Genua, die Einheitsfront des Proletariats und die Kommunistische Internationale
Rede auf der Konferenz der Moskauer Organisation der Kommunistischen Partei Russlands am 9. März 1922
I. Vor Genua
Die Führer der siegreichen kapitalistischen Welt haben drei Jahre nach den Friedensschlüssen zu Versailles, Trianon, St. Germain und Sèvres, die die Lage in Europa auf kapitalistischem Boden stabilisieren sollten, beschlossen, eine internationale Konferenz nach Genua einzuberufen, die diese so ausgezeichnet befriedete und geordnete Welt von neuem zu ordnen beginnen soll.
Würden wir der Meinung sein, dass die alliierten Diktatoren in Genua plötzlich Vernunft annehmen, dass sie sich zu einer wenigstens vom kapitalistischen Standpunkt aus vernünftigen Politik bekennen würden, dass sie imstande wären, in Genua wirklich eine neue Ära zu beginnen, so brauchten wir uns momentan den Kopf über unsere Aufgaben nicht besonders zu zerbrechen. Wir hätten dann die Aufgabe, auf die Gaben von Genua zu warten und diese Gaben zu empfangen, wie es im Hildebrand-Lied heißt: Spitze gegen Spitze. Aber ebenso wenig wie ein Trinker und Kartenspieler vom Montag an ein neues Leben beginnt, ebenso wenig wird die kapitalistische Welt in Genua einen neuen Abschnitt ihrer Geschichte beginnen. Genua wird, falls die Konferenz überhaupt stattfindet, der Schauplatz erbitterter Kämpfe nicht nur zwischen den Vertretern des ersten Proletarierstaates, Sowjetrussland, und der kapitalistischen Welt, sondern Genua wird der Schauplatz harter Kämpfe innerhalb der kapitalistischen Welt selbst sein. Genua wird Probleme aufrollen, die die kapitalistische Welt gar nicht lösen kann. Genua wird eine Etappe in dem Kampfe sein, der sich seit drei Jahren abspielt. Und wenn die revolutionären Bewegungen in Genua ihre Vertretung nur in der Gestalt der russischen Delegation haben werden, so wird Genua doch eine Schlacht zwischen der revolutionären Arbeiterbewegung der Welt und dem Kapital, und es wird zum Ausgangspunkt neuer Schlachten zwischen Weltkapital und Proletariat werden.
Aus diesem Grunde ist es notwendig, sich jetzt der ganzen weltpolitischen Lage, der Interessengegensätze und der verschiedenen Strömungen bewusst zu werden. Denn nur auf diese Weise werden wir imstande sein, eine richtige taktische Linie für die kommunistischen Parteien aller Länder zu finden, um nicht nur Zuschauer der Kämpfe zu sein, sondern selbst aktive Kampfesteilnehmer zu werden.
Sehen wir uns die Weltlage an, wie sie sich in den letzten drei Jahren gestaltet hat.
Der Bankrott des Völkerbundes
Das erste, was uns in die Augen springt, ist, dass in Genua der Völkerbund fehlt. Wie Sie wissen, beschlossen die Alliierten in Versailles, eine internationale Organisation der Staaten zu gründen, die die Aufgabe bekommen sollte, alle ihre Streitfragen zu lösen, ein neues Zusammenleben der Völker zu ermöglichen. Drei Jahre sind verflossen, und die siegreichen Mächte, die diesen Völkerbund gegründet haben, treten zusammen, um festzustellen, dass sie am Rande des Bankrotts stehen; und an der Rettungsarbeit, an die sie, wie sie sagen, herantreten, nimmt die Institution, die zur dauernden Rettung und Ordnung der Welt gebildet wurde, nicht teil.
Genossen, wir brauchen dem Völkerbund keine Tränen nachzuweinen, aber wir müssen uns klar darüber werden, warum der Völkerbund tot ist und warum Genua, wenn es imstande wäre, die kapitalistische Unordnung zu bewältigen, gezwungen sein würde, wieder von vorn zu beginnen, wieder einen neuen Völkerbund zu bilden. Die Kenntnis der Gründe des Zusammenbruchs des Völkerbundes wird uns helfen, die ganze Sachlage, den Wert oder Unwert der Genueser Konferenz von vornherein richtig zu erfassen.
Warum ist der Völkerbund bankrott, warum lebt er nur in der Form eines Büros in Genf, dessen Sekretär, ein hochwohlgeborener Engländer, Sir Erik Drumond, ein größeres Gehalt bekommt als alle russischen Volkskommissare zusammen? Warum existiert der Völkerbund nur als eine Institution, die diskret die Schulden bezahlt, die die großen Diplomaten der kleinen Staaten in Genf zurücklassen? Die gewöhnliche Antwort auf diese Frage ist: Amerika war der Gründer, der Verfechter des Völkerbundes, Amerika hat sich vom Völkerbund zurückgezogen, und darum kann er weder sterben noch leben, oder er existiert nur, um ein paar Leuten Sinekuren zu verschaffen.
Aber diese Antwort besagt nichts, denn es entsteht die Frage: Warum hat sich Amerika vom Völkerbund zurückgezogen? Amerika hat sich vom Völkerbund äußerlich zurückgezogen, weil es erstens keine Verantwortung für die Sicherheit Frankreichs übernehmen wollte, das heißt, weil es die Verantwortung für den Frieden, der zwischen Deutschland und Frankreich auf Grund des Versailler Friedensvertrages aufgebaut werden sollte, nicht übernehmen wollte, und weil es zweitens mit der Erledigung der chinesischen Frage, wie sie in den Schandungsklauseln des Versailler Friedens gefunden wurde, nicht einverstanden war. Was besagt das? Zuerst, dass das amerikanische Kapital keine Verantwortung für die Regelung der territorialen Fragen in Europa übernehmen wollte, und zweitens, dass es mit der Vormachtstellung, die Japan in China erhalten hat, nicht zufrieden war.
Aber stellen Sie sich jetzt einen Moment lang vor, Amerika hätte die Verantwortung für die Territorialfragen in Europa übernommen, Amerika hätte sich mit dem Übergang Schandungs in die Hände Japans einverstanden erklärt, stellen Sie sich also vor, dass der Völkerbund formell existieren würde. Was wäre dann der Völkerbund? Er wäre die Organisation der folgenden Länder: Frankreich, England und Vereinigte Staaten von Nordamerika. Er wäre ein Syndikat der siegreichen Mächte. Und jetzt fragen Sie sich: Was könnte der Völkerbund tun? Er wäre das Syndikat der siegreichen Mächte wozu? Zur Ausbeutung und zur Leitung der besiegten Völker. Nun, ein Syndikat der Reichen, der Mächtigen würde die Position des Weltkapitalismus gegenüber Deutschland, gegenüber Russland, gegenüber der Türkei, gegenüber China sehr stärken. Aber das Malheur, weshalb es nicht zustande kommen konnte, bestand darin, dass der Terminus Siegermächte auch nur ein Wort ist, dem die Tatsachen nicht entsprechen. Nehmen Sie die drei Mächte Amerika, England und Frankreich und fragen Sie sich, in welchem Sinne diese Länder Sieger sind. Sie sind Sieger in dem Sinne, dass Deutschland vor ihnen kapituliert hat. Aber man führt doch nicht einen Krieg, um die Freude zu haben, dass ein anderer kapituliert, sondern man führt Krieg für einen positiven Zweck, zum Zwecke einer konkreten Gestaltung seiner eigenen Lage. Nun, wie ist die Lage Amerikas, wie ist die Lage Frankreichs, wie ist die Lage Englands?
Amerika hat sich zum ersten Mal in der Geschichte eine große Kriegsschuld auf den Hals geladen. Ich will nur ein paar Ziffern nennen. Vor dem Kriege hatte Amerika eine verzinsliche Schuld von noch nicht einer Milliarde. Jetzt hat Amerika 26 Milliarden Kriegsschulden, und die Zinsen dieser Kriegsschuld sind so groß, dass sie das ganze Budget Amerikas der Vorkriegszeit übersteigen. Im Jahre 1914 war die Summe aller Ausgaben der Vereinigten Staaten Amerikas einer Milliarde Dollar gleich, und jetzt übersteigen die Ausgaben Amerikas allein für die Deckung der Zinsen der amerikanischen Kriegsschuld diese Milliarde. Die Finanzlage Amerikas hat sich auf diese Weise sehr verschlechtert. Bis zum Kriege kannten die Vereinigten Staaten Nordamerikas fast keine direkten Steuern, im Jahre 1920 betrugen sie 10 Dollar pro Kopf.
Aber was hat der Krieg wirtschaftlich aus Amerika gemacht? Es hat in diesem Kriege seine Industrie ungeheuer entwickelt, es hat seine Produktion an Eisen, Stahl, Kohle und Petroleum sehr erhöht, es hat die Schulden, die es in Europa hatte, nicht nur bezahlt, die amerikanischen Wertpapiere in Europa wieder an sich gezogen, sondern es hat die Hälfte des Weltgoldschatzes in seinen Besitz gebracht. Wenn Sie dazu in Betracht ziehen, dass Amerika das erste Getreide-Exportland der Welt, das erste Land der Petroleum-Industrie der Welt ist, dass es sich jetzt im Kriege zum ersten Mal eine Handelsflotte gebaut hat, die fast an die englische heranreicht, so sehen Sie, dass Amerika der Staat ist, der beim geringsten Verlust an Menschen am meisten oder als einziger in diesem Kriege gewonnen hat.
Wie liegt die Frage in Frankreich? Wenn Sie sich das französische Budget ansehen, so bekommen Sie folgendes Bild von der französischen Lage. Frankreich hat 299 Milliarden innerer Kriegsschuld, es hat 35 Milliarden äußerer Kriegsschuld, die in Gold-Francs bezahlt werden und den Wert von 80 Milliarden Papier-Francs haben. Es hat für diese äußere Kriegsschuld 4½ Milliarden Francs jährlich zu bezahlen und kann sie nicht bezahlen und zahlt sie nicht. Sehen Sie sich die französischen Einnahmen an. Es heißt, dass Frankreich 24 Milliarden Francs Einnahmen habe. In Wirklichkeit ist das ein Schwindel. Ein Teil der Steuern bleibt aus. Frankreich hat in Wirklichkeit 19 Milliarden reelle Einnahmen. Es hat also im Verhältnis zu dem nominellen Einnahme-Etat schon 5 Milliarden Defizit. Ich habe Ihnen gesagt, dass Frankreich 4½ bis 5 Milliarden jährlich für seine äußere Schuld zu zahlen hätte. In dem Moment, wo Amerika diese Prozente einfordert – und sie müssen doch gedeckt werden –, wächst das Defizit von 5 auf 10 Milliarden.
Dazu kommt, dass Frankreich berechnet, dass Deutschland 4½ Milliarden zahlt; 23 Prozent des französischen Einnahme-Budgets soll Deutschland decken, und das kann es nicht. Und so kommt das Organ der französischen Regierung, der „Temps“, zu der Berechnung, dass Frankreich 15 Milliarden Defizit im Jahre hat. Und nun schauen Sie sich die zweite Seite des Bildes an: das französische Ausgaben-Budget. Frankreich bezahlt 12 Milliarden an die Bourgeoisie für die inneren Kriegsanleihen, es bezahlt 5 Milliarden für die Armee, es bezahlt – ohne die Besatzungskosten in Deutschland, in Syrien usw. zu rechnen – 3½ Milliarden für die französische Bürokratie und ½ Milliarde für seine sozialen Institutionen. Die Hälfte der nominellen französischen Einnahmen fließt also zurück in die Taschen der französischen Kapitalisten, die die Kriegsanleihe gezeichnet haben, ein Viertel wird zur Aufrechterhaltung der Armee verwendet und die Bürokratie frisst 3½ Milliarden, für die sozialen Bedürfnisse bleibt eine halbe Milliarde.
Das heißt, dass nur eine der Folgen des Krieges, die Deckung der Kriegsanleihen, die Hälfte der nominellen Einnahmen frisst. Um die 4½ Milliarden, die Deutschland jährlich zahlen soll, zu kriegen, gibt man 5 Milliarden für die Armee aus. Das ist die finanzielle Lage eines Siegerstaates.
Und wie sieht die Lage in England aus? Ich erlaube mir, Ihnen darüber keine kommunistischen Berichte, sondern eine Stelle aus dem Memorandum Lloyd Georges für die Konferenz in Cannes vorzulesen, in dem und durch welches Lloyd George zu beweisen versuchte, dass es Zeit ist, die Welt vor dem Untergange zu retten. Er schildert die Lage folgendermaßen:
„In Großbritannien gebe es auch ernste Ursachen der Beunruhigung und Unzufriedenheit. Großbritannien sei ein Land, das von der Ausfuhr lebe. Sein Handel sei ebenso schrecklich ruiniert wie der französische Boden. Die Folgen, die sich in menschlichen Entbehrungen sehr ernster Art zeigten, beträfen zwei Millionen Personen der arbeitenden Klassen, die durch Arbeitslosigkeit litten und deren Unterhaltungskosten pro Woche annähernd zwei Millionen Pfund Sterling betrügen. Diese Lasten würden einer Nation aufgebürdet, die viel stärker als jede andere von den wirtschaftlichen Folgen des Krieges berührt worden sei. Frankreich dagegen sei in einer vorteilhafteren Lage als jedes andere europäische Land, einmal wegen der Bedeutung seiner ländlichen Bevölkerung, andererseits aber auch wegen seiner inneren Produktion. Frankreich leide weniger durch Arbeitslosigkeit und durch den Zusammenbruch des internationalen Handels. Die Völker Europas jedoch litten unter den Kriegsursachen ebenso wie das britische Volk. In Italien und Belgien sei die Arbeitslosigkeit ernst. Italien hänge sehr vom Handel ab. Es müsse eine viel stärkere Bevölkerung beschäftigen als vor dem Kriege. Belgien sei ein Land, das Nahrungsmittel importiere und auf Kosten des europäischen Marktes lebe. In Mitteleuropa und Südeuropa sei der Zusammenbruch und die Verwirrung des normalen Wirtschaftslebens noch viel markanter.
Millionen von Menschen lebten unter Entbehrungen und im Elend. Selbst die Inflation, die den arbeitenden Klassen Arbeit und gute Löhne gegeben habe, könne nur eine zeitweise Erleichterung bringen, würde aber sicher eine Reaktion auslösen, so dass schon rechtzeitig Maßnahmen ergriffen werden müssten. Die Menschen, die nur über eine kleine Rente verfügen, litten noch mehr. Russland, das vor dem Kriege eine außerordentliche Produktion an Rohmaterialien und Nahrungsmitteln gehabt habe, kämpfe mit der Hungersnot. Aus Menschlichkeitsgründen und im Interesse des eigenen Wohlstandes sei die Wiederaufrichtung Russlands unerlässlich. Die europäischen Völker müssten versuchen, ein Heilmittel gegen den augenblicklichen Zustand Russlands zu finden, denn auf die Dauer müsste die europäische Zivilisation ernstlich darunter leiden. Wenn man ohnmächtig sei, gegen einen derartigen Zustand anzukämpfen, werde er rasch zur sozialen und wirtschaftlichen Katastrophe führen.“
Das also ist die Schilderung der Lage Englands, Belgiens und Italiens, gegeben von einem der Führer der Siegerstaaten.
Was besagt das in bezug auf den Völkerbund? Er sollte eine Einrichtung der siegreichen Völker zum Zwecke der Ordnung der Welt auf Kosten der Besiegten sein. Aber die siegreichen Länder selbst befinden sich in einer Lage, dass sie sich alle an ein Land, an Amerika, um Hilfe wenden müssen. England, Frankreich, Belgien und Italien schulden Amerika 10 Milliarden Dollar. Sie müssten, wenn sie ihren wirtschaftlichen Zerfall eindämmen wollten, in erster Linie von dieser Schuld befreit werden. Der Völkerbund müsste damit beginnen, dass Amerika von den andern siegreichen Ländern nichts nehmen, sondern ihnen geben müsste, um den Völkerbund überhaupt aufrechtzuerhalten.
Und nun, wie steht es mit der Möglichkeit der Ausbeutung der anderen Länder? Der Völkerbund wurde doch gegründet, um auf Kosten der Besiegten die Weltlage, die Lage der Sieger zu stabilisieren. Die Lage in diesen anderen Ländern habe ich schon mit den Worten Lloyd Georges geschildert.
Wenn nach der Überzeugung Lloyd Georges – und das ist auch die Überzeugung aller anderen siegreichen kapitalistischen Staaten – die Lage in England, in Frankreich und Italien so ist, dass Amerika diesen Ländern helfen muss, und wenn nach ihrer Überzeugung England, Frankreich und Amerika zusammen von den Besiegten nichts erhalten können, sondern umgekehrt genötigt sind, den besiegten Völkern, die sie in Versailles ausplündern und berauben wollten, auf die Beine zu helfen, dann müsste sich der Völkerbund als Syndikat der siegreichen Mächte zur Ausplünderung der Besiegten verwandeln in eine internationale Gesellschaft zur Hilfe für die Bedürftigen, wobei die Kosten der Sache in erster Linie Amerika vorzuschießen hätte.
Sie werden jetzt verstehen, warum der Völkerbund zusammenkrachen musste. Das amerikanische Kapital sah, dass die Weltlage nach dem siegreichen Krieg sich so gestaltete, dass es tief in seine Tasche greifen müsste, um Europa wieder aufbauen zu können. Und wer sollte das in Amerika tun? Der amerikanische Staat hat, wie wir gesehen haben, eine Kriegsschuldenlast von 26 Milliarden Dollar, die von den amerikanischen Steuerzahlern gezahlt werden müssen.
Und der amerikanische kapitalistische Staat hat nicht das geringste Bedürfnis, sich den Krach mit seinen eigenen Wählern auf den Hals zu laden, um den Krach in Europa zu mildern. Vielleicht könnten amerikanische Privatkapitalisten helfen? Nun, Sie wissen sehr gut, dass Amerika jetzt an die Eroberung eines Kontinents geht, auf dem keine Revolutionen existieren. Vor dem Kriege haben in Südamerika das englische und das deutsche Kapital das Übergewicht gehabt. Die Amerikaner haben gegen diese Konkurrenz gekämpft. Jetzt, wo Deutschland ausgeschaltet, England schwächer geworden ist, hat das nordamerikanische Kapital zum ersten Male die Möglichkeit, Südamerika für sich zu erobern, und sie wollen ihr Geld lieber in Südamerika anlegen und den ganzen amerikanischen Kontinent in Händen haben, als es in den unsicheren europäischen Boden verpflanzen.
In dieser Situation war der Völkerbund als die Organisation zur Ausbeutung der Welt und als Organisation zur Hilfe für die Welt von vornherein tot. Und das amerikanische Kapital, die amerikanische Regierung haben drei Jahre lang im großen und ganzen die Rolle des Zuschauers gespielt, des Zuschauers, der ruhig zusah, wie gut die siegreichen Mächte in Europa gewirtschaftet haben.
Und nun kommen wir zu einem Rückblick auf die europäische Politik Englands und Frankreichs während der letzten drei Jahre, einer Politik, die wir gut kennen müssen, nicht nur in ihren Resultaten, sondern auch in ihren Triebkräften, um zu verstehen, was in Genua vor sich gehen wird.
