Lieber Herr Carocci!
Die Probleme, die Sie in Ihren sieben Fragen aufwerten, locken mich sehr zu einer eingehenden Beantwortung, ist doch in ihnen so gut wie alles zusammengedrängt, was viele von uns seit Jahren bewegt. Leider sind meine Umstände so beschaffen, dass ich diese Absicht sogleich fallenlassen muss. Da ich aber Ihnen gegenüber meine Anschauungen doch nicht völlig verschweigen will, begnüge ich mich mit einem bloßen Privatbrief, der selbstverständlich unter keinen Umständen den Anspruch erhebt, alle wesentlichen Fragen systematisch zu behandeln.
Ich fange mit dem Ausdruck «Personenkult» an. Natürlich halte ich es für einen Unsinn, Gehalt und Problematik einer welthistorisch derart wichtigen Periode auf die individuelle Beschaffenheit eines Menschen zurückzuführen. Zwar lehrte man in meiner Studentenzeit auf den deutschen Universitäten: «Männer machen die Geschichte.» Jedoch selbst mein damaliger Simmel-Max Weberscher «Soziologismus» reichte aus, um über solche pathetische Verkündigung einfach zu lächeln. Wie erst nach einer jahrzehntelangen Erziehung durch den Marxismus?
Schon meine allererste, noch fast rein unmittelbare Reaktion auf den 20. Kongress richtete sich über die Person hinaus auf die Organisation: auf den Apparat, der den «Personenkult» produzierte und ihn dann als eine unablässige erweiterte Reproduktion fixierte. Ich stellte mir damals Stalin als die Spitze einer Pyramide vor, die, sich nach unten immer verbreiternd, aus lauter «kleinen Stalins» bestand, welche von oben aus gesehen Objekte, nach unten gerichtet Hervorbringer und Garanten des «Personenkults» sind. Ohne reibungsloses Funktionieren eines solchen Apparats wäre der «Personenkult» ein subjektiver Wunschtraum, ein Gegenstand der Pathologie geblieben, er hätte nie zu jener gesellschaftlichen Wirksamkeit erwachsen können, die er jahrzehntelang ausübte.
Es war nicht allzu viel Nachdenken nötig, um einzusehen, dass ein derartig unmittelbares Bild, ohne deshalb falsch zu sein, von Entstehen, Wesen und Wirkung einer bedeutsamen Periode nur eine fragmentarische und oberflächliche Vorstellung geben könnte. Für denkende und dem Fortschritt wirklich hingegebene Menschen tauchte notwendig das Problem der sozialen Genesis dieses Entwicklungsabschnitts auf, das als erster Togliatti sehr richtig dahin formulierte, dass die gesellschaftlichen Bedingungen des Entstehens und der Festigkeit des «Personenkults» aufgedeckt werden müssten, natürlich aus der inneren Dynamik der russischen Revolution; Togliatti fügte, ebenfalls richtig, hinzu, dass in erster Linie die Sowjetmenschen zu dieser Arbeit berufen seien. Natürlich handelt es sich dabei nicht bloß um ein Problem der Geschichte. Die historische Forschung geht notwendigerweise in eine Kritik der so entstandenen Theorie und Praxis über. Und zwar – davon war ich von Anfang an überzeugt – musste eine solche eingehende Betrachtung alles Falsche an der mit dem «Personenkult» verbundenen, aus ihm entsprungenen Ideologie aufdecken. Solchen Forschern müsste es so ergehen, wie Ibsen die ideologische Wendung seiner Frau Alving in den «Gespenstern» beschrieb : «Nur an einem einzigen Knoten wollte ich zupfen, als ich den aber aufhatte, da gab die ganze Geschichte nach. Und da merkte ich, dass es nur Maschinennaht war.» Dieses Ergebnis hängt primär nicht von der Einstellung der an die Frage Herantretenden ab; es ist die organische Konsequenz des behandelten Materials.
Diese Forschung blieb auch bis heute bloß ein Postulat für den wahren Marxismus, und Sie können unmöglich von mir erwarten, dass ich, der ich kein kompetenter Kenner dieses Stoffgebietes bin, auch nur einen Versuch zur Lösung darbiete; erst recht nicht in einem Brief, der notwendig noch subjektiver und fragmentarischer aufgebaut sein muss, als auch ein Essay über dieses Thema es wäre. Immerhin muss es für jeden denkenden Menschen klar sein, dass der Ausgangspunkt nur die innere und die internationale Lage der russischen proletarischen Revolution von 1917 sein kann. Objektiv muss man an die Kriegsverwüstungen, an die industrielle Rückständigkeit, an die verhältnismäßige kulturelle Zurückgebliebenheit Russlands (Analphabetismus etc.) denken, an die Kette der Bürgerkriege, der Interventionen von Brest-Litowsk bis zu Wrangel etc. Als – oft vernachlässigtes – subjektives Moment tritt hinzu die Beschränkung Lenins in der Möglichkeit, seine richtigen Einsichten in die Praxis umzusetzen. Man ist heute – da in diesem Jahrhundert seine Entschlüsse sich doch durchgesetzt haben – oft geneigt zu vergessen, welche Widerstände er dabei in der eigenen Partei überwinden musste. Wer die Vorgeschichte des 7. Novembers, des Friedens von Brest-Litowsk, der NEP nur einigermaßen kennt, wird wissen, was hier gemeint ist. (Es kursierte später eine Anekdote über Stalin, wonach er zur Zeit der inneren Debatten über den Brester Frieden gesagt haben soll: die wichtigste Aufgabe wäre, Lenin eine verlässliche Mehrheit im Zentralkomitee zu sichern.)
