihre Rückwirkung auf die Massen, die die feste Grundlage unserer Kraft bleiben, wie immer sich die parlamentarischen Konstellationen gestalten mögen. 52 [Hervorhebungen – R.L.]
Die Reichstagswahlen sind längst vorüber, die „ganz neue Situation“ ist nicht eingetreten, vielmehr wird der alte reaktionäre Kurs ruhig fortgesetzt. Unsere Fraktion von 110 hat sich gegen diese Reaktion, wie nicht anders zu erwarten war, im großen und ganzen ebenso machtlos erwiesen wie die frühere von 53. Der „neue Liberalismus“ hat sich trotz „neuen Mittelstandes“ als der älteste, greisenhafteste herausgestellt. Der preußische Wahlrechtskampf hat sich von der Erstarrung seit dem Frühjahr 1910 immer noch nicht erholt. Und die neue politische Situation, „die ihresgleichen in der bisherigen Geschichte Deutschlands nicht findet“, kulminierte in einem Stillstand der Sozialreform und in der glatten Annahme einer Militärvorlage, die „ihresgleichen in der bisherigen Geschichte Deutschlands nicht finden“.
Was ist nun heute die Losung Kautskys? Wieder Reichstagswahlen und nichts als Reichstagswahlen! „Das Wachstum der Bedeutung des Reichstags im Bewußtsein der Volksmassen“ – das ist nach Kautsky auch heute noch der einzige Weg, wie wir vorwärtskommen! Wie seine Theorie auf eine offiziöse Beruhigung aller Skrupel und Rechtfertigung alles Bestehenden in der Partei hinausläuft, so seine Taktik auf das Bremsen der Bewegung auf dem alten ausgefahrenen Geleise des reinen Parlamentarismus, im übrigen auf die Hoffnung, daß die Geschichte schon die revolutionäre Entwicklung besorgen wird und daß, wenn die Zeit reif ist, die Massen über die bremsenden Führer hinwegstürmen werden. Oder wie Kautskys Gesinnungsgenosse, der Vorwärts, so schön formuliert hat: „Wenn die Massen in stürmischer Erregung sind, wenn sie vorwärtsdrängen, wenn sie um bremsende Führer sich nicht mehr bekümmern, dann ist der Augenblick, nicht wo der Massenstreik diskutiert und dann proklamiert ist, sondern wo er da ist, geboren aus der zwingenden unwiderstehlichen Gewalt der Massenbewegung.“
Das ist eine Anweisung für unsere Führer, die an die Regierungsmaximen des seligen Kaisers Ferdinand vor der Märzrevolution erinnert: „Mich und den Metternich hält“s noch aus.“ Solange es „aushält“, sollen sich die Führer der Sozialdemokratie an die heilige Routine, an den Nurparlamentarismus halten und den neuen Aufgaben der Zeit mit Gewalt entgegenstemmen. Erst wenn alles Bremsen nichts hilft, soll der Beweis erbracht sein, daß „die Zeit erfüllet sei“.
Sicher werden bremsende Führer schließlich von den stürmenden Massen auf die Seite geschoben werden. Allein, dieses erfreuliche Ergebnis als ein sicheres Symptom der „reifen Zeit“ ruhig erst abzuwarten mag für einen einsamen Philosophen angemessen sein. Für die politische Leitung einer revolutionären Partei wäre es Armutszeugnis, moralischer Bankrott. Die Aufgabe der Sozialdemokratie und ihrer Führer ist nicht, von den Ereignissen geschleift zu werden, sondern ihnen bewußt vorauszugehen, die Richtlinien der Entwicklung zu überblicken und die Entwicklung durch bewußte Aktion abzukürzen, ihren Gang zu beschleunigen.