Der anglo-französische Gegensatz
Was war, fragen wir uns, die Quelle des großen Weltkrieges? Die Quelle des Weltkrieges war der Kampf der stärksten industriellen und maritimen Macht des Festlandes, Deutschland, mit England, der stärksten maritimen .und Industriemacht der Welt. Das englische Kapital wollte nicht zusehen, bis Deutschland, gestützt auf eine große, technisch sehr weit vorgeschrittene Industrie, auf eine kompakte, kulturell hochstehende Volksmasse, auf eine für die wirtschaftliche Expansion sehr günstige geographische Lage, so stark wurde, dass es dem englischen Kapital Abbruch tun konnte. Während des Krieges hat die deutsche Bourgeoisie, ohne dass sie vor dem Kriege vielleicht ein konkretes Kriegsprogramm hatte, sich ein solches gebildet, und dieses war sehr einfach. Territorial im Westen brauchte es zweierlei: die belgische Küste, um England militärisch näher auf den Leib zu rücken, und sehr geringe territoriale Korrekturen in Frankreich. Diese Korrekturen bestanden in der Angliederung eines kleinen Fleckens des französischen Bodens, in der Angliederung Briés. Die Entwicklung der Technik hatte dazu geführt, dass Deutschland die größte Kohlenindustrie hatte und nicht genügend Erze. Es hatte die lothringischen Erze; aber nur, wenn es Brié in die Hand bekam, konnte Deutschland die wirtschaftlich ausschlaggebende Macht in Europa werden.
Was hat der Krieg ergeben? Er hat ergeben, dass England die deutsche Kriegsflotte vernichtet, die deutsche Handelsflotte weggenommen hat, dass die deutschen Kapital-Investitionen im Auslande auf Grund des Versailler Friedens liquidiert worden sind. Deutschland ist also weltpolitisch entwaffnet, es hat weder Flotte noch Heer, hat seine Kolonien, seine Kapital-Investitionen im Ausland verloren. England ist also in Europa der effektive Sieger. In welcher Lage befindet sich jetzt dieser effektive Sieger gegenüber seinem Verbündeten Frankreich, mit dem er zusammen gesiegt hat? Frankreich hat die lothringischen Erze gekriegt, es hat auf diese Weise die Basis seiner Schwerindustrie erweitert.
Wenn Frankreich entweder mit Waffengewalt den Ruhrbezirk und Rheinland-Westfalen besetzt oder durch ein Wirtschaftsabkommen die Erze von Brié und Lothringen mit der Kohle vom Ruhrbezirk vereinigt, dann ist Frankreich die führende wirtschaftliche Macht des Kontinents. Der Zweck des deutschen Imperialismus, das wirtschaftliche Ziel des deutschen Imperialismus im Kriege, ist dann erreicht, nur nicht durch Deutschland, sondern durch Frankreich.
Und wie steht die Sache militärisch? Die Lage Deutschlands England gegenüber war militärisch sehr schwierig; aus einem sehr einfachen Grunde. Deutschland hatte nur das sogenannte nasse Dreieck, von dem aus es durch die ganze Nordsee gegen England maritim wirken musste. Und Frankreich hat Calais, die normannischen Häfen, hat Kolonien in Westafrika; das bedeutet: Frankreich liegt nahe an den Bahnen des Weltverkehrs, auf denen das Getreide und die Rohstoffe nach England kommen.
Und ein zweites Ergebnis des Krieges: der Krieg hat das Unterseeboot zur ausschlaggebenden maritimen Waffe gemacht. Wenn Frankreich genügend Unterseeboote hat, dann ist es ihm möglich, in einem Kriege kein einziges englisches Getreideschiff, kein einziges englisches Schiff mit Rohstoffen nach England zu lassen. Es wird imstande sein, die Verbindung Englands mit seinen Kolonien zu unterbrechen, denn gegenüber Gibraltar liegt das französische Marokko, gegenüber Malta liegen Toulon und Biserta und gegenüber dem Suezkanal liegt Syrien, das sich in französischen Händen befindet. Von dort aus können die französischen Unterseeboote die englischen Schiffe anhalten.
Und auf der ganzen Route, die England mit seinen Kolonien verbindet, bleiben die englischen Schiffe – ob sie nun durch den Atlantischen Ozean gehen oder durch das Mittelmeer den Indischen Ozean zu erreichen suchen –, im Bereich der Tätigkeit der französischen Unterseeboote, die noch dazu ihren Aktionsradius außerordentlich erhöht haben. Und ob Frankreich die Unterseeboote gebrauchen will oder nicht, können Sie aus der Tatsache ersehen, dass in Washington, wo der Bau der Dreadnoughts eingeschränkt worden ist – die Militärmächte schränken immer das ein, was sie nicht mehr brauchen; die Dreadnoughts werden immer mehr altes Eisen –, England mit der Forderung der Einschränkung der Unterseeboote nicht durchdringen konnte. Und warum, das sagt das Organ des französischen Kriegsministeriums, die „Revue militaire“, in einer Weise, die an Offenherzigkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Und es ist nur zu wünschen, dass die Proletarier aller Länder, die sich während des Krieges durch die bürgerliche Presse haben beeinflussen lassen, die jetzige Schreibweise des führenden Organs des französischen Militarismus mit dem vergleichen, was die ganze Entente-Presse während des Krieges geschrieben hat. Das französische Organ schreibt:
„Es ist höchste Zeit, mit allen irreführenden Meinungen über den Gebrauch der U-Boot-Waffe durch Deutschland aufzuräumen. Der U-Boot-Krieg war vollkommen gerechtfertigt, und das Gegenteil zu behaupten, ist nicht nur falsch, sondern schafft auch ein vom militärischen Standpunkt aus durchaus unzutreffendes Bild. Es ist ferner an der Zeit, mit dem Glauben aufzuräumen, als sei der Gebrauch der UBoot- Waffe durch die Deutschen mit den Gebräuchen des internationalen Kriegsrechts nicht zu vereinbaren gewesen. Diese während des Krieges irrtümlich verbreitete Ansicht könnte unserer nationalen Verteidigung für die Zukunft großen Schaden zufügen. Unter diesem höheren Gesichtspunkte muss rückhaltlos anerkannt werden, dass die deutsche Oberste Kriegsleitung ihr gutes Recht vertrat, wenn sie sich der U-Boot-Waffe als Mittel zur Erlangung des endgültigen Sieges bediente. Es muss daher mit allem Nachdruck darauf bestanden werden, dass trotz der während des Krieges laut gewordenen Einsprüche gegen den Gebrauch der U-Boot-Waffe diese selbst, vom militärischen Standpunkte aus betrachtet, unanfechtbar ist. Es ist auch vollkommen ungerechtfertigt, wie man im Anfang des Krieges immer glaubte, dass ein feindliches Handelsschiff vor der Torpedierung gewarnt werden müsse. Hier handelt es sich um grundsätzliche Fragen des Kriegsrechtes, über deren Auslegung bei denen nicht der geringste Zweifel bestehen sollte, die die Verantwortung für die Leitung eines Krieges übernommen haben. Nach all dem kann aber nur anerkannt werden, dass die Verwendung der U-Boot-Waffe als entscheidender Faktor im verflossenen Weltkrieg in jeder Weise korrekt gehandhabt worden ist.“
Das bedeutet: nicht nur die englischen Kriegsschiffe, die von den deutschen Unterseebooten torpediert wurden, wurden korrekt torpediert, auch die Lusitania wurde torpediert, und im nächsten Kriege wird Frankreich, das verspricht es, vollkommen korrekt alle Lebensmitteltransporte, die für England bestimmt sind, torpedieren.
Die Lage in Europa hat sich nach dem Sieg so gestaltet, dass der englische Imperialismus schreien muss: O weh, wir haben gesiegt! Er hat gesiegt, und wie ist seine wirtschaftliche Lage? Erlauben Sie mir, ein paar Zahlen zu nennen.
Der englische Kapitalismus hat jetzt 2 Millionen Arbeitslose. Seine Einfuhr ist in den letzten Jahren in folgender Weise zurückgegangen: Die englische Einfuhr vor dem Kriege – die Berechnungen sind alle so aufgestellt, dass die jetzigen Preise nach der Indexziffer umgerechnet sind – betrug 1913 769 Millionen Pfund, im Jahre 1920 betrug sie 679 Millionen Pfund, 1921 beträgt sie 571 Millionen Pfund. Der Sieger hat also vor dem Kriege 769 und jetzt, drei Jahre nach dem Kriege, nur 571 Millionen Pfund Einfuhr. Da für England die Einfuhr zur Produktion der Industriewaren notwendig ist, die es selbst verbraucht und weiter ausführt, da ein Teil der Einfuhr eine Übergangseinfuhr ist, die mit Gewinn an andere Länder weiter verkauft wird, so werden Sie sehen, wie sich die Sache in dem englischen Export äußert. Die Ausfuhr englischer Waren betrug vor dem Krieg 525 Millionen Pfund, im Jahre 1920 372 Millionen Pfund und im Jahre 1921 226 Millionen Pfund. Die englische Ausfuhr an Industriewaren ist also von 525 auf 226 Millionen Pfund gefallen. Die Ausfuhr fremder Waren ist von 1108 auf 86 gefallen. Die Ausfuhr vom Jahre 1921 beträgt also die Hälfte der Ausfuhr des Jahres 1913 und ist um ein Drittel kleiner als die Ausfuhr des Jahres 1920. Das ist das wirtschaftliche Bild Englands.
Das politische Bild ist dieses: England steht jetzt mit Frankreich, seinem nächsten Nachbarn, der ihm militärisch gefährlicher ist als Deutschland, in einem Kampf um die Hegemonie in Europa. Nur vom Standpunkt dieses Kampfes zwischen England und Frankreich ist die Geschichte der letzten drei Jahre zu verstehen.
Der Tanz auf dem deutschen Vulkan
Beginnen wir mit der Lage Deutschlands, weil es der Angelpunkt der Weltlage ist. Deutschland wurde zu Lande und zur See entwaffnet, es verlor seine Handelsflotte, es verlor seine Auslands-Investitionen, es verlor 15 Prozent seines Bodens und mehr als 15 Prozent seiner Produktivkräfte, es verlor 10 Millionen Menschen. Die wirtschaftliche Lage Deutschlands ist so, dass es genötigt ist, jährlich für 2½ Millionen Goldmark Lebensmittel und für 2½ Milliarden Goldmark Rohstoffe einzuführen. Früher hat Deutschland seine Rohstoff- und Lebensmittel-Einfuhr aus dem Frachtgewinn, aus dem Gewinn seiner ausländischen Investitionen – die brachten ihm über 1 Milliarde jährlich – und aus seinem Außenhandel gedeckt. Der Außenhandel Deutschlands ist jetzt, reell genommen, auf ein Drittel bis auf ein Viertel desjenigen vor dem Kriege gesunken. Zu diesen neuen Lasten kommt die Aufforderung der Alliierten an Deutschland, 132 Milliarden Goldmark zu bezahlen. Deutschland soll in den nächsten Jahren 3, 4 bis 5 Milliarden Goldmark jährlich an die Alliierten bezahlen. Wie kann Deutschland das tun. Um diese Milliarden jährlich an die Alliierten bezahlen zu können, muss es natürlich in erhöhter Weise produzieren. Wenn es heute für 2½ Milliarden Rohstoffe kauft, so müsste es, um mehr zu produzieren, in einem viel größeren Maße Rohstoffe kaufen. Um dies möglich zu machen, wäre nach seiner bescheidenen Berechnung notwendig, dass es jährlich für 40 Milliarden Goldmark Waren ausführt. Nur in diesem Falle wäre es imstande, den Tribut an die Alliierten zu zahlen. Wie viel macht der Weltaußenhandel aus, der Export aller Länder zusammen? 100 Milliarden Goldmark. Also das geschlagene Deutschland müsste jetzt 40 Prozent des Gesamthandels an sich reißen. Das ist natürlich unmöglich. Wäre es möglich, so würde es bedeuten, dass Amerika und England der größte siegreiche Industrie-Konkurrent erwächst, der sie auf allen Märkten der Welt schlagen würde.
In dieser Situation sind zwei Möglichkeiten vorhanden. Die erste Möglichkeit ist: Die Alliierten verzichten auf das, was ihnen Deutschland schuldet, und helfen ihm noch durch Anleihen, sich empor zu arbeiten. England wäre im Grunde genommen unter zwei Bedingungen einverstanden, auf die Reparationsverpflichtungen Deutschlands ihm gegenüber zu verzichten. Die eine Bedingung ist, dass Frankreich ebenfalls auf sie verzichtet; die zweite ist, dass Amerika England die Schuld, die es Amerika gegenüber hat, erlässt. Amerika will nicht verzichten, und Frankreich kann auf die Zahlung der Schuld nicht verzichten. Der Verzicht Frankreichs auf die deutschen Reparationen bedeutet für das französische Budget ein jährliches Defizit von vielen Milliarden; er bedeutet die Notwendigkeit, die Bauern so zu besteuern, dass Frankreich mit einer Bauernrevolution rechnen müsste. Wo ist also der Ausweg? Frankreich strebt danach, das Ruhrgebiet zu besetzen. Frankreich ist durch die Lage genötigt, der Idee der Rheinland-Politik Napoleons nachzukommen, Deutschland zu zerschlagen, Süddeutschland, Bayern, mit Österreich unter einen Hut zu bringen, Deutschland zur Ohnmacht zu verurteilen, die Rheingrenze zur Grenze Frankreichs zu machen und sich zu sanieren durch den Konkurrenzkampf vermittelst der Vereinigung der Lothringer Erze mit der Ruhrkohle. Das heißt, die englische und die französische Politik klaffen in dieser Frage auseinander. Und wir sehen drei Jahre lang das Ringen zwischen England und Frankreich um Deutschland. Deutschland ist England nicht mehr gefährlich zur See, und England würde sehr gerne sehen, wenn Deutschland Frankreich zu Lande gefährlich wäre. Deutschland ist England notwendig als alter ausgezeichneter Markt für die englischen Waren: die Hälfte des deutschen Imports kam von England. Frankreich dagegen will erstens das Loch in seinem Defizit stopfen, es sagt: wenn einer zugrunde gehen soll, dann soll der Besiegte zugrunde gehen. Und wenn das nicht geht, so will es reelle Garantien haben, d. h. es will sich sanieren auf Grund der deutschen Kohle im Kampfe gegen England. Und drei Jahre lang sehen Sie das sonderbare Bild: wenn Frankreich die Hand ausstreckt, fällt ihm England in den Arm. England gilt heute als Schutzland Deutschlands, aber wehe Deutschland in dem Moment, wo sich Deutschland mit Frankreich zu verständigen sucht. Als Deutschland das Wiesbadener Abkommen schloss, das eine Brücke zu Frankreich sein sollte, wurde dieses Wiesbadener Abkommen durch England nicht ratifiziert, und zweitens England antwortete damit, dass es Deutschland in der oberschlesischen Frage im Stiche ließ. Die Politik der Alliierten Deutschland gegenüber ist ein Circulus vitiosus.
Jeden Tag werden durch einen Kompromiss die Gegensätze irgendwie vertuscht. Aber eine Lösung, bei der Deutschland leben und sich entwickeln könnte, lässt dieser Gegensatz nicht zu. Vom militärisch-politischen Standpunkt der zukünftigen Auseinandersetzungen hat England Deutschland die ehrenwerte Rolle des englischen Degens auf dem Kontinent zugedacht. Und Sie werden sehen, welchen Einfluss diese englische Politik Deutschland gegenüber in der russischen Frage hat.
Wir kommen jetzt zu der russischen Frage. Am lautesten schrie Frankreich gegen die Bolschewiki, gegen die Arbeiterund Bauernrevolution. Der französische kleine Rentner, dessen Zinsen nicht bezahlt wurden, der die französische Presse beherrschte, er schrie Zeter und Mordio, er wiederholte alles das gegen die russische Revolution, was gegen die französische Revolution von allen ihren Gegnern jemals gesagt worden ist. Aber, Genossen, es wäre ein Irrtum, anzunehmen, dass die Kraft der französischen Lunge der Kraft des Angriffs gegen Sowjetrussland, der Hartnäckigkeit im Kampfe gegen Sowjetrussland entsprach. Der Träger der Konterrevolution, der Träger der Intervention gegen Russland war nicht allein Frankreich, sondern es war auch, oder vielleicht noch mehr, England. Es war England schon deshalb, weil England reicher als Frankreich war, weil England den Weißen mehr Waffen zur Verfügung stellen konnte, und es war England aus weltpolitischen Interessen.
Sie erinnern sich, unter welchen Umständen die Intervention gegen Sowjetrussland begann. Sie begann zuerst mit der Archangelsk-Expedition im Herbst 1918. Aber das war nur ein Vorspiel. Sie setzte mit voller Kraft im Frühjahr 1919 ein.
Und warum musste sie in diesem Moment mit dieser Schärfe einsetzen, trotzdem die Sowjetregierung ihre Bereitwilligkeit zu einem Kompromiss erklärte?
In Versailles sollten die großen Fragen des nahen Orients erledigt werden. Zwischen den Alliierten und Russland bestand der Vertrag über die Dardanellen und Konstantinopel. Das war für England eine der wichtigsten Fragen, und England hätte nicht gesiegt, wenn es den versprochenen Preis für die Teilnahme Russlands am Kriege bezahlt haben würde. Denn die Dardanellen können nach englischer Auffassung nur entweder in den Händen einer schwachen Türkei oder in den Händen Englands sein. Denn sie bewachen nicht nur den Zutritt zum Schwarzen Meer, sondern sie können eine Basis der Aktion gegen den Suezkanal sein. Im Sommer des Jahres 1919 beschloss England schnell, die Abwesenheit Russlands ausnützend, die Vernichtung der Türkei, die Besetzung Arabiens und Mesopotamiens durch England, und es schloss gleichzeitig den Vertrag mit der persischen Regierung, durch den das persische Volk für 2 Millionen Pfund Sterling in die Hände des englischen Imperialismus gegeben wurde. Die alten Verträge mit dem Zarismus über Mittelasien und über Konstantinopel wurden über den Haufen geworfen.
Jetzt eine Frage: Wenn die Entente den Krieg gegen Sowjetrussland führte, um den Weißen zum Sieg zu verhelfen, warum hat es damals die Weißen nicht zu den Friedensverhandlungen zugelassen? Es hat Koltschak als die russische Regierung anerkannt, es hat Denikin als die russische Regierung anerkannt, aber die weißen Vertreter der Bourgeoisie, des kapitalistischen und junkerlichen Russlands, wurden zu den Verhandlungen in Versailles nicht zugelassen. Man könnte sagen, sie hatten keinen Boden unter den Füßen. Erstens ist das nicht wahr; sie hatten ganz Sibirien in ihren Händen, sie hatten den Kaukasus in ihren Händen, sie hatten Teile Südrusslands in ihren Händen. Aber es genügt, daran zu erinnern, dass, obwohl der belgische König im Kriege nur ein paar Kilometer belgischen Bodens hatte, die belgischen Vertreter in dieser Zeit bei den Verhandlungen der Alliierten nicht fehlten. England erledigte die Orientfragen nicht nur ohne Sowjetrussland, mit dem es durch seine Kanonen sprach, sondern erledigte sie ohne das weiße Russland. England nutzte die Situation aus, um das weiße wie das rote Russland auszuschalten.
