1907 // Artikel
Jakob Stern // Gott? Gottglaube oder Atheismus?

Gott? Gottglaube oder Atheismus?

1907

Jakob Stern: Gott? Gottglaube oder Atheismus?, Vorwärts, Berlin 1907.


Ursprung des Götterglaubens

Gott, im gewöhnlichen Sinn, bezeichnet ein unsichtbares Wesen, ewig und allmächtig, das die Welt geschaffen hat und regiert und die Menschen für ihre Taten und Gesinnungen belohnt oder bestraft.

Der Glaube an die Existenz dieses Wesens heißt „Theismus“ (lies The-ismus, vom griechischen theós = Gott). Die Verneinung oder Leugnung derselben heißt „Atheismus“ (ein vorgesetztes a hat im Griechischen verneinende Bedeutung, wie „un“ im Deutschen).

Wie entstand dieser Glaube? Der Gott des bestehenden Gott-Glaubens ist das Endprodukt einer langen, stufenreichen Entwicklung. In den Urzeiten entstand zuerst der Glaube an viele Götter, „Polytheismus“, vom griechischen poly = „viel“ (in zusammengesetzten Wörtern).

In den mannigfaltigen Erscheinungen und Gebilden der Natur, ganz besonders den gewaltigen, die menschlichen Kräfte überragenden, welche teils wohltätig, teils schädlich auf das Menschenleben einwirken, erblickte der Urmensch gute oder böse, bald zürnende, bald freundlich gesinnte Wesen, so wie das Kind sein Empfinden und Wollen auf leblose Dinge überträgt, die ihm Freude oder Schmerz verursachen; es vermenschlicht (personifiziert) sie, indem es ihnen Wohlwollen oder Übelwollen andichtet.

Die Naturdinge selbst in ihrer sicht-, greif- und fühlbaren Körperlichkeit, z.B. das Feuer, der Strom, der Sturmwind, die großen Raubtiere, waren die ersten Götter.

Weitere Wahrnehmungen und Beobachtungen führten aber vielfach dahin, den Gott von der Naturerscheinung abzulösen, in den Erscheinungen der Natur das Walten unsichtbarer, geheimnisvoller, menschenartiger Wesen, die in oder hinter denselben verborgen, zu erblicken. Über dem Feuer selbst waltete nun ein Gott des Feuers.

Nicht aus reinem Erkenntnisdrang kommen die Menschen dazu, die ihnen rätselhafte Natur auf die eine und andere Weise zu vermenschlichen, sondern ein praktischer Instinkt war daran wesentlich beteiligt. Neben der Unwissenheit haben Furcht und Wunsch die Götter geschaffen.

Man denke sich die Menschen der Urzeit. Sie haben sich hineingestellt in eine unerkannte, mit Schrecken aller Art gewappnete Urwelt, preisgegeben ihren Unbilden und den furchtbaren Ausbrüchen ihrer wilden, von der Zivilisation noch ungebändigten Launen; abhängig in ihrer Existenz von deren Gaben, welche die Natur heute und hier reichlich spendete und morgen und dort verdrossen und knapp hergab oder geizig verweigerte. Sie sahen sich heimgesucht und bedroht von Unwettern, Donner und Blitz, Feuer und Flut, Hagel und Frost und sengenden Gluten, von Unfällen und Krankheiten, umzingelt von blutdürstigen und giftigen Bestien usw. Und in den Sterbenden und Leichnamen zeigte ihnen der grause Tod sein grinsendes Antlitz. Nur mit äußerster Anstrengung waren sie meistens imstande, spärliche Nahrungsmittel zu erringen und wie oft war all ihre Mühe vergebens und der Hunger wühlte in ihren Eingeweiden und brennender Durst lechzte vergebens nach Erquickung.

Wenn der Mensch von Angst gequält, von heftiger Begierde gestachelt wird und sich ohnmächtig fühlt, jene zu bannen und diese zu stillen, kommt die Phantasie ihm zu Hilfe, die Illusion, und spiegelt ihm vor, was er ersehnt. Sind es auch taube Blüten, welche die Gauklerin hervorzaubert, Blüten, die niemals Früchte reifen, so erquickt doch ihr Anblick, ihr Duft, und bannt die Pein in seinem Herzen. Also schufen sich die Menschen Götter nach ihrem Ebenbilde, ihre Phantasie verwandelte die fühllosen Naturmächte in Wesen, die man wie Menschen mit Gaben (Opfern) und Bitten (Gebet) begütigen und sich günstig stimmen kann, versöhnen, wenn sie grollen, zur Freigebigkeit bewegen und als Helfer und Beschützer in Nöten gewinnen.

Die Annahme liegt nahe, daß diese Vorstellung von der zuerst vergötterten Tierwelt auf die leblose Natur übertragen wurde. Das Raubtier läßt von dem Angegriffenen ab, wenn er ihm einen Fraß vorwirft, und durch gute Fütterung wird der Ertrag an Produkten der Tierzucht quantitativ und qualitativ erhöht.

„Primus in orbe deos fecit timor“ – „Was zuerst die Welt mit Göttern bevölkert hat, war die Furcht“, lautet ein Spruch des altrömischen philosophischen Freigeistes Lucretius Carus (gest. 51 v. Chr.), und der neuere Philosoph Arthur Schopenhauer (gest. 1860) schreibt: „Der Theismus ist kein Erzeugnis der Erkenntnis, sondern des Willens. Wenn er ursprünglich theoretisch wäre, wie könnten sonst alle seine Beweise so unhaltbar sein? Aus dem Willen aber entspringt er folgendermaßen: die beständige Not, welche das Herz des Menschen bald schwer beängstigt, bald heftig bewegt und ihn fortwährend im Zustand des Fürchtens und Hoffens erhält, während die Dinge, von denen er hofft und fürchtet, nicht in seiner Gewalt stehen, ja der Zusammenhang der Kausalketten (Ursachen), von denen solche herbeigeführt werden, nur eine kurze Spanne weit von seiner Erkenntnis erreicht werden kann; diese Not, dies stete Fürchten und Hoffen bringt ihn dahin, daß er die Hypostase (Unterstellung) persönlicher Wesen macht, von denen alles abhinge. Von solchen läßt sich voraussetzen, daß sie gleich anderen Personen für Bitte und Schmeichelei, Dienst und Gabe empfänglich, also traktabler (leichter zu behandeln) sein werden, als die unerbittlichen, gefühllosen Naturkräfte und die dunklen Mächte des Weltalls. Das Wesentliche ist der Drang des geängsteten Menschen, sich niederzuwerfen und Hülfe anzuflehen in seiner häufigen kläglichen und großen Not. Damit also sein Herz die Erleichterung des Betens und den Trost des Hoffens habe, muß sein Intellekt ihm einen Gott schaffen; nicht aber umgekehrt, weil sein Intellekt auf einen Gott logisch richtig geschlossen hat, betet er. Laßt ihn ohne Not, Wünsche und Bedürfnisse sein, so braucht er keinen Gott und macht auch keinen.“ (Parerga I, 112)

Die Götter sind die personifizierten Mächte, die das Schicksal der Menschen beherrschen, von denen ihr Leben und sein Wohl und Wehe abhängig ist, wie Fr. Engels sagt (Anti-Dühring III, 5): „Alle Religion ist nichts anderes als die phantastische Wiederspiegelung, in der die irdischen Mächte die Form von überirdischen annehmen.“

Unwissenheit, rätselhafte, noch unverstandene Mächte, und Abhängigkeit von ihnen, verbunden mit dem Drang, sie den menschlichen Wünschen gefügig zu machen – die beiden waren gemeinschaftlich die Erzeuger der Götter.

