22. August 1906 // Artikel
Franz Mehring // Amnestie

Amnestie

22. August 1906

Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Zweiter Band, S. 713-715. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 181-183


Kommt sie oder kommt sie nicht? Nämlich die Amnestie, die von den bürgerlichen Blättern mit heißem Sehnen erwartet wurde, als vor einigen Wochen der erste Enkel Wilhelms II. das Licht der Welt erblickte. Als sie ausblieb, ergingen sich selbst so lammfromme Blätter wie die „Nationalzeitung“ in sehr bitteren Bemerkungen, aber da das Hoffen und Harren bei ihnen niemals aufhört, so kündigen sie jetzt den Erlass der Amnestie für den Tauftag jenes Enkels an. Eine Reise des preußischen Justizministers nach Norderney, wo der Reichskanzler seine Sommerfrische hält, bestärkt sie in ihren frohen Erwartungen, die sich – wer weiß? – erfüllen oder auch nicht erfüllen werden.

Diese Seite der Sache hat für uns nicht das geringste Interesse. An der sozialdemokratischen Politik ändert sich nichts, ob zehn Amnestien erlassen oder hundert Amnestien verweigert werden. Wohl aber interessiert uns der Grund, der die bürgerliche Presse an dieser Frage so lebhaften Anteil nehmen lässt. Selbstsucht ist es nicht – das muss man ihr zum Ruhme nachsagen, so unrühmlich die Tatsache sein mag, die diesen Ruhmestitel begründet. Die politische Haltung der bürgerlichen Presse ist längst so schlaff und zahm geworden, dass sich kein Arm eines Staatsanwalts mehr gegen sie erhebt; sie hat von der Klassenjustiz nichts mehr zu befahren, und eine Amnestie für politische Vergehen würde unseres Wissens auch nicht einem ihrer Angehörigen eine Stunde Freiheit schenken. Dagegen würde sie der sozialdemokratischen Agitation eine ganze Menge von Kräften zurückgeben, die ihr jetzt entzogen sind, von Rechts wegen, das will sagen durch die herrschende Klassenjustiz.

Nun ist es sicherlich nicht die Gewohnheit der bürgerlichen Presse, sich für die schönen Augen der Sozialdemokratie aufzuregen, und wenn sie sich dennoch für eine Amnestie begeistert, bei der für sie nicht der geringste Profit herausspringen, dagegen der „Todfeindin aller menschlichen Kultur“ ein reeller Nutzen erwachsen würde, so muss sie sehr triftige Gründe für diese Taktik haben. Diese Gründe sind auch gar nicht so schwer zu entdecken. Die Klassenjustiz, wie sie in Deutschland geübt wird, erregt solchen Hass und Zorn, ein so tiefes Gefühl einer von Tage zu Tage anwachsenden Erbitterung in den Volksmassen, dass loyalen Gemütern dabei angst und bange werden kann. Sie wünschen eine Amnestie als beschwichtigendes Öl für diese erregten Wogen. Sie sind der Meinung, dass jedes Urteil der Klassenjustiz, das einen sozialdemokratischen Agitator auf einige Monate oder auch Jahre der Freiheit entzieht, das Zehnfache oder je nachdem auch das Hundertfache der agitatorischen Wirkung leistet, das der eingesperrte Agitator geleistet hätte, wenn er in der Freiheit geblieben wäre.

Daran ist nun gewiss viel Wahres. Aber auch der Standpunkt der Regierung, die für die Forderung einer Amnestie so harthörig ist, kann eine gewisse Konsequenz für sich geltend machen. Die Regierung sagt sich: „Weshalb haben wir mit so vieler Anstrengung und Mühe, mit so schmerzlicher Opferung des schönen Scheines die revolutionären Vögel eingelangen, wenn wir sie jetzt mit einem Male wieder fliegen lassen sollen? Sie wissen uns ja doch keinen Dank und fangen an der Stelle wieder an, wo sie aufhören mussten, als wir sie griffen. Wenn man einmal versucht, die Justiz als Waffe gegen die moderne Arbeiterbewegung zu handhaben, so ist es unsinnig, den mühsam errungenen Erfolg ohne jeden praktischen Zweck wieder aufzugeben.“ In dieser Argumentation liegt eine unbestreitbare Konsequenz, und selbst – da die ganze Reaktion der halben immer über ist – eine strengere Konsequenz als in dem Verlangen einer Amnestie, das die untadeligen Gemüter der bürgerlichen Presse in heiligem Eifer erglühen lässt.