England hat nach einem Jahre des Krieges, noch vor dem Zusammenbruch der Weißen, begonnen, umzusatteln. Man erinnere sich an den Moment, wo Judenitsch gegen Petrograd anrannte und ihm englische Kriegsschiffe im finnischen Meerbusen halfen. Im entscheidenden Moment verschwanden die englischen Kriegsschiffe aus dem Meerbusen.
Koltschak wurde von den Alliierten an Sowjetrussland ausgeliefert wie ein Verbrecher. Wenn man die Szenen von der Auslieferung Koltschaks liest, wenn man liest, wie er aus einem Zuge, der mit Maschinengewehren der Alliierten gespickt war, an unsere Genossen ausgeliefert wurde, die drei Flinten zu ihrer Verfügung hatten, so kann man sagen: Es gibt in der Geschichte wenig Akte der Felonie, die dieser Behandlung Koltschaks gleich kämen. Denikin wurde im letzten Augenblick sehr ungnädig behandelt, und die Weißen wurden nicht nur mit den Waffen geschlagen, die wir ihnen entgegenhielten, sondern auch mit Waffen, die ihnen die Alliierten gaben. Sie gaben ihnen Waffen, die schlechter als die waren, die wir fabrizierten. Sie schauten auf die Intervention wie auf ein großes Ramschgeschäft, wo man alle schlechten Waren an den Freund bringt. Und die erste Macht, die umsattelte, war England. Es war die erste Macht, die mit uns Verhandlungen begann. Warum? Die Verhandlungen wurden begonnen, nachdem seine Lordschaft, Herr Curzon of Adleston, zum Außenminister ernannt wurde. Wer ist Curzon? Er ist der Vertreter der asiatischen Politik Englands, der frühere Vizekönig von Indien. Er schaut auf die ganze englische Politik als auf ein Mittel der Sicherung der asiatischen Kolonien Englands. Und in dem Moment, wo die Weißen stärker zu sein schienen als die Roten, hat die englische Politik ihre Hand vorsichtig von den Weißen weggezogen. Denn würden die Weißen gesiegt haben – so rechnete die englische Politik –, so würden sie leichter Kredite als wir bekommen; und da sie sich nach dem Westen nicht ausdehnen könnten, so müssten sie die Möglichkeit der Expansion nach dem Osten bekommen, um sich die Glorie der Sieger zu schaffen, die ihnen aus inneren Gründen notwendig wäre, und sie müssten die Frage der Verträge über den Orient aufwerfen. Und da haben Gott und Lord Curzon die Hand von ihnen genommen.
Die Änderung der englischen Politik bestand in den Verhandlungen Englands mit uns. Wie England sich als der Verteidiger Deutschlands hinstellt, so stellt es sich auch als Verteidiger des armen russischen Volkes hin, und die Liebe zu diesem armen russischen Volke hat Anfang des Jahres 1920 einer der führenden englischen Generale, der die Intervention leitete, so ausgedrückt: „Wir haben den Weißen die Waffen gegeben, die Roten haben sich die Waffen selbst von uns geholt; wir sollten noch den Grünen Waffen geben, damit sie sich gegenseitig die Hälse abschneiden.“ Und die englische Politik Russlands gegenüber wurde geleitet von dem Gedanken: Da die Roten gesiegt haben, wollen wir mit ihnen verhandeln; wir werden jahrelang mit ihnen verhandeln, sie werden für die liebenswürdig gelieferten Waren ihr Gold an die englischen Kaufleute abgeben, aber sie müssen so lange schwach bleiben, bis wir, der englische Imperialismus, die Unruhe in Ägypten, die Revolution in Indien und die türkische Frage irgendwie erledigt haben. Und es gibt keine größere Illusion als die, dass England Russland gegenüber eine Aufbaupolitik treibt. Ja, die englischen Kapitalisten hätten ein Interesse daran, dass Russland ihnen Rohstoffe liefern und sie freimachen wurde von dem Tribut an die New Yorker Börse. Die englischen Kapitalisten wissen, dass der russische Markt eine große Aufnahmefähigkeit haben wird. Aber die Interessen des englischen Handelskapitals stehen hier den Interessen der asiatischen Politik Englands entgegen, hinter der die Rüstungsindustrie, die alte Diplomatie und die Indianoffice, die Bürokratie steht, die jährlich Hunderte von Millionen aus dem indischen Volke für sich herausgepresst. Dieser Gegensatz der zwei Richtungen der englischen Politik, einer Aufbaupolitik in Russland und einer Politik, die an die Traditionen des englischen Ministers Beaconsfield anknüpft, ist latent; einmal bekommt die eine Richtung die Oberhand, einmal die andere, und manchmal spielen sie mit geteilten Karten. In dem jetzigen englischen Kabinett vertritt Lloyd George die aufbauende Politik, hinter der die liberalen Zeitungen stehen, und Lord Curzon und Churchill spielen die Gegenpartie, die asiatische Politik Englands.
Wie war die Politik Frankreichs Russland gegenüber? Frankreich hat ein Interesse, die Bolschewiki niederzuschlagen, damit eine bürgerliche Regierung die Schulden anerkenne und bezahle. Aber Frankreich hatte kein Interesse, Russland als solches zu schwächen. Umgekehrt, Russland als solches war für Frankreich in Zukunft ein Gegengewicht gegen England in der europäischen Politik und ein möglicher Alliierter gegen England in Europa, sowie ein Eventual-Alliierter gegen Deutschland. Aus diesem Grunde war Frankreich Gegner der Randstaatenpolitik Englands. England suchte Teile Russlands, die an der See lagen, abzutrennen, um die Einfallstore nach Russland zu beherrschen, es unterstützte Lettland und Estland, es unterstützte deshalb am Schwarzen Meer Georgien und die türkischen Musafatisten in Baku. Frankreich war im großen und ganzen gegen die Teilung Russlands. In Polen schuf sich Frankreich nur einen Ersatz für Russland, einen „Margarine“-Gegner gegen Deutschland. Die französische Politik hielt hartnäckig an der Idee der Niederringung des bolschewistischen Regimes fest. Aber seit dem November des Jahres 1920, seit der Niederlage Wrangels, begann Frankreich umzuschwenken. Und wenn Sie den Notenwechsel zwischen der französischen und der englischen Regierung vom November 1920 bis Mai 1921 studieren würden, so würden Sie zu dem folgenden Ergebnis kommen: Seit dem Moment, in dem Frankreich umzuschwenken begann, war die größte englische Sorge, dass es nicht zu schnell umschwenke. Seit dem November 1920 forderte Briand von England: Verhandeln wir zusammen mit Russland. Er entwickelte das französische Programm dieser Verhandlungen, und England schwieg und antwortete im letzten Augenblick, als der Handelsvertrag mit Russland fertig war: Ihr könnt Euch anschließen. Was bedeutet das diplomatisch? Die französische Politik Russland gegenüber soll ins englische Fahrwasser kommen: wenn Ihr nach Petrograd fahren wollt, so nur auf englischen Schiffen. Es war ein Versuch zur Sabotierung der Anknüpfung der Beziehungen zwischen Russland und Frankreich aus dem einzigen Grund: Je mehr Friedenskontrahenten Russland hat, desto selbständiger steht es da, desto größere Zugeständnisse muss man ihm machen. Dann genügt es nicht, ihm zu erlauben, Waren für Gold zu kaufen, dann muss man ihm Anleihen geben, dann kann man es nicht als Luft behandeln. Und die englische Politik Russland gegenüber war: Wir erlauben Euch den Handel, wir allein, ohne uns kriegt Ihr nichts. Ihr könnt nicht leben, aber Ihr werdet dabei nicht sterben. Und England wusste, dass an dem Tage, an dem Russland den Bann der ganzen Welt gebrochen haben wird, es zwar kein Interesse am Krieg mit England, sondern im Gegenteil ein großes wirtschaftliches Interesse an den besten wirtschaftlichen Beziehungen mit England haben wird, dass es aber nicht auf England allein angewiesen sein wird.
Die Bilanz der Politik der alliierten Gegner Russlands ist folgende: Sie sind, soweit es sich um ihren allgemeinen Zweck, die Niederringung des Bolschewismus, handelt, besiegt. Sie waren nicht imstande, Sowjetrussland niederzuwerfen. Und sie wissen heute sehr gut, dass sie uns mit Waffen in der Hand nicht niederringen können.
Das zweite Resultat ist dies: Die Geschichte der Beziehungen der Alliierten zu Russland hat bewiesen, dass es eine Illusion ist, anzunehmen, dass England Russland gegenüber eine günstigere Politik als Frankreich treiben würde.
England geht auf die dauernde Schwächung Russlands aus, womit nicht gesagt werden soll, dass Frankreich jetzt auf eine Stärkung Russlands ausgeht. Wenn Sie jedoch die Chancen der Genueser Konferenz beurteilen wollen, so müssen Sie verstehen: Russland geht nach Genua nicht mit den Illusionen der deutschen Bourgeoisie, dass der liebe Herrgott per procura Englands seine schützenden Hände über die Sowjetrepublik in Genua ausstrecken wird, sondern es geht mit dem kühlen Bewusstsein, es mit Feinden zu tun zu haben, von denen keiner in diesem Moment Sowjetrussland stützt, aber mit denen Sowjetrussland zu einem Modus vivendi kommen muss, wenn es nicht von einem abhängig sein will.
Wenn Sie fragen: Welches soziale Resultat hat der dreijährige Kampf gegen Russland gehabt, so können wir Ihnen getrost sagen: Die Alliierten sind auch dabei die Geschlagenen. Würden sie im Jahre 1918, als wir es ihnen vorgeschlagen haben, im Frühjahr 1919, als wir es ihnen aus Anlas der Einladung zur Konferenz auf den Prinzeninseln vorgeschlagen haben, einen Kompromiss mit uns geschlossen haben, so wäre es besser für sie gewesen. Da bestand noch die russische Industrie, zwar geschwächt, aber mit großen Vorräten. Die Landwirtschaft war nicht so erschöpft, der Pferde- und Viehbestand war größer, und es war ein Fonds vorhanden, von dem man einen Kompromiss hätte bezahlen können. Wenn sie uns jetzt drohen, was sie uns alles nehmen werden, so können wir ihnen sagen: Non timet vacuus latronem: der wenig hat, hat den Räuber nicht zu fürchten. Und das ist nicht nur unsere Schwäche, sondern das ist politisch unsere Stärke bei den Verhandlungen, die wir zu führen haben werden.
Vom weltpolitischen Standpunkt aus war die Politik uns gegenüber ebenso genial wie die Politik Deutschland gegenüber. Sie war eine Politik der Widersprüche, die jedes ordnenden Elementes bar war.
Der Kampf um den Nahen Osten
Und was haben die Alliierten in diesen drei Jahren mit der Türkei gemacht? Sie wissen, dass einer der Hauptgründe des Krieges der Kampf um die Türkei war. Das ergibt sich aus der geographischen Lage Englands, des englischen Imperialismus. England hat zwei Hauptkolonien: Ägypten und Indien. In beiden gibt es eine große mohammedanische Bevölkerung. Zwischen diesen Kolonien liegt als trennender oder verbindender Teil Arabien und Mesopotamien. Militärgeographisch verfolgt das englische Imperium seit Jahrzehnten einen kühnen Plan, der jetzt vor der Verwirklichung steht: die Verbindung Südafrikas und Ägyptens mit Indien. Der Krieg hat England diesem Ziel nähergebracht. Die Eroberung Südostafrikas hat das Bindeglied geschaffen, um durch Uganda und den Sudan die Verbindungsstrecke herbeizuführen. Der Plan der Kap-Kairo-Bahn des Cecil Rhodes, des großen Verkündigers des englischen Imperialismus, steht theoretisch vor der Verwirklichung. Die andere Idee war, Kairo mit Kalkutta über Mesopotamien und Arabien zu verbinden. Nun, durch Wüsten kann man keine Bahnen bauen. Damit verband sich die Idee Vellkoks über die neue Bewässerung Mesopotamiens, der Verwandlung Mesopotamiens in ein großes Baumwollland, das England unabhängig machen soll von der amerikanischen Baumwolle. Und die dritte Triebkraft trägt den Namen Mossul-Öl. Sie wissen, welche Rolle jetzt in der Weltpolitik die Frage des Petroleums spielt. Seit der Erfindung der Dieselmotoren, des Übergangs großer Teile der Industrie zum Betrieb mit Dieselmotoren, seit der Einführung der Dieselmotoren in der Marine wird das Petroleum zum wichtigsten Kampfobjekt in der Welt. Amerika hat bis heute die größte Petroleum-Industrie-Ausbeute. Aber Amerika verbraucht sein Petroleum immer selbst. Dazu glauben die Geologen, dass die amerikanischen Petroleumquellen bald erschöpft sein werden. Und nun geht ein Kampf um Petroleum durch die ganze Welt. Auf der einen Seite die Standard Oil Company, auf der anderen die sogenannte Royal Dutch-Company, deren Aktien sich zum größten Teil in englischen Händen befinden, zum Teil in den Händen der englischen Admiralität.
Der Kampf der zwei wirtschaftlichen Giganten erschüttert die Welt. Dieser Kampf, die Cliquen, die ihn führen, sind die Drahtzieher von Revolutionen. So hat die mexikanische Revolution zwei Quellen: den Hunger des Bauern nach Grund und Boden und den Hunger der beiden Öltrusts nach mexikanischen Ölquellen. Und wenn z. B. die Herren Vandervelde, Renaudel und Henderson und der alte Papa Kautsky um die georgische Unabhängigkeit so viele Tränen verlieren, so wird die Geschichte feststellen, wer von diesen Herren der Trottel und wer der Agent der Royal Dutch ist, die über Batum und Tiflis ihre Hand nach Baku ausstreckt.
In der türkischen Frage spielt Mossul-Öl jetzt die entscheidende Rolle. Unweit von Mesopotamien in Persien hat die englische Persian Oil Company die großen Naphtha-Vorräte beschlagnahmt. Bekommt England auch Baku in die Hände, baut es Mossul-Öl aus, dann hat es einen großen Zuwachs an Kraft gegenüber dem amerikanischen Kapital.
Aus diesem Grunde treibt England die Politik der Zerreißung, der Zersplitterung der Türkei. Natürlich tut das der englische Imperialismus nicht so primitiv. Er sagt nicht: Im Namen des Mossul-Öls zerreiße ich die Türkei. Er erklärt, er zerreiße sie im Namen des Propheten; in Mekka, dem geistigen Zentrum des Islams, sollen nicht die Türken sitzen.
Die Türken sind doch getaufte Mohammedaner, sie kamen aus Mittelasien, und die rechten Mohammedaner, das sind die Araber. Aus diesem Grunde sind die Engländer die Verteidiger Arabiens. In Mesopotamien sind sie Verteidiger der Unabhängigkeit Mesopotamiens aus einem anderen Grunde. In Mesopotamien waren die Kulturstätten, Babel und Ninive, und dabei liegt es auf dem Wege nach Indien … Der englische Imperialismus herrscht dort nicht ganz einfach.
In Mekka wurde der Scheich Hassein durch die englischen Agenten zum König gekrönt. Sein Sohn Fusul sollte der König von Syrien werden. Aber die Franzosen glaubten, dass es besser sei, wenn ein französischer Agent in Syrien sitzt und nicht der Fusul, der Sohn des englischen Agenten. Sie verjagten ihn, und da hat sich gezeigt, dass das Volk von Mesopotamien, die Araber von Mesopotamien, den Fusul, den sie niemals gesehen haben, sehr lieben. Und England veranstaltete Wahlen in der Wüste von Mesopotamien, bei denen jedoch nicht die Araber abstimmten; die englischen Offiziere auf ihren Wachtposten gaben ihr Urteil darüber ab, wie sich die arabische Bevölkerung zu Fusul stellte.
Gegen diese Politik läuft Frankreich Sturm. Aus zwei Gründen. Obwohl, wie Sie wissen, Frankreich das Konkordat mit Rom gelöst hat und seine Führer mehr an den Teufel als an den katholischen Gott glauben, erinnert sich Frankreich, dass zur Zeit der Ludovici Frankreich die katholische Macht war. Und aus diesem Grunde, als katholische Macht, will es die Christen im Orient selbst schützen. Zweitens erinnert sich Frankreich, dass es eine große mohammedanische Bevölkerung hat, und also nicht aus katholischen, sondern aus mohammedanischen Gründen ist Frankreich wieder der Verteidiger der Türkei. Und der dritte Grund ist viel einfacher. Er besteht darin, dass Frankreich erstens kein Interesse an der Stärkung des englischen Imperialismus hat, dass dessen Verbindungen lückenlos sind, und dass es in der Türkei die Geleise betreten will, die zuerst Napoleon und dann Deutschland betrat. Als Napoleon gegen England kämpfte, tat er es im Bündnis mit der Türkei und suchte den Kampf auf türkischem Boden durch Stärkung der Türkei zu führen. Und als die Deutschen gegen England kämpften, waren sie auch gezwungen, den Kampf durch die Stärkung der Türkei zu führen, Frankreich kann nichts anderes ausdenken. Frankreich hat in diesem Kampfe zwei Posten erobert: Syrien, von wo aus es Englands Hauptschlagader, den Kanal von Suez, bedroht. Nachdem England die Griechen gegen die Türkei gehetzt hat, hat Frankreich eigenmächtig mit dem Führer der nationalen Bewegung in der Türkei, mit Mustapha Kemal Pascha, den Frieden angebahnt. Das Verhältnis der Alliierten zur Türkei bildet jetzt eine so schmerzliche Frage in dem Liebesverhältnis, das sich Entente nennt, dass England die Einladung der Türkei nach Genua abgelehnt hat. Und auf unsere schüchterne Anfrage: Wenn Ihr die ganze Welt retten wollt, warum wollt Ihr dann die armen Türken sterben lassen?, hat England uns in der Weise, wie es Lord Curzon beliebt, geantwortet: Die türkische Frage geht Euch gar nichts an. Nun, wir werden abwarten, wir werden sehen, ob in Genua die Franzosen kein Interesse in der türkischen Frage an den Tag legen werden. Wir können schon heute sagen, dass die türkische Frage uns, das russische Volk und das ganze internationale Proletariat, sehr viel angeht. Denn wenn die türkische Frage nicht gelöst wird, wenn die Türkei keine Möglichkeit des Lebens haben wird, so wird sie natürlich ein Element der Unruhe in der Welt sein. Wir glauben, dass die englische Regierung, die in Indien und in Ägypten ein sehr feines Organ für die Bewegungen der mohammedanischen Welt hat – denn diese richten sich gegen den Bauch Englands –, sich auch überzeugen wird, dass die türkische Frage eine Weltfrage ist, und dass England nach drei Jahren dieser türkischen Politik zu dem Resultat kommen wird, dass die türkische Politik der Alliierten ein ebensolcher Bankrott ist wie die gesamte Politik der Alliierten allen großen Fragen gegenüber.
Die Lage im Fernen Osten
Genossen! Ein paar Worte noch zur Situation im Fernen Osten, die zwar in Genua nicht besprochen wird, die der Gegenstand der Verhandlungen der Washingtoner Konferenz war, aber ohne deren Verständnis wir die Lage in Europa nicht verstehen können.