Natur- und Stammesgötter

Sehr zutreffend fährt Engels in der angeführten Stelle fort: „In den Anfängen der Geschichte sind es zuerst die Mächte der Natur, die diese Rückspiegelung erfahren und in der weiteren Entwicklung bei den verschiedensten Völkern die mannigfaltigsten und buntesten Personifikationen durchmachen. Bald aber treten neben den Naturmächten auch gesellschaftliche Mächte in Wirksamkeit.“

Für die zu Horden, Geschlechterverbänden, Stämmen vereinigten Menschen bedeutet ihre Gruppe gleichfalls eine Schicksalsmacht, von ihrer Kraft und Schwäche, ihrem Gedeihen und Verfall, ihren Siegen und Niederlagen im Kampf mit anderen Gruppen ist das Dasein der einzelnen mehr oder weniger abhängig. Die Ursachen aber, welche das Auf und Nieder, Glück und Unglück der Gruppe bedingt, sind den Menschen der Urzeit vielfach nicht minder dunkel und rätselhaft als die Naturkräfte. So entstanden neben den Naturgöttern auch Stammes- und später nationale Götter. Auch ihnen wurden Opfer dargebracht, auch zu ihnen wurde gebetet, damit sie den Stamm schützen, segnen, aufblühen lassen, ihm Macht und Sieg verleihen über seine Feinde.

Jede menschliche Gemeinschaft, auch die primitiven Gentilverbände, beruht auf Satzungen, denen sich die Mitglieder zu fügen haben und deren Verletzung den Verband lockert und schädigt. Vielfach war ihr Ursprung unbekannt, da sie aus dem jeweiligen Bedürfnis herausgewachsen waren. Aber auch solche Satzungen oder Gesetze, die von Häuptlingen angeordnet wurden, schrieb man der Erleuchtung durch die Himmlischen zu, der Offenbarung, wie alles Außerordentliche. In den Satzungen bekundete sich der göttliche Wille; ihre Verletzung galt als Auflehnung gegen den Gott, der sie befohlen. Nicht selten mochten auch die Gesetzgeber den göttlichen Ursprung der Gesetze vorgespiegelt haben, um ihnen größere Autorität zu verleihen.

So trat zum Opfer und Gebet auch der Gehorsam, als weiteres Mittel, die Huld des Stammesgottes zu erringen. Wurde der Verband von innerem oder äußerem Unglück heimgesucht trotz reichlicher Opfer und brünstiger Gebete, so war solcher Ungehorsam daran schuld. Wie lang sich diese Auffassung erhalten hat, zeigen die alttestamentlichen Geschichtsbücher, die in geradezu kindischer Art jedes dem Volke Israel widerfahrene Unheil dem Ungehorsam gegen seinen Gott und Abfall von ihm zuschreiben.

In Bezug auf Siege und Niederlagen von Verbänden untereinander kam aber auch die Anschauung hinzu, daß der Gott des siegenden Verbandes mächtiger sei als der des unterlegenen, woraus sich wenigstens zum Teil der Hang zu dem, was die Bibel „Abgötterei“ nennt, erklären mag.

Mit der Verschmelzung kleinerer Verbände zu größeren, mehrerer Geschlechterverbände zum Stamm, zum Stämmebund, zu Staaten und Reichen, verschmolzen auch die einzelnen Gruppengötter nach und nach ineinander. Den Übergang bildete die Vereinigung ehemals isolierter Gruppengötter zu einer Gemeinschaft mehrerer Götter mit einem Oberhaupt, einer himmlischen Oligarchie (Herrschaft von wenigen, vom griechischen oligos = wenig), wofür die olympischen Götter der Griechen mit Zeus an der Spitze das klassische Beispiel geben. Denn jeder und jede dieser Olympier war früher eine Lokalgottheit für sich, und erst als die einzelnen griechischen Kantone in engere, aber immer noch lose Verbindung untereinander traten, vollzog sich auch die mythologische Organisation derselben mit entsprechender Arbeitsteilung (Zeus der Donnerer, Helios der Sonnengott, Aphrodite die Liebesgöttin usw.).

Übergang zum Monotheismus (Eingottglaube)

Die Verwandlung des Polytheismus zum Monotheismus (Monotheismus, vom griechischen mónos „allein“, „einzig“) vollzog sich erst mit dem Auftauchen der Weltreiche, als ein mächtiges Reich nach dem anderen entstand, das die übrigen Staaten der damals bekannten Welt sich unterwarf. Ähnlich wie in der Heiteren Legende von Abraham (der selbst eine bloß sagenhafte Figur) dieser alle Götterbilder seines Vaters zerschlug, mit Ausnahme des größten, dem er einen Prügel in die Hand gab und dann seinem Vater vorflunkerte dieser habe seine Kollegen zertrümmert – oder wie in der Geschichte Frankreichs und anderer Länder ein Feudalherr über die anderen emporwuchs und sie schließlich mediatisierte und sich zum absoluten König erhob – so verschlang der eine von den vielen, vielzuvielen (mit Nietzsche zu reden) seine Kollegen und schwang sich zum Autokraten des Weltalls empor – die phantastische Widerspiegelung der Vorgänge auf dem politischen Welttheater. Nicht die wachsende Einsicht in die Zusammenhänge und Einheitlichkeit der Natur erzeugte den aus den ethnischen (auf die Völker bezüglichen, vom griechischen éthnos „Volk“) Vorgängen wuchs er heraus.

Widerspricht aber dem nicht die bekannte Tatsache, daß der Monotheismus aus dem Lande stammt, das nie die Rolle eines Weltreichs spielte, vielmehr ein Spielball der Weltreiche gewesen ist: Palästina? – Nur scheinbar.

Zunächst ist hervorzuheben, daß der vermeintliche Monotheismus in den älteren Partien der hebräischen Literatur (des sog. Alten Testaments) gar kein eigentlicher Monotheismus ist, sondern dessen Vorstufe, was man neuerdings Henotheismus nennt (vom griechischen hen „das eine“), d.h. der Glaube an einen höchsten Gott unter vielen anderen. Ein solcher war aber, wie namentlich die neuesten Ausgrabungen bestätigen, lange zuvor in den alten Kulturreichen Babylon und Ägypten heimisch.

Dazu kommt noch, daß die Betonung der Einzigkeit Jahves (des Hebräergottes und christlichen Gottvaters) in vielen Stellen von Juden und Christen fälschlich monotheistisch gedeutet wird. Bekanntlich trat nach dem Tode des Königs Salomo ein Schisma ein, indem der größte Teil des Volkes, der sich um den Stamm Josef gruppierte – zwischen welchem und dem nächstgrößten Stamm Juda von altersher eine Rivalität um die Hegemonie (Vorherrschaft) bestand – von der Dynastie David abfiel und einen selbständigen Staat, das Nordreich, bildete, mit Jerobeam als König, der schon gegen Salomo die Fahne der Rebellion entrollt hatte. Dem Sohne Salomos blieb nur das kleine südliche Reich mit dem Stamm Juda, dem die Dynastie David entsprossen war. Jener Jerobeam stützte seine Politik auf eine Allianz mit der Großmacht Ägypten, wo er sich lange als Flüchtling aufgehalten hatte und gab darum auch dem Kultus seines neuen Reiches einen ägyptischen Zuschnitt, indem er den Apisdienst (der heilige Stier Ägyptens) mit entsprechendem Zubehör einführte. Gegen diesen nun richten sich viele monotheistisch klingende, aus Juda und von Anhängern der Dynastie David herrührende Stellen. Der Anfang des Dekalogs (Zehngebote) z.B., der einschärft: „Ich, Jahve, bin dein Gott, der dich aus dem Lande Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus, du sollst keine andere Götter neben mir haben. Du sollst dir kein Bildnis machen, kein Abbild“ usw. richtet seine Spitze ganz zweifellos gegen den ägyptischen Stierdienst im Nordreiche, nicht sowohl im theologischen, als vielmehr im politisch-dynastischen Interesse. 1

Endlich aber und hauptsächlich kommt hinzu ein drittes, was auf eine theistische Spezialität führt, die allen Mythologen und Theologen bisher entging, nämlich die Klassengötter resp. die Götter der Volksklassen.