Nach Lenins Tod war zwar die Periode der Bürgerkriege und Interventionen abgeschlossen, jedoch besonders bei letzteren ohne die geringste Garantie dafür, dass sie nicht jeden Tag erneuert werden könnten. Und die ökonomische und kulturelle Rückständigkeit zeigte sich als schwer überwindbares Hindernis für eine Wiederherstellung des Landes, die zugleich Aufbau des Sozialismus und Gewähr für dessen Verteidigung gegen Restaurationsversuche des Kapitalismus sein sollte. Die innerparteilichen Schwierigkeiten sind mit dem Tod Lenins naturgemäß nur gewachsen. Da die revolutionäre Welle, die das Jahr 1917 ausgelöst hatte, vorüberging, ohne die Diktatur des Proletariats auch in anderen Ländern dauernd errichten zu können, musste man sich mit der Frage des Aufbaus des Sozialismus in einem (rückständigen) Lande resolut auseinandersetzen. Das ist die Zeit, in der sich Stalin als bedeutender, weitblickender Staatsmann erwies. Die wirksame Verteidigung der Leninschen neuen Theorie von der Möglichkeit einer sozialistischen Gesellschaft in einem Lande gegen die Angriffe vor allem Trotzkis war, so muss man es heute sehen, die Rettung der sowjetischen Entwicklung. Man kann die Stalin-Frage unmöglich historisch gerecht beurteilen, wenn man die Richtungskämpfe in der Kommunistischen Partei nicht von diesem Gesichtspunkt betrachtet; Chruschtschow hat diese Frage bereits auf dem 20. Kongress richtig behandelt.
Gestatten Sie mir jetzt einen kleinen Exkurs über die Bedeutung der Rehabilitation. Zweifellos müssen alle von Stalin in den dreißiger Jahren und später ungerecht Verfolgten, Verurteilten, Ermordeten von allen gegen sie ausgeklügelten «Anklagen» gereinigt werden (Spionage, Diversantentum etc.). Das bedeutet jedoch keineswegs, dass damit ihre politischen Fehler, ihre falschen Perspektiven ebenfalls einer «Rehabilitation» unterzogen werden sollen. Das bezieht sich vor allem auf Trotzki. Er war ja der theoretische Hauptvertreter der These, dass der Aufbau des Sozialismus in einem Lande unmöglich sei. Die Geschichte hat seine Konzeption längst widerlegt. Wenn wir uns jedoch in die Zeit unmittelbar nach Lenins Tod zurückversetzen, ergibt dieser Standpunkt notwendig die Alternative: entweder durch «revolutionäre Kriege» die Basis des Sozialismus zu verbreitern oder auf den sozialen Zustand vor dem 7. November zurückzugehen; also das Dilemma von Abenteurertum oder Kapitulation. Hier gestattet die Geschichte keine Rehabilitation Trotzkis; Stalin hatte gegen ihn in den damals entscheidenden strategischen Fragen vollständig recht behalten.
Ebenso abwegig scheint mir die im Westen weitverbreitete Legende, Trotzki hätte, wenn er zur Macht gelangt wäre, eine demokratischere Entwicklung eingeleitet als Stalin. Man muss bloß an die Gewerkschaftsdebatte von 1921 denken, um diese Legende als Legende zu durchschauen: Trotzki vertrat damals gegenüber Lenin den Standpunkt, die Gewerkschaften müssten verstaatlicht werden, um die Produktion wirksamer zu fördern, was objektiv so viel bedeutet, dass sie dem Wesen nach aufhören müssten, Massenorganisationen mit Eigenleben zu sein. Lenin, der von der konkreten Lage, von der Stellung der Gewerkschaften zwischen Partei und Staatsmacht im Sinne der proletarischen Demokratie ausging, weist ihnen sogar die Aufgabe zu, die materiellen und geistigen Interessen der Arbeiter (wenn nötig: sogar gegen einen bürokratisierten Staat) zu verteidigen. Ich will und kann hier nicht auf diese Frage detailliert eingehen. Es ist aber sicher, dass Stalin in späteren Jahren de facto (nicht in der Argumentation) die Linie Trotzkis und nicht Lenins weitergeführt hat. Wenn also Trotzki später Stalin vorwarf, dieser hätte sich sein Programm angeeignet, so hatte er darin vielfach recht. Für meine Beurteilung der beiden Persönlichkeiten folgt daraus: Was wir heute als despotisch, als antidemokratisch an der Stalinschen Ära beurteilen, hat sehr nahe strategische Berührungen mit Trotzkis Grundauffassungen. Eine von Trotzki geführte sozialistische Gesellschaft wäre zumindest ebenso undemokratisch gewesen wie die Stalinsche – nur wäre sie strategisch auf das Dilemma von Katastrophenpolitik oder Kapitulation angelegt gewesen statt auf die im Wesen richtige Linie Stalins, auf die Möglichkeit des Sozialismus in einem Lande. (Meine persönlichen Eindrücke von den Begegnungen mit Trotzki 1921 haben in mir die Überzeugung erweckt, dass er individuell noch stärker auf «Personenkult» angelegt war als Stalin.) Über Bucharin ausführlich zu schreiben, halte ich für überflüssig. In der Mitte der zwanziger Jahre, als seine Stellung eine völlig unangefochtene war, habe ich bereits darauf aufmerksam gemacht, wie problematisch sein Marxismus gerade in Bezug auf seine theoretischen Fundamente war.
Nun zurück zum Hauptthema. Die verdienten Siege in den Diskussionen der zwanziger Jahre haben die Schwierigkeiten von Stalins Position nicht aufgehoben. Die objektiv zentrale Frage, die des vehement gesteigerten Tempos der Industrialisierung, ließ sich nach aller Wahrscheinlichkeit im Rahmen der normalen proletarischen Demokratie schwerlich lösen. Es wäre müßig, heute darüber zu grübeln, ob und wieweit Lenin hier einen Ausweg gefunden hätte. Rückblickend sehen wir einerseits die Schwierigkeiten der objektiven Lage, andererseits, dass Stalin in immer exzessiverer Weise über das unbedingt Notwendige in ihrer Überwindung hinausging. (Die richtige Proportion aufzudecken wäre die Aufgabe eben jener Forschung, die Togliatti von der sowjetischen Wissenschaft erwartet hat.) Im engsten Zusammenhang damit steht – ohne freilich damit identisch zu sein – Stalins Position in der Partei. Sicher hat er während und nach der Periode der Diskussionen allmählich jene Pyramide aufgebaut, von welcher ich eingangs sprach. Ein solcher Apparat muss aber nicht nur aufgebaut, sondern ständig in Gang gehalten werden; er muss immer wunschgemäß und verlässlich auf Tagesfragen aller Art reagieren. Es musste also jenes Prinzip allmählich ausgearbeitet werden, das man heute als das des «Personenkults» zu bezeichnen pflegt. Auch hier müsste die Geschichte von kompetenten sowjetischen Kennern des ganzen Materials (inklusive des bis jetzt unveröffentlichten) aufgearbeitet werden. Was auch Außenstehende wahrnehmen konnten, war erstens der systematische Abbau der Parteidiskussionen, zweitens die Zunahme von organisatorischen Maßnahmen gegen die Widerstrebenden, drittens das Hinüberwachsen solcher Maßnahmen in gerichtliche und staatlich-administrative. Die letzte Steigerung wurde natürlich mit stumpfem Schrecken aufgenommen. Bei der zweiten arbeitete noch die Witzfolklore der russischen Intelligenz. «Was ist der Unterschied zwischen Hegel und Stalin», lautete die Frage. Und die Antwort: «Bei Hegel gibt es These, Antithese und Synthese, bei Stalin Referat, Koreferat und organisatorische Maßnahmen.» Zur historischen Beurteilung dieser Evolution gab Chruschtschow schon auf dem 20. Kongress einen nützlichen Wink, indem er die großen Prozesse der dreißiger Jahre als politisch überflüssig charakterisierte, da die Macht jeder Opposition damals bereits völlig gebrochen war.
