Die Neue Zeit, 29. Jg. 1910/11, Erster Band, S. 273-276.
Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 521-524
Seit einigen Tagen ist der Reichstag wieder versammelt, vielleicht zum letzten Mal, ehe er sich dem Volksgericht neuer Wahlen unterziehen muss, in jedem Falle altersschwach bis in die Knochen. Soviel in ihm geredet wird, mehr vielleicht als in jedem anderen Parlament, so gering ist das Echo, das seine Reden in den Massen finden, und dieser Zusammenhang ist ja auch leicht erklärlich: Je ohnmächtiger eine Volksvertretung ist, um so mehr wird in ihr gesprochen, und je mehr in ihr gesprochen wird, ohne dass sich die Worte in Taten umsetzen, um so offenbarer wird ihre Hilflosigkeit.
Eine unvergleichlich günstige Gelegenheit, sich trotz aller Tat- und Unterlassungssünden ein Stück reeller Macht zu erobern, war diesem Reichstag noch vor zwei Jahren geboten, als alle vermeintlichen oder wirklichen Rechte der Krone unter dem „Drucke von außen“ erbebten, der durch des Kaisers selbstherrliches Auftreten wachgerufen worden war. An großen Worten ließ es in den Novemberdebatten von 1908 der Reichstag auch nicht fehlen; alle bürgerlichen Parteien legten ihre staatsmännischen Stirnen in gewichtige Falten, aber schließlich verlief die Haupt- und Staatsaktion, wie üblich, im Sande. Der Reichstag ließ sich durch ein papierenes Versprechen des damaligen Reichskanzlers v. Bülow abspeisen, und nachdem dieser große Staatsmann ein Bonmot von gestern geworden ist, haben auch seine Verheißungen jede Kraft verloren, die sie etwa noch besessen haben mochten; der Kaiser proklamiert sich wieder, als hätte es nie ein Novemberversprechen gegeben, als Herrscher von Gottes Gnaden, als auserwähltes Instrument des Himmels, und wir wissen im Augenblick nicht, als was sonst noch.
Von unserem Standpunkt aus brauchen wir diese rednerischen Leistungen nicht zu beklagen – ganz im Gegenteil! –, aber soweit sie den Reichstag um den letzten Rest seines Ansehens zu bringen geeignet sind, gehen sie auch die Arbeiterklasse an, die im Reichstag vertreten ist und in der Danaidenarbeit, das Rückgrat dieser Körperschaft zu stärken, im eigenen Interesse nicht ermüden darf. Die sozialdemokratische Fraktion interpellierte deshalb den Reichskanzler darüber, was er zu tun gedenke, um den Bruch des Novemberversprechens von 1908 durch die neuesten Reden des Kaisers in Königsberg, Marienburg, Kloster Beuron zu sühnen.