Klassengötter (Götter der Volksklassen)

In den alten Gentilverbänden mit urwüchsigem Kommunismus war der Stammesgott naturgemäß der Gott aller Gentilgenossen. Das war auch noch lange hernach der Fall, als schon das Privateigentum eine Klassenspaltung herbeigeführt hatte und die Kluft zwischen Besitzenden und Besitzlosen sich mehr und mehr erweiterte. Die letzteren ertrugen ihre Lage mit passiver Resignation, solange dieselbe noch leidlich erträglich blieb. Die Wohlhabenden und Reichen, die Glücklichen überhaupt, galten eben als die Günstlinge des Nationalgottes, zumal sie ihm reichliche Opfergaben spenden und opulente Feste feiern konnten, die Armen und Leidenden standen bei ihm wegen irgendeiner gemutmaßten Schuld in Ungnade; eine Anschauung gegen die beiläufig das Buch Hiob gerichtet ist (siehe das gleichnamige Schauspiel von L. Adler, Reclams Universalbibliothek 2969), oder wegen einer Schuld der Vorfahren (Oedipus).

Das änderte sich, als die Klassengegensätze zu krasser Schroffheit sich erweitert hatten und die Besitzlosen und Schwachen unter Druck und Gewalt der Reichen, Vornehmen, Mächtigen maßlos litten. Nun fingen sie an, dagegen zu reagieren und zwar zunächst durch Zusammenschluß, zum Teil in förmlichen Vereinen oder geheimen Klubs, um einander durch wechselseitige Hülfe beizustehen und über Umgestaltung der sozialen und politischen Zustände zu beraten. Manche dieser Klubs hatten einen ausgeprägt kommunistischen Charakter. Eine Zusammenstellung dieser unter verschiedenen Namen in der antiken Literatur erwähnten Vereine findet man in dem hochinteressanten Buch von Albert Kalthoff: Die Entstehung des Christentums, 6. Kap., woselbst auch zu ersehen, daß diese geschichtlich weit zurückreichenden Vereine einen religiösen Zuschnitt hatten und einen Gott oder Heros als Patron verehrten. Ein solcher war eben der Klassengott, der Gott der besitzlosen Klasse.

Nach den Schriften der sog. Propheten muß die Lage des Volkes in den späteren Jahrhunderten des jüdischen Staates eine furchtbare, die Ungerechtigkeit und Gewalttätigkeit der oberen Schichten ungeheuerlich gewesen sein. Die donnernden Anklagen, welche gegen diese geschleudert werden, haben in den leidenschaftlichen und feurigsten Reden späterer Revolutionsepochen kaum ihresgleichen. Diese Propheten – wie das hebräische Wort des Originaltextes nabi fälschlich und irreführend übersetzt wird, statt Redner, Volksredner – waren eben die Wortführer, Sachwalter, Volkstribunen der besitzlosen und unterdrückten Klasse gegen die Unterdrücker. Von einem sozialen, man kann sagen sozialistischen Geist (im weiteren Sinne natürlich) sind ihre markigen Reden durchpulst. Recht und Gerechtigkeit, Schutz und ausreichende Hülfe für die Armen und Schwachen fordern sie von den Königen, dem Adel, den Richtern, den Reichen und Wohlhabenden, erklären sie als vornehmlichste religiöse Pflicht, und in fulminanten, prächtigen und geistvollen Ausführungen predigen sie, daß der Rationalgott Jahve nicht Opfer und Feste und Gebet verlange, sondern Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Brüderlichkeit gegenüber den unteren Klassen (Jesaia Kap. 1, Kap. 58, Micha 6, 1-8, Psalm 50 und viele andere Stellen). Aus diesen Prophetenkreisen sind zweifellos auch die in der Antike einzig dastehenden mannigfaltigen Vorschriften in der sog. mosaischen Gesetzgebung hervorgegangen, welche die Linderung der Not der Besitzlosen bezwecken. Den alten Nationalgott, ehemals wie alle Götter ein Protektor der Mächtigen und Reichen, haben sie zu einem Gott der Besitzlosen umgebildet, seinen Kultus mit sozialem Geist erfüllt, ihn zum Beschützer und Anwalt der unteren Volksklassen gestempelt.

Diese Männer waren aber auch Patrioten im besten Sinne des Wortes und das hing mit diesem ihrem Sozialismus aufs engste zusammen. Die herrschende Klasse neigte immer zum politischen Anschluß an auswärtige Völker, besonders an die großen Weltmächte; daher ihr leidenschaftlicher Hang zum sog. Götzendienst, d.h. zum Kultus der Götter des Auslandes, was gleichfalls von den Propheten so scharf gegeißelt wird. Das Land Palästina war ein armes Land trotz seinem Ruf als „gelobtes“ Land, „wo Milch und Honig fließt“. Nur den ehemaligen Beduinen, was ja die Israeliten der Vorzeit waren, erschien es als gesegnetes Land (wie u.a. Professor Sepp auf Grund eigener Forschungen nachwies). In Raubzügen und Eroberungskriegen mittels Anschluß an fremde Völker und mit ungemilderter Klassenbrutalität wollten die Könige, der Adel, die oberen Schichten immer mehr Reichtümer erbeuten, lediglich im Interesse ihrer Macht- und Habgier und Üppigkeit. Dieser Klassenpolitik der oberen Schichten und ihrer Ideologie, dem Kultus fremder Götter, galt der Kampf der Propheten für den Gott der Väter, Jahve, den Gott aus den Zeiten der kommunistischen Gentilverfassung, als die Klassenspaltung noch nicht eingetreten war, der sich daher vortrefflich zum Gott der unteren Klassen eignete.

Vermutlich ist deshalb auch der alte, gleichfalls aus der Gentilzeit stammende Gott Saturnus in Rom von den Besitzlosen und Sklaven als Gott ihrer Klasse auf den Schild erhoben und an den bekannten „Saturnalien“ (um die Weihnachtszeit) gefeiert worden, an denen die Herren ihre Sklaven bedienen mußten u. dgl. Auch Mithras, der bekannte aus Persien stammende und auch im römischen Reich vielfach, namentlich in den unteren Klassen verehrte Gott, dessen Kultus so viel Ähnlichkeit mit dem christlichen hatte, gehört höchstwahrscheinlich in die Kategorie dieser Götter der besitzlosen Klassen. Daß vollends Jesus Christus ursprünglich ein solcher vom Heros zum Gottessohn und Gott avancierter frei erfundener (wenn auch unter Anlehnung an ein sagenhaft überwuchertes Faktum) Patron der unteren Klassen war, hat Kalthoff in dem angeführten Buch höchst plausibel gemacht.

Zurück zu Jahve. Der von den Propheten für ihn und gegen die „Götzendienerei“ geführte Kampf war nach obigem der ideologische Ausdruck einer sozialistisch-patriotischen Bewegung gegen die soziale Brutalität von oben. Den jüdischen Staat zu einem Staat der sozialen und politischen Gerechtigkeit zu gestalten, war das Ideal der prophetischen Vorkämpfer für die Besitzlosen.

Ausbildung des Monotheismus

Die Verwirklichung dieses Ideals war aber nur denkbar, wenn dieser Staat zu einer von den auswärtigen kriegerischen Staaten nicht mehr bedrängten Großmacht, ja zur Weltmacht emporwächst, mit den sozialen auch die nationalen Brutalitäten überwindet und ein Weltfriedensreich begründet. Das sollte durch einen idealen Fürsten aus der Davidschen Dynastie (den Vater des späteren „Messias“) sich vollziehen, der „mit Gerechtigkeit wird richten die Armen und in Redlichkeit wird Recht sprechen den Elenden im Lande; Gerechtigkeit wird sein der Gurt seiner Lenden und Treue der Gürtel seiner Hüften“; unter dem die Völker nicht mehr wie wilde Tiere einander zerfleischen, „der Wolf wird bei dem Lamm wohnen und der Pardel neben dem Böcklein lagern, Kalb und Leu und Mastvieh zusammen sein, Kuh und Bär spielen am Loch der Viper und das Kind in die Höhle des Basilisken sein Händchen stecken“ (Jesaja 11. Kap. und Parallelstellen). Denn alle Völker werden den judäischen Ideen der Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Friedlichkeit huldigen: „Es wird geschehen am Ende der Tage, der Berg Jahves wird hoch ragen über alle Berge und erhaben sein über alle Hügel und alle Völker werden zu ihm hinströmen. Und viele Nationen werden sich aufmachen und sprechen: Auf, laßt uns hinansteigen zum Berge Jahves, daß er uns weise seine Wege und wir wandeln in seinen Bahnen. Dann werden sie ihre Schwerter umschmieden zu Sicheln und ihre Lanzen zu Rebenmessern; kein Volk wird ferner wider ein anderes das Schwert erheben und nicht mehr werden sie die Kriegskunst erlernen“ (Jesaja 2 und Parallelstellen).