Ich halte mich keineswegs für kompetent, diese Entwicklung und ihre treibenden Kräfte darzustellen. Auch theoretisch müsste gezeigt werden, wie Stalin, der in den zwanziger Jahren noch klug und geschickt das Leninsche Erbe verteidigte, immer stärker in allen wichtigen Fragen in Gegensatz zu ihm geriet, woran das verbale Festhalten an dem Zusammenhang mit Lenins Lehren nichts ändert Im Gegenteil. Da Stalin immer energischer durchzusetzen vermochte, dass er als der legitime Erbe Lenins, als sein allein authentischer Ausleger betrachtet, dass er als der vierte Klassiker des Marxismus anerkannt werden sollte, hat sich das verhängnisvolle Vorurteil von der Identität der Stalinschen Theorien mit den Grundprinzipien des Marxismus immer stärker verfestigt.
Ich wiederhole. Ich kann es nicht als meine Aufgabe ansehen, diese Lage und ihre Entstehung wissenschaftlich darzulegen. Ich nehme sie, wie sie in der Wirklichkeit ist, als Tatsache an und versuche im folgenden, ihre theoretischen und kulturellen Folgen sowie die in ihr immanent wirksame Methode an einigen wichtigen, knotenpunktartigen Tatbeständen ins Licht zu rücken. (Dabei will ich im voraus bemerken, dass ich mich wenig darum kümmere, ob und wieweit einzelne Theorien nachweisbar auf Stalin selbst zurückzuführen sind. Bei der von ihm geschaffenen geistigen Zentralisation war es sowieso unmöglich, dass Anschauungen zu dauernd herrschenden wurden, ohne von ihm zumindest zugelassen zu sein; seine Verantwortung für sie ist darum auf alle Fälle evident.)
Ich beginne mit einer scheinbar äußerst abstrakten Methodenfrage: Die Stalinsche Tendenz ist, überall möglichst sämtliche Vermittlungen auszuschalten und die krudesten Faktizitäten mit den allgemeinsten theoretischen Positionen in einen unmittelbaren Zusammenhang zu bringen. Gerade hier wird der Gegensatz zwischen Lenin und Stalin deutlich sichtbar. Lenin hat sehr genau zwischen Theorie, Strategie und Taktik unterschieden und stets alle Vermittlungen, die sie miteinander – oft äußerst widerspruchsvoll – verbinden, sorgfältig studiert und berücksichtigt. Natürlich ist es mir in einem Brief – mag er während des Schreibens noch so sehr anschwellen – unmöglich, diese theoretische Praxis Lenins auch nur anzudeuten. Ich greife aus diesem großen Komplex als Beispiel nur den für Lenin sehr wichtigen Begriff des taktischen Rückzugs heraus. Es ist methodologisch ohne weiteres klar, dass die Notwendigkeit und Nützlichkeit eines Rückzugs nur aus den jeweiligen konkreten Kräfteverhältnissen und nicht aus den allgemeinsten Prinzipen heraus begriffen werden kann; diese bestimmen – mehr oder weniger vermittelt – die Zielsetzung etc. der jeweiligen Aktion und haben insofern eine große Bedeutung auch für den Rückzug selbst, als sie seine Art, seine Maße etc. so mitbestimmen, dass er nicht zum Hindernis eines neuen Vorstoßes werde. Dass dabei ein weitverzweigtes und kompliziertes System der Vermittlung erkannt werden muss, um den Rückzug elastisch durchzuführen, bedarf keiner weiteren Erklärung. Stalin, der nicht über die durch große Taten und wichtige theoretische Errungenschaften entstandene, bereits «naturhaft» wirkende Autorität Lenins verfügte, suchte den Ausweg in der Richtung, je eine sofort einleuchtende Rechtfertigung aller seiner Maßnahmen so zu bewerkstelligen, dass diese als unmittelbar notwendige Folgen der marxistisch-leninistischen Lehren hingestellt wurden. Dazu mussten alle Vermittlungen ausgeschaltet, Theorie und Praxis in einen unmittelbaren Zusammenhang miteinander gebracht werden. Deshalb verschwinden aus seinem Weltbild so viele Kategorien Lenins; auch der Rückzug erscheint bei ihm als Vormarsch.
Stalins Skrupellosigkeit ging dabei so weit, wenn nötig auch die Theorie solchen Autoritätsforderungen gemäß umzumodeln. Dies zeigte sich am groteskesten in der chinesischen Frage, wobei das Groteske daraus erwächst, dass Stalin diesmal im taktischen Sinne völlig recht hatte. (Man soll bei der allerschärfsten Kritik nie vergessen, dass Stalin eine bedeutende politische Figur war.) Trotzki und seine Anhänger vertraten den Standpunkt, dass, da in China die von Marx theoretisch behandelten asiatischen Produktionsverhältnisse vorherrschend waren, eine bürgerlich-demokratische Revolution – in Europa der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus – überflüssig wäre und der unmittelbare Ausbruch einer proletarischen Revolution bevorstehe. Stalin durchschaute richtig die politische Falschheit und Gefährlichkeit dieser Position. Statt sie jedoch durch eine konkrete Analyse der gegenwärtigen Lage Chinas und der daraus folgenden taktischen Aufgaben zu widerlegen, strich er die asiatischen Produktionsverhältnisse einfach aus der Wissenschaft aus, statuierte einen chinesischen (einen allgemein asiatischen) Feudalismus. Die ganze Orientalistik in der Sowjetunion wurde dadurch gezwungen, eine nicht existierende Formation zur «Grundlage» aller Forschungen zu machen.