Sie wissen, dass Japan eine der siegreichen alliierten Mächte war. Japan war nicht nur siegreich, sondern auch sehr klug. Es hat sich nicht zu sehr angestrengt. Es hat Kiautschou und Tsingtau den Deutschen geraubt, es hat ein paar Tausend Menschen verloren, und dann hat es sich gesagt: Es ist nicht gut, zu viel zu siegen. Und Japan blieb still, arbeitete, verkaufte Munition, Textil-, Metallwaren, nicht nur nach Russland, nicht nur nach China, sondern sogar nach den englischen Kolonien, in denen es den englischen Handel stark zurückdrängt. Es baute sich eine Handelsflotte, und gleichzeitig dachte es an die große Beute, die seiner wartet, nämlich an die Eroberung Chinas. Japan hat sich im Kriege bereichert. Aber trotzdem ist Japan ein armes Land. Es hat weder Kohle, noch Eisen, noch Reis, der die Hauptnahrung der japanischen Bevölkerung ist. Und vor seiner Schwelle liegt das große Vierhundertmillionenreich China, das nur in unseren geographischen Atlanten ein Volk und ein Reich ist. China ist ein Kontinent, in dem einzelne Teile noch im tiefsten Mittelalter leben und andere sich in der Entwicklung zur Ausbildung des Bürgertums und der Nation befinden. Wer China beherrschen wird, wird die Welt beherrschen, und wenn das chinesische Volk selbst China entwickeln wird, so wird es das größte Volk der Welt sein. Das verstand Japan, und Japan versuchte während des Krieges im stillen China zu erobern. Es stellte und drückte durch die 21 Bedingungen – es sind nicht die Bedingungen, die wir der Zweiten und Zweieinhalb-Internationale diktieren, sondern die die japanische Regierung den Chinesen stellte –, und diese Bedingungen bedeuten: die chinesische Armee, die chinesische Verwaltung wird durch die Japaner geleitet, und die größten Eisen- und Kohlenwerke Chinas kommen an die Japaner. Wie Sie wissen, gab es in der amerikanischen Presse einen großen Kampf gegen Japan und ein Geschrei in der englischen Presse. Aber Japan geschah nichts, weil der Weltkrieg weiter tobte und die Gefahr drohte, dass Japan einen Sonderfrieden mit Deutschland schloss, und dass, wenn Tokio und Berlin Frieden machten, sich Petrograd, das zaristische Russland, anschloss, und dass ein Block der drei reaktionärsten Mächte der Welt entstand, das Bündnis des preußischen Militarismus, des russischen Zarismus mit dem Samurais von Japan. Das wussten die Alliierten, sie wussten, dass Verhandlungen hinter den Kulissen stattfanden, und aus diesem Grunde gingen sie dem Konflikt mit Japan aus dem Weg. Aber nach dem Kriege erklärte Amerika: Nein, das erlaube ich nicht. In der amerikanischen Presse und Literatur setzte ein scharfer Kampf gegen Japan ein. Und das ausschlaggebende in diesem Kampf war die Frage: Japan ist der Verbündete Englands; wenn Japan und Amerika miteinander zusammenstoßen, was wird England tun? Sie können sich vorstellen, dass England, das in Amerika die größte, am schnellsten wachsende Industriemacht der Welt sieht, eine Industriemacht, die sich eine große Flotte zugelegt hat, in Amerika einen Konkurrenten sieht, den es nicht weniger fürchtet, als es Deutschland fürchtete. Aber gleichzeitig hat das englische Imperium Kolonien wie Kanada, Australien, die anti-japanisch sind. Kanada ist es aus dem einfachen Grunde, weil es durch sein ganzes Wirtschaftsleben, durch das Eisenbahnsystem, durch die Einfuhr und Ausfuhr mit Amerika mehr als mit England verbunden ist. Australien, weil es schwach bevölkert ist und schutzlos Japan ausgeliefert sein könnte. Der Druck dieser Kolonien und der Wille, Amerika im Falle eines englisch-französischen Krieges zu neutralisieren, führten dazu, dass England sich bereit erklärte, das Bündnis mit Japan aufzuheben und zusammen mit Amerika auf Japan zu drücken.
Sie kamen zur Beratung in Washington zusammen. Sie haben die Dreadnoughts zum alten Eisen geworfen, weil sie nichts weiter mehr sind als altes Eisen, aber sie haben in Washington nichts erledigt. Sie haben ein Viermächte- Abkommen geschlossen zwischen England, Amerika, Japan und Frankreich. Und dieses Abkommen besagt nur, dass, bevor sie sich in Zukunft zu raufen beginnen, sie miteinander sprechen und versuchen müssen, sich auszusöhnen. Sie würden das getan haben ohne dieses Abkommen. Das Abkommen ist ein Stück Papier.
Was China anbetrifft, den größten Stein des Anstoßes, so haben sie beschlossen, dass es frei und unabhängig sein soll. Sie haben von Japan gefordert, dass es Schandung räumt, und Japan hat die Räumung zugesagt. Aber es sitzt noch heute dort, wie es in Sibirien sitzt, das zu räumen es auch tausendmal versprochen hat.
Welche Bedeutung haben die ostasiatischen Fragen für die politische Lage in Europa? Wenn Sie nur die Tatsache berücksichtigen, dass das Viermächte-Abkommen geschlossen worden ist von Japan, England, Frankreich und Amerika, so müssen Sie fragen: Wie kommt Frankreich in diese Gruppe? Wie kommt Saul unter die Propheten? Wenn es hingekommen ist, weil es Indochina besitzt, so hat doch Holland viel größeren Besitz in Asien; der malaiische Archipel ist bedroht durch Japan.
Und hier kommen wir eben zu den Verbindungen mit den europäischen Dingen. Amerika weiß ausgezeichnet, dass England der stille Verbündete Japans ist. Und obwohl England erklärt hat: Ich löse das Bündnis mit Japan, so droht immer die Gefahr, dass es das Zünglein an der Wage bildet. Und da zieht Amerika die französische Karte hervor: Unterstützt Du Japan gegen mich, so unterstütze ich Frankreich gegen Dich. Und das ganze Geschrei in der amerikanischen Presse gegen die französischen Rüstungen ist nicht des Papiers wert, auf dem es geschrieben steht.
Es ist eine Wahlmache der republikanischen Partei, die Wahlen zum Kongress vorhat! Die Franzosen zahlen keine Prozente, und da muss man für den lieben Wähler gegen die Franzosen schreiben. Aber Frankreich bleibt die latente Karte Amerikas im eventuellen Kampfe gegen England, und hier ist die Verbindung mit den europäischen Fragen.
Japan und Amerika können in einen Krieg zwischen England und Frankreich um die Hegemonie in Europa hineingezogen werden, und ein Krieg Amerikas mit Japan um den Stillen Ozean kann den Krieg Englands mit Frankreich auslösen. Es ist ein Komplex von Fragen, und wie man Europa auf kapitalistischem Wege nicht restaurieren kann ohne amerikanisches Kapital, so kann man auch nicht Europa oder die Welt abrüsten in Ostasien und die Verhältnisse in Europa so belassen, wie sie sind. Es ist ein Knäuel von Fragen, und die Tatsache, dass heute Amerika an Genua nicht teilnehmen wird als einer, der mitratet und mittatet, beweist, dass die ganze Geschichte in Genua im besten Falle so enden kann, dass die Türen zu weiteren Verhandlungen geöffnet werden, aber Konkretes kann aus der Geschichte nicht herauskommen.
Die politische und wirtschaftliche Bilanz der drei Jahre
Überblicken wir jetzt die Sachlage, wie sie vor Genua steht: Politisch: Amerikanisch-japanischer Gegensatz in Ostasien, der Kampf um den Stillen Ozean geht weiter. In Europa anglo-französischer Gegensatz, der drei Zentren hat: Deutschland, Russland und die Türkei. Es ist ein vollkommenes politisches Chaos, eine vollkommene politische Deroute, und mehr noch: die Gegensätze sind so, dass die Verständigungskonferenz in Genua zur Kampfkonferenz der entgegengesetzten Interessen wird.
Sehen Sie sich das ökonomische Resultat der drei Jahre an, das diese Herren genötigt hat, nach drei Jahren ihrer ungestörten Wirtschaft, nach drei Jahren, in denen der Oberste Alliierten-Rat der Diktator Europas war, aufzuschreien: Rettet Europa! Sie haben wirtschaftlich zu diesem Aufschrei alle Ursache. Es genügt, die Produktion des Jahres 1921 mit der des Jahres 1920 zu vergleichen. Mit Ausnahme eines geringen Wachstums der Welternte in Weizen, Roggen und Gerste ist in der Produktion aller Rohstoffe ein Fallen der Produktion bis zu 25 Prozent festzustellen. Die Baumwolle fiel von 39 Millionen Ballen auf 28 Millionen Ballen, Eisen von 60 Millionen Tonnen auf 36, Stahl von 68 Millionen Tonnen auf 40. Die Arbeitslosigkeit beträgt in England 15 Prozent der proletarischen Bevölkerung, in Belgien 24 Prozent, in Schweden 25 Prozent, in Amerika 20 bis 25 Prozent, in Norwegen 15 Prozent, in Dänemark 20 Prozent, in Holland 15 Prozent. Niemals kannte die Welt eine solche Arbeitslosenkrise wie die, die jetzt die kapitalistische Welt durchzieht. Und das ganze Chaos der Welt kommt in nichts besser zum Ausdruck als darin, dass die besiegten Staaten dadurch gerettet worden sind, dass sie entwaffnet wurden und kein Geld für Militär auszugeben brauchen.
Deutschland spart durch seine Entwaffnung 5 Milliarden Goldmark, und diese Ersparnis ist die Summe, für die es Brot und Rohstoffe kauft. Und die niedrige Valuta, das Resultat der Zerrüttung der Finanzen Deutschlands, bildet den zweiten Grund dafür, dass dieses keine Arbeitslosigkeit kennende, exportierende, produzierende Land zur größten Gefahr für die Alliierten wird. Denn entweder wird es produzieren in den sich ökonomisch verschlechternden Verhältnissen, wo der deutsche Arbeiter den dritten Teil des Lohnes des französischen bekommt, den sechsten Teil des Lohnes des englischen und den zwölften Teil des Lohnes des amerikanischen. Dann wird der Arbeiter angesichts seiner Unentbehrlichkeit im Produktionsprozess und seiner sich immer verschlechternden Lage schließlich rebellieren.
Kommt es anders, weiß die deutsche Bourgeoisie das Proletariat niederzuhalten, dann wird sie aus seinen Knochen so viel herausschinden, dass sie mit ihren Waren zum gefährlichsten Konkurrenten wird, der die Arbeitslosigkeit in England und Amerika steigert.
Diese ganze Lage voll politischer, voll ökonomischer Widersprüche drängt nach Lösung. Sie drängt nach Lösung entweder von unten durch die proletarischen Massen oder von oben durch neuen Krieg. Wie sich die kapitalistischen Staaten für diesen neuen Krieg vorbereiten, möchte ich Ihnen nur an einem Beispiel zeigen.
Sie wissen, dass Amerika jetzt das Land ist, das am meisten von der Entwaffnung spricht, gegen die großen Armeen kämpft usw., aus einer vollkommen richtigen Einsicht: dass die großen Armeen in dem nächsten Krieg wahrscheinlich keine Rolle spielen. Der nächste Krieg wird der Krieg der Unterseeboote, der Flugzeuge und der technischen Korps auf dem Lande, und seine Hauptwaffe wird die chemische Industrie sein. Und wie dieser chemische Krieg vorbereitet wird, darüber erlauben Sie mir, Ihnen aus dem Bericht Nevensons, der während der Washingtoner Konferenz in dem Manchester Guardian erschien, folgendes vorzulesen:
„Während des Krieges auf einer Landzunge an der Chesapeake-Bay errichtet, hat sie eigene Docks für Leichterfahrzeuge und umfasst ein Gelände von 10000 Ar. Das Korps für chemische Kriegführung (Chemical Warfare Corps), eine Sondertruppe der Armee, besteht aus 2000 Mann, 101 Offizieren und 1200 Angestellten, neben 100 gewiegten Chemikern, denen ihre Erfindungen, für die sich die Regierung das Recht der Erwerbung vorbehält, abgekauft werden. Beim Waffenstillstande konnten die Fabriken täglich 2000 Tonnen Giftgas herstellen, Jetzt arbeiten sie unter sehr vermindertem Druck, befinden sich aber in voller Bereitschaft. Die Stäbe für die Verteidigung und für den Angriff arbeiten dauernd gegeneinander, jeder Fortschritt im Giftgas wird möglichst durch Schutzmittel, wie neue Gasmasken oder undurchlässige Kleider zur Verhütung von Verbrennungen, wettgemacht. An der französischen Front konnten die Masken in sechs Sekunden aufgesetzt werden, jetzt genügen hierfür drei Sekunden.
Das aus gewöhnlichem Tafelsalz hergestellte Chlor ist der Grundstoff für alle Giftgase, mit Ausnahme vielleicht von „Lewisite“. Es werden viele Gasarten erzeugt; das beste Stickgas beißt „Phosgene“. Das Senfgas brennt das Fleisch weg und durchdringt jedes Kleidungsstück, wie man im Kriege gesehen hat.
„Chlorpikrin“ verursacht heftiges Erbrechen und macht sein Opfer gefechtsunfähig, bis der Feind kommt, es zu töten. „Lacrymatory-Gas“ verursacht eine Flut von Tränen. „Lewisite“ besteht aus Acetylen mit einer Lösung von Arsenik-Trichlorid, ist ein beißendes Gas wie Senfgas, aber weit kräftiger. Es dringt angeblich durch jede Maske, durch das Fleisch oder in die Lungen und verbrennt sein Opfer von innen wie von außen. Es gilt als das Hauptmittel im künftigen Kriege; beim Waffenstillstand wurde es in einer Menge von zehn Tonnen täglich hergestellt. Es verbreitet sich langsam, im Gegensatz zu „Phosgene“, welches darum beim gewöhnlichen Bombenwerfen aus der Luft bevorzugt wird; denn der Wind trägt „Phosgene“ weithin und erstickt alles. Aber „Lewisite“ könnte von Luftfahrzeugen mit einem Schlauch auf Städte gespritzt werden. Es hat eine ausgezeichnete Wirkung, indem es Kleider, Haut und Fleisch aller Betroffenen verbrennt. Geschickt verwendet, könnte dieses Gas sicherlich eine ganze Bevölkerung sehr schnell töten.
Es werden jetzt Bomben bis zu 1.950 kg Gewicht angefertigt, welche eine Tonne Trinitrotoluol höchster Sprengkraft fassen oder eine gleiche Menge, jedoch leichterer Stick- oder beißender Gase. Große Flugzeuge, von denen jedes mit mehreren Bomben oder Spritzgeräten ausgerüstet wäre, könnten leicht unverteidigte Großstädte zerstören.“
Und nachdem die Herren so weit gekommen sind, dass sie politisch, dass sie ökonomisch nicht aus noch ein wissen und die einzige sichere Tatsache, der einzige Pol in der Erscheinungen Flucht die Gase geblieben sind, vermittelst derer man ausgezeichnet Menschen verbrennen und Städte einäschern kann, in dem Moment, wo sie am Abgrund stehen, rufen sie Halt und berufen eine Konferenz nach Genua ein.
II. Der Kampf in Genua
Ich komme somit zu der Konferenz in Genua. Nach dem, was ich gesagt habe, werden auch die Genossen, die die Konferenz vielleicht etwas rosig ansahen, ganz gewiss klar darüber sein, dass Genua, wenn die Konferenz stattfindet, ein Schauplatz des Kampfes sein wird. Genua wird trotz aller Versuche, die Gegensätze zu verkleistern, diese Gegensätze krass zum Ausdruck bringen. Sogar wenn Staaten die zwischen ihnen bestehenden Gegensätze zu verhüllen versuchen werden, so werden diese Gegensätze als soziale Gegensätze im Kapitalismus selbst in der grellsten Form auftreten. Ich habe bisher von den Gegensätzen zwischen den Staaten gesprochen, indem ich jeden Staat als ein kapitalistisches Ganzes nahm. Es unterliegt gar keinem Zweifel, dass das den Tatsachen nicht entspricht, dass es nur eine Methode ist, bei der ersten Darstellung die Dinge etwas schematischer zu behandeln. Und hier komme ich eben zu diesen Gegensätzen, die nicht nur innerhalb des Kapitalismus in nationalen Grenzen, des national getrennten Kapitalismus bestehen, sondern innerhalb jedes kapitalistischen Staates.
Der neue bürgerliche Pazifismus
Ich will von einer neuen Erscheinung sprechen: dem bürgerlichen Pazifismus, Es ist notwendig, dass die Genossen diese Frage sehr nüchtern beurteilen, weil sie vielleicht auch in der weiteren Politik der Kommunistischen Internationale eine große Rolle spielen kann.
Wenn Ihr hört: „bürgerlicher Pazifismus“, dann lacht Ihr alle. Ihr lacht auf Grund einer Erinnerung, einer Erinnerung an langhaarige Jünglinge, die kein Fleisch essen und die gelehrt beweisen, dass schon Jesus Christus verboten hat, einen anderen zu töten, dass es dem Getöteten unangenehm und für den Tötenden nicht nützlich ist, die beweisen, dass schon die wilden Menschen gelernt haben, den Gefangenen nicht zu verspeisen, sondern ihn arbeiten zu lehren. Aber diese komische Gestalt hat der bürgerliche Pazifismus nur vor dem Kriege gehabt. Er hat sie nicht mehr. Er wurde zu einer bürgerlichen Politik, und er stellt ein großes Klasseninteresse der Bourgeoisie dar. Denken Sie an die englische Bourgeoisie. Sie ist die größte industrielle Bourgeoisie Europas, die größte Handels-Bourgeoisie der Welt.
Ich will Sie nicht durch Ziffernreihen ermüden, aber es ist klar, dass der Staat, der in Europa am meisten ausführte und am meisten einführte, der Vermittler war zwischen allen Kolonien und Europa, dass die Bourgeoisie dieses Staates unter den Folgen des Krieges und des jetzigen Zustandes am meisten leidet. Und, Genossen, solange Menschen über die Frage der sozialen Revolution in England nachgedacht haben, so waren sie immer einer Meinung: der Angelpunkt der sozialen Revolution in England ist die Arbeitslosenfrage. Aus einem ganz einfachen Grunde. Wenn der Arbeiter in Russland nichts zu essen hat, arbeitslos ist, Hunger leidet, flüchtet er ins Dorf, die Städte bilden Inseln im agrarischen Lande, und wie schwer auch die Bevölkerung zu leiden haben mag, sie hat immer die Aussicht, aus der Geschichte noch heraus zu kommen. In einem Lande mit überwiegend industrieller Bevölkerung, das selber nur für sieben Wochen Brot produziert, bedeutet die Arbeitslosigkeit die größte Kalamität: sie hindert die Produktion von Äquivalenten, für die man vom Ausland Brot kriegen könnte, und zweitens kann sie Revolten erzeugen.