Aus der uns geläufigen Erkenntnis, daß der Weltfrieden nur erblühen kann aus der Überwindung der Klassengegensätze, und daß ein Volk nur durch Gerechtigkeit dauernd erstarkt, wovon schon jene Kreise erleuchtet waren, wuchs die Utopie eines judäischen Universalreichs heraus mit dem entsprechenden mythologischen Idol: dem Eingott Jahve.

So erklärt es sich, daß im jüdischen Volke zuerst der Henotheismus zum reinen Monotheismus umgewandelt ward. Wobei vielleicht die philosophische Spekulation, bei der anderwärts, wie namentlich in Griechenland, schon in jener prophetischen Zeit (die weit weniger zurückliegt als gewöhnlich angenommen wird), ein Zug einheitlicher Naturauffassung unverkennbar ist, nicht ohne Einfluß gewesen sein mag.

Der Gottglaube im Dienste der Machthaber

Als naives Erzeugnis der Phantasie stellt sich nach vorstehendem der Götter und Gottglaube dar, mit dem dazu gehörigen Apparat, dem öffentlichen Kultus und der privaten Gottesverehrung, Religion, was im Verlauf die mannigfaltigsten Schößlinge, Glaubenslehren (Dogmen) und Ritualien und Bräuche getrieben hat.

So harmlos blieb er aber auf die Dauer nicht. Der Kultus erforderte mit der Zeit eigene Kultusfunktionäre, Priester, die sich vielfach das bequeme Mittel nicht entgehen ließen, den Gottglauben zu ihrem Kasten und Privatinteresse auszunützen und den Massen allerlei als göttlichen Willen vorzuschwindeln, was ihrem eigenen Interesse entsprach. Desgleichen bedienten sich desselben die staatlichen Machthaber und die herrschenden Klassen, bald im Verein, bald im Gegensatz zur Priesterschaft, die Massen zu gängeln und in Unterwürfigkeit zu erhalten. Wozu ihre Machtmittel nicht ausreichten, die Geister zu knebeln und den Willen der ausgebeuteten und unterdrückten Massen in Fesseln zu legen und revolutionäre Gärungen zu dämpfen, wurde mittels des Gottglaubens mit größerem oder geringerem Erfolg zu erreichen gesucht, indem die Auflehnung gegen das Gewaltregiment von oben als Ungehorsam gegen die Götter oder Gott, als schwere Sünde gebrandmarkt, die herrschenden Zustände als „gottgewollt“, als „göttliche Weltordnung“, die regierenden Fürsten als Göttersöhne oder „von Gottes Gnaden“ eingesetzt erklärt und deren Verehrung und die Unterwürfigkeit unter ihnen zum göttlichen Gebot gestempelt wurde.

Denn wenn es auch einer Volksbewegung gelungen war, zeitweilig die Oberhand zu gewinnen und ihre sozialen Ideen mit ihrem Klassengott und Volksreligion auf den Schild zu heben, so verstanden es später die wieder erstarkten Machthaber, mittels einer mythologischen Konterrevolution diesen Volksgott und seine soziale Religion zu usurpieren und umzufälschen, ihm Lehren und Gebote zu unterschieben und durch die Priesterschaft unterschieben zu lassen, die ihren Herrschafts- und Ausbeuterinteressen zusagten. Zu solcher Volksreligion, worin der volkstümliche Geist von dem gegenteiligen weitaus überwuchert war, konnten sich nun die Machthaber selbst bekennen und im Kostüm derselben und von bestechenden Phrasen triefend, die Massen um so leichter ducken, die umgefälschte Volksreligion als Landesreligion einführen. Diesen Umfälschungsprozeß mußte die sozialistische Jahvereligion der Propheten unter dem Pharisäertum, ebenso wie die sozialistische Jesusreligion unter dem späteren feudal-klerikalen Regime durchmachen.

Anpassungsfähigkeit des Monotheismus

Das psychologische Bedürfnis nach Personifikation der Schicksalsmächte bestand in allen Stadien der ökonomischen Entwicklung fort. Wie der Ackerbauer und Viehzüchter von allerlei Faktoren sich abhängig weiß, die er nicht beherrschen kann und deshalb an einen oder mehrere Götter glaubt, die er durch Frömmigkeit beeinflussen zu können vermeint, so der Handwerker von Aufträgen und Abnehmern seiner Produkte, der Handeltreibende bis zum modernen Kapitalisten von den unberechenbaren Schwankungen des Marktes im Ein- und Verkauf, von der Konjunktur und glücklichen Spekulation, und auch der Proletarier von der unsicheren Arbeitsgelegenheit und den Schwankungen der Lohnhöhe und Lebensmittelpreise. Der Monotheismus nun entsprach und entspricht diesem Personifikationsbedürfnis aller Wirtschaftsepochen und Gruppen. „In dieser bequemen, handlichen und allen anpaßbaren Gestalt kann“, wie Engels sagt, „die Religion fortbestehen als unmittelbare, d.h. gefühlsmäßige Form des Verhaltens der Menschen zu den sie beherrschenden fremden, natürlichen und gesellschaftlichen Mächten, solange die Menschen unter der Herrschaft solcher Mächte stehen“. Er kommt dann speziell auf die gegenwärtige Epoche und fährt fort: Obgleich die bürgerliche Ökonomie eine gewisse Einsicht in den ursächlichen Zusammenhang der von der bürgerlichen Gesellschaft selbst geschaffenen Mächte gestattet, so „kann sie doch weder die Krisen im ganzen verhindern, noch den einzelnen Kapitalisten vor Verlusten, schlechten Schulden und Bankrott, oder den einzelnen Arbeiter vor Arbeitslosigkeit und Elend schützen. Es heißt noch immer: der Mensch denkt und Gott (d.h. die Fremdherrschaft der kapitalistischen Produktionsweise) lenkt“. Das Verständnis allein der Mächte, wovon der Mensch abhängig ist, genügt nicht, sie zu unterwerfen; dazu gehört die Tat. Wie mancher moderne Mensch ist genau mit der Wissenschaft vom Wesen und den Ursachen einer Krankheit vertraut, woran er leidet, und betet dennoch zum Herrgott um Heilung.

Bei all seiner „Handlichkeit“ aber wurde der Monotheismus nicht recht wurzelkräftig und teils von Rückfällen in den einstigen Polytheismus getrübt (vgl. z.B. Heine „Die Götter im Exil“ und Scheffel „Ekkehard“, 9. Kapitel), teils von neuen verkappt polytheistischen Ranken umsponnen. Der Verstand wollte trotz aller spitzfindigen Rechtfertigungsversuche nicht begreifen, wie der als gerecht, gütig und allmächtig geschilderte und gepriesene Gott so viel Übel und Leiden in die von ihm geschaffene Welt bringen konnte und vollends, daß sehr häufig die Guten und Rechtschaffenen in schwerer Not und Elend leben und zugrunde gehen, ausgemachte Schurken dagegen in Glück und Glanz ihre Tage vollenden (das Buch Hiob, der 73. Psalm u.a.). Es wurde ihm daher eine Art Gegengott unter allerlei Namen gegenübergestellt: der Teufel.