Nichts ist auch rascher und gründlicher von der wirklichen Entwicklung begraben worden als die taktischen Weisungen Kautskys in den letzten drei Jahren: wie seine „Ermattungsstrategie“, die auf den Nurparlamentarismus hinausläuft und von der jetzt die Mehrheit der Partei nichts wissen will, wie seine „Abrüstung“, die im Orkus verschwunden ist, wie sein „neuer Liberalismus“, wie seine „ganz neue Situation“ nach den Reichstagswahlen, wie die unter seinem theoretischen Segen ausgeführte Dämpfungstaktik bei den Wahlen. So wird es auch in Zukunft gehen. Eine Theorie, die nicht dem Vorwärtsstreben der Massen, sondern dem Bremsen dient, kann selbst nur erleben, daß sie von der Praxis überrannt, achtlos auf die Seite geschoben wird.
Anmerkungen
1. Rosa Luxemburg hatte bereits im Vorwärts, Nr. 192 vom 29. Juli 1913, diese Auseinandersetzung mit Karl Kautsky angekündigt: „Der neue Liberalismus. Die ‚Feststellung‘ des Genossen Kautsky über seinen ‚neuen Liberalismus‘ werde ich, zusammen mit seinem Angriff gegen mich in der Frage des Massenstreiks, in der Neuen Zeit beantworten – vorausgesetzt natürlich, daß man mich dort zu Wort kommen läßt. R. Luxemburg.“
2. Im Frühjahr 1910 hatte sich in ganz Deutschland eine Massenbewegung für die Erringung des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts zum preußischen Landtag entwickelt. Rosa Luxemburg verteidigte die Anwendung des politischen Massenstreiks als objektiv notwendiges Kampfmittel gegenüber der Absicht der rechten Parteiführer, die Wahlrechtsbewegung in den alten Bahnen des Parlamentarismus zu belassen, um angeblich die Reichstagswahlen 1912 nicht zu gefährden.
3. Die SPD bekam wegen dem reaktionären Dreiklassenwahlrecht bei den preußischen Landtagswahlen vom 3. Juni 1913 mit 775.171 Stimmen (28,38 %) nur 10 Sitze, die Deutschkonservative Partei z. B. dagegen mit nur 402.988 Stimmen (14,75 %) 147 Sitze.
4. Die Militärvorlage vom März 1913 brachte die größten Rüstungssteigerungen der deutschen Geschichte. Da ein Teil der Kosten durch Vermögenssteuern aufgebracht werden sollte, wollten Teile der SPD diesen Steuererhöhungen trotz ihres Zwecks zustimmen. Durch Anwendung der Fraktionsdisziplin unterdrückten diese Revisionisten den Widerstand von 37 Abgeordneten und die Fraktion stimmte für das neue Gesetz. Dadurch wurde das sozialdemokratische Grundsatz – „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!“ – aufgegeben.
5. Siehe Karl Kautsky, Nachgedanken zu den nachdenklichen Betrachtungen, in Die Neue Zeit (Stuttgart), 31. Jg. 1912/13, 2. Bd., S. 532–540, 558–568.
6. Die sozialdemokratischen Politiker Johann Most und Wilhelm Hasselmann waren Jahrzehnte vorher zum Anarchismus abgeglitten
7. Karl Kautsky, Nachgedanken zu den nachdenklichen Betrachtungen, in Die Neue Zeit (Stuttgart), 31. Jg. 1912/13, 2. Bd., S. 536.
8. ebenda, S. 560.
9. ebenda, S. 538.
10. Leipziger Volkszeitung vom 15., 16. und 19. Mai 1913, nachgedruckt in Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 195–207.
11. ebenda, S. 204. – Hervorhebung nur hier.
12. ebenda, S. 206. – Hervorhebung nur hier.
13. Taktische Fragen, Leipziger Volkszeitung vom 26–28. Juni 1913, nachgedruckt ebenda, S. 246–258, hier S. 248
14. ebenda, S. 248–249. – Hervorhebung nur hier.