Und darin: wenn Sie vom Pazifismus der englischen Bourgeoisie hören, so seien Sie überzeugt, es ist den Leuten bitter ernst mit dieser Sache. Und würde die englische Politik geleitet werden nur durch die englische Handels- und Industrie- Bourgeoisie in ihrer großen Masse, würde England wirklich demokratisch regiert werden, dann würde die englische Regierung in Europa eine Friedenspolitik treiben. Ich habe Ihnen im ersten Teil des Vortrags schon gezeigt, von wem das sabotiert wird. Die Teile der Industrie, die für die Kolonien, für die Flotte arbeiten, die alte Diplomatie, die Bürokratie des Imperialismus, sie sitzen an der Staatsmaschine und sabotieren diese Politik. Aber der Antrieb nicht nur von den Arbeitermassen, sondern von der Bourgeoisie, den Industriellen, er ist für die Politik des Pazifismus.
Nehmen Sie Amerika. In Amerika geschehen Wunder am Himmel. Führende amerikanische Finanziers, Frank Vanderbilt, Kahan, gehen unter die Schriftsteller und schreiben Bücher, in denen sie erklären, dass Amerika Verzicht auf die Eintreibung der Schulden leisten, dass es Milliarden zum Wiederaufbau Europas ausgeben soll. Und sie sagen: Wenn wir das nicht tun, werden wir zugrunde gehen. Denn wenn Europa nicht kaufen kann, verlieren wir einen ungeheuren Markt. In derselben Richtung wirken die Interessen der Farmer. Die Farmer schreien nach Absatzmärkten in Europa. Und woran scheitert die Sache? Wieder ein anderer Teil der Industrie weist darauf hin: Wir exportieren nur 10 Prozent unserer Produktion, soll sie der Teufel holen, die Leute in Europa. Und derselbe Farmer, der schreit: Gebt mir Absatzmärkte, ist gegen neue Steuern, und wovon soll man die Kredite nehmen? Sie haben hier also einen Wirrwarr von Tendenzen, und diese Tendenzen werden miteinander kämpfen. Sie kämpfen schon jetzt miteinander, sie werden der Bourgeoisie nicht erlauben, in Genua irgend einen Plan, der wirklich auf den Weltwirtschafts- Aufbau gerichtet wäre, aufzustellen. Denn worin könnte der Plan bestehen? Er ist sehr einfach: Schuldenstreichen.
Niemand kann sie bezahlen, und wehe den Industrieländern, wenn man beginnen würde, sie zu bezahlen. Ein Teil der amerikanischen Finanzschriftsteller schreibt: Gott behüte uns davor, dass England und Frankreich die Schulden bezahlen. Denn dann werden sie doch noch weniger kaufen, als sie jetzt kaufen, und wenn sie in Waren bezahlen, so werden sie die Konkurrenz stärken.
Der zweite Punkt wäre: Gut, die Schulden sind weg, aber wovon leben, wovon weiter arbeiten? Einen internationalen Anleihefonds bilden, um den Ländern, die Kapital für Rohstoffe, für den Bau neuer Fabriken brauchen, Kredite zu geben. Nun ja. Woher soll man sie nehmen? Welches kapitalistische Land oder welche kapitalistische Gruppe wird freiwillig einem großen internationalen Konsortium Geld leihen, damit es damit wirtschafte? Wo ist das Organ des gemeinsamen Willens des Kapitalismus, und in erster Linie: wo ist die kapitalistische Klasse, die fähig wäre, jetzt zu sagen: Nach den Niederlagen, den Verlusten des Krieges sammle ich einen Fonds in der Höhe der Hälfte dessen, was der Krieg gekostet hat, zum Wiederaufbau der Welt, der in 10, 20 Jahren geschehen sein kann und sich erst dann bezahlt machen wird.
Aber, wie gesagt, weil starke bürgerliche Interessen dahinter stehen, so wird hier ein Kampf ausgefochten, der die größte Bedeutung für den Klassenkampf des Proletariats haben wird. Vergessen Sie nicht, dass Millionen und Abermillionen Arbeiter die Revolution fürchten, weil sie Zerrüttung bedeutet; sie sind pazifistisch, sie wollen keinen Krieg, und sie lechzen nach dem kapitalistischen Wiederaufbau. Und die kapitalistische Welt ist genötigt, diesen Massen pazifistische Losungen zuzurufen, die auszuführen sie nicht imstande sein wird, um die zu kämpfen aber diese Massen genötigt sein werden.
Das sind die sozialen Gegensätze in der bürgerlichen Welt auf der Konferenz. Wie wird das diplomatisch aussehen? Welche Macht wird diese pazifistische Politik vertreten? Keine einzige. Jede von ihnen wird „ A“ sagen und wird nicht „B“ zu sagen wagen. Und sie werden, nachdem sie monatelang Europa über den Wiederaufbau in Atem gehalten haben, dort mit dem Plan einer neuen Plünderung auftreten. Die Vertreter der bürgerlichen Regierungen sind in den letzten Jahren sehr demokratisch geworden. Sie prügeln sich auf offener Straße, aber sie sagen keinesfalls auf offener Straße, was sie zu tun beabsichtigen, vielleicht deshalb, weil ihnen die Gedanken über das, was sie zu tun haben werden, noch fehlen. Aber trotzdem kann man sich objektiv darüber orientieren, worin der Plan von Genua besteht. Und ich wiederhole: Er besteht in der Absicht eines Plünderungszuges gegen Russland. Erlauben Sie mir, kurz die Hauptlinien dieses Planes, wie man ihn aus dem ganzen Kampf der bürgerlichen Presse ersehen kann, hier darzustellen. Er richtet sich gegen Deutschland und gegen Russland. Die Alliierten haben einen Versailler Frieden hinter sich, nach dem Deutschland 132 Milliarden Goldmark zu bezahlen hat. Ob sie es offen sagen oder nicht, die Alliierten wissen, dass Deutschland diese 132 Milliarden Gold nicht zahlen kann. Der Versailler Frieden hat sich als unausführbar gezeigt. Die Bezahlung der ersten Milliardenrate im Herbste des vorigen Jahres führte zu einem solchen Sturz der deutschen Mark, dass der Dollar auf 300 Mark kam, und dass die Bank of England den Totenschein für den Versailler Frieden ausstellte, indem sie der deutschen Regierung, nachdem die englischen Vertreter ihr zugeflüstert hatten: Wenden Sie sich um Kredit nach London, erklärte: Unter den nach dem Versailler Frieden waltenden Verhältnissen kann Deutschland keinen Kredit haben. Das ist das Todesurteil. Denn die für den Versailler Frieden geforderten Milliarden können nur dann bezahlt werden, wenn Deutschland Auslandskredite erhält.
Nun, die Alliierten werden, nicht vielleicht in Genua direkt, aber im Anschluss daran, übereinkommen, die Verpflichtungen Deutschlands zu mildern. Es handelt sich nicht darum, ob die Endsumme bleibt oder nicht. Denn es kann Deutschland absolut gleichgültig sein, was es nach papierenen Verträgen in 25 Jahren zu zahlen verpflichtet ist.
Dann wird der Versailler Frieden als Kuriosität in den Museen stehen, sogar in dem Falle, wenn die kapitalistische Welt noch so lange leben würde. Die Erleichterung wird bestehen in erster Linie in der Kürzung der Verpflichtungen für die nächsten Jahre und zweitens in Krediten.
Jetzt entsteht folgende Frage: Wenn die Lage Deutschlands erleichtert wird und Deutschland nicht ein Viertel seiner Ausfuhr, sondern seine alte Ausfuhr erreicht, was dann? Deutschland hat die Weltmarktpreise noch nicht erreicht. Die deutsche Kohle, das deutsche Eisen, die deutschen Rohstoffe werden in Deutschland zu billigeren Preisen von deutschen Kapitalisten erworben, zum Teil sogar billiger als die Reparationskohle. Z. B. die gemischten deutschen Zechen, die selbst Kohle bauen, geben sich diese Kohlen doch weder zu dem Weltmarkt-, noch zu dem Reparationspreis, sondern zu dem Preis, den diese Kohle wirklich kostet. Wenn Deutschland mit dieser Konkurrenz auf dem Weltmarkt erscheint, so wird dies eine Erschwerung der Lage der Alliierten sein. Aus diesem Grunde vereinigen die Alliierten, in erster Linie England, den Plan der Kürzung der deutschen Zahlungen mit dem Plan der Benutzung Deutschlands zur Ausplünderung Russlands, was „Wiederaufbau“ Russlands genannt wird.
Der Plan geht in dieser Richtung: Statt den Franzosen und Engländern Waren zu geben, mit denen sie nichts anzufangen wissen, – denn wenn Frankreich von Deutschland für die verwüsteten Gebiete Maschinen bezieht, so werden diese Maschinen nicht von den französischen Kapitalisten fabriziert, und mehr noch, es ist nicht ein einmaliger Bezug, da die Fabriken sich auf die deutschen Typen der Maschinen einstellen, und wenn Frankreich Deutschland erlaubt, den Norden aufzubauen, so wird Deutschland in Frankreich nach dem Kriege zehnmal stärker, als es vor dem Kriege gewesen war. Der Sinn besteht also darin, den deutschen Export vom Westen nach dem Osten zu lenken.
Aber hier soll die deutsche Warenausfuhr nach Russland als Eigentum der Alliierten vor sich gehen. Wenn man moralisch sprechen wollte, so wäre es so: Die deutsche Schuld an der Verwüstung Frankreichs und Serbiens und Russlands soll bezahlt werden durch den Aufbau Russlands. Aus dem Moralischen in die Sprache des Börsenberichts übersetzt, bedeutet es: Deutschland arbeitet auf Konto der Alliierten für Russland, die Profite davon rechnen die Alliierten auf die Reparationsschuld.
Ein gutherziger Deutscher, und die Deutschen haben ein Talent, jede Sache sehr schön darzustellen, fasste diese Sachlage in drei Worten zusammen: Englisches Kapital, deutsche Arbeit und russischer Boden, wobei die Sowjetrepublik die Rolle des Bodens spielen sollte. Dieser Plan hat einen tiefen weltpolitischen Hintergrund. Es sei festgestellt: es ist weltpolitisch genommen – ganz gleich, wer ihn zum ersten Male gedacht haben mag – ein englischer Plan, denn seine Konsequenzen sind für England die günstigsten. Wenn Deutschland in Russland die Rolle des wirtschaftlichen Reorganisators spielen würde, so würde das folgende Lage ergeben. Der die Profite kriegt, sitzt in London oder in Paris, den sehen die russischen Arbeiter nicht. Aber der, der als Werkmeister und Schweißtreiber auftritt, ist der Deutsche. Das Resultat ist: die einzige Aussicht Deutschlands, sich durch wirkliche gleichberechtigte Mitarbeit mit Russland nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch zu stärken, ist damit begraben. Deutschland wird eine industrielle Kolonie, Russland eine agrarische Kolonie. Es wird hier das System angewandt, vermittelst dessen die Kapitalisten die Arbeiteraristokratie von der Masse des Proletariats trennen: sie nehmen den guten Organisator, den intelligenten Arbeiter und machen ihn zum Werkmeister. Das ist auf zwei Länder gebracht: die agrarische, die proletarische Masse Russlands, ausgebeutet von deutschen Werkmeistern des englischen Kapitals. Sie werden fragen, wie England das tun will? Aus einem einfachen Grunde: solange Amerika außerhalb eines internationalen Konsortiums, das dieses Kapital aufbringt, bleiben würde, würden drei Mächte den Ausschlag geben: Deutschland, Frankreich, England. Da England dem Anschein nach Verteidiger Deutschlands ist und Deutschland Kredit geben soll, verfügt es über deutsche und englische Karten. Frankreich wird majorisiert, und in dieser Weise läuft der Plan darauf hinaus: Wenn die deutschen Arbeiter sich gesagt haben: „Zusammen mit dem russischen Proletariat werden wir die Welt erobern“, so antworten das englische Kapital und das deutsche Kapital, das mit diesem geht: „Zusammen mit dem englischen Kapital werden wir Russland ausbeuten“.
Hat dieser Plan Aussicht, ausgeführt zu werden? Er wird in dieser oder jener Form in Genua auftauchen. Er ist zum Tode verurteilt durch die einfache Tatsache, dass er nicht nur gegen Russland gerichtet ist, sondern auch gegen Frankreich. Denn wenn sich Deutschland in der russischen Wirtschaft festsetzt und dadurch gleichzeitig nicht seinen, sondern den englischen Einfluss in Russland stärkt und ausgestaltet, dann wird nicht nur Deutschland zum Vasall Englands, sondern auch Russland würde wirtschaftlich zum Vasall Englands, und Frankreich stände in der Welt isoliert da, es könnte mit Jugoslawien und mit Monaco die Welt in die Schranken fordern. Und darum weinte Herr Herbette im Pariser „Temps“, als diese Pläne auftauchten, blutige Tränen und erklärte, die französischen nationalen Interessen gingen seit Elisabeth und Katharina der Großen parallel mit den russischen nationalen Interessen, und niemals werde Frankreich an der Ausbeutung Russlands und an einem internationalen Kuratel über Russland teilnehmen.
Nun, die Schatten der Elisabeth und der ehrwürdigen Katharina II. und die Gefühle Herbettes in allen Ehren. Reell genommen ist hier eins klar: der französische Imperialismus hat kein Interesse, dem englischen zur Beherrschung Russlands zu verhelfen und dem deutschen zu helfen, sich in Russland aufzurichten.
Der Abwehrkampf Sowjetrusslands
Sowjetrussland kennt alle ihm drohenden Gefahren. Sowjetrussland geht nach Genua, frei von allen Illusionen. Es weiß sehr gut, dass keine einzige kapitalistische Macht imstande ist, ehrlich und energisch an den Wiederaufbau der Welt zu schreiten. Es weiß, dass sie alle nur ein Ziel haben, wenn sie vom Wiederaufbau sprechen, und dieses Ziel lautet: sich zu bereichern auf Kosten des Schwächeren. Und trotzdem geht Sowjetrussland nach Genua mit der Überzeugung, dass, wie auch diplomatisch die Verhandlungen in Genua verlaufen können, Räterussland aus Genua gestärkt zurückkehren wird. Die kapitalistischen Regierungen fürchteten bisher am meisten die Ausnützung der diplomatischen Tribüne zu kommunistischer Agitation. Sie fürchteten am meisten die kommunistische Propaganda der Sowjet-Diplomatie. Die Sowjet-Diplomatie wird sie mit dieser Propaganda verschonen. Nicht aus Kompromiss Sucht, nicht um die delikaten Ohren der Herren Lloyd George und Poincaré zu verschonen, sondern weil das, was sie vom kommunistischen Standpunkt zu sagen hätte und sagen könnte, viel eindrucksvoller die Tatsachen sagen werden, die Tatsachen der Politik der Alliierten in Europa und in der Welt während der drei Jahre, die seit dem Friedensschluss verflossen sind.
Die kapitalistische Presse verkündet der Welt freudig den Bankrott des Kommunismus, weil, vereinsamt in einem bäuerlichen Lande, die Proletarier Russlands, auf sich allein angewiesen, von der ganzen kapitalistischen Welt angegriffen, durch Krieg und Blockade bekämpft, ihr nacktes Leben mit den Waffen in der Hand verteidigend, nicht imstande waren, die Gesellschaftsform zu verwirklichen, deren Grundlage die Steigerung der Technik ist. Nun, der Kapitalismus beherrscht die ganze Welt mit Ausnahme Russlands. Drei Jahre schweigen schon die Waffen, und die kapitalistischen Regierungen, die Bourgeoisie der Welt, waren vollkommen ungehindert, sie konnten ungehindert beweisen, wie ausgezeichnet sie auf Grund des kapitalistischen Systems die Welt neu aufbauen können, die sie im Kriege in Trümmer geschlagen haben. Wir haben diesen Neuaufbau gesehen. Er besteht im Anhäufen der Friedensruinen auf den Kriegsruinen.
Das kapitalistische System ist verurteilt durch die Tatsachen der Vergangenheit und die Tatsachen der Gegenwart.
Aber vielleicht werden sich die kapitalistischen Herrscher jetzt im letzten Augenblick aufraffen, vielleicht werden sie jetzt einen Plan des Aufbaues der Welt aufrollen, der Ordnung, wenigstens vom kapitalistischen Standpunkt, schafft, der den arbeitenden Massen für ihre schwere Arbeit wenigstens das gibt, was das Pferd für seine Arbeit kriegt: genügend Futter. Wir sagen im voraus: Kapitalistische Nationalökonomen, kapitalistische Denker haben diese Pläne entwickelt, aber die Bourgeoisie als Ganzes wird sich die Ohren zuhalten, sie wird sich von diesen Ratschlägen ebenso abwenden, wie sich die englische Regierung abgewandt hat von den Ratschlägen, die ihr in Versailles ihr finanzieller Sachverständiger [John] Meynard Keynes gegeben hat, wie sich die amerikanische Regierung abgewandt hat von den Ratschlägen, die ihr Russland-Sachverständiger Bullit gegeben hat. Und wenn die Sowjet-Diplomatie der kapitalistischen Welt diese Ratschläge der weitsichtigen bürgerlichen Politiker vorhalten sollte, so wird sie ganz gewiss nur eine Antwort hören: Wir können diese uferlosen Pläne nicht ausführen. Und die bürgerliche Welt wird in Genua auf einem Schiff stehen, das ohne Ruder ins uferlose Meer hinausläuft, wo es vom Sturm vernichtet wird. Die Tatsache, dass der Kapitalismus in Genua dastehen wird ohne jeden leitenden Gedanken, ohne jeden Plan, diese Tatsache wird all sein Geschrei über den Bankrott des Kommunismus übertönen, und sie wird den Proletariern aller Länder sagen: Lasst alle Hoffnungen fahren auf die kapitalistische Welt, lasst alle Hoffnungen fahren darauf, dass diese Welt eine neue Ordnung schaffen kann.
Miteinander hadernd, sich gegenseitig misstrauend, werden die kapitalistischen Regierungen habgierig ihre Hand ausstrecken nach dem Gut und nach der Habe des russischen arbeitenden Volkes. Alle werden sie es tun, darauf pochend, dass der Hunger an der Wolga die Sowjetregierung zur Kapitulation zwingen wird. Wenn in Indien Millionen Menschen vor Hunger starben, da blieb die englische Regierung ruhig. „Wenn sie nicht leben können, so sterben sie“, schrieb kalt der Historiker des englischen Imperialismus, Prof. Seelly, in seinem Buche über die Expansion Englands. Aber sie wissen, dass die Sowjetregierung, die Regierung der Arbeiter und Bauern, verbunden mit den leidenden Massen, ihrem Hunger gegenüber nicht die Kühle und die Ruhe der weißblütigen Herren hat. Und darum führen sie den Plan aus, den Lloyd George im August 1921 den teuflischen Plan nannte, den Plan, den Hunger der russischen Volksmassen auszunützen, um sie zu berauben. Und für diesen Raubzug bereiten sie sich alle vor. Was ist da charakteristischer als die Tatsache, dass dieselbe demokratische Regierung Deutschlands, die vor der ganzen Welt Klage erhebt gegen den Plünderungszug der Entente in Deutschland, dass sie sich durch ihre Experten bei den Verhandlungen über das internationale Konsortium dem Plane der Alliierten anschließt, von der Sowjetregierung zu fordern: sie solle alle Schulden bezahlen, sie solle die Fabriken und die Bergwerke den Ausländern zurückerstatten, ohne dass auch mit einem Worte erwähnt wird, wer denn dem russischen Volke Ersatz leisten wird für den Tod und die Vernichtung, den der dreijährige Interventionszug und die dreijährige Blockade über Russland gebracht haben, Kriegshandlungen, die ohne Kriegserklärung gegen das friedfertige, nach Frieden lechzende, um Frieden bittende russische Volk begangen worden sind.