Dieselbe Methodologie zeigt ein anderer, viel berühmterer Fall. Ich meine Stalins Pakt mit Hitler im Jahre 1939. Wieder handelt es sich darum, dass Stalin eine meiner Meinung nach taktisch im wesentlichen richtige Entscheidung traf, die jedoch verhängnisvolle Folgen hatte, weil er auch hier, statt den von den konkreten Umständen aufgezwungenen taktischen Rückzug als solchen zu behandeln, aus seinen von der Not diktierten Maßnahmen ohne jede theoretische Vermittlung prinzipielle Bewertungen der internationalen Strategie des Proletariats gemacht hat. Ich will hier auf den schwierigen Problemkomplex, welche Vorteile und Nachteile, politischer wie moralischer Art, der Pakt von 1939 gebracht hat, nicht eingehen. Sein unmittelbarer Sinn war, einen eminent drohenden Angriff Hitlers zu vertagen, und zwar einen solchen, den wahrscheinlich Chamberlain und Daladier offen oder versteckt unterstützt hätten. Die weitere taktische Perspektive war die folgende: Wenn Hitler – wie es tatsächlich geschah – den Pakt mit der Sowjetunion als günstige Gelegenheit für eine Offensive nach dem Westen benützte, würde später, in dem Fall eines Krieges zwischen der Sowjetunion und Deutschland, für die Sowjetunion das schon zur Münchener Zeit angestrebte Bündnis mit den westlichen Demokratien zur höchsten Wahrscheinlichkeit werden; auch hier haben die Ereignisse die taktische Voraussicht Stalins bestätigt.
Verhängnisvoll für die ganze revolutionäre Arbeiterbewegung wurden hingegen Stalins theoretisch-strategische Folgerungen. Stalin ließ den zwischen Hitler-Deutschland und den Westmächten ausbrechenden Krieg für einen ebensolchen imperialistischen Weltkrieg erklären, wie es der Erste Weltkrieg war. Das heißt: die damals richtigen strategischen Losungen Lenins («Der Feind steht im eigenen Land», «Verwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg», etc.) sollten unverändert für Länder gelten, die sich gegen den Hitlerfaschismus verteidigen sollten und wollten. Man braucht nur den ersten Band des Romanzyklus von einem so parteitreuen Schriftsteller wie Aragon zu lesen, um die international verheerenden Folgen dieser Stalinschen «Verallgemeinerung» eines taktischen Schrittes zu erkennen.
Die verhängnisvollsten Konsequenzen gehen jedoch über noch so krasse Einzelfälle hinaus. Die große Autorität des Marasmus zur Zeit Lenins beruhte darauf, dass die dialektische Einheit von theoretischer Fundiertheit, Prinzipienfestigkeit und taktischer Elastizität allgemein empfunden wurde. Die neue «Methodologie» Stalins führte dazu, dass weite und keineswegs immer dem Marxismus a limine feindlich gesinnte Kreise in den theoretischen Verkündigungen Stalins nunmehr nichts weiter sahen als oft sophistische, in vielen Fällen pseudotheoretische «Begründungen» für rein taktische Maßnahmen von oft rasch vorübergehender Geltung. Stalin kam damit den theoretischen Wünschen vieler bürgerlicher Denker, wonach der Marasmus ebenso bloß eine politische «Ideologie» sei wie jede andere, weit entgegen. Wenn heute tiefe und richtige Parolen Chruschtschows, wie Vermeidbarkeit des imperialistischen Krieges, Koexistenz etc., vielfach ähnliche Auslegungen erfahren, so wirkt sich hier die Stalinsche Erbschaft aus. Eine prinzipiell-radikale Abrechnung mit ihrer Methodologie, und nicht bloß mit den als vereinzelt aufgefassten Fehlern, ist also auch im dringlichsten praktischen Sinne eine Forderung des Tages.
Die hier aufgezählten Fälle sind natürlich solche extremen Charakters. Ihre Prinzipien wurden jedoch in der täglichen Praxis allgemein wirksam. Man darf dabei, neben den bis jetzt erwähnten Gründen, nicht außer acht lassen, daß ein beträchtlicher Teil der alten Partei-Intelligenz in Opposition zu Stalin stand (woraus natürlich nicht folgt, dass solche Oppositionen methodologisch und sachlich richtige Standpunkte vertraten). Stalin brauchte die genaue Durchführung seiner Entschlüsse durch den Apparat, womöglich auch die Zustimmung der breitesten Massen; auch deshalb vereinfachte er radikal seine theoretischen Enunziationen. Die Ausschaltung der Vermittlung, die unmittelbare Verbindung der allgemeinsten Prinzipien mit den konkreten Anforderungen der Tagespraxis, erschien dazu als sehr geeignetes Mittel. Auch hier wurde nicht die Theorie in Anwendung auf die Praxis konkretisiert, sondern, umgekehrt, die Prinzipien nach den – oft bloß vermeintlichen – Bedürfnissen der Praxis bis zur Vulgarisation vereinfacht.
Auch hier greife ich aus der Fülle der Tatsachen nur ein charakteristisches Beispiel heraus. In seiner letzten ökonomischen Arbeit «entdeckte» Stalin, dass – was Marx, Engels und Lenin «entgangen» war – jede ökonomische Formation ein «Grundgesetz» habe, das sich in einem kurzen Satz zusammendrängen lässt. Es ist so einfach, dass es auch der bornierteste und ungebildetste Funktionär sofort versteht; ja mehr als das: Er ist mit seiner Hilfe instand gesetzt, jede wissenschaftlich-ökonomische Arbeit, von der er sachlich nichts versteht, auf ihre «rechten» oder «linken» Abweichungen hin sofort abzuurteilen.