15. ebenda, S. 254, 256
16. Massenstreik, Partei und Gewerkschaften (1906), in Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 91–170
17. Taktische Fragen, a.a.O., S. 252. – Hervorhebung nur hier.
18. ebenda, S. 254. – Hervorhebung nur hier.
19. Siehe Karl Kautsky, Nachgedanken zu den nachdenklichen Betrachtungen, in Die Neue Zeit (Stuttgart), 31. Jg. 1912/13, 2. Bd., S. 538.
20. Karl Kautsky, Zum dreißigsten Todestag von Karl Marx. 1883 – 14. März – 1913, in Vorwärts (Berlin), Nr. 62 vom 14. März 1913.
21. Durch den Massenstreik von 250.000 Arbeitern in Belgien im April 1893 war die Regierung gezwungen worden, das Zensuswahlrecht – ein beschränktes Wahlrecht, bei dem nur Wähler, die bestimmte Wahlzensen erfüllten, wie z. B. Mindesteinkommen, das aktive Wahlrecht besitzen – abzuschaffen und das allgemeine Wahlrecht mit Pluralvotum – ein undemokratisches System, bei dem Wähler mit besonderen Voraussetzungen wie hohes Einkommen mehr als eine Stimme abgeben können – einzuführen.
Am 14. April 1902 hatte in Belgien ein Massenstreik von etwa 300.000 Arbeitern zur Verbesserung des Wahlrechts begonnen. Er war am 20. April vom Generalrat der belgischen Arbeiterpartei, die mit den Liberalen eine Allianz eingegangen war, abgebrochen worden, obwohl die Forderungen nach Änderung des Wahlrechts und der damit verbundenen Verfassungsänderung am 18. April von der belgischen Kammer abgelehnt worden war.
Am 14. April 1913 begann in Belgien ein politischer Massenstreik für das allgemeine Wahlrecht, der seit Juni 1912 durch ein spezielles Komitee organisatorisch, finanziell und ideologisch im ganzen Land sorgfältig vorbereitet worden war. An dem Streik beteiligten sich etwa 450.000 Arbeiter. Am 24. April 1913 beschloß der Parteitag der belgischen Arbeiterpartei den Abbruch des Streiks, nachdem sich das belgische Parlament dafür ausgesprochen hatte, die Reform des Wahlrechts in einer Kommission erörtern zu lassen.
22. Im September 1911 begann Italien gegen die Türkei einen Krieg um die Herrschaft über Tripolis (Libyen), die Sozialistische Partei organisierte dagegen am 29. September einen 24stündigen Generalstreik. er wurde in vielen Städten des Landes von Demonstrationen und Kundgebungen gegen den Krieg begleitet.
23. Siehe Karl Kautsky, Nachgedanken zu den nachdenklichen Betrachtungen, in Die Neue Zeit (Stuttgart), 31. Jg. 1912/13, 2. Bd., S. 560.
24. Während der Wahlrechtskämpfe im Frühjahr 1910 hatte es zwischen Rosa Luxemburg und Karl kautsky heftige Auseinandersetzungen über die Frage des Massenstreiks gegeben. Siehe dazu Rosa Luxemburg, Ermattung oder Kampf?, in Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 344–377, und Rosa Luxemburg, Die Theorie und die Praxis, ebenda, S. 378–420.
25. Die Arbeiter Petersburgs und anderer Städte hatten im November 1905 auf revolutionärem Wege den Achtstundentag in den betrieben eingeführt.
26. Siehe Karl Kautsky, a.a.O., S. 560.
27. Nach einem Massaker des Militärs am streikenden Arbeiter der Lena-Goldbergwerke im April 1912 gab es im ganzen Land Proteststreiks.
28. Im Juni 1913 gab es in Petersburg und anderen Städten Proteststreiks gegen den Verurteilung von Matrosen wegen angeblicher Vorbereitung eines Aufstands.
29. Anfang Juli gab es in Petersburg und anderen Städten Streiks gegen die Verfolgung der Arbeiterpresse
30. Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, in Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 91–170.