Der Phantasie wollte die Vorstellung eines Gottes nicht behagen, der in erhabener Einsamkeit in seinem Himmel residiert (vgl. Schillers „Götter Griechenlands“, Goethes „Braut von Korinth“), sie bevölkerten diesen daher mit einem ganzen Hofstaat von Engeln und Erzengeln, denen wiederum eine Schar Dämonen als Gegengebilde entsprachen; außerdem gab sie dem Gottvater einen Gottsohn und dann noch eine Frau, Madonna, Gottesmutter zu Seite. 2 Das Gefühl endlich konnte nicht überall ein intimes Verhältnis zu dem Eingott gewinnen, wie in vielen lyrischen Gedichten (Psalmen und Kirchenliedern); vielmehr wie in Krankheiten an den Spezialisten, wendet man sich in allerlei Anliegen an besondere Heilige, denen ein bestimmtes Ressort zugewiesen ward. Was will „der alten Götter bunt Gewimmel“ bedeuten und gar das armselige Dutzend der Olympier gegen den Gestaltenreichtum des katholischen Himmels!

Der Atheismus – Atheisten- und Ketzerverfolgung

Götter und Gottesleugner gab es in den Anfängen der Zivilisation schwerlich. Der naive Schluß vom Dasein der Welt auf einen Schöpfer, oder mehrere, schloß den Atheismus aus, als das Denken über das Woher? der Erscheinungswelt zu grübeln begann. Der Atheismus gehört zu den Denkweisen, die nur auf sehr tiefer oder auf sehr hoher Stufe vorkommen. Eine merkwürdige Ausnahme soll die weit verbreitete indische Religion des Buddha in ihren Anfängen (im 5. Jahrhundert v.Chr.) bilden. „Gautamas 3 Sekte hält den Glauben an ein göttliches Wesen, welches die Welt geschaffen, für höchst irreligiös“, heißt es in einem Quellenwerk über den Buddhismus, und ein Oberpriester desselben zählte in einem Aufsatz, den er einem katholischen Bischof übergab, zu den sechs verdammlichen Ketzereien auch die Lehre, „daß ein Wesen da sei, welches die Welt und alle Dinge in ihr geschaffen habe und allein würdig sei, angebetet zu werden“. Was aber nicht hinderte, daß der Buddhismus längst von einem Schwarm von Göttern wimmelt und Buddha selbst vergottet ward.

Im griechischen Altertum begegnet uns der Atheismus zuerst bei dem Philosophen Anaxagoras (um 500 v.Chr.), der deshalb angeklagt, aus Athen geflohen sein soll. Auch der große Philosoph und Naturforscher Aristoteles (384-322) entfloh deshalb in seinem höheren Alter aus Athen, „damit sich die Athener nicht zum zweiten Mal an der Philosophie versündigen“, wie er sagte. Der Stifter der epikurischen Schule in Athen Epikur (342-270) leugnet zwar die Götter nicht geradezu, stellt aber jede Einwirkung derselben auf den Weltlauf in Abrede, während sein römischer Anhänger, der bereits erwähnte Lucretius Carus, offen den Atheismus vertrat.

Bei den Juden taucht der Atheismus zuerst in einigen aus den letzten Jahrhunderten v.Chr. stammenden Psalmen auf, worin von Toren die Rede ist, „die in ihrem Herzen sprechen: Kein Gott!“ Doch ist es fraglich, ob damit nicht vielmehr die praktische Ignorierung Gottes gemeint ist und bloß gesagt sein soll, sie fragen nichts nach Gott und leben, als ob es keinen gebe. Bemerkenswert ist, daß der furchtbar leidende Hiob, der in seinen Gesprächen mit den Freunden so schwere Anklagen gegen Gottes Weltregiment erhebt, nicht ein einziges Mal auf den Gedanken verfällt, daß gar kein Gott existiert. Eine Verfolgung von Atheisten kennt die jüdische Geschichte kaum; ob solche nicht hervorgetreten sind, läßt sich nicht ermitteln. Aus Toleranz sicherlich nicht, denn die mosaische Gesetzgebung setzt z.B. auf Gotteslästerung und Sabbatschändung die Todesstrafe, und das spätere Judentum ließ es an Verfolgungen seiner religiös renitenten Stammesgenossen nicht fehlen, soweit es die Macht dazu hatte. Doch die Verfolgung traf hauptsächlich die Auflehnung gegen religiöse Satzungen und offene Verstöße gegen solche, der Glaubensketzerei sah man durch die Finger, wenn nur sonst die Ketzer in ihren Handlungen die mosaischen und rabbinischen Satzungen streng beobachteten.

Die schrecklichsten und scheußlichsten Orgien des religiösen Fanatismus gehören bekanntlich dem christlichen Mittelalter an. Hier stand die feudal-monarchische mit der priesterlichen Volksausbeuterei und Unterdrückung im innigen Bunde, die weltliche Macht wußte die Dienste zu schätzen, welche die große römische Kreuzspinne ihr leistete, indem sie im Interesse der Hierarchie – die selbst Komplize der weltlichen Macht war und den feudalen Ständen angehörte – die Geister mit einem dichten Gewebe von Illusionen und Wahn einspann, und sie vergalt es durch Henkerdienste, die sie ihrerseits der Hierarchie gegen Ketzer leistete.

Überhaupt aber galt der Gottglaube als unentbehrliches Fundament der Moral und Gesetzlichkeit. Sittliche Gesinnungen und sittliches Pflichtgefühl waren nach der allgemeinen Meinung undenkbar ohne Gott als moralischen Gesetzgeber, Aufpasser und Richter; und ebensowenig Respektierung der Staatsgesetze, soweit nicht die weltliche Strafe vor ihrer Verletzung abschreckte. Der Atheist war somit ein höchst gefährlicher Mensch, dem die gröbsten Verstöße gegen Moral und die schlimmsten Verbrechen zuzutrauen seien. Daher wurde nicht bloß der ausgesprochene Atheismus blutig verfolgt; man schnüffelte nach Atheismus und schloß darauf aus den fragwürdigsten Symptomen, wie die Hexenverfolger nach Bündnissen mit dem Teufel und Bismarcksche Spitzel unter dem Ausnahmegesetz nach Sozialismus.

Eigentliche Atheisten gab es in jenen Zeiten fast nur im höheren Pfaffentum, unter Bischöfen, Kardinälen und selbst Päpsten. Freilich waren sie das weniger aus Erkenntnis als aus Leichtfertigkeit im Denken, der Schwester zügelloser Lüderlichkeit im Leben. Erst mit dem Welken der Scholastik am Ausgang des Mittelalters, als die neuere Philosophie und Naturwissenschaft zu knospen begann – Kopernikus (gest. 1520) hatte mit seinem astronomischen System dem Herrgott sozusagen den Stuhl unter den Füßen weggezogen – tritt auch der wissenschaftliche Atheismus in die Erscheinung, verhüllt, aber nicht sorgfältig genug, um dem Argusauge des Fanatismus zu entgehen. Eines der ersten Opfer war der italienische Denker Giordano Bruno (1548-1600), der auf dem Scheiterhaufen endete.

Überwindung des Fanatismus

Mit der Entwicklung der Warenproduktion und des Weltverkehrs brach sich das freie Denken mehr und mehr Bahn und entwand dem religiösen Fanatismus seine mörderischen Waffen. Die Reformation, eine sehr materielle Revolution der beginnenden bürgerlichen Ära gegen die römische Hierarchie, erzwang sich, unter religiöser Flagge, mit der Befreiung der Niederlande, dem Edikt von Nantes und dem Westfälischen Frieden Duldung, und wiewohl die neue Kirche gegen Ketzereien und gar gegen die Erzketzerei des Atheismus nicht viel weniger verfolgungssüchtig war als die papistische, konnte doch der allmähliche Triumph der Denkfreiheit über die Geistesknechtung nicht verhindert werden, zumal Philosophie und Naturwissenschaften immer lebenskräftiger aufblühten, von der neuen Produktionsweise begünstigt und gefördert, und immer weiter ins Volk drangen.