Sowjetrussland, seine Regierung und seine Massen treiben eine kühle Realpolitik. Sie wissen, dass, obwohl die kapitalistischen Regierungen nicht imstande sind, die aus den Angeln gehobene Welt wieder einzurenken, dass sie jedoch existieren, und dass sie noch die Schicksale der Völker bestimmen. Die Sowjetregierung weiß, dass die erste Welle der Weltrevolution vorüber ist, und sie weiß, dass die neue Welle erst langsam anwachsen wird. Die Sowjetregierung weiß, dass die russische Volkswirtschaft nicht wieder hergestellt werden kann ohne Hilfe der europäischen Volkswirtschaft. Sie hoffte, dass die europäischen Arbeiter es sein werden, die den russischen Arbeitern Maschinen, den russischen Bauern Pflüge liefern werden, um von ihnen mit der Zeit Brot und Rohstoffe zu kriegen.
Nun, die europäischen Arbeiter sind noch nicht Herren in ihrem Hause. Die Fabriken und die Maschinen und alle Produktionsmittel, die sie geschaffen haben, befinden sich in den Händen der Kapitalisten. Und die Sowjetregierung weiß, dass die kapitalistische Welt gegründet ist auf „Soll und Haben“. Darum erklärt die Sowjetregierung: Wir brauchen das Weltkapital, und darum müssen wir ihm das geben, was das Ziel seiner wirtschaftlichen Tätigkeit ist, wir müssen ihm Profit geben. Um neue Kredite, die uns notwendig sind, zu erhalten, müssen wir die alten Schulden anerkennen; um unsere wichtigsten Industriezweige, die in unseren, den Händen des russischen Staates bleiben müssen, zu beleben, müssen wir einen Teil der Fabriken den Kapitalisten der Welt in Pacht geben; um die Naturschätze Russlands heben zu können, müssen wir einen Teil dieser Naturschätze an das ausländische Kapital verpachten. Narren, die sich Kommunisten nennen, sogar radikale Kommunisten nennen, haben uns deshalb des Verrats am Proletariat geziehen. Gute, wohlmeinende Leute haben uns gefragt, ob wir nicht sehen, welche Gefahren uns daraus erstehen. Den radikalen Schreihälsen antworten wir: Zeigt uns einen andern Weg! Könnt Ihr uns helfen mit Maschinen und Pflügen, oder soll Eure Hilfe nur im Phrasengedresch bestehen? Und den wohlmeinenden Warnern sagen wir: Wir sind ein hartes Volk von Kämpfern und haben die Gefahren zu würdigen gelernt im Kampfe, wo von einer Entscheidung die Schicksale unserer Republik abhingen. Glaubt Ihr, dass wir jetzt, aus Vertrauen zum Weltkapital, den Weg beschritten haben, der sich neue ökonomische Politik nennt? Kennt Ihr Wege der Revolution ohne Gefahren? Bewusst der großen Opfer, die das arbeitende russische Volk bringen muss, bewusst der Gefahren, die ihm drohen auf dem neuen Wege, hat die Sowjetregierung ihn beschritten, und sie wird ihn solange ruhig und entschlossen gehen und gehen müssen, solange das Weltproletariat sie von diesem eisernen Muss nicht befreit, solange die europäischen Arbeiter nicht imstande sein werden, uns die technischen Mittel, ohne die jetzt kein Volk existieren kann, zur Verfügung zu stellen.
Das, was wir Ihnen, Genossen, sagen, das haben wir offen all den kapitalistischen Regierungen gesagt, mit denen wir verhandelten. Wir sagten ihnen: bisher bestand nur die kapitalistische Welt. Ihr konntet, wie weit und breit sie war, frei walten und schalten. Ihr habt den Weltkrieg gemacht, der die Weltrevolution geboren hat. Und nun stehen wir da, von Gnaden der neuen, von Euch in Bewegung gesetzten Kräfte, der erste von der Arbeiterklasse geleitete Staat. Wir haben eine Bresche geschlagen in das kapitalistische Staatensystem, wie einst die englische und dann die französische Revolution die erste bürgerliche Bresche im feudalen Staatensystem war. Ihr wolltet ums vernichten. Es ist Euch nicht gelungen, und jetzt fragen wir Euch: Wollt Ihr mit unserer Existenz rechnen, wie wir mit der Eurigen? Wir suchen einen Modus vivendi mit Euch, solange Ihr existiert. Die kapitalistische Welt wird uns in Genua antworten: Wir haben nichts gegen die Existenz der Sowjetregierung, wenn sie dem Kaiser gibt, was des Kaisers ist, wenn sie dem Weltkapital zurückerstattet, was des Weltkapitals ist. Was wird ihr die Sowjet-Diplomatie antworten? Genossen! Die Konferenz in Genua ist kein gelehrter Disput von Kommunisten mit Kapitalisten, sondern sie bedeutet Kampf, und Ihr alten Kämpfer wisst, dass man vor dem Kampfe dem Gegner öffentlich keinen Vortrag über die im Kampfe anzuwendende Taktik hält. Eure Vertrauensmänner sind informiert über alle Einzelheiten unserer Taktik. Die Vertrauensmänner der Gewerkschaften sitzen in unserer Genua-Delegation, und sie haben zusammen mit den Vertretern der Partei und der Regierung unsere Kampfesweise festgelegt, insoweit das vor der Konferenz möglich ist.
Aber diese diplomatischen Züge und Gegenzüge sind nicht einmal wichtig. Für die breiteste Arbeitermasse, für Euch, die Ihr ihre Seele seid, ist es wichtig, zu wissen: Was werden wir den Kapitalisten zugestehen und was werden wir von ihnen fordern.
Wir werden ihnen gegenüber die Verpflichtung übernehmen, die alten Schulden zu bezahlen, wenn sie unsere Regierung anerkennen, und wenn sie uns helfen, an die Arbeit zu gehen, die allein die Werte schaffen kann, mit welchen wir die alten Schulden bezahlen können. Aber indem wir diese Verpflichtung übernehmen, sagen wir den Kapitalisten offen: Der imperialistische Krieg und Euer Räuberfeldzug gegen Sowjetrussland haben das Land in den finanziellen Bankrott getrieben. Was habt Ihr davon, wenn Ihr uns eine Schuldenlast aufbürdet, die wir nicht zahlen können? Was habt Ihr davon, wenn wir Euch gegenüber auf dem Papier Verpflichtungen übernehmen, die wir nicht halten können? Handelt uns gegenüber, wie Kaufleute einem bankrotten Schuldner gegenüber handeln, wenn sie ihn nicht untergehen lassen wollen, weil sie, hoffen, wenigstens einen Teil der Schulden von ihm zurückzukriegen. Sie stunden zuerst die Zahlungen, bis er sich erholt hat und zahlen kann. Sie treffen mit ihm ein Übereinkommen, das die Schuld auf das Maß reduziert, das zu tragen möglich ist, und sie helfen ihm, die neue Arbeit zu beginnen, deren Früchte er mit ihnen zu teilen haben wird. Ihr müsst so vorgehen, um so mehr, als wir Eurem Schuldzettel den unsrigen entgegenstellen können, und um so mehr, als das der einzige vernünftige Ausweg ist, wenn Ihr auch nur einen Teil Eurer Schulden wiedersehen wollt.
Die kapitalistische Welt wird uns antworten: Ja, Ihr seid zwar finanziell bankrott, aber Ihr habt Fabriken und Schächte, die uns einmal angehört haben. Gebt sie zurück. Wir können ihnen darauf antworten: Die russische Revolution hat die Junker verjagt, den Grund und Boden zum Eigentum des Staates gemacht und den Bauern zur Bearbeitung übergeben, damit das russische Volk keine feudalen Blutsauger zu mästen hat. Und niemand wird nach den Erfahrungen der drei Jahre des Bürgerkrieges, in dem der Bauer mit den Waffen in der Hand seinen Grund und Boden verteidigt hat, wagen, zu versuchen, ihm den Grund und Boden aus den Händen zu reißen. Ihr glaubt, wie es scheint, dass der Arbeiter weniger tapfer die Fabriken verteidigen wird. Nun, wir raten Euch nicht, die Probe aufs Exempel zu machen. Aber ganz davon abgesehen: die Revolution hat nicht nur den Acker Russlands tief umgepflügt. Um uns zu verteidigen gegen Krieg und Blockade, um die Kriegswerkstätten instand zu bringen, die während drei langer Jahre uns ausrüsteten für unseren Kampf gegen Euch, haben wir die Fabriken zusammengelegt, haben wir aus zehn Fabriken eine gemacht. Und wenn Ihr die Hand ausstrecken wollt nach Euren Fabriken, so werdet Ihr vielerorts nur vier Wände finden. Eine Wiederkehr zu den alten Eigentumsverhältnissen ist unmöglich. Sie ist unmöglich aus dem Grunde, weil unser neues Gesetz der Nationalisierung der Industrie den neuen Notwendigkeiten des durch die russische Revolution geschaffenen Lebens entspricht. Die Wiederkehr zu den alten Eigentumsverhältnissen ist unmöglich, weil nur eine neue, großzügige Technik, die hinausgreift über die alten Schranken des Eigentums, Russland wieder neu aufbauen kann. Ihr könnt in Russland Profite einheimsen; sie Euch zu gewähren, sind wir bereit, aber wir sind nicht gewillt, die Errungenschaften der Revolution aufzugeben. Nicht Denationalisierung, sondern Pacht und Konzession, das ist der Boden, das ist die Grenze unserer Zugeständnisse.
Wir wissen nicht, was uns die kapitalistische Welt in Genua antwortet. Wir sind gefasst auf das Unvernünftigste, weil diese kapitalistische Welt, die von der Geschichte zum Tode verurteilt ist, sich schwer zur Vernunft durchringen kann.
Aber, was sie uns auch heute antworten wird, letzten Endes entscheiden wird das Kräfteverhältnis, entscheiden wird die Frage, dass das internationale Kapital Russland als Absatzmarkt und Rohstoffquelle braucht, entscheiden wird die Tatsache, dass man hundertundfünfzig Millionen Menschen nicht behandeln kann wie eine Wüstenei. Denn überlässt die kapitalistische Welt Russland sich selbst, dann kann sie an keinen Frieden und an keinen Wiederaufbau denken.
Wenn in den kapitalistischen Städten tausend Arbeitslose demonstrieren, so schwingen die Polizisten gegen sie die Gummiknüppel und zerstreuen sie. Wenn zehntausend Arbeitslose sich in Bewegung setzen, dann wird ihnen eine Kavallerieabteilung entgegengesandt. Wenn die kapitalistische Welt ein großes Volk arbeitslos machen wollte, so würde sie gegen dies Volk ganze Armeen mobilisieren müssen. Sie hat es schon versucht und sie hat den Kampf verloren. Zerklüftet in einander feindliche Lager, hat sie zu befürchten, dass wir uns mit dem Feinde jedes Staates verbünden werden, der uns auszuhungern versuchen wird. Wir werden uns nicht nur mit dem Beelzebub, sondern auch mit seiner Großmutter verbinden, wenn es sich darum handeln wird, die Rechte, für die die russische Arbeiterklasse, für die die Rote Armee geblutet und gehungert hat, zu verteidigen. Hungrig und arm geht Sowjetrussland nach Genua.
Aber es geht mit dem Bewusstsein, dass ein Volk von 150 Millionen nicht ins Joch gebeugt wird, wenn es sich verteidigen will. Kühl denkend, zu Zugeständnissen bereit, geht Sowjetrussland nach Genua, um der kapitalistischen Welt den Waffenstillstand und den Frieden anzubieten. Es wird von dieser Welt abhängen, ob sie unser Angebot annimmt. Wird sie es abschlagen, nun, dann werden wir weiter hungern und weiter kämpfen, und unser wird der Sieg sein, denn wir stellen das neue Leben dar, denn wir haben den Schrei in die Welt gestoßen, der der Schrei der neuen Epoche ist, die begonnen hat an dem Tage, wo die Kanonen des Weltkrieges den Schlaf der kapitalistischen Welt verscheucht haben.
Den Kampf, den die Sowjetregierung in Genua führen wird, den Kampf, den sie nach Genua vielleicht mit andern Waffen zu führen genötigt sein wird, werden Millionen und aber Millionen von Arbeitern und nicht nur von Arbeitern mit tiefer Sympathie verfolgen, und sie werden uns in diesem Kampfe unterstützen. Als wir drei Jahre lang für die Erhaltung der Diktatur kämpften, unterstützten uns nicht nur die kommunistischen Arbeiter, die mit uns einer Meinung waren über die großen Fragen der Geschichte und ihrer Lösungswege. Es unterstützten uns die nüchternen englischen Arbeiter, die keine Kommunisten waren, und es unterstützten uns alle die, deren Herz warm wurde bei der Nachricht von den unerhörten Opfern, die die russischen Arbeiter brachten für die Sache ihrer Befreiung. Nun, wir sind überzeugt, die Massen, die uns heute im Kampfe unterstützen werden, werden viel größer sein, obwohl es uns noch nicht gelungen ist, unser großes Ideal zu verwirklichen. Denn drei Jahre sind verflossen, seitdem die kapitalistische Welt der Erde den Frieden verkündet hat, und diese drei Jahre haben Millionen und aber Millionen Menschen gezeigt, dass der Kapitalismus keinen Frieden und kein Brot geben kann. Und damit komme ich zum dritten Teil meines Vortrages, damit komme ich zu der Frage der Aufrichtung der einheitlichen Kampffront des Proletariats trotz aller Differenzen, die es spalten.
Diese Frage ist nicht erst aufgetaucht bei der Nachricht von der Konferenz in Genua. Zum ersten Mal wurde sie von uns aufgeworfen in Deutschland im Januar des Jahres 1921, als es galt, die sich anbahnenden proletarischen Bewegungen zusammenzufassen zum Kampf um ein Stückchen Brot. Damals richtete die Kommunistische Partei Deutschlands den bekannten Offenen Brief an alle Gewerkschaften und die beiden sozialdemokratischen Parteien mit dem Vorschlag, gemeinsam für den Kampf um die nächsten proletarischen Interessen einzutreten. Der III. Kongress der Kommunistischen Internationale hat im Juli diesen Schritt, der im ersten Augenblick so befremdlich aussah, so fremd unserer bisherigen Taktik, gutgeheißen und den andern kommunistischen Parteien zur Nachahmung empfohlen.
Im Oktober hat die Exekutive der Kommunistischen Internationale darüber beraten, wie diese einheitliche Front international zu erstreben sei. Die erweiterte Sitzung der Exekutive, die eigentlich ein gekürzter vierter Kongress war, hat endgültige Beschlüsse in dieser Frage angenommen. Und die Genua-Konferenz, die ein Kampffeld darstellt nicht nur für die Interessen der russischen, sondern der internationalen Arbeiterklasse, hat diese Entscheidungen beschleunigt, denn sie hat die Frage aufgeworfen: Soll das internationale Proletariat dem neuen Versailles ebenso ohnmächtig gegenüberstehen, wie es ohnmächtig den Verhandlungen über den Schandfrieden von Versailles im Jahre 1919 gegenüberstand? Manche unserer Gegner sagen: Die Losung der Einheitsfront ist ein neues Manöver der Sowjet-Diplomatie, die Hilfe sucht für Genua. Die knappen Tatsachen, die ich über die Geschichte dieser Frage mitteilte, strafen diese Behauptungen Lüge. Die anderen Gegner sagen: Es ist ein tückisches Manöver der Moskowiter, um im trüben Wasser zu fischen, um neue Spaltungen in der europäischen Arbeiterbewegung durchzuführen. Manche unserer Freunde fürchten umgekehrt, die Losung der Einheitsfront sei der erste Schritt zur Wiedervereinigung mit der verräterischen Sozialdemokratie, mit der 2. Internationale und den schwankenden Gestalten der 2½. Genossen, es handelt sich hier um einen neuen Abschnitt unserer Geschichte, es handelt sich hier um große Dinge, bei denen die kleine Schlauheit versagt; die man mit vollkommener Offenheit historisch beleuchten muss, die man sich in ihrer ganzen Tragweite zum Bewusstsein bringen muss, wenn man selbst nicht betrogen sein will. Ich will sie darum in der Perspektive der Entwicklung der Weltrevolution und der Kommunistischen Internationale geschichtlich mit vollkommener Offenheit vor Euch aufrollen, wie es die Größe der Frage verlangt.
Die Einheitsfront des Proletariats
Die russische Revolution war die erste Welle der Weltrevolution. Sie war die Antwort des Weltproletariats auf den Krieg, auf das Weltkapital, von dem Lande gegeben, wo die kapitalistische Organisation am schwächsten war und wo das Proletariat auf die Hilfe des nach Brot und Frieden lechzenden Bauerntums rechnen konnte. Die russische Revolution war die erste Bresche, die das Proletariat in die Fronten des Weltkrieges geschlagen hat. Ein Jahr später brach der deutsch-französische Teil dieser Front zusammen. Auf diesen Zusammenbruch erfolgte die Revolution in Deutschland und in Österreich, und es schien eine Zeitlang, dass diese Revolution die Bresche in dem kapitalistischen System ausbreiten und ausweiten würde, die die russische Revolution geschlagen hat. Aber leider war die deutsche und österreichische Revolution in viel geringerem Maße ein Resultat des Aufbäumens des Proletariats als des Zusammenbruches der besitzenden und herrschenden Klasse. Auch fehlte es dem deutschen und österreichischen Proletariat an jedem Verbündeten im Lager der Bourgeoisie. Umgekehrt, die Bourgeoisie hatte in seinem Lager, in dem Lager des Proletariats, mächtige Verbündete in den Führern der Gewerkschaften, in den Führern der sozialdemokratischen Parteien. Und so konnte und so musste es kommen, dass das deutsche Proletariat, nachdem es für einen Augenblick die Macht ergriffen hatte, sie wankelmütig und schmählich der Bourgeoisie zurückgab und ruhig zusah, wie diese sich zu befestigen begann. Nur eine Minderheit des deutschen und österreichischen Proletariats kämpfte dagegen. Und trotzdem war die Lage der internationalen Bourgeoisie zur Zeit des Abschlusses des Versailler Friedens mehr als unterminiert. Es war eine Situation auf einem Vulkan. Das empfanden die Führer der Bourgeoisie, die sich in Versailles versammelt hatten, ausgezeichnet. Meynard Keynes, der Teilnehmer dieser Konferenz, schrieb in seinem Buche über den Versailler Frieden über die Atmosphäre, in der diese Konferenz stattfand:
„Paris war wie ein böser Traum, und jeder Mensch dort war ein Kranker. Eine Ahnung von dem bevorstehenden Zusammenbruche hing über der leichten Bühne. Die Wertlosigkeit und Kleinheit des Menschen vor den großen Ereignissen, die Mischung von Wirklichkeit und Unwirklichkeit in den Entscheidungen, Leichtsinn, Blindheit und Unverschämtheit, wirres Geschrei von draußen, alle Elemente der antiken Tragödie waren da. In der Tat, wenn man unter den theatralischen Dekorationen der französischen Staatszimmer saß, konnte man fragen, ob die außerordentlichen Gesichter Wilsons und Clemenceaus mit ihrer gefrorenen Farbe und ihrem unveränderlichen Ausdruck überhaupt Menschengesichter waren und nicht die tragikomischen Masken irgend eines seltsamen Dramas oder Puppenspiels.