31. Karl Kautsky, Die Soziale Revolution. I. Sozialreform und soziale Revolution, Berlin 1907, S. 59 u. 63.
32. Der Internationale Sozialistenkongreß in Kopenhagen fand vom 28. August bis 3. September 1910 statt.
33. Im Frühjahr 1912 gab es in mehreren europäischen Ländern umfangreiche Bergarbeiterstreiks. Im Ruhrgebiet wurde der Streik von den reformistischen Gewerkschaftsführern abgebrochen.
34. Vom 7. Januar bis 19. Februar 1905 hatten etwa 215.000 Bergarbeiter im Ruhrrevier für den Achtstundentag, für höhere Löhne und für Sicherheitsvorkehrungen gestreikt. Der Streik vereinigte Arbeiter aus allen Bergarbeiterverbänden sowie Unorganisierte. die von reformistischen und bürgerlichen Gewerkschaftsbürokraten beherrschte Streikleitung beschloß den Abbruch des Streiks und machte ihn dadurch ergebnislos.
35. Karl Kautsky, Die Lehren des Bergarbeiterstreiks, in Die Neue Zeit (Stuttgart), 23. Jg. 1904/05, 1. Bd., S. 780–781.
36. Rosa Luxemburg, Taktische Fragen, in Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 252.
37. Satirische Zeitschrift.
38. Siehe Karl Kautsky, Nachgedanken zu den nachdenklichen Betrachtungen, in Die Neue Zeit (Stuttgart), 31. Jg. 1912/13, 2. Bd., S. 566 567.
39. ebenda, S. 567.
40. ebenda.
41. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Dresden vom 13. bis 20. September 1903, Berlin 1903, S. 305 307.
42. ebenda, S. 308.
43. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Erfurt vom 14. bis 20. Oktober 1891, Berlin 1891, S. 174.
44. Der Jenaer Parteitag von 1905 beschloß, das allgemeine Reichstagswahlrecht und Koalitionsrecht notfalls mit Massenstreiks zu verteidigen, beschränkte aber die Anwendung des Massenstreiks auf diese Zwecke.
45. Die Militärvorlage vom März 1913 brachte die größten Rüstungssteigerungen der deutschen Geschichte. Da ein Teil der Kosten durch Vermögenssteuern aufgebracht werden sollte, wollten Teile der SPD diesen Steuererhöhungen trotz ihres Zwecks zustimmen. Durch Anwendung der Fraktionsdisziplin unterdrückten diese Revisionisten den Widerstand von 37 Abgeordneten und die Fraktion stimmte für das neue Gesetz. Dadurch wurde das sozialdemokratische Grundsatz – „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!“ – aufgegeben.
46. Siehe Karl Kautsky, Nachgedanken zu den nachdenklichen Betrachtungen, in Die Neue Zeit (Stuttgart), 31. Jg. 1912/13, 2. Bd., S. 536.
47. Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion hatte 1909 der Einführung einer Erbschaftssteuer zugestimmt, obwohl sie nicht mit Steuersenkungen für die Massen verbunden war, sondern weitere Aufrüstung finanzieren sollte. Diese Haltung, die die Opportunisten auf dem Leipziger Parteitag 1909 mit demagogischer Berufung auf das sozialdemokratische Parteiprogramm zu rechtfertigen suchten, führte in der Sozialdemokratie zu heftigen Auseinandersetzungen über die prinzipielle Haltung der Partei zu direkten Steuern im kapitalistischen Klassenstaat.
48. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Leipzig vom 12. bis 18. September 1909, Berlin 1909, S. 349.
49. Karl Kautsky, a.a.O., S. 533
50. ebenda, S. 534.
51. Karl Kautsky, Der neue Liberalismus und der neue Mittelstand, in Vorwärts (Berlin), Nr. 47 vom 25. Februar 1912.
52. ebenda.