Wollten sie an ihrem Teile konsequent sein, so würde sich ihr Heldenmut nicht im Winseln um Gnade erschöpfen, sondern sich dadurch bewähren, dass sie der Klassenjustiz, so wie sie in Deutschland an der Arbeiterbewegung verübt wird, mit einer unerbittlichen Kritik entgegenträten. Geschähe das nur mit einiger Ausdauer, so würde die Klassenjustiz zwar keineswegs ausgerottet, aber doch wesentlich eingeschränkt werden. Das öffentliche Urteil kann nicht nur, sondern soll sogar die Handhabung der Rechtspflege beeinflussen, denn zu diesem Zwecke ist ja die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen eingeführt. Aber wo sich die Presse dieser ihrer legitimen Aufgabe entzieht, wo die Gerichtshöfe ganz genau wissen, dass sie von den bürgerlichen Blättern kein Wort der Kritik zu fürchten haben, gleichwohl welche Urteile sie über Angehörige der Sozialdemokratischen Partei fällen, da wächst sich die Klassenjustiz natürlich über alles Maß aus und erzeugt dann Wirkungen, die auf die Dauer selbst den borniertesten Philistern auf die Nerven fallen.

Nur haben sie dann nicht die Einsicht und den Mut, vor der eigenen Tür zu fegen, sondern jammern dann nach einer Amnestie, die den angerichteten Schaden wieder ausgleichen und ihnen dann auch die willkommene Gelegenheit bieten soll, sich abermals als loyale Untertanen zu beweisen und die Großmut der Krone zu preisen, die denen Gutes tue, die ihr Übles ersännen.

Sie täuschen sich jedoch gründlich darin, wenn sie glauben auf diese Weise die verheerenden Wirkungen der Klassenjustiz beseitigen zu können. Im Gegenteil, diese Wirkungen werden eher dadurch gestärkt. Amnestie ist eben auch nichts als Willkür, wenigstens wenn sie in dem Sinne und zu dem Zwecke erlassen wird, eine Popularität wiederherzustellen, die durch die Klassenjustiz verloren gegangen ist. Und nur in diesem Sinne und zu diesem Zwecke wird sie gegenwärtig von der bürgerlichen Presse gefordert. Sie soll die Klassenjustiz so weit regulieren, dass diese nicht allzu bittere und heftige Empfindungen in den Volksmassen erregt, nicht allzu sehr die Grundlagen untergräbt, auf denen die kapitalistische Gesellschaft beruht. Aber diesen Zweck kann und wird sie nie erreichen. Fürchtet die bürgerliche Presse den Eindruck der Klassenjustiz auf die Massen, so soll sie sich der Klassenjustiz selbst in den Weg werfen, auf die Gefahr hin, ihr auch zum Opfer zu fallen; das wäre der einzige Weg, der ihr gegeben wäre, um die Klassenjustiz und damit auch deren zerstörende Wirkungen ein wenig zu schwächen.

Ihr Jammern aber um eine Amnestie, mag es nun von Erfolg gekrönt sein oder nicht, ist weiter nichts als ein tröstlicher Beweis dafür, dass die Klassenjustiz, so schwer sie auch einzelne Kämpfer der Arbeiterbewegung treffen mag, der Bewegung als solcher außerordentlichen Vorschub leistet. Nichts lockert so gründlich die Bande der nationalen Gemeinschaft zwischen den herrschenden und den beherrschten Klassen, als wenn jene das Richtschwert einer angeblichen Gerechtigkeit benutzen, um diese unterm Joche der Unterwürfigkeit zu halten. Wie oft hört man heute Staatsanwälte perorieren, eine exemplarische Strafe sei am Platze, um einem sozialdemokratischen Blatte sein „Hetz- und Schimpfhandwerk“ zu legen, und wie oft wird in den Urteilen der Gerichtshöfe die Tendenz eines sozialdemokratischen Blattes angezogen, um eine hohe Strafe zu begründen. So was vergibt und vergisst sich nicht, am wenigsten, wenn durch eine rein willkürliche Handlung, wie eine Amnestie doch immer ist, der hoffnungslose Versuch unternommen wird, es vergeben und vergessen zu machen.

Freilich – es ist eine furchtbare Saat des Hasses und der Verachtung, die durch die Klassenjustiz ausgestreut wird. Aber wer hieß die herrschenden Klassen auch, ihre schlechte Sache mit diesem schlechtesten aller schlechten Mittel zu verfechten? Sie wollen es selbst so und nicht zuletzt die bürgerlichen Blätter, die der Katze niemals die Schelle anzuhängen wagen und sich noch dreimal in Ehrfurcht vor der deutschen Justiz bekreuzigen, wenn sie sich einmal gegen eines ihrer Urteile einen schüchternen Einwand erlauben. Inzwischen, wenn sie sich bessern wollen, so finden sie jeden Tag ihr Rhodus, worauf sie tanzen können; nur mit ihren Klagen um eine Amnestie sollten sie hübsch zu Hause bleiben, solange sie nicht ihre Pflicht zu erfüllen wissen, ihre Pflicht gerade auch von ihrem Klassenstandpunkt aus, nämlich der Klassenjustiz den Kehraus zu tanzen, soweit das überhaupt in ihrer Macht steht.