„In tema di neutralità: al nostro posto“: Avanti, Nr. 225, August 1914.
Obwohl wir italienische Sozialisten uns seit Ausbruch des europäischen Krieges für mehr oder minder kurze Zeit in der Position von Zuschauern befinden, ist die Beurteilung der Ereignisse, wie wir sie heute trotz der verstümmelten und tendenziösen Nachrichten machen können, fraglos dazu angetan, uns im Kampf – heute und morgen – gegen den Krieg zu leiten, selbst wenn die Diskussion über die Geschehnisse in anderen Ländern zur Zeit etwas akademisch klingen mag.
In unserer Bewegung haben sich einige gefährliche Strömungen breitgemacht, die das uns gemeinsame Postulat der italienischen Neutralität gefährden könnten. Viele Genossen äußern und verbreiten in Massenversammlungen und in der Presse ein Gefühl glühender Sympathie für die Entente: sie rechtfertigen nicht nur die Haltung der französischen Sozialisten, sondern loben sie auch überschwänglich und fordern sogar, dass sich die italienischen Sozialisten für Frankreich schlagen sollen. Nur ein kleiner Schritt trennt diese Auffassung von derjenigen, nach der die italienische Neutralität nicht zugunsten Österreichs und Deutschlands gebrochen werden dürfe, jedoch zugunsten Frankreichs gebrochen werden könne. Eine solche Haltung entspricht theoretisch nicht dem sozialistischen Prinzip und dient praktisch nur dazu, das Spiel der italienischen Regierung und Bourgeoisie mitzumachen, die darauf erpicht sind, in den Konflikt einzugreifen. Betrachten wir die Gründe.
Angesichts der Bedeutung der gewaltigen Ereignisse, die wir jetzt erleben und die alle politischen und sozialen Werte in unvorhergesehener Weise auf den Kopf stellen, wird geäußert, man müsse sich von Schemata und „Formeln“ freimachen, um sich bei der Wahl der eigenen Position nach einem der Realität entsprechenden Kriterium zu richten. Insofern müssten Begriffe wie Antimilitarismus und sozialistischer Internationalismus auf das Abstellgleis platonischer Behauptungen gestellt werden – Begriffe, die durch die Ereignisse, wenn nicht überhaupt, so doch wenigstens zeitweise aufs tote Gleis geschoben würden. Man müsse sich klarmachen, dass in dieser historischen Stunde soziale Errungenschaften, die man für alle Zeiten gesichert glaubte, wie Freiheit und Demokratie, auf dem Spiel stünden und die Gefahr, die ihnen drohe, in der Vorherrschaft des österreichisch-deutschen Militarismus bestehe, der darauf ziele, die historische Epoche der „barbarischen“ Invasionen zu wiederholen, und der die liberalsten, zivilisiertesten und friedlichsten Länder brutal angegriffen habe.
An den Sozialismus könne man erst wieder „nach dem Sturz der Barbarei“ denken; momentan müsse man aber die Sache der Zivilisation verteidigen und sich der teutonischen Verwüstung Frankreichs und seiner verbündeten Länder widersetzen.
So zu denken, wird uns gesagt, bedeute, sich mutig von den „Formeln“ freizumachen. Diese Formeln waren zwar gut in „Friedenszeiten“, als sie die Grundlage für Deklamationen auf Massenversammlungen bildeten und die Wahlkampfschauspiele interessanter machten; doch niemand sagte damals den gutgläubigen Zuhörern, dass man diese „Formeln“ im kritischen Augenblick ad acta legen würde. Seinerzeit waren die „Denkschemata“ unerschütterliche Überzeugungen, Ideale, denen man auch das Leben geopfert hätte, treue Wiedergaben der gesellschaftlichen Realität, die von einem festen Glauben, der nie und nimmer verleugnet worden wäre, getragen wurden. Der Wahrheit, Aufrichtigkeit und Ehre des Sozialismus halber hätten diejenigen, die ihn schon immer für ein hohles Schema, eine unnütze Formel gehalten haben, nicht erst auf diese dunkle Stunde warten müssen, um ihn ins Feuer zu werfen.
Ohne die Augen vor den Ereignissen zu verschließen, um zählebige Illusionen im stillen Kämmerlein des Bewusstseins zu pflegen, können und müssen wir Sozialisten erklären, dass der Sozialismus nicht vernichtet ist und dass wir, auf Basis der bisher vertretenen Richtlinien, auch in der momentanen Situation direkt und sicher handeln müssen.