Der Franzose Chatillon (Castellio lateinisiert), ein hervorragender Gelehrter und Kritiker, Freund Calvins, aber dann grausam von diesem Fanatiker verfolgt, von seinen Professuren in Genf und Basel vertrieben und in tiefstem Elend gestorben, erhob zuerst die unbeschränkte religiöse Duldung zum Prinzip. Der erste philosophische und staatsrechtliche Begründer desselben war der philosophische Heros Spinoza (1624-1677) in seinem Theologisch-politischen Traktat. Unter den erfolgreichsten Vorkämpfern desselben ragt sodann Voltaire hervor (1694-1778), der Zeitgenosse unseres Lessing, des Dichters des Hohenlieds religiöser Toleranz (Nathan der Weise). Und im glorreichen Revolutionsjahre 1789 errang sich das Prinzip staatliche Anerkennung in der Erklärung der Menschenrechte durch die Nationalversammlung.

Erster gründlich philosophischer Begründer des Atheismus ist der bereits genannte Spinoza. Zwar enthalten seine Werke nirgends eine Stelle, worin klipp und klar das Dasein Gottes geleugnet wird. Im Gegenteil bildet der Begriff „Gott“ die Zentralidee seines Systems. Allein mit diesem Wort verbindet er einen ganz anderen Sinn als den gewöhnlichen. Gemeint ist damit, was in der vulgären Sprache „Natur“ oder „Universum“ (das „All“), was in seinem eigenen philosophischen System Substanz heißt. Weshalb aber bediente sich Spinoza dieses Wortes? Nicht aus Feigheit, wiewohl auch in Holland, wo er lebte, damals noch der Atheismus arg verfemt war. Da die Bezeichnung der Natur als Gott auch später und noch heute häufig ist, soll näher hierauf eingegangen werden.

Gott? Gottglaube oder Atheismus?

Dem Gottgläubigen ist das Wesentliche und Wichtigste an „Gott“ die menschenähnliche Persönlichkeit, menschenähnlich zwar nicht morphologisch (der Gestalt nach), aber psychologisch, in Denken, Fühlen, Wollen. Gott denkt, wünscht, befiehlt, liebt und haßt, zürnt und straft. Nur ein solcher Gott hat für ihn Wert als Lenker des Schicksals, der sich durch das Wohlverhalten der Menschen, Gebet, Gehorsam, Spenden, zu ihren Gunsten beeinflussen läßt. Kurz gesagt: der Gott der Gläubigen ist persönlicher Gott.

In der vulgären Gott-Vorstellung steckt aber noch anderes: Gott ist ewig (ohne Anfang und Ende) und allmächtig, der Schöpfer und Regent der Welt und alles was darin, der sie erhält und regiert, kurz: die Endursache der gesamten Erscheinungswelt.

Dieses ist aber auch in dem Begriff „Natur“ nach atheistischer Auffassung enthalten. Sie ist ewig, der Inbegriff aller Erscheinungen und Kräfte, die Gesamtheit des Seins, Werdens und Vergehens.

Ist aber in „Natur“ das Ewige noch mit dem Zeitlichen vermengt, so ist die spinozistische „Substanz“ die begrifflich einheitliche Zusammenfassung des Ewigen in allem Zeitlichen, des Unzerstörbaren in allem Wechsel der Erscheinung; es ist die Abstraktion des Urgrunds alles Existierenden, Urquells aller schaffenden Kräfte. Neuere Philosophen nennen dasselbe das „Absolute“ oder „Ding an sich“.

Diese für das philosophische Denken so wichtige Scheidung zwischen dem Ewigen und Vergänglichen, zwischen der im beständigen Fluß (das „panta rhei“, „Alles fließt“ Heraklits) befindlichen Weltsubstanz und ihren mannigfaltigsten Metamorphosen (Wandlungen), findet ihren schönsten poetischen Ausdruck im Faust:

In Lebensfluten, im Tatensturm
Wall’ ich auf und ab,
Webe hin und her!
Geburt und Grab,
Ein ewiges Meer,
Ein wechselnd Weben,
Ein glühend Leben.
So schaff ich am laufenden Webstuhl der Zeit
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.

Man sieht, auch der Dichter nennt das Ewigseiende mit seinen ewigen Kräften „Gottheit“ und die bunten Daseinsweisen, worin sich das Ewige darstellt, ihr Kleid.

Der Spinozismus also ist trotz häufiger Operation mit dem Begriff „Gott“ durchaus atheistisch, indem er alle Vorstellungen von Persönlichkeit von ihm ausschaltet. „Wenn wir philosophisch reden“, schreibt Spinoza an einen Freund (Briefwechsel, Reclam-Ausgabe, S. 122), „dürfen wir uns der Phrasen der Theologen nicht bedienen. Theologen, weil sie Gott wie einen vollkommenen Menschen vorstellen, paßt es zu sagen, Gott wünsche etwas, Gott empfinde Abscheu vor den Taten der Schlechten und Freude an denen der Rechtschaffenen. Die Philosophie dagegen läßt uns klar begreifen, daß wir solche Attribute Gott ebensowenig ernsthaft beilegen und zuschreiben dürfen, als dem Menschen, was den Elefanten vollkommen macht. Philosophisch geredet kann man daher nicht sagen, daß Gott von jemand etwas verlangt, auch nicht, daß ihm etwas zuwider oder angenehm sei. Das alles sind menschliche Attribute, die auf Gott nicht anwendbar sind.“ – Kann man da noch an dem atheistischen Charakter des Spinozismus zweifeln?

Der Pantheismus

Hier mag auch der Pantheismus (Pan = das All, griechisch) beleuchtet werden, eine Art Mittelding zwischen Theismus und Atheismus; die Lehre, daß Gott und die Welt eins sei.

Man hat damit namentlich die Spinozistische Weltanschauung bezeichnet und im Sinn vorstehender Ausführungen könnte man es gelten lassen. Vielfach aber verbindet man damit die Vorstellung einer mystischen Weltseele, wie sie von älteren und neueren Philosophierern phantasiert wurde, die dem lieben Gott nicht den Abschied geben wollten, aber ihn aus seiner himmlischen Residenz in die Welt selbst, sozusagen als seinen Leib, versetzten; womit zugleich der Welt eine geheimnisvolle Intelligenz angedichtet wurde. Ein verwaschener oder verdünnter Theismus.

Zum Teil aber ist der Pantheismus nichts als ein verkappter oder, wie Heine sagt, ein verschämter Atheismus. Dieses Urteil fällt auch Schopenhauer, der an jenen Fürsten erinnert, welcher den Adel in seinem Lande dadurch abschaffen wollte, daß er beschloß, die gesamte Bevölkerung in den Adelsstand zu versetzen. Es ist die Scheu vor dem Wort, nicht vor der Sache; oft aber auch ein mit dem lieben Publikum getriebener Hokuspokus, à la Faust, der dem guten Gretchen auf seine Frage: „Glaubst du an Gott?“ so schön pantheistisch antwortet:

Der Allumfasser,
Der Allerhalter,
Faßt und erhält er nicht
Dich, mich, sich selbst? …
Liegt die Erde nicht hierunten fest?
Und steigen freundlich blickend
Ewige Sterne nicht herauf?
Schau ich nicht Aug’ ins Auge dir,
Und drängt nicht alles
Nach Haupt und Herzen dir
Und webt in ewigem Geheimnis
Unsichtbar, sichtbar neben dir?
Erfüll’ davon dein Herz, so groß es ist,
Und wenn du ganz in dem Gefühle selig bist,
Nenn’ es dann wie du willst,
Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott …
Name ist Schall und Rauch.

Und das gute Gretchen meint naiv:

Ungefähr sagt das der Pfarrer auch.

Wenn aber der Faustdichter auch sonst pantheistische Verse geprägt hat, so ist das mehr poetisch, denn als Bekenntnis zu nehmen.

Was wär’ ein Gott, der nur von außen stieße,
Im Kreis das All am Finger laufen ließe?
Ihm ziemt’s, die Welt im Innern zu bewegen,
Natur in sich, sich in Natur zu hegen,
So daß, was in ihm lebt und webt und ist,
Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermißt.

Und Heine:

Hörst du den Gott im finstern Meer?
Mit tausend Stimmen spricht er.
Und siehst du über unserm Haupt
Die tausend Gotteslichter?
Der heilige Gott, der ist im Licht
Wie in den Finsternissen;
Und Gott ist alles was da ist;
Er ist in unseren Küssen.