Diese Interpellation ist nun heute verhandelt worden, mit einem Erfolg, der auch diejenigen noch enttäuscht haben wird, die von vornherein die allerbescheidensten Erwartungen auf die Steifnackigkeit des gegenwärtigen Reichstags setzten. Der Reichskanzler suchte sich mit dem plumpen Quidproquo aus der Affäre zu ziehen, dass er sagte, Wilhelm II. habe nur als deutscher Kaiser, nicht aber als preußischer König die Zusage staatsrechtlicher Reserve gegeben. Die preußischen Könige aber seien ihrem Volke gegenüber Könige aus eigenem Rechte; nicht durch das Volk, das sich ein Königtum gesetzt hätte, sei der preußische Staat entstanden, sondern durch die „fast beispiellose historische Arbeit großer Herrscher aus dem Hause Hohenzollern“. Der Philosoph auf dem Sessel des Reichskanzlers bewies dadurch, dass er vorzüglich auf die Phrasen dressiert ist, mit denen die Kinderseelen auf den Volksschulen zu vergiften gesucht werden, aber mehr auch nicht. Gewiss hat sich das Volk nicht die Hohenzollern zu Königen gesetzt – es müsste ein kurioses Volk sein, dass, wenn es sich überhaupt Könige setzen wollte, dabei gerade auf die Hohenzollern verfiele –, aber der Hohenzollernstaat hat sich zur Zeit, wo die deutsche durch ihre Fürsten ausgeraubte Nation zu schwach war, um überhaupt einen Willen zu haben, nicht durch die „fast beispiellose historische Arbeit“, sondern durch den „fast beispiellosen historischen Verrat“ ehemaliger Hohenzollern an Kaiser und Reich empor gemästet. Wir stehen dem Herrn Reichskanzler gern mit ausgiebigen Beweisen für diese Behauptung zu Diensten; einstweilen möchten wir ihn nur – falls er jemals bis zum historischen Seminar einer Universität vorgedrungen sein sollte – an die weltbekannte Tatsache erinnern, dass der Raub Schlesiens, der die Großmachtstellung des Hohenzollernstaats begründete, einzig und allein mit der Hilfe des gallischen Erb- und Erzfeindes ausgeführt worden ist und ausgeführt werden konnte.
Immerhin – so plump das Quidproquo des Reichskanzlers war, so leugnete er doch wenigstens nicht die offenbare Tatsache, dass Wilhelm II. als deutscher Kaiser im November 1908 bestimmte Verpflichtungen eingegangen sei. Auf die Höhe der Dreistigkeit, diese Verpflichtungen abzuleugnen, schwangen sich erst, in verschämter Form, der ultramontane Redner v. Hertling und, in nicht verschämter Form, der konservative Redner v. Heydebrand. Dieser edle Junker, der manchmal schon pfiffiger gesprochen hat, tobte wie besessen gegen die antimonarchische Sozialdemokratie, deren Herrschaft nach seiner gruseligen Schilderung mit einem allgemeinen Kopf ab! an Junkern, Pfaffen und Königen eingeleitet werden würde. Wie viel davon künstliche Mache und wie viel urwüchsige Blödheit war, ließ sich nicht ganz leicht unterscheiden. Nur wenn Herr v. Heydebrand schließlich die Regierungen zu Ausnahmegesetzen gegen die Arbeiterklasse aufzuhetzen versuchte, überwog der Verdacht der Komödianterie, denn dass hier der Knüppel beim Hunde liegt, weiß dieser kundige Thebaner allzu gut.
Im Grunde wollte er wohl nur dem „leitenden Staatsmann“ einpauken: Du bist unser Instrument, und das ist der irdische Kern des himmlischen Gedankens, wonach der Kaiser ein Instrument des lieben Gottes zu sein glaubt. Und darin hatte ja der kleine Junker aus dem schlesischen Junkerparadiese unzweifelhaft Recht. Keiner der früheren Reichskanzler hat das Joch des Junkertums so demütig getragen wie Herr v. Bethmann, und es war ganz in der Ordnung, wenn Genosse David in dem Unteroffizierston, womit der junkerliche Redner den ersten Beamten des Reiches anhauchte, den Grundton der kläglichen Melodie erkannte, die gestern der Reichstag sang. Gottes Gnade hin und her, aber im Deutschen Reiche herrschen die Junker, und die hat Gott nicht in seiner Gnade, sondern in seinem Zorne geschaffen.