Diejenigen, die glauben, unsere alten Formeln aufgeben zu müssen, sind sich nicht bewußt, statt dessen nur auf Formeln zurückzugreifen, die nicht die unsrigen sind, und Richtlinien anzunehmen, die sie früher als falsch bezeichnet haben. Dies ist ein Phänomen, das an großen historischen Wendepunkten auftritt: die Parteien weichen zurück und stützen sich auf weniger fortgeschrittene Postulate. In der italienischen Revolution errichteten die republikanischen Revolutionäre die Monarchie. 1871 retteten die französischen Internationalisten die Nation: Zeichen der Unreife der Parteien der Zukunft. Ist der Sozialismus vielleicht heute immer noch unreif und werden sich seine Kräfte zurückziehen, um Prinzipien, die für uns auf ideologischer Ebene überholt sind, wie Demokratie und Nationalität, zu verteidigen? Kann sein. Noch aber kann man in Italien als Sozialist handeln. Morgen wird vielleicht jeder, seinem Instinkt folgend, auf einem anderen Posten stehen wollen. Aber jetzt haben wir noch einen Kampf auszufechten, und man kompromittiere und beflecke ihn nicht. Die sozialistische Partei kann – vielleicht – verhindern, dass das Gemetzel auf die italienischen Arbeiter übergreift, dass die Zahl der Niedergemetzelten und der Niedermetzler um Hunderttausende von Menschen vermehrt wird – für Interessen, die nicht die ihren sind. Wir stehen also, Gott sei dank, auf dem festen Boden des Sozialismus, der noch nicht unter unseren Füßen schwankt.
Es ist deshalb ein Fehler, sich plötzlich der frankophilen Gefühlsduselei anzupassen, die nicht das allerneueste Erfordernis dieser Situation ist, sondern nur das alte scholastische Rüstzeug der italienischen Demokratie. Behaupten wir also unsere Plattform. Wenn sich der Nationalismus so weit verleugnet, dass er sogar mit Österreich liebäugelt, wenn die Demokraten soweit sinken, dass sie dem Volke befehlen zu schweigen und der Regierung blindlings zu folgen, ist das für uns beileibe kein Grund, den Sozialismus beiseite zu legen und eilig die verwaisten Plätze der Berufspatrioten und Berufsdemokraten einzunehmen.
Wir müssen und können also auf unserem Posten bleiben: gegen alle Kriege, für die Verteidigung des Proletariats, das dabei alles zu verlieren, nichts zu gewinnen, nichts zu bewahren hat.
Seit der Mensch die Gabe hat, vor dem Handeln zu denken, um den eingegangenen Verpflichtungen und den konkreten Konsequenzen der einst gemachten abstrakten Aussagen zu entrinnen, hat das sich in jedem denkenden Wesen eingenistete „Advokatentum“ stets auf Differenzierungen zurückgegriffen. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel trifft uns heute die Differenzierung zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg, zwischen dem Überfall auf andere Vaterländer und der Verteidigung des nationalen Bodens. So schreiben die gestrigen Antipatrioten bloß einen Brief, der die früheren zig Bände, tausend Reden, tausend Artikel für nichtig erklärt, und marschieren an die Front. Besteht also auch die sozialistische Politik aus dem Kult der schönen Gesten, statt aus wahren Opfern? Frankreich sei angegriffen worden und verteidige sich gegen die deutsche Gefahr. Aber habt ihr die Erklärung des Abgeordneten Haase vor dem deutschen Reichstag gelesen? Deutschland verteidige sich gegen die russische Gefahr. Alle Vaterländer sind in Gefahr, seitdem sie gegenseitig übereinander herfallen. In Wirklichkeit geschieht folgendes: In jedem Land gelingt es der herrschenden Klasse, dem Proletariat weiszumachen, sie sei von Friedfertigkeit beseelt und in den Krieg hineingezogen worden, um das Vaterland und seine höchsten Interessen zu schützen, während in Wirklichkeit die Bourgeoisie aller Länder für den Kriegsausbruch verantwortlich ist, genauer: der Kapitalismus, der für sein Bedürfnis nach wirtschaftliches Expansion ein System gigantischer Rüstungspolitik und des bewaffneten Friedens errichtet hatte, das heute in diese schreckliche Krise einmündet.