Französischer Materialismus und deutsche Philosophie

Der hüllenlose Atheismus wurde mit rücksichtsloser Kühnheit vertreten von den französischen Enzyklopädisten, den Vorläufern der großen Revolution, am kräftigsten von La Mettrie (1709-1751), der den Satz aufstellte: die Welt werde nicht eher glücklich sein, als bis der Atheismus allgemein herrschend geworden. Er war der ideologische Vorbote des politischen Jakobinismus; die Guillotine für den Theismus, der bald die Guillotine für Louis XVI. folgte.

Weit manierlicher, mit philosophischer Gründlichkeit, ist um dieselbe Zeit in dem politisch rückständigen Deutschland der tiefe Denker Kant dem Theismus zu Leibe gegangen. Er untersuchte das innerste Wesen der menschlichen Erkenntnis und gelangte in Bezug auf den Gottglauben zu dem Ergebnis, daß er auf Sand gebaut ist. Zugleich vernichtete er mit kritischer Schärfe und Unerbittlichkeit die hergebrachten Scheinbeweise für das Dasein Gottes. Es sind deren vier.

  1. Der ontologische (vom griechischen on, das Seiende). Der Scholastiker Anselm von Canterbury, Bischof (1070-1109), hat ihn aufgebracht. Der Kuriosität halber sei er mitgeteilt: „Gott ist das höchste, was gedacht werden kann. Würde nun Gott nur in Gedanken, nicht aber wirklich existieren, so könnte ein höheres gedacht werden, das nämlich auch wirklich existierte. Als das höchste, was gedacht werden kann, muß daher der Begriff Gottes auch die Existenz einschließen“. Kant bemerkt mehr witzig als tief: „Hundert wirkliche Taler enthalten nicht das geringste mehr als hundert mögliche“.
  2. Der kosmologische (vom griechischen kosmos, Welt). Es ist der Schluß vom Dasein der Welt auf einen Schöpfer. Er ist ebenso windig, als der vorige, denn das Bleibende im Wechsel der Erscheinungen, die Substanz, kann ebenso von Ewigkeit her vorhanden sein, wie ein göttlicher Schöpfer, und ist es in der Tat. Das Werden und Vergehen aber erklärt sich hinlänglich aus den ewigen Kräften der Substanz. Es ist, wie wenn ein Kind auf das Vorhandensein eines unsichtbaren menschlichen Schiebers eines Automobils schließen würde.
  3. Der teleologische (vom griechischen telos, Zweck). Aus der zweckmäßigen Einrichtung der Natur wird das Vorhandensein eines intelligenten Verfertigers gefolgert. Ist denn aber diese Zweckmäßigkeit durchweg vorhanden? Jedes Leiden beweist das Gegenteil. Schon der erwähnte Lucretius Carus führt eine ganze Reihe von Unzweckmäßigkeiten in der Natur dagegen auf. Soweit sie aber wirklich vorhanden, beweist sie noch lange nichts für das Dasein Gottes, denn diese Zweckmäßigkeit kann sehr wohl immanent sein, d.h. in der Natur selbst ihre Ursachen haben, was in der Tat bereits von der Naturwissenschaft für viele Fälle nachgewiesen ist, so namentlich vom Darwinismus und seine Fortentwicklung, obzwar bislang ungenügend.
  4. Der moralische. Es ist der Schnurrigste von allen. Woher die moralischen Triebe und Gesinnungen und die moralische Weltordnung ohne Gott? argumentiert er. Allein abgesehen davon, daß die Moral nach Völkern, Klassen und Zeiten sehr verschieden und wandelbar und daß der natürliche Ursprung jeder Moral sehr durchsichtig ist – steht und stand es bekanntlich zu allen Zeiten mit der Moral unter den Menschen und in der Weltordnung verwünscht schief. Die Unmoral ist vielmehr die Regel, nicht Gerechtigkeit, Erbarmen, Liebe, sondern Gewalttätigkeit, Roheit, Hartherzigkeit, Ausbeutung, Unterdrückung führen noch immer das Ruder, und zwar trotz der berühmten Nemesis großenteils ungestraft. Daraus wäre also vielmehr auf das Gegenteil zu schließen, nämlich den Atheismus.

Und dieser Schluß ist denn auch oft genug gezogen worden, am temperamentvollsten wohl von dem bedeutenden schwäbischen Gelehrten, Denker und Dichter Fr. Th. Vischer:

Wir haben keinen
Lieben Vater im Himmel.
Sei mit dir im Reinen!
Man muß aushalten im Weltgetümmel
Auch ohne das.
Was ich alles las
Bei gläubigen Philosophen,
Lockt keinen Hund vom Ofen.
Wär’ einer droben in Wolkenhöh’n
Und würde das Schauspiel mitanseh’n,
Wie mitleidlos, wie teuflisch wild
Tier gegen Tier und Menschenbild,
Mensch gegen Tier und Menschenbild
Wütet mit Zahn, mit Gift und Stahl,
Mit ausgesonnener Folterqual:
Sein Vaterherz würd’ es nicht ertragen,
Mit Donnerkeilen würd’ er dreinschlagen,
Mit tausend heiligen Donnerwettern
Würd’ er die Henkersknechte zerschmettern!

Zurück zu Kant. Nachdem er in seiner Kritik der reinen Vernunft aller Theologie mit seinem kritischen Fallbeil den Kopf abgeschlagen hatte, hat er zur Überraschung aller Welt in seiner Kritik der praktischen Vernunft den Gottglauben wieder zum Leben galvanisiert: Die Menschen brauchen einen Gott zu praktischen Zwecken, von wegen der Moral – als ob sich nicht die ärgste Niederträchtigkeit mit der aufrichtigsten Gottgläubigkeit von jeher aufs beste vertragen hätte! – also sollen sie ihn haben, wenn ihm auch die reine Vernunft die Existenz abspricht.

Hätte Kant diese Theorie einer Vernunft mit doppeltem Boden bloß konstatiert, so wäre ja nichts dagegen einzuwenden. Denn tausendfältig zeigt sich in der Geschichte und im Leben, daß die Menschen für wahr halten, was ihren Neigungen und Zwecken zusagt, mag die reine Vernunft noch so unwiderleglich das Gegenteil beweisen. Der Theismus selbst ist ja ein eklatantes Beispiel dafür und – vielleicht Kant selbst. Ergötzlich schrieb Heine in seinem Buch Über Deutschland dazu: „Ihr meint, wir könnten jetzt nach Hause gehen? Bei Leibe! Es wird noch ein Stück aufgeführt. Nach der Tragödie kommt die Farce. Immanuel Kant hat den Himmel gestürmt, die ganze Besatzung über die Klinge springen lassen, der Oberherr der Welt schwimmt unbewiesen in seinem Blute, es gibt jetzt keine Allbarmherzigkeit mehr, keine himmlische Vatergüte … Das röchelt, das stöhnt – und der alte Lampe (Kants Diener) steht dabei mit seinem Regenschirm unterm Arm, als betrübter Zuschauer, und Angstschweiß und Tränen rinnen ihm vom Gesicht. Da erbarmt sich Immanuel Kant und zeigt, daß er nicht bloß ein großer Philosoph, sondern auch ein guter Mensch ist, und er überlegt, und halb gutmütig und halb ironisch spricht er: der alte Lampe muß einen Gott haben, sonst kann der arme Mensch nicht glücklich sein. Der Mensch soll aber auf der Welt glücklich sein, das sagt die praktische Vernunft. Meinetwegen, so mag auch die praktische Vernunft die Existenz Gottes verbürgen. Wie mit einem Zauberstäbchen belebte er daher wieder den Leichnam des Theismus, den er zuvor getötet. Hat vielleicht Kant diese Wiedererweckung nicht bloß des alten Lampe wegen, sondern auch der Polizei wegen unternommen?“ Letzteres ist nicht ganz unwahrscheinlich.

Entschieden atheistisch war dagegen die Philosophie von J.G. Fichte, des großen Schülers und Nachfolgers Kants, wiewohl auch er den Namen Gott für die moralische Weltordnung beibehielt. Er mußte seinen Atheismus mit seiner Entfernung vom Lehrstuhl in Jena büßen. Über den Zickzackkurs von Schelling und die im Zwielicht schillernde Hegelsche Meinung können wir hinweggehen.

In der Folgezeit ging es mit dem Theismus immer weiter bergab. Die Vulgärmaterialisten, von denen Büchner (Kraft und Stoff) der bekannteste, propagierten den Atheismus in weiten Kreisen, und die Arbeiterbewegung in ihren noch unklaren Anfängen vertrat ihn vielfach programmatisch. Schopenhauer, mit dem eine neue Philosophengeneration anhebt und sein kürzlich verstorbener Fortbildner Hartmann, verbreiten ihn in den oberen Schichten, desgleichen der neueste Philosoph-Poet in Prosa Fr. Nietzsche.

Das heutige Bürgertum

Im heutigen Bürgertum durchschnittlichen Schlages ist das Interesse für religiöse Fragen wie für Religion überhaupt erkaltet, vielfach ganz auf den Nullpunkt gesunken. Das Geschäftsleben absorbiert mehr als je sein Handeln und Denken, und zum Ausfüllen der Muße mit allerlei weltlichen Beschäftigungen, Zerstreuungen und Sport gibt die moderne Entwicklung reichlich Gelegenheit, indes die Religion auf dem breiten Strom der Literatur haltlos dahintreibt. Um ihr aber entschlossen den Scheidebrief zu geben, dazu fehlt dem Bürgertum sowohl das Wissen wie die Kraft und der Mut. Inkonsequent schwankend zwischen Religion und Geistesfreiheit, unterhält der Bourgeois noch mancherlei Beziehungen zu ihr und bezeugt ihr seinen Respekt, namentlich soweit in höheren Gesellschaftskreisen und speziell an den Höfen die Kirchlichkeit noch zum guten Ton gehört. Er billigt oder duldet die Erziehung und den Unterricht der Jugend auch in Lehren, die er selbst als veraltet und abergläubisch abgestreift hat, in vermeintlich pädagogischem Interesse und darauf rechnend, daß sie im reiferen Alter dieselben gleichfalls abstreifen wird. Hauptsächlich aber wünscht er die Erhaltung der Religion für das Volk, zu dessen Zügelung und Eindämmung seiner Emanzipationsbestrebungen, und schätzt das Priestertum als Zuchtmeister und geistigen Gendarmen für die unteren Klassen, als Bändiger revolutionärer Instinkte.

Einen kleineren Teil des Bürgertums bilden jene Freidenker, die der Arbeiterbewegung meist gleichgültig oder feindlich gegenüberstehen, aber die Religion mitsamt dem Gottglauben ohne historisch-psychologisches Verständnis leidenschaftlich bekämpfen, als Wurzel der Hauptübel in Staat und Gesellschaft und im bornierten Geiste jener „Fanatiker des Unglaubens“, von denen Heine schrieb, sie hätten gern für Voltaire einen Scheiterhaufen errichtet, weil er im Herzen ein verstockter Theist geblieben.

Das Proletariat

Ganz anders das klassenbewußte Proletariat. In der sozialistischen Geschichtstheorie geschult, begreift es den Theismus und die Religion aus ihren historischen Wurzeln und erblickt darin nicht die Ursachen sozialer Übel und Rückständigkeiten, sondern ihre Begleiterscheinungen, ohne doch zu verkennen, daß die Religion noch immer, wie in früheren Epochen, der Klassendespotie als Waffe, Maske, Schminke und Blendlaterne dient.

Dem hellen Licht der Wissenschaft zugekehrt, hat sich das Proletariat in seinen erleuchteten Schichten vom Theismus längst abgekehrt und steht ihm vollständig indifferent gegenüber – indifferent, indem es weder von einem Gott noch von der Religion irgend eine Förderung seiner Befreiungsbestrebungen erwartet – indifferent auch insofern, als es auf seine proletarischen Mitkämpfer in religiösen Dingen keinerlei Druck oder Zwang ausüben oder Zumutungen stellen will. Wohl verbreiten wir Wissen und Aufklärung auf allen Gebieten, das religiöse nicht ausgeschlossen, in zahlreichen Kanälen leiten wir die Ergebnisse der Forschung ins Volk, damit jeder befähigt sei, selbst zu prüfen und diejenigen Lehren anzunehmen, die ihm einleuchten. Der Wertschätzungen unserer Mitkämpfer tut es aber keinen Eintrag, welcher Weltanschauung sie huldigen, sofern sie nur als Parteigenossen und Gewerkschaftskollegen ihre Pflicht erfüllen.

Wohl aber bekämpfen wir energisch jeden Mißbrauch der Religion zur Verdummung des Volkes, zur Befestigung seines Jochs, zur Hemmung unserer Bewegung, und wenn bei diesem Kampf der Notwehr auf die Religion selbst Späne fliegen und manche Streiche sie treffen, so ist das nicht unsere Schuld. „Wenn die Religion zur Magd der Politik sich erniedrigt, kann sie sich nicht beklagen, wenn es ihr schlecht bekommt“, schrieb der geistreiche L. Seeger zu seiner Verdeutschung der unsterblichen Komödie des Aristophanes: Die Vögel.

Schluss

Aus dem doppelt gezwirnten Faden Unwissenheit und Abhängigkeit ist der Theismus gesponnen. Die Unwissenheit ward und wird mehr und mehr von Wissenschaft und Aufklärung überwunden. Die Abhängigkeit aber, die ökonomische, die schlimmste in der Gegenwart, Abhängigkeit in physischer und geistiger Wohlfahrt vom Besitz und Erwerb – das von dem russischen „Gedankenmaler“ Sascha Schneider so abschreckend verkörperte Ungetüm – ihm kann allein der Sozialismus den Todesstoß versetzen.

„Wenn die Gesellschaft durch Besitzergreifung und planvolle Handhabung der gesamten Produktionsmittel sich selbst und alle ihre Mitglieder aus der Knechtung befreit hat, in der sie gegenwärtig gehalten werden“ durch die ökonomischen Mächte, „dann erst verschwindet die letzte Macht, die sich jetzt noch in der Religion widerspiegelt und damit verschwindet auch die religiöse Wiederspiegelung selbst“ (Fr. Engels).

Die Nachtlampe der Illusion verlischt im hellen Licht der Morgensonne. Die Gesellschaft, gleich einer zärtlichen, wohlbegüteren Mutter, spendet allen ihren Kindern, die ihre Arbeitspflicht erfüllen, reichlich, was sie bedürfen, um glücklich zu sein.

In diesem Sinne sprach Wilhelm Liebknecht im Reichstag am 7. Juli 1893 (bildlich):

„Die alten Götter verschwinden und der neue Gott ist der Sozialismus, dem die Zukunft gehört.“


Anmerkungen

1. Näheres in meiner pseudonymen Schrift Ägypten und Palästina, Zürich 1881.

2. Wie wenig sich übrigens die Poesie über den Monotheismus zu beklagen hat, zeigen zahlreiche Partien der alten Literatur der Hebräer von der Größe, Macht und Pracht Jahves, wie sie sich in Natur, Geschichte und Menschenschicksal offenbart, was nur deshalb so wenig bekannt ist, weil noch so gute Übersetzungen den sprachlichen Glanz, Kraft und poetischen Duft des Originals kaum ahnen zu lassen imstande sind. Es sind Stellen, welche jenen hochberühmten homerischen Versen im 1. Gesang der „Ilias“ von Zeus, der mit dem Zwinkern seiner Brauen den gewaltigen Olymp erschüttert – die von den großen römischen Dichtern Horaz, Vergil, Ovid nachgeahmt wurde und wonach Phidias das „Weltwunder“, die kolossale Zeusstatue in Olympia, aus Elfenbein und Gold bildete – nicht nachstehen. Man denke auch an das prächtige, nach dem 104. Psalm gedichtete Kirchenlied „Herr, dir ist niemand zu vergleichen“.

3. Der Name des Stifters, Buddha, „der Erleuchtete“, ist sein Ehrenname.