So stehen wir in Europa vor dem Schauspiel einer außerordentlichen Schwäche der großen Kapitalistenklasse, die aus dem industriellen Triumph des 19. Jahrhunderts hervorging und noch vor wenigen Jahren unser allmächtiger Beherrscher schien. Die Angst und der persönliche Kleinmut der Angehörigen dieser Klasse ist augenblicklich so groß, ihr Vertrauen auf ihre Stellung in der Gesellschaft und auf ihre Notwendigkeit für deren Gefüge so gesunken, dass sie leicht zum Opfer jedes Einschüchterungsversuches werden. Vor fünfundzwanzig Jahren war es in England nicht so, ebenso wenig wie jetzt in den Vereinigten Staaten. Damals glaubten die Kapitalisten noch an sich, an ihre Bedeutung für ihre Gesellschaft, an die Zweckmäßigkeit der Fortdauer ihres Daseins im Vollgenuss ihrer Reichtümer und des unbeschränkten Gebrauches ihrer Macht. Jetzt zittern sie vor jedem Angriff.“
Und ein konservativer englischer Journalist, Dillon, der die Versailler Verhandlungen sehenden Auges in Paris verfolgt hat, schreibt in seinem Buche über die Versailler Konferenz:
„Die Soldaten, die vom Kriege zurückgekehrt waren, glaubten, dass sie wie Helden empfangen würden.
Und sie fanden eine Lage, als wären sie Mitglieder eines besiegten Volkes. Das Essen, das der Soldat fünf Jahre lang an der Front gekriegt hatte, war seit dem Waffenstillstand das Privileg der Kapitalisten und Kriegsprofitler … Gleichzeitig standen Gegenstände des ungezähmten Luxus und Beispiele einer unerhörten Verschwendung tagtäglich vor den Augen der verarmten Massen, die die Nation gerettet haben und die forderten, dass sie es anerkenne. Feste, Prachtfrühstücke, Bälle, die kein Ende nahmen, alles das zeigte die Stimmung und die Lage der Bourgeoisie und stach in die Augen der Soldaten. Wie kann es eine Gerechtigkeit in der Welt geben, fragten sie, wenn man so schnell die heroischen Taten vergisst … Die Soldaten murrten. Vom Ausbruch des Krieges an sind sie einer großen geistigen Umwälzung unterlegen.
Im Hexenkessel der gewaltigen Weltkrise haben sie das Gefühl der Zufriedenheit mit der bestehenden Ordnung verloren und mit der Stellung, die ihre Klasse einnahm in der Welt. Sie haben dem Tode ins Antlitz geschaut, und sie fühlten in sich ein versengendes Feuer. Die Entsagung hat dem Gefühl der Rebellion Platz gemacht. Der demobilisierte Soldat hat seinen kriegerischen Geist bewahrt. Er lebte in der Atmosphäre des Schützengrabens. Er hat das Gefühl der Angst und der Achtung vor den andern verloren … Er war überzeugt von der Bedeutung seiner Klasse, in der er den Atlas sah, der die Republik und ihre Weltbedeutung auf seinem Rücken trug. Und mit diesem seinen eigenen Wert, der durch unerhörte Verdienste bewiesen wurde, verglich er den niedrigen Preis, den ihm die beimaßen, die bisher den Staat darstellten. Die sattgefressenen, faulen, egoistischen Gelderoberer, die jetzt die Erfolge seiner Arbeit einheimsten … Wir haben die Nation gerettet, wir können auch unsere Klasse retten. Wir haben dazu die Kraft. Warum sollen wir sie nicht anwenden? Die Ziele der sozialen Schicht, aus der die demobilisierten Soldaten stammten, wurden immer klarer, je mehr das Bewusstsein ihrer Gesamtkraft wuchs … Die Zeit des Waffenstillstandes auf dem Kontinent war die Zeit, in der die gefährlichste soziale Krankheit der zivilisierten Staaten reifte.“
Die Lage in allen Ländern war außerordentlich revolutionär. Millionen und Abermillionen sind aus dem Kriege zurückgekehrt, und sie fanden dort die alte Unterjochung und sie haben dort die alte Knechtschaft gefunden. Und sie zerrten an den Ketten und sie zerrten an den Gittern. Der Kapitalismus erlebte eine ungeheure Krise. Seine herrschenden Klassen waren desorganisiert, nicht angepasst an die neuen Bedingungen, aus der Bahn gebracht. Die beherrschten Massen waren aus dem alten Geleise ihrer Abhängigkeit herausgeworfen. Es war eine große Frage, ob es gelingen würde, sie in die alte Knechtschaft zurückzudrängen. Wer behauptet, dass es eine Utopie war, zu versuchen, diese große Krisis des Kapitalismus auszunützen, um ihn über den Haufen zu werfen, der sucht nur zu verhüllen, dass er den Aufgaben, vor die die Geschichte die Arbeiterklasse gestellt hat, nicht gewachsen war. Dass die Krise des Jahres 1919 vorüberging, ohne dass es gelang, in einer Reihe von Ländern die Arbeiterklasse zum siegreichen Sturm gegen die Bourgeoisie zu führen, das ist in erster Linie ein Resultat der Politik der sozialdemokratischen Parteien und der Führer der großen Gewerkschaftsverbände. Ihnen verdankt das Weltkapital in erster Linie, dass es im Jahre 1919 gerettet worden ist. In der Arbeiterklasse gärte es, aber es fehlte ihr die Zielsicherheit, es fehlte ihr die leitende Organisation, es fehlte ihr der Elan, der nur entsteht, wenn sie die Empfindung hat, geschlossen, zusammengefasst und geführt zu sein. Und dass dies alles fehlte, das war in erster Linie das Werk der Sozialdemokratie und der Gewerkschaftsbürokratie. Sie suchten den Arbeitern zu beweisen, dass der Gedanke an den Sieg eine Utopie ist, sie suchten der Arbeiterklasse zu beweisen, dass nicht die Zertrümmerung des Kapitalismus, sondern dass seine Reform, seine Demokratisierung die Aufgabe des historischen Augenblickes ist. Sie redeten den Arbeitern ein, dass es möglich sei, unter der Herrschaft der Bourgeoisie eine vollkommene Demokratie durchzuführen, und dass unter den Fittichen dieser Demokratie die Arbeiterklasse zwar langsam, aber dauernd ihre Lage verbessern könne. Sie stellten die Kommunisten als Abenteurer, Verbrecher oder Phantasten hin, sie suchten sie mit allen Mitteln von den Arbeitermassen abzusondern. Sogar der heroische Kampf des russischen Proletariats ward ein Objekt der Angriffe seitens der Führer der sozialdemokratischen Partei. Sie brachten es so weit, dass die großen Massen der Arbeiterklasse, die im Kriege die Bedeutung der Organisation gelernt hatten, jetzt natürlicherweise große Angst empfanden, sich von dieser Organisation abzuwenden, sie zu zertrümmern. Umgekehrt, sie strömten in Millionen den Organisationen zu, um aus ihnen ihre Kampfeswaffe zu machen, aber diese Organisationen banden ihre Energie, diese Organisationen hatten nur eine Sorge, die Arbeitermassen von jedem Kampfe zurückzuhalten. Ja, im Namen dieser Organisationen schlossen die Gewerkschaftsführer die Abkommen mit den Unternehmern, deren Hauptzweck es war, jeden Kampf der Arbeiterklasse unmöglich zu machen.
In dieser Situation hatte die Kommunistische Internationale zwei Aufgaben: die kleinen proletarischen Minderheiten zurückzuhalten von dem aussichtslosen Sturm und gleichzeitig aus diesen kleinen, noch wirren, noch nicht des Umfanges ihrer Macht bewussten Minderheiten eine kampffähige Avantgarde des Proletariats zu schaffen. Die Kommunistische Internationale musste in allen proletarischen Parteien versuchen, die zu ihr gehörenden Elemente an sich zu ziehen und zusammenzufassen, sie musste diese Elemente aussondern aus den sozialistischen Parteien, aus ihnen geschlossene kommunistische Parteien formen. Diese Aufgabe gelang der Kommunistischen Internationale. Sie hat in dreijähriger unermüdlicher Arbeit die revolutionären Elemente der sozialdemokratischen Parteien an sich gezogen, zu separaten kommunistischen Parteien ausgebildet. Sie hat aus ihren Reihen alle abgestoßen, die unfähig waren, eine realistische Politik zu treiben, die unfähig waren, zu verstehen, dass angesichts des Verrates der sozialdemokratischen Parteien und der Gewerkschaftsbürokratie, dass angesichts der Tatsache, dass die Mehrheit der Arbeiterklasse diesen Parteien folgt, der Augenblick des Kampfes um die Macht noch nicht gekommen ist. Die Gegner wüteten über unsere Spaltungstaktik, und sie verhöhnten den Klärungsprozess in den Reihen der kommunistischen Parteien als einen Wirrwarr, als einen Zersetzungsprozess. Das Geschrei und der Hohn berührten uns nicht. Wir wissen, dass der Feind schreit, wenn ihm Abbruch getan wird, und dass er höhnt, um zu verwirren. Wir gingen unseren Weg und wussten, dass er der richtige ist. Wenn man in den Kampf ziehen will, muss man ein Ziel, eine Armee und Waffen haben. Das Ziel hatten wir, es war uns gegeben durch die ganze Sachlage, durch den unentrinnbaren Zerfall des Kapitalismus. Die Waffen hat die Masse in dem Moment, wo sie sich wirklich in Bewegung setzt, ihre Waffe ist ihre Masse und ihre Rolle in der Produktion. Aber damit diese Masse zu einer kämpfenden Armee wird, muss sie gegliedert, organisiert und vom Geist erfüllt sein. Für alle diese Zwecke war es notwendig, Kader zu bilden, um die sich die Masse gruppiert, die in dieser fluktuierenden Masse das zusammenhaltende Gebälk bilden: kommunistische Parteien. Was die Gegner Spaltung der Arbeiterklasse nannten, war die Aussonderung des harten eisernen Metalls aus ihr. Was sie Zersetzung nannten, war die Verwandlung des Eisens in Stahl, in Stahl für Kämpfe. Und bald sollte es den breitesten Massen klar werden, dass sie ohne Kämpfe nicht auskommen können.
Die Sozialdemokratie und die Gewerkschaftsbonzen haben der Bourgeoisie geholfen, ihre Herrschaft zu retten. Sie ging deshalb, als nun der Krieg zu Ende war, mit voller Energie an die Ausnützung ihres Sieges, an die kapitalistische Arbeit. Der Krieg, während dessen Dauer nur für die Bedürfnisse des Militarismus gearbeitet worden war, bat einen Heißhunger nach Waren erzeugt. Die Kapitalisten konnten ihre Waren absetzen, welche Preise sie auch forderten. Bei den Arbeitermassen hatten sich Ersparnisse aus den hohen Kriegslöhnen gesammelt, bei den Bauern lagen in den Truhen Berge von Papiergeld, das sie zusammengewuchert hatten im Schieberhandel mit Lebensmitteln und Produkten. Es setzte eine Scheinkonjunktur ein, die es vergessen bzw. vorübergehen ließ, dass die Welt durch den Krieg verarmt und verwüstet war und dass der Friede von Versailles sie noch mehr desorganisierte. Bis zur Mitte des Jahres 1920 dauerte diese Hochkonjunktur, die neue Illusionen bei der Arbeiterklasse erweckte, als ließe es sich trotz alledem und alledem irgendwie leben in der baufälligen Bude des Kapitalismus, als ließe sich diese Bude noch ausbessern und in ein wohnliches Haus verwandeln. Aber seitdem, von Japan ausgehend, die neue Weltwirtschaftskrise begann, seitdem die Arbeitslosigkeit in den kapitalistisch entwickeltsten Ländern rapid zunahm, stand wieder die Frage: was weiter? vor den Massen. Was stellt diese Weltwirtschaftskrise dar? fragen sich die Vorderreihen dieser Massen des Proletariats. Ist eine der gewöhnlichen kapitalistischen Krisen, deren Dauer allein ihre Überwindung in sich trägt? Ist es eine Krise des an Kräften zunehmenden Kapitalismus, der an die Enge der Absatzmärkte gestoßen ist? Nein, antworten die Tatsachen. Es ist die Krise des kapitalistischen Systems, das eine halbe Welt verwüstet hat, und darum sogar auf geschmälerter Basis nicht existieren kann. „Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass das wirtschaftliche Grundproblem eines vor ihren Augen verhungernden und verfallenden Europas die einzige Frage war, für die es nicht möglich war, die Teilnahme der großen vier Führer der Versailler Konferenz zu erwecken“, – schrieb Keynes in seinem Buche über den Versailler Friedensvertrag. In der Weltwirtschaftskrise, in der wachsenden Arbeitslosigkeit wandte sich dieses verhungernde Europa an den einen Großen, der in Versailles abwesend war: an das Weltproletariat. Und es bedroht ihn mit dem Hungertode, wenn er nicht aufsteht, wenn er die Welt nicht in seine Fäuste nimmt.
Noch bedeutet die Arbeitslosigkeit für die Massen in Amerika und England nicht den letzten Hunger. Sie haben aus dem Stundenlohn, den ihnen das Weltkapital zahlte für die Hilfe im Kriege, einen Sparpfennig weggelegt, von dem sie jetzt zehren. Aber was dann, wenn diese Sparpfennige aufgezehrt sind? Noch erlaubt die Zerrüttung der Weltwirtschaft dem Kapital Deutschlands, zu wuchern, zu wuchern mit der billigen Arbeitskraft des deutschen Proletariats, Profit zu machen durch die Auspowerung und den Ausverkauf Deutschlands. Es rauchen die Fabrikschornsteine, die Maschinen summen, und der Arbeiter kriegt das Drittel, die Hälfte seines Vorkriegslohnes. Aber gleichzeitig wächst die Teuerung, es wachsen die Steuern, und die graue Sorge ist der einzige Gast im Arbeiterhause.
Die Zeit der Not der Arbeiterklasse, die Zeit der Arbeitslosigkeit, die Zeit, wo die „Hände“ zittern vor der Aussicht, keine Beschäftigung mehr zu finden, nützt das Weltkapital zu einer groß angelegten Offensive gegen die Arbeiterklasse aus.
In der ganzen Welt verkürzen die Kapitalisten die Löhne, suchen den Achtstundentag, die Haupterrungenschaft der Nachkriegszeit, aufzuheben. Im Jahre 1919 suchten die Bergarbeiter in England die Nationalisierung der Kohlengruben zu erzwingen. Die englische Regierung suchte sie damit zu beschwichtigen, dass sie die Sankey-Kommission einsetzte, die mit ihnen die Frage „diskutieren“ sollte. Jetzt „diskutieren“ die Bergarbeiter mit den Kapitalisten im siebenwöchigen Streik darüber, ob sie Hungerlöhne kriegen sollen. Die Arbeitslosigkeit und die Streiks, weißgeblutete Gewerkschaften, deren Führer im Jahre 1919 den Kapitalisten geholfen haben, die Arbeiterklasse Englands ins Joch zurückzuführen. Im Jahrbuch der Daily Mail für das Jahr 1922 schreibt der bürgerliche Abgeordnete Franc Rose in einer Übersicht über die Lage der Arbeiterklasse:
„Die unerhörte Last der Arbeitslosigkeit leerte die Kassen der größten Gewerkschaften und machte sie unfähig zum Widerstand gegen die Forderungen der Arbeitgeber, in jedem Industriezweig große Lohnkürzungen durchzuführen. Die finanziell solideste und reichste englische Gewerkschaft „The Amalgamated Engeneer Union“, hat über 34 Prozent arbeitslose Mitglieder, manche Sektionen der Weber in Lancashire haben über 80 Prozent Arbeitslose. Die Stahl- und Eisengewerkschaft hatte dank dem vollkommenen Ausblasen der Öfen in verschiedenen Distrikten überhaupt keine beschäftigten Mitglieder.
Darum gibt es fast keinen Widerstand gegen die Herabsetzung der Löhne.“
Von der Niederlage und über die Niederlage der Triple-Allianz im Kohlenstreik sagt derselbe Verfasser, dass diese einen moralischen Bankrott erlitt. Und dasselbe sagen die englischen Arbeiter. Und wie ist die Lage in Deutschland? Womit endete der letzte Eisenbahnerstreik? Er endete mit der materiellen Niederlage der Eisenbahner und mit der größten moralischen Niederlage der Gewerkschaften, die auf der Seite des kapitalistischen Staates gegen die Arbeiter kämpfen. Was steht bei diesen Niederlagen auf dem Spiele? Warum werden die Arbeiter diese Niederlagen nicht dulden? Das ist eine Frage, die beantwortet werden muss, eine Frage, über deren Beantwortung die Arbeiterklasse immer mehr einig wird.
Das Weltkapital hat den Krieg verloren, denn der Krieg, geführt zwecks Bereicherung des Kapitalismus, hat diesen außerordentlich geschwächt, in seinen Grundfesten erschüttert; nicht nur die besiegten Länder, sondern auch die siegreichen sind aus ihm viel ärmer herausgekommen. Alle kämpfen mit den größten inneren und äußeren Schwierigkeiten. Die Gegensätze der kapitalistischen Welt sind nicht gemildert, sondern verschärft, und immer klarer wird es, dass die kapitalistische Welt weder aus noch ein weiß. Sie steht vor der Frage, wie die erschütterte, aus den Fugen geratene Weltwirtschaft einzurenken ist. Die kapitalistischen Gruppen der Siegerländer glaubten anfangs, dass sie sich auf Kosten der Besiegten wiederherstellen werden. Das hat sich als eine große Illusion herausgestellt. Die besiegten Länder sind bankrott und könnten die Mittel zur Wiederherstellung der siegreichen nicht hergeben. Da bleibt der Bourgeoisie nur ein Ausweg übrig: international zu versuchen, sich auf Kosten der Arbeiterklasse zu retten. Es gilt jetzt, die Ausbeutung der Arbeiter in allen Ländern so zu steigern, dass aus ihren Knochen nicht nur die normalen kapitalistischen Profite herausgeschunden werden, sondern auch die Extraprofite, die notwendig sind für den Wiederaufbau der kapitalistischen Welt. Die Versuche der Lohnkürzung, der Verlängerung der Arbeitszeit in allen Ländern, sie bilden den Weg, auf dem das Weltkapital aus seiner Krise herauszukommen gedenkt. Die Offensive des Weltkapitals, die in allen Ländern begonnen hat und sich immer mehr entwickelt, bedroht die internationale Arbeiterklasse. Sie stellt sie vor die Frage, ob sie sich zurückwerfen lassen will, weit hinter ihre Lebenshaltung der Vorkriegszeit. Das ist, was auf dem Spiele steht, und diese kapitale Tatsache ist die Grundlage der geänderten Taktik der Kommunistischen Internationale. Die Arbeiterklasse ist noch heute getrennt durch tiefe Meinungsverschiedenheiten in der Frage Diktatur oder Demokratie, in der Frage, auf welchem Wege sie ihre endgültigen Ziele verwirklichen kann.