Marx, Engels und Lenin wussten, dass die ökonomischen Formationen komplizierte bewegte Systeme bilden, deren Wesen sich nur durch ein genaues Aufdecken aller wichtigen Bestimmungen, deren Wechselbeziehungen, Proportionen etc. umschreiben lässt. Stalins «Grundgesetze» besagen Trivialitäten, erklären gar nichts, sie erfüllen aber bestimme Kreise mit der Illusion, alles besser zu wissen. In dieselbe Richtung der Vulgarisation durch das Ausschalten der Vermittlungen gehört die Feststellung Stalins in seinem Aufsatz über Sprachwissenschaft, wonach mit dem Verschwinden einer ökonomischen Formation auch ihre Ideologie verschwinden muss, etc. etc.
Die verschiedenen Momente der Stalinschen Methode bilden eine systematische Einheit und gehen innerhalb dieser ineinander über. Der Subjektivismus in der Person Stalins ist Ihnen sicher schon bisher aufgefallen. Er bildet tatsächlich ein fundamentales Moment in diesem System. Er erhält seine reine Gestalt in der Stalinschen Auffassung der Parteilichkeit Auch hier handelt es sich um einen wichtigen Bestandteil der theoretischen Konzeption Lenins. Bereits in seinen Jugendwerken beschäftigt er sich mit diesem Problem und arbeitet dessen subjektive wie objektive Momente heraus. Das subjektive Moment ist klar und einfach: die entschiedene Stellungnahme im Klassenkampf. Wenn jedoch Lenin den Objektivismus der bürgerlichen Gelehrten kritisiert, so weist er auf eine gewisse Art des Determinismus hin, der sehr leicht in eine Apologetik der als notwendig aufgefassten Tatsachen umschlagen kann. Indem die materialistische Parteilichkeit die Ereignisse tiefer und konkreter, von ihren wirklichen bewegenden Kräften ausgehend untersucht, ist sie konsequenter objektiv als der «Objektivist», bringt die Objektivität tiefer und vollständiger zur Geltung. Bei Stalin fällt dieses zweite Moment ganz weg; es entsteht ein Verwerfen in Bausch und Bogen eines jeden Dranges nach Objektivität; dieser wird mit dem Stempel des «Objektivismus» versehen und dann verächtlich gemacht. (Da Stalin ein kluger Mensch war, erschrak er zuweilen vor den Folgen des von ihm entfesselten Subjektivismus, so z. B. in der Ökonomie. Aber dauernd konnte und wollte er ihn nicht eliminieren; dazu war diese Einstellung viel zu tief in der von ihm eingeführten Methode verankert.) Da Stalin die zitatenmäßige Kontinuität mit dem Werk Lenins um jeden Preis aufrechterhalten wollte, entstanden dabei nicht nur Vergewaltigungen der Tatsachen, sondern auch der Leninschen Texte. Das auffallendste Beispiel ist jener Artikel Lenins aus dem Jahre 1905, mit welchem er, unter den neuen Bedingungen der Legalität, Ordnung in der Parteipresse und im Parteiverlag schaffen wollte. Allmählich wurde aber unter Stalin dieser Artikel zur Bibel der «Parteilichkeit» auf dem ganzen Gebiete der Kultur, vor allem auf dem der Literatur, mit der Absicht, den Schriftsteller in eine bloße Schraube der großen Maschinerie zu verwandeln. Und obwohl Lenins Frau und nächste Mitarbeiterin, N. Krupskaja, brieflich darauf hingewiesen hat, dass dieser Artikel Lenins sich überhaupt nicht auf schöne Literatur bezieht, sind noch heute Tendenzen vorhanden, die Bibel Bibel bleiben zu lassen.
Ähnlich erging es Hegel zur Zeit des Zweiten Weltkrieges, als, aus agitatorischen Bedürfnissen des Kampfes gegen Hitler-Deutschland, er zum Ideologen des reaktionären Widerstandes gegen die Französische Revolution verfälscht wurde. Es mag – ganz abgesehen von dem Widerspruch dieser Auffassung zu den Anschauungen von Marx, Engels und Lenin – als komischer Kontrast erwähnt werden, dass zur selben Zeit, aus ähnlichen agitatorischen Bedürfnissen, aus dem zaristischen General Suworow ein Revolutionär gemacht wurde. Dass Suworow Feldzüge gegen die Französische Revolution leitete, während Hegel bis an sein Lebensende begeistert für sie eintrat, hat die Stalinsche «Parteiherrlichkeit» nicht gestört; die Anerkennung der Tatsachen wäre ja «Objektivismus» gewesen.
Den Gipfelpunkt dieser Tendenz bildet die in vielen Millionen Exemplaren verbreitete Parteigeschichte. Hier ist einfach die «Parteilichkeit» des obersten Funktionärs jener Demiurg, der Tatsachen schafft oder verschwinden lässt, der Menschen und Taten nach Bedürfnis zum Sein und zur Geltung erhebt oder annulliert. Es ist eine Geschichte vom Kampf der Richtungen, welche aber von keinen Menschen vertreten oder getragen sind, von anonymen Oppositionen etc., eine Geschichte, in welcher, natürlich außer Lenin, bloß Stalin Existenz besitzt (In der ersten Ausgabe fand sich freilich eine Ausnahme; Jeshow, «unser Marat», der erste Vorbereiter der großen Prozesse, kam gleichfalls vor; nach seinem Sturz wurde auch sein Name ausgelöscht.)