Zu dem Jesuiten und dem Junker gesellte sich als würdiger Dritter im Bunde der nationalliberale Drehscheibenpolitiker Bassermann, der ein wenig Ach und Weh über die neuesten Reden des Kaisers durchschimmern ließ, aber schließlich doch mit dem ganzen sittlichen Brustton einer echten Mannesseele sich zur Monarchie bekannte. Sein Bekenntnis ist gewiss auch ganz ehrlich, solange die Monarchie den Profit garantiert; erscheint diese Garantie einmal gefährdet, dann entsinnen sich auch die Gesinnungsgenossen des Herrn Bassermann, dass sie nur „Vernunftmonarchisten“ sind, wie ihrerzeit das nationalliberale Hauptblatt, die „Kölnische Zeitung“, mit preiswürdiger Offenheit bekannte. Sah man heute die Dreimänner Hertling-Heydebrand-Bassermann um ihr goldenes Kalb tanzen, so konnte einem die arme Monarchie eigentlich leid tun, denn noch nie ist eine Gottheit von Priestern bedient gewesen, die nach dem französischen Worte so einzig vom Altar leben und bereit sind, den Altar zu zertrümmern, sobald er nicht mehr ihr Instrument sein kann.
Deshalb war es in gewissem Sinne ganz richtig, dass Herr v. Payer als Redner der Freisinnigen Partei den Unterschied zwischen dem November 1908 und dem November 1910 dahin zu erläutern suchte, dass es sich vor zwei Jahren um die Gefährdung der äußeren Politik durch das selbstherrliche Auftreten des Kaisers gehandelt habe, in diesem Jahre aber um die Gefährdung der inneren Politik. Gewiss hat dieser Gesichtspunkt in dem Sinne mitgespielt, dass Konflikte mit auswärtigen Mächten sehr unangenehme Konsequenzen für die Geldbeutel der besitzenden Klassen haben können und dass diese Klassen deshalb sehr unangenehm werden, wenn eine unvorsichtige Hand mit diesem Feuer spielt, während dieselben Klassen in der inneren Politik jedem Absolutismus hold und gewärtig sind, der ihren Interessen bereitwillig dient.
Insoweit war Herr v. Payer ganz auf der richtigen Fährte. Aber er war es keineswegs, wenn er daraus einen mildernden Umstand für den Unterschied von damals und heute ableitete. Für die arbeitenden Klassen liegen die Dinge gerade umgekehrt wie für die besitzenden Klassen. Für sie ist der innere Absolutismus, den Jesuiten und Junker huldigend umtanzen, ungleich gefährlicher und schädlicher als die absolutistischen Spielereien in der auswärtigen Politik, die viel zu sehr auf den realen Machtinteressen der einzelnen Staaten beruht, als dass hier durch irgendwelche Selbstherrlichkeiten ein allzu großer Schaden angerichtet werden könnte.
Im Allgemeinen unterschied sich die Rede des Herrn v. Payer zu ihrem Vorteile von dem, was die Redner der anderen bürgerlichen Parteien vorbrachten. Er wahrte wenigstens äußerlich das Gesicht des Reichstags. Das Maß von wirklichem Ernst, das dahinter steckt, muss ja die nächste Zukunft offenbaren. Damit erledigen sich auch die mannigfachen Anklänge der Debatte an die Frage, ob und inwieweit die bürgerliche und die proletarische Opposition in dem Kampfe gegen den Absolutismus gemeinsam marschieren können. Der Standpunkt der Sozialdemokratie, wie er heute auch von ihren Rednern im Reichstag vertreten wurde, ist allgemein bekannt: Sie wird sich in diesem Kampfe jeder Unterstützung freuen, die ihr gewährt wird, ohne dass sie ihren republikanischen Prinzipien etwas zu vergeben braucht.
Dass sie diese Prinzipien in den heutigen Verhandlungen zum ersten Male aufgedeckt haben soll, gehört zu den abgestandenen Scherzen, mit denen der Reichskanzler und seine jesuitisch-junkerlichen Bundesbrüder ihre langweiligen Tiraden aufzumuntern versuchten. Die deutsche Sozialdemokratie ist seit ihren ersten Anfängen immer republikanisch gesinnt gewesen, und niemals durfte sie sich dessen mehr freuen als heute, wo sich die bürgerliche Mehrheit des Reichstags mit ihren monarchistischen Kapriolen bis auf die Knochen blamiert hat.