Aber in der Frage, ob sie verzichten soll auf das Stückchen Brot, auf eine menschliche Wohnung, ist die Arbeiterklasse nicht gespalten; in dieser Frage bildet sich allmählich eine geeinigte Front der Proletarier heraus. Dieselben Proletarier, die ruhig zuschauten, wie das Kapital wieder seine Herrschaft aufrichtete, dieselben Proletarier, die von der Erstarkung des Kapitalismus sogar eine Besserung ihrer Lage erhofften, sie sehen die wachsende Welle der Not, und sie wollen sich ihr entgegensetzen. Sie hoffen nur noch, den Abwehrkampf im Rahmen des Kapitalismus siegreich ausfechten zu können. Sie hoffen noch, der Notwendigkeit, revolutionär zu kämpfen, entrinnen zu können. Aber sie wollen das bisschen Milch ihrer Kinder verteidigen.
Sie wollen den Achtstundentag verteidigen. Sie wollen nicht, dass ihr Blut den Wundersaft darstelle, der den Kapitalismus wieder jung machen soll. In den Wirtschaftskämpfen, die über die kapitalistische Welt hinwegfluten, beginnt sich langsam die Einheitsfront des Proletariats zu bilden. Die Kommunistische Internationale, die Partei des proletarischen Interesses, sie kann diesen Tatsachen nicht gleichgültig gegenüberstehen.
Die Kommunistische Internationale ist die Vorhut des Proletariats. Sie kämpft um ihr Programm, um ihre Ideale als Minderheit der Arbeiterklasse. Sie kann diese Ideale nur verwirklichen, indem sie die große Mehrheit der Arbeiterklasse erobert. Sie kann diese Mehrheit nicht erobern durch bloße Propaganda ihrer Ideen. Nur indem sie versteht, sich zur Führerin der Arbeiterklasse in ihren Tageskämpfen zu machen, kann sie die Arbeiterklasse für ihre Ideen gewinnen.
Das entscheidende Element in diesem Kampfe um die Geister der Mehrheit der Arbeiterklasse bilden eben die Tageskämpfe des Proletariats; denn nur sie können die Arbeiterklasse lehren, die Notwendigkeit des Kampfes um die Diktatur zu begreifen. Nur in ihrem praktischen Kampf und nur durch ihn wird die große Mehrheit der Arbeiterklasse sich überzeugen, dass der Kapitalismus nicht imstande ist, auch die dürftigsten Bedürfnisse des Proletarierlebens zu befriedigen. Nur in diesen Kämpfen wird die Arbeiterklasse sich überzeugen, dass der Kampf um ihre Interessen die Eroberung der politischen Macht, die Aufrichtung der proletarischen Diktatur erfordert. Die Teilnahme der Kommunisten an dem Kampf der Arbeiterklasse gegen die Not des Tages bedeutet kein Hinuntersteigen von den Höhen des revolutionären Kampfes in die Niederungen der opportunistischen Politik, sondern bedeutet das Hinaufführen des Proletariats zu den Höhen des revolutionären Kampfes. Entweder ist es wahr, was wir behaupten, dass der sich zersetzende Kapitalismus nicht imstande ist, auch die bescheidensten Bedürfnisse der Arbeiterklasse zu befriedigen – und es ist wahr –, dann trägt der Kampf um diese Bedürfnisse in sich die Gewähr großer revolutionärer Kämpfe und dann wird die kommunistische Partei als die einzige konsequente Führerin in diesem Kampfe zur ausschlaggebenden Macht in der Arbeiterklasse; indem sie sich ruhig und entschlossen diesen Kämpfen widmet, wird sie vor eine Reihe neuer Fragen gestellt, die äußerlich befremdend aussehen und den Eindruck erwecken, als ob die neue Taktik die Partei ihrem historischen Wesen entfremden könnte, als ob sie imstande wäre, ihre Aussöhnung mit denen herbeizuführen, die von der Kommunistischen Internationale bisher als gefährliche Gegner des Proletariats angesehen worden sind. Es gilt, diesen Fragen auf den Grund zu gehen, damit unser Kampf einheitlich, konsequent und mit voller Energie geführt werde.
Der Abwehrkampf des Proletariats muss geführt werden durch die großen Massen der Arbeiter. Diese Massen sind in Westeuropa organisiert in Gewerkschaften, und sie gehören zum Teil den alten sozialdemokratischen Parteien an. Die erste Frage, die wir uns zu stellen haben, ist: Können wir diese Massen erobern im Gegensatz zu ihren Führern, der Gewerkschaftsbürokratie und der Bürokratie der sozialdemokratischen Parteien, oder ist unser Beginnen hoffnungslos, wenn sich ihm die alten Führer entgegensetzen? Diese Frage muss dahin beantwortet werden: Auf die Länge hin wird der revolutionäre Gedanke in der Arbeiterklasse siegen, auch wenn sich ihm die sozialdemokratischen Organisationen und die Arbeiterbürokratie entgegensetzen. Ja, die Überwindung der sozialdemokratischen Ideologie ist eine Vorbedingung des internationalen Sieges des Proletariats. Aber damit ist nicht gesagt, auf welchem Wege diese Überwindung stattfindet. Wenn es sich um die Feststellung dieses Weges handelt, so muss man vorerst sich die Frage stellen: Wie gelangen wir am leichtesten an die nicht-kommunistischen Arbeitermassen? Tun wir das am leichtesten, indem wir uns mit der Demaskierung der sozialdemokratischen Führer auf dem Wege der Propaganda begnügen, indem wir uns von jeder Berührung mit ihnen fernhalten? Es ist klar, dass dieser Weg der schlechteste wäre. Er würde den Verzicht auf den Versuch der Zusammenfassung der Arbeitermassen zum Kampfe bedeuten. Er würde bedeuten, dass wir handeln müssten, nur auf die Arbeiterschichten gestützt, die schon kommunistisch sind. Er würde bedeuten, dass wir die Arbeiterschaft zum Kampfe aufzufordern hätten, und falls sie nicht so konsequent von vornherein kämpfen würde, wie wir es wünschen, dass wir dann kritisierend beiseite zu stehen hätten. Die Arbeiterschaft würde dann in uns die Spalter ihres Kampfes sehen, Eigenbrötler, die, eingesponnen in ihre Theorien, nicht imstande sind, mit ihr zusammen die Notwendigkeit der Zusammenfassung aller Kräfte gegen die Offensive des Kapitals zu erfassen. Ganz anders ist es, wenn wir an die Arbeiterschaft herantreten, so wie sie ist, mit allen ihren Illusionen, mit all ihrer Unentschlossenheit, mit all ihrer Anhänglichkeit an die alten Führer und an die alten Ideen. Wenn wir sie zu erfassen suchen in dem Rahmen ihrer alten Organisationen. Wir haben diesen Weg in den Gewerkschaften seit jeher betreten.
Wir haben gekämpft nicht um die Zertrümmerung der Gewerkschaften, sondern wir haben versucht, die Gewerkschaften zu nötigen, den Kampf des Proletariats zu führen. Um dies zu erreichen, haben wir uns keinen Augenblick geweigert, uns an einen Tisch mit den reformistischen Führern der Gewerkschaften zu setzen, obwohl wir immer den Massen sagten, dass diese Gewerkschaftsführer, mögen sie persönlich sein, wie sie wollen, objektiv ihre Interessen auf Schritt und Tritt preisgeben, und wir können getrost sagen, diese unsere Politik hat überall die besten Erfolge gezeitigt. Dank dieser Politik haben wir in einer Reihe von Ländern große Teile der Arbeiterschaft, die bisher unserer Weltanschauung, unseren Kampfeszielen fremd gegenüberstanden, für uns erobert, und nichts erstrebt die Gewerkschaftsbürokratie energischer, als uns die Arbeit in den Gewerkschaften unmöglich zu machen; denn sie versteht es ausgezeichnet, dass, da sich die Lage der Arbeiterschaft immer mehr verschlechtert, da sich ihre Kämpfe verschärfen müssen, in diesen Kämpfen diejenigen Oberhand gewinnen, die energisch und mutig kämpfen wollen, über die, die jedem Kampfe ausweichen. Nun, die Kämpfe des Proletariats wachsen hinaus über den Rahmen der Einzelkämpfe der Gewerkschaften, über den Rahmen der Lohnbewegung. Sie werden immer mehr zu kämpfen haben gegen den kapitalistischen Staat auf dem Gebiete des Steuerwesens, auf dem Gebiete der Weltpolitik, die jetzt zum Kampfe um die wirtschaftliche Neuordnung der Welt wurde. Die Taktik, die wir in den Gewerkschaften führen, muss auf das Gebiet der Politik übertragen werden mit den Änderungen, die sich aus dem Wesensunterschiede der Gewerkschaften und der politischen Parteien ergeben. Die Gewerkschaften fassen die Arbeiterschaft ohne Rücksicht auf die Parteizugehörigkeit zusammen. Darum brauchten wir die Gewerkschaften nicht zu spalten, sondern wir suchten in ihrem Rahmen die Politik der Einheitsfront durchzuführen, indem wir sie durch unseren Druck von innen zu den Kämpfen um die Lebensnotwendigkeiten der Arbeiterschaft zu treiben suchten. Die politischen Parteien sind Kampfeseinheiten von Gesinnungsgenossen. Wenn wir unsere Gesinnungsgenossen zusammenfassen wollten, wenn wir sie zur wirklichen Gesinnungsgenossenschaft ausbilden wollten, so müssten wir die alten Parteien der Arbeiterklasse sprengen und die revolutionären Arbeiter in kommunistischen Parteien zusammenfassen. Wollen wir jetzt diese revolutionären Arbeiter in die gemeinsamen Kämpfe mit den anderen Proletariern führen, die im wachsenden Maße genötigt sein werden, ihre Illusionen aufzugeben, so stehen zwei Wege offen. Der erste Weg wäre die Verschmelzung der kommunistischen Parteien mit den sozialdemokratischen. Wir brauchen nicht erst auszuführen, dass dieser Weg ungangbar ist angesichts der tiefen Gegensätze, die uns von den sozialdemokratischen Parteien trennen. Solange das Proletariat nicht einen Willen und eine Erkenntnis von dem zu beschreitenden Weg in seinen Kämpfen sich erarbeiten wird, solange kann die parteipolitische Spaltung des Proletariats nicht verschwinden. Wer irgendwelche Illusionen darüber hat, schafft Verwirrung in den Reihen des Proletariats. Und wer Befürchtungen hat, dass die Kommunistische Internationale bei der jetzigen Spaltung der Geister eine Politik der Einigung der proletarischen Parteien für möglich halten könnte, der beweist, dass er niemals das Wesen der Kommunistischen Internationale in all seiner Tiefe erfasst hat. Der beweist, dass er die Tiefe der Krise nicht erfasst hat, die die Arbeiterbewegung seit dem Kriege erschüttert. Der zweite Weg, der übrig bleibt, ist der Weg der politischen Blocks der Parteien, die sich auf das Proletariat stützen, zum Zwecke der Erreichung der Einheit für die nächsten unaufschiebbaren Kämpfe. Diesen Weg hat die Kommunistische Internationale beschritten, und sie wird an ihm für absehbare Zeit festhalten. Das Ziel der Politik der Einheitsfront ist die Zusammenfassung des Proletariats für seine nächsten Abwehrkämpfe gegen die wachsende Teuerung, gegen die wachsende Arbeitslosigkeit, gegen die wachsende Belastung, die das Weltkapital dem Proletariat und den arbeitenden Massen der Welt überhaupt aufzuerlegen sucht.
Die deutsche Reparationsfrage, die Anerkennung Sowjetrusslands sind wie die Kämpfe gegen die Arbeitslosigkeit und Teuerung Teile ein- und desselben Problems, Teile des proletarischen Abwehrkampfes gegen die wachsende Versklavung und Verelendung. Die Narren, die da sagen, Sowjetrussland brauche die Einheitsfront, die Losung der Einheitsfront sei ein neues diplomatisches Manöver Sowjetrusslands, sind ebenso klug wie jene, die sagen, die Einheitsfront sei ein deutsches Manöver, denn Deutschland brauche eine moralische Unterstützung in seinem Kampfe gegen die Last der Reparationen. Und die einen wie die anderen Conan Doyles vergessen dabei nur eins, dass die Ruinen Deutschlands und die Ruinen Russlands nichts anderes bedeuten als die Steigerung der Arbeitslosigkeit, als die Steigerung der Not des internationalen Proletariats. Nun, sind die sozialdemokratischen Parteien fähig, zusammen mit uns eine Kampffront aufzurichten? Sind die sozialdemokratischen Führer, die Henderson, die Renaudel, die Scheidemann, fähig, Arm in Arm mit uns wenigstens um die nacktesten Lebensbedürfnisse des Proletariats zu kämpfen? Werden sie uns nicht abspeisen mit Versprechungen, wie sie tausendmal zu kämpfen versprochen haben, und werden sie dann nicht wieder verraten? Diese Fragen sind mehr als berechtigt. Wir haben nur geringe Hoffnungen darauf, dass die in Sünden ergrauten reformistischen Führer der Sozialdemokratie, selbst wenn sie tausend Hannibalschwüre leisten, ihr Wort halten, dass sie kämpfen werden auch nur um die einfachsten Notwendigkeiten der Arbeiterklasse. Aber es handelt sich nicht darum, zu spintisieren, was die sozialdemokratischen Führer wollen, sondern was sie tun müssen. Sie befinden sich unter dem steigenden Druck ihrer Arbeitermassen. Mögen sie noch so sehr den Kampf fürchten, mögen sie ihm tausendmal ausweichen wollen und ausweichen, immer mehr wird der Druck der hinter ihnen stehenden Arbeiter wachsen, immer klarer werden die Streitfragen, immer deutlicher kommt es den Arbeitermassen zum Bewusstsein, dass es nicht um Theorien geht, sondern dass es sich darum handelt, ob sie verhungern sollen, ob sie ausgeliefert werden sollen der wildesten Ausbeutung ohne einen Versuch, sich zu wehren.
Angesichts dieser Sachlage können die sozialdemokratischen Führer nicht ohne weiteres klipp und klar einfach die Bestrebungen nach der Einheitsfront des Proletariats ablehnen mit Schimpfkanonaden gegen die Kommunisten.
Mögen sie sogar unseren jetzigen Vorschlag nach der Einberufung einer internationalen Arbeiterkonferenz ablehnen.
Sie werden national genötigt sein, immer wieder Antwort darauf zu geben, wollen sie mit uns für die nächsten Interessen des Proletariats kämpfen, oder wollen sie bei der einfachen Frage nach einem Stückchen Brot mitkämpfen.
Die sozialdemokratischen Führer werden genötigt sein, eine Zickzackpolitik zu treiben, sie werden heute versuchen, die Einheitsfront durch Enthüllungen gegen die Kommunisten zu sabotieren, und sie werden morgen genötigt sein, mit den Zähnen knirschend sich an einen Tisch mit uns zu setzen. Sie werden übermorgen von diesem Tisch weggehen, der Arbeiterklasse in den Rücken fallen, um dann wieder, geängstigt durch die Folgen ihrer Politik, genötigt zu sein, wieder mit uns ein Stück Weges zusammenzugehen. Ob sie der proletarischen Einheitsfront zustimmen, ob sie als Lakaien der Bourgeoisie diese Einheitsfront verraten werden, jeder ihrer Schritte wird bei einer klaren unzweideutigen Haltung der kommunistischen Parteien, bei ihrem ehrlichen Kampfe um die Einheitsfront zu unseren Gunsten ausschlagen. In diesem Hin und Wider der sozialdemokratischen Parteien und ihrer Führer werden die hinter ihnen stehenden Arbeiter immer klarer ihre Politik verstehen lernen, und sie werden immer entschiedener genötigt sein, einzusehen, dass nur der Kommunismus der Leitstern ihres Kampfes sein kann. Das Herantreten an die Führer der sozialdemokratischen Parteien mit dem Vorschlag des gemeinsamen Kampfes um die gemeinsamen Interessen des Proletariats bedeutet nicht nur kein Zurückweichen, sondern umgekehrt, er bereitet dem Wachstum des Kommunismus, der Eroberung der Mehrheit der Arbeiterklasse für seine Ideen den Weg.
Die Führer der sozialdemokratischen Parteien beantworten solche eindeutigen Erklärungen unsererseits mit der Behauptung: Für die Kommunisten ist die Forderung der Einheitsfront ein rein taktisches Manöver. Sie wollen keinesfalls eine Einheitsfront. Sie sind nur bestrebt, Parteiinteressen zu schinden. Wir antworten darauf ruhig: Nun, durchkreuzt doch unsere Manöver, kämpft doch ehrlich um die Interessen der Arbeiterklasse! Wenn ihr mit der Vergangenheit brecht, wenn ihr ehrlich um die Interessen der Arbeiterklasse kämpft, dann werdet nicht nur Ihr als Partei durch unsere Manöver nichts verlieren, sondern dann wird der Weg gebahnt zur zukünftigen Einigung des Proletariats. Die das Proletariat spaltenden Meinungsunterschiede, sie sind nichts anderes als das Resultat des Verzichtes der sozialdemokratischen Parteien auf jeden Kampf um die Interessen des Proletariats. Wenn das Proletariat sich im Kampfe gegen die Bourgeoisie einigt, so wird es sich auch eine einheitliche Auffassung des Weges bilden, die die Grundlage seiner zukünftigen Einigung sein wird. Es hängt von den sozialdemokratischen Parteien und ihren Führern ab, ob sie in der Einheitsfront des Proletariats untergehen oder ob sie in sie eingehen werden als ihr wesentlicher Bestandteil.
Die Kommunistische Internationale hat der Initiative der 2½ Internationale nach Einberufung einer internationalen Arbeiterkonferenz zugestimmt und vorgeschlagen, diese Konferenz während der Genua-Konferenz mit Vertretern aller Staaten stattfinden zu lassen. Die Parteien der Zweiten Internationale suchen diese Konferenz zu sprengen, indem sie als Gegenleistung für die Teilnahme an der Konferenz von der Sowjetregierung fordern, sie solle auf den Kampf gegen die angeblich sozialistischen Parteien der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre verzichten, die sie zu stürzen suchen. Die Kommunistische Internationale wird verstehen, den Proletariern den Unterschied klar zu machen zwischen der Einigung zum Zwecke des Kampfes gegen das internationale Kapital mit Zugeständnissen an jene, die in Russland die Losung der Einigung ausnützen wollen, um für sich Freiheit zu erlangen zwecks Schwächung der einzigen revolutionären staatlichen Macht, die in Europa den Kampf gegen den Kapitalismus führt. Wenn es ihnen gelingt, die Konferenz zu sabotieren, so werden sie dadurch dem internationalen Proletariat einen großen Schaden zufügen, aber sie werden nicht imstande sein, sein Bestreben nach der Aufrichtung der Einheitsfront zu lähmen. Dieses Bestreben wird sich dann offen und klar von vornherein gegen sie wenden, und sie werden als Leichname aus dem Wege des kämpfenden Proletariats geräumt werden.