In alledem wird ein weiterer methodologischer Gedanke sichtbar. Für die Klassiker des Marxismus galt es als selbstverständlich, dass die Wissenschaft das Material und die Gesichtspunkte liefert, auf Grund welcher die politischen Entscheidungen gefällt werden. Propaganda und Agitation erhalten ihren Stoff aus der Wissenschaft, aus der wissenschaftlich durchgearbeiteten Praxis. Stalin kehrt dieses Verhältnis um. Für ihn ist, aus Gründen der «Parteilichkeit», die Agitation das Primäre. Ihre Bedürfnisse bestimmen, wie ich dies schon früher an einigen Beispielen zeigte, was die Wissenschaft zu sagen habe und wie sie es sagen soll. Auch hier möge ein Beispiel dies beleuchten. Stalin stellt im berühmt gewordenen 4. Kapitel der Parteigeschichte das Wesen des dialektischen und des historischen Materialismus dar. Da es sich um ein populäres Buch für Massenleser handelt, würde es Stalin niemand übelnehmen, dass er die sehr weit verzweigten und komplizierten Auseinandersetzungen der Klassiker über dieses Thema auf einige, schematisch lehrbuchhaft nebeneinander gereihte Definitionen reduziert. Jedoch das Schicksal der philosophischen Wissenschaften nach dem Erscheinen dieses Werks zeigt, dass es sich um eine bewusste Methodologie und Kulturpolitik handelt, und zwar in dem Sinn, den ich soeben aufgezeigt habe. Die Stalinschen agitatorischen Vereinfachungen (oft Vulgarisationen) wurden nämlich sofort zur alleinigen gebieterischen Richtschnur und zur unübersteigbaren Schranke der philosophischen Forschung. Wer es wagte, z. B. auf Lenins philosophische Aufzeichnungen gestützt, über die Bestimmungen des 4. Kapitels hinauszugehen oder sie einfach nur zu ergänzen, verfiel der ideologischen Verdammung, konnte seine Untersuchungen nicht veröffentlichen. Nicht umsonst stellte Iljitschow auf dem 22. Kongreß fest, dass Philosophie, Ökonomie und Historik in den letzten Jahrzehnten stagniert haben.
Diese Formen der Unterordnung beschränkten sich nicht auf das 4. Kapitel und nicht nur auf die Philosophie. Die ganze Wissenschaft und die ganze Literatur sollten ausschließlich den von oben, von Stalin, formulierten Agitationsbedürfnissen dienen. Selbständiges Erfassen und Bearbeiten der Wirklichkeit durch die Literatur war zunehmend verpönt. Die «parteiliche» Literatur soll ja nicht die objektive Wirklichkeit schöpferisch widerspiegeln, sondern die Parteibeschlüsse in literarischer Form illustrieren. Es gereicht der Kritikerin Jelena Ussijewitsch zu hoher Ehre, dass sie gegen diesen Zwang zur illustrierenden Literatur schon in den dreißiger Jahren auftrat. In seiner Rede auf dem 22. Kongress hat der Dichter Twardowski diesen auch heute notwendigen Kampf weiter fortgesetzt. Es handelt sich dabei um eine Lebensfrage der Literatur. Sie kann nur dann zu einer echten Gestaltung kommen, wenn sie von wirklichen Problemen wirklicher Menschen ausgeht und die innere Dialektik der daraus entstehenden Entwicklung walten lässt. Das Gebot zur Illustration macht eine abstrakte, eine allgemeine Wahrheit (wenn sie eine Wahrheit ist?) zur Grundlage des Werks, die Menschen und ihre Schicksale müssen um jeden Preis dieser These angepasst werden.
All dies war natürlich kein Selbstzweck, sondern entsprang aus Stalins Position, aus seinem Bedürfnis des unbestrittenen Führertums. Wie früher muss ich auch jetzt sagen: Nur eingehende Untersuchungen kompetenter Kenner des Stoffes werden darüber ein Urteil fällen, welche Rolle den objektiven Schwierigkeiten und welche Rolle den inadäquaten Reaktionen Stalins auf sie zufällt. Objektiv gibt es in den dreißiger Jahren zweifellos eine Verschärfung der Lage: im Inneren infolge der forcierten Industrialisierung und infolge der Kollektivierung der Landwirtschaft, außenpolitisch infolge der Machtergreifung Hitlers und des drohenden Angriffs auf die Sowjetunion durch das faschistische Deutschland. Ob sich der Klassenkampf im Lande selbst, bei allen ökonomischen Schwierigkeiten, wirklich entscheidend verschärft hat, darüber können nur Forschungen von Kennern des Stoffes ein kompetentes Urteil fällen. Stalin hat jedenfalls rasch die Parole der agitatorisch-vereinfachten Verallgemeinerung gefunden: die unablässige Verschärfung des Klassenkampfes sei in der Diktatur des Proletariats notwendig – fast hätte ich gesagt, ist ihr «Grundgesetz».
Diese These, die bereits der 20. Kongress als falsch entlarvt hat, bringt die verhängnisvollsten Folgen der Methode Stalins ans Tageslicht. Sie will eine Atmosphäre des immerwährenden gegenseitigen Misstrauens, einer gegen alle gerichteten Wachsamkeit hervorrufen, die Stimmung eines Belagerungszustandes in Permanenz. Ich kann hier die nebensächlichen Konsequenzen nur kurz und fragmentarisch berühren, z. B. eine ins Maßlose gesteigerte Frucht vor Feinden, vor Spionen und Diversanten, woraus ein überspanntes System des Geheimhaltens von allem entstand, was mit staatlichen Angelegenheiten irgend etwas zu tun hatte. So wurde z. B. aus der Statistik eine «streng geheime» Wissenschaft, deren Ergebnisse nur den völlig Zuverlässigen zugänglich gemacht werden durften; die wissenschaftlich arbeitenden Ökonomen gehörten nur ausnahmsweise – und nie aus wissenschaftlichen Gesichtspunkten – zu diesem engen Kreis der Auserwählten.
Damit tritt ein neuer, ergänzender Zug dem Bilde der Stalinschen Methode hinzu: Alles, was in einer akut revolutionären Situation, in der es tatsächlich um Sein oder Nichtsein einer Gesellschaft geht, objektiv unvermeidlich ist, wurde von Stalin willkürlich zum Fundament des sowjetischen Alltags gemacht. Ich will hier nicht über die großen Prozesse sprechen. Dieses Thema wurde bisher am eingehendsten behandelt, und in seiner Rede auf dem 22. Kongress hat Scheljepin sehr richtig die Konsequenzen für das sowjetische Rechtswesen und für die sozialistische Rechtswissenschaft analysiert. Ich möchte nur kurz auf bestimmte kulturelle Folgen dieser Lage aufmerksam machen. Schon das Eliminieren der Vermittlungen enthält in sich die Tendenz, alle Phänomene des Lebens als völlig monolithische zu behandeln. Durch die Permanenz des akut Revolutionären erhält sie eine weitere Steigerung. Jeder Mensch wird in der Totalität seiner Existenz, in allen Bestimmungen seiner Persönlichkeit und seines Lebenswerks jener Rolle restlos subsumiert, die er – wirklich oder angeblich – in einem so aufgefassten Leben momentan spielt.