Die These, nach der der österreichisch-deutsche Militarismus zielgerichtet auf den Krieg hingearbeitet habe, ist rein formell und scholastisch. Ebenso oberflächlich ist es, den militaristischen Charakter der beiden Reiche auf feudalistische, durch die moderne Geschichte überholte Traditionen zurückzuführen. Die Hochrüstung Deutschlands entspricht der Entwicklung seiner Industrie und den hochmodernen Bedürfnissen seines Handels. Das moderne Deutschland hat sich dank seiner erstklassigen und gewaltigen Produktion in der kapitalistischen Welt in den Vordergrund geschoben; da es, anders als England und Frankreich, keine sehr großen Kolonialreiche besaß und sich viel später als seine Rivalen als Nation gebildet hat, rüstete es zwangsläufig zum Krieg, um sich einen guten Platz in der Welt zu sichern. Vor hundert Jahren von der napoleonischen Übermacht geschlagen – gerade weil der im demokratischen Frankreich entstandene moderne Militarismus weitaus stärker war als die von den deutschen Fürsten zusammengestellten alten Heere –, hat sich das bürgerliche Deutschland jetzt erholt, von den mittelalterlichen Überresten des österreichischen Imperialismus befreit und den modernen Weg des kapitalistischen (sprich: demokratischen) Imperialismus eingeschlagen. Im Jahre 1866 wurde der deutsche Militarismus vom italienischen Patriotismus nicht in so trüben Farben geschildert; und diejenigen, die Italien die Folgen der Niederlagen von Lissa und Custoza1 ersparten, wurden damals nicht als Nachfolger Attilas bezeichnet.
Zum anderen neigen die modernen Staaten zum Militarismus, nicht nur, um sich die Handelssuprematie streitig zu machen, sondern auch aus anderen Gründen, die die Innenpolitik betreffen und in direktem Gegensatz zu den Interessen der Arbeiterklasse und ihrem Streben zum Sozialismus stehen. Auch die Vorherrschaft der einen oder anderen nationalen Bourgeoisie interessiert das Proletariat wenig, das je nach den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes in zunehmendem Maße die nationalen Grenzen überschreitet.
Man klage uns also nicht des Dogmatismus an, wenn wir angesichts des großen Dramas, das sich vor unseren Augen auf der Bühne der konventionellen Außenpolitik anbahnt, auf die inneren und die Klassengegensätze verweisen und nicht glauben, die Ursache des Krieges sei auf eine Laune Franz Josefs oder auf das Säbelgerassel Wilhelms II. zurückzuführen.
Mit Riesenschritten ging das bürgerliche Österreich dem Untergang entgegen, was nicht nur der Aktion des Proletariats, sondern auch und vielleicht noch mehr dem Rassenhass geschuldet war. Die Notwendigkeit, seinen Staat aufrechtzuerhalten, veranlasste Österreich, Serbien anzugreifen. Es ist dumm zu denken, ein Staat löse sich einfach auf, ohne die großen militärischen Kräfte einzusetzen, über die er unmittelbar verfügt. Österreich konnte hoffen, durch einen Krieg sein inneres Gefüge zu festigen und im nationalen Rausch seine inneren Zwistigkeiten in den Griff zu kriegen. Dies hat den Brand in Europa entfacht. Auf Grund des bestehenden Bündnissystems musste Deutschland mit den drei benachbarten Kolossen aneinandergeraten; der Kriegsausbruch war unvermeidlich. Was hat es für einen Sinn, darüber zu diskutieren, wer den ersten Stein geworfen hat? Es stimmt zwar, dass Fürst Bismarck, auf den das Bündnissystem zurückgeht, als der an allem Schuldige ausgemacht wurde; wir schätzen jedoch den Einfluss, den die Lebenden – geschweige denn die Toten – auf die Ereignisse ausüben, als ziemlich gering ein.
Als Beweis für die deutsche Aggressivität wird die Verletzung der Neutralität Luxemburgs und Belgiens angeführt, womit die Satzungen des Völkerrechts zunichte gemacht worden seien. Naivität oder Ironie? Wenn sich menschliche Grausamkeit in einem bisher beispiellosen Krieg entlädt, was soll dann ein Recht nützen, das von keiner Autorität gewährleistet werden kann?
Hätte der französische Generalstab Bedenken gehabt, die schweizerische Neutralität zu verletzen, falls dies seinen Plänen zupass gekommen wäre?
Was für eine Komödie führen die Regierungen auf! Nachdem sie sich auf jede nur erdenkliche Weise auf den Krieg vorbereitet haben – durch gigantische Aufrüstungen, durch Schüren nationaler Rivalitäten, durch gegenseitige diplomatische Intrigen, Spionage und Bestechung –, waschen sie heute ihre Hände in Unschuld und verlangen vom Proletariat, zu den Waffen zu eilen, weil die anderen die Menschen meuchlings überfallen und so deren Rechte mit Füßen getreten haben.
Gleichermaßen greift man auf das berühmte Argument der bedrohten Demokratie zurück. Man erklärt, ein deutscher Sieg bedeute einen „Rückfall in die Barbarei“, denn die moderne Zivilisation strahle von Frankreich aus. Bedarf es vieler Worte, um zu beweisen, dass diese These hohl und ausgesprochen antisozialistisch ist? Die Zivilisation im Sinne einer fortschrittlichen „Ausstrahlung“ von Ideen, Begriffen und Tendenzen wird von uns nicht angenommen. Überlassen wir sie den grünschnäbeligen Antiklerikalen. In der historischen Entwicklung sehen wir, wie die verschiedenen Klassen einander ablösen, was der nicht evolutionistisch verlaufenden, sondern durch sukzessive Krisen hervorbrechenden Aufeinanderfolge gesellschaftlicher Formen geschuldet ist. Ist die militärische Orgie, die Europa feiert, etwa nicht eine dieser großen Krisen? Es hängt nicht von dem Sieg des einen oder des anderen ab, ob danach die „Zivilisation“ oder die „Barbarei“ kommt, sondern von den Folgen, die die Krise auf die Klassenverhältnisse und auf die Weltwirtschaft hat. Und außerdem, worum soll die deutsche Kultur die französische beneiden? Wir müssen uns wirklich von Formeln freimachen, die der vulgärsten Interpretation der Ereignisse entlehnt wurden. Die Industrie, der Handel und die Kultur Deutschlands erlauben keine Vergleiche mit barbarischen Horden. Der deutsche Militarismus ist kein Überbleibsel vergangener Zeiten, sondern, wie wir zu zeigen versuchten, ein sehr modernes Phänomen. Wenn wir der militärischen Barbarei entgegengehen, so geschieht dies deshalb, weil die gesamte bürgerliche – und demokratische – Zivilisation diese Lösung ihrer inneren Widersprüche vorbereitet hat: dies erscheint uns heute als historische Rückkehr… Im Übrigen, ist Frankreich nicht mit dem zaristischen Russland verbündet?
Aber brechen wir hier ab und schließen. Die Schlussfolgerungen können zeigen, dass uns die theoretischen Grundsätze des Sozialismus nicht von der Realität entfernen. Der Wind des Krieges bläst Österreich ins Gesicht. Die italienische Bourgeoisie wünscht ihn herbei, sie schürt ihn, sie möchte zu den Waffen greifen, d.h. den Proletariern die Waffen in die Hände drücken, um an der Seite der Dreierkoalition [Fr, GB, Ru] aufzumarschieren. Dies wird im Verborgenen ausgebrütet, und, wenn die Regierung den Krieg gegen Deutschland führen will, auf den Straßen aufbrechen, und wir werden vielleicht Szenen wie im September 1911 erleben2, besonders wenn wir uns durch frankophile Gefühlsregungen desorientieren lassen.
Wenn wir rufen: „Es lebe Frankreich“, um einen Krieg gegen Frankreich abzuwehren – machen wir dann nicht allzu sehr Salandras Spiel mit?
Die Regierung könnte dann glauben, freie Hand zu haben, eine deutsche Provokation erfinden, das Fähnchen des bedrohten Vaterlandes schwenken und uns in den Krieg an der Ostgrenze hineinreißen.
Morgen werden wir unter dem Gewicht des Belagerungszustandes erleben, wie eine weitere offizielle Lüge in die Welt gesetzt wird, nämlich die, dass wir auch in Italien, das einmütig für den Krieg stimmt, keine Parteien mehr kennen!3
Also, auf unserem Posten, für den Sozialismus!
Anmerkungen
1. Gemeint ist die Seeschlacht von Lissa bzw. die Schlacht von Custoza 1866. Trotz einiger Siege über Italien verlor Österreich aber den Krieg vor allem an der zweiten Front gegen das mit Italien verbündete Preußen (Schlacht von Königgrätz) und musste im „Frieden von Wien“ Venetien an Italien abtreten.
2. Anspielung auf die Kriegsbegeisterung in Italien anlässlich des italienisch-türkischen Krieges. Der Krieg gegen das Osmanische Reich sollte u.a. von den innenpolitischen Problemen ablenken und die Beliebtheit der Regierung Giolitti steigern.
3. „Ich kenne keine Parteien mehr, kenne nur noch Deutsche“: Kaiser Wilhelm II. zu Beginn des I. Weltkrieges.