Um aus der «Logik» der Prozesse ein Beispiel zu nehmen: Weil Bucharin 1928 gegen den Stalinschen Plan der Kollektivierung auftrat, darum ist es sicher, dass er 1918 sich an einer Verschwörung gegen Lenins Leben beteiligte. Das ist die Methode Wyschinskis in den großen Prozessen. Diese Methode entwickelt sich jedoch auch zu der der Beurteilung von Geschichte, von Wissenschaft und Kunst. Auch hier ist es lehrreich, die Methode Lenins der Methode Stalins gegenüberzustellen. Lenin hat z. B. die Politik Plechanows 1905 und 1917 hart und scharf kritisiert. Zugleich aber – und dieses Zugleich bedeutet für Lenin keinen Widerspruch – besteht er darauf, dass das theoretische Lebenswerk Plechanows für die Ausbreitung und Vertiefung der marxistischen Kultur im Sozialismus ständig benützt werde, obwohl er auch auf rein theoretischem Gebiet manchen gewichtigen Einwand gegen Plechanow erhebt.
Ich habe den Stoff keineswegs erschöpft. Aber bereits diese flüchtigen und fragmentarischen Bemerkungen können Ihnen zeigen, dass es sich bei Stalin keineswegs – wie manche lange Zeit glauben machen wollten – um einzelne, gelegentliche Fehler handelt, sondern um ein sich allmählich ausbildendes falsches System von Anschauungen, um ein System, unter dessen schädlichen Wirkungen man desto empfindlicher leidet, je weniger das gegenwärtige gesellschaftliche Sein jenem gleichzusetzen ist, als dessen verzerrende und verzerrte Spiegelung das Stalinsche System erscheint. Auch hier sind die entscheidenden Tatsachen allgemein bekannt. Ich zähle sie also nur ganz kurz auf: Den Sozialismus in einem Lande haben die Ereignisse nach dem Zweiten Weltkrieg in eine historische Reminiszenz verwandelt, ebenso wie die ökonomische und kulturelle Zurückgebliebenheit der Sowjetunion; auch die Möglichkeit ihrer Einkreisung durch den Kapitalismus gehört der Vergangenheit an. Zu diesen Tatsachen tritt die erfolgreiche Befreiung der Kolonialvölker, die Umwälzung der Kriegführung durch Raketen, nukleare Bomben. Aus all diesen Gründen hat die Unvermeidlichkeit der imperialistischen Kriege ebenfalls aufgehört, eine Notwendigkeit zu sein. Es ist das große Verdienst des 20. und 22. Kongresses, diese neue Lage erkannt und aus ihr die wichtigsten theoretischen und praktischen Folgerungen gezogen zu haben. Natürlich scheiden sich die Geister vor allem nach ihrer Stellungnahme zu Krieg oder Frieden. Um diese Frage spitzen sich auch die ideologischen Fragen am schärfsten zu. Ohne hier das politisch Wesentliche auch nur streifen zu können, muss ich hervorheben, dass auf kulturellem Gebiet die Betonung der Kriegsgefahr, das Unterschätzen des Gewichts jener Kräfte, die für die friedliche Koexistenz tätig sind, Folgen hat, die in den meisten Fällen mehr nach innen als nach außen gerichtet sind; das heißt, sie bezwecken weit unmittelbarer die Remanenz oder die Entstehung einer Kriegsatmosphäre als die wirkliche Vorbereitung oder Entfachung eines wirklichen Krieges. Hier ist das Weiterleben Stalinscher Tendenzen in den Kreisen des offenen oder maskierten Sektierertums deutlich sichtbar. Wenige werden heute die allgemeine These Stalins von der zwangsläufigen Verschärfung der Klassenkämpfe mit denselben Worten aufrechterhalten. Es genügt ja zur Konservierung des Stalinschen Status quo im Inneren, für den jeweils gegenwärtigen Augenblick eine solche Verschärfung festzustellen, um damit in der akuten Spannung die zentralistische Kontrolle aller kulturellen Äußerungen ebenfalls zu konservieren; der «Augenblick» kann natürlich nach Belieben prolongiert werden.
Hier ist die Grundlage für das de facto bestehende Bündnis der extremen Richtungen in Kapitalismus und Sozialismus. Beide erstreben, letzten Endes, die unveränderte Aufbewahrung der Stalinschen Methoden: die bürgerlichen Ideologen, weil ein auf Stalin reduzierter Marxismus viel weniger Anziehungskraft besitzt als der echte; die angeblich sozialistischen Ideologen, weil das Regieren mit Stalinschen Methoden weitaus bequemer ist als mit denen von Marx und Lenin. Darum gehören heute – unmittelbar betrachtet und paradoxerweise – Enver Hoxha und Salvador de Madariaga zusammen. Beide sind im Grunde genommen Kämpfer für die Integrität des Stalinschen Systems.
Auf der anderen Seite bedeutet die Koexistenz notwendig eine Steigerung auch der kulturellen Wechselbeziehungen zwischen Kapitalismus und Sozialismus, somit die Forderung an die sozialistische Kultur, aus der lebendigen Konkurrenz mit der kapitalistischen siegreich hervorzugehen. Das Sektierertum tut alles, nicht nur um die Bedingungen eines erfolgreichen Wettbewerbs zu schwächen, sondern auch, um die wahre Lage zu verschleiern. Diese ist nämlich weitaus ungünstiger als in den zwanziger Jahren, als die Stalinschen Methoden noch nicht ausgebildet und systematisch auf alle kulturellen Erzeugnisse angewendet waren. Der westdeutsche Kritiker Walter Jens schildert die deutsche Literatur dieser Zeit so: «Am Ende wird niemand zweifeln, dass nicht zuletzt der Blick auf die Sowjetunion die Kunst der zwanziger Jahre geprägt hat.» Und über die Wirkung der siegreichen Stalinschen Methode spricht er sich so aus: «Die Intelligenz wurde nun für immer heimatlos.»
Es ist die große Aufgabe der sozialistischen Kultur, der Intelligenz und über sie hinaus den Massen eine geistige Heimat zu zeigen. In der politisch wie wirtschaftlich so schweren Zeit der zwanziger Jahre ist das weitgehend gelungen. Dass diese Tendenzen später auf dem internationalen Kraftfeld der Kultur sehr abgeschwächt wurden, ist eine Folge der Stalinschen Periode. Aber diese Kräfte können wieder erwachen, wenn die ungünstigen Bedingungen und ihre Entfaltung abgebaut werden. Ein Film wie Tschuchrajs zeigt deutlich, dass das Stalinsche Regime die produktiven Energien nur unterdrücken, nicht aber ersticken konnte.
Freilich will ich mit dieser Feststellung die Schwierigkeiten der Übergangszeit nicht unterschätzen. Da die Kulturapparate der sozialistischen Länder heute noch weitgehend von den dogmatischen Anhängern Stalins, die sich bestenfalls äußerlich dem Neuen anpassen, besetzt sind; da bedeutende Teile des Kadernachwuchses im Stalinschen Geist erzogen und geformt wurden; da dieses System ein Paradies für Unbegabte und sich mühelos Anpassende ist; da viele, sogar unter den Begabten, dem langen Druck nicht standhalten konnten, ohne Schäden an Fähigkeit und Charakter zu erleiden, etc.: deshalb wird der Übergang zu einem Wissenschaft und Kunst wirklich fördernden Kulturzustand voraussichtlich widerspruchsvoll, schwer, an Rückfällen reich sein.
Der 22. Kongress hat unter anderem wichtige Bestandsaufnahmen über den gegenwärtigen Zustand gebracht. Ich habe einige solcher Stimmen bereits angeführt. Das aktuell Bedeutsamste ist jedoch nicht, was unmittelbar auf kulturellem Gebiet geschieht, sondern jene ökonomischen und politischen Maßnahmen, die eine allgemeine Demokratisierung kommunistischen Sinnes ins gesellschaftliche Sein einführen. Hier herrscht eine weitaus unmittelbar drängendere Notwendigkeit der Reformen vor als auf dem Feld der Kultur. Bei allen ihren Fehlern war die Stalinsche Industrialisierung imstande, die technischen Möglichkeiten für den erfolgreichen Krieg gegen Hitler-Deutschland herbeizuschaffen. Die neue Weltlage stellt jedoch die Sowjetunion auf ökonomischem Gebiete vor ganz neue Aufgaben: Sie muss eine Wirtschaft schaffen, die auf der ganzen Oberfläche des Lebens den entwickeltesten Kapitalismus, den der Vereinigten Staaten, übertrifft, die das Lebensniveau der sowjetischen Bevölkerung auf ein höheres als das dort erreichte erhebt, zugleich aber imstande ist, sowohl den anderen sozialistischen Staaten wie den sich befreienden, ökonomisch zurückgebliebenen Völkern eine allseitige, systematische und permanente wirtschaftliche Hilfe zu leisten. Dazu sind neue, weniger bürokratisch zentralisierte, demokratischere Methoden notwendig als die, die sich bis jetzt ausbilden konnten. Der 22. Kongress hat hier ein großzügiges und vielseitiges Reformwerk eingeleitet. Ich verweise nur auf seinen höchst interessanten und wichtigen Beschluss, dass bei den Wahlen der Parteiinstanzen 25% der alten Führung nicht wiedergewählt werden dürfen. Nur die systematische demokratische Erneuerung des ganzen Lebens kann die gesunde Grundlage für die kulturelle Renaissance im Sozialismus abgeben.
Der Widerstand gegen eine prinzipiell-radikale Kritik der Stalinschen Periode ist auch heute noch sehr stark In ihm vereinigen sich die mannigfaltigsten Motive. Gutgläubige und Wohlwollende befürchten zum Beispiel einen Prestigeverlust des Kommunismus bei schonungslosem Aufdecken der Fehlerhaftigkeit des Stalinschen Systems. Sie übersehen, dass gerade darin die unwiderstehliche Macht des Kommunismus zur Geltung kommt: Welthistorisch fällige Bewegungen können durch noch so ungünstige Maßnahmen nicht dauernd aufgehalten werden. Ihre Entfaltung, ihr Wirkungsradius können eingeengt werden, nicht aber ihre Entwicklung und Festigung zu guter Letzt. Dazu ist noch zu bemerken: Kein unbefangenes Denken wird das Positive an der Wirksamkeit Stalins übersehen; ich selbst habe hier auf seinen verdienten Sieg in den Diskussionen der zwanziger Jahre hingewiesen, und man könnte sicher noch manches andere erwähnen. Aber die «Forderung des Tages» ist die Befreiung des Sozialismus von den Fesseln der Stalinschen Methoden. Ist Stalin einmal zur Geschichte, zur Vergangenheit geworden, ist er nicht mehr das aktuelle Haupthemmnis einer Zukunftsentwicklung, so wird man ihn ohne große Schwierigkeiten historisch richtig einschätzen können. Ich selbst habe verschiedentlich eine geschichtlich gerechte Beurteilung angeregt; diese darf aber die heute so wichtige Reformarbeit nicht bremsen.
Es handelt sich um die Entfesselung jener Kräfte, die in der richtigen Methode von Marx, Engels und Lenin enthalten sind. Chruschtschow hat in seiner Bukarester Rede den Gegensatz von echt Leninscher Methode und dogmatisch-anlaßgebundenen Aussagen im Geiste Stalin mit dem treffenden Bild deutlich gemacht, dass Lenin heute jene Leute bei den Ohren nehmen würde, die mit Zitaten aus seinen Schriften und Reden die gegenwärtige Unvermeidlichkeit der Kriege verkünden würden. Aber das Zurückgreifen auf die unverfälschte Methode der Klassiker des Marxismus ist vor allem ein Griff in die Gegenwart, in die Zukunft. Die letzte originelle marxistische ökonomische Untersuchung, Lenins Imperialismus, ist 1916 erschienen; die letzte originelle marxistische Untersuchung auf philosophischem Gebiet, Lenins Hegel-Analyse, ist in den Jahren 1914/15 entstanden und wurde in den dreißiger Jahren veröffentlicht. Aber die Welt ist nicht stehengeblieben, weil unsere Theorie erstarrt ist. Der Rückgriff auf die Methode der Klassiker des Marxismus ist eben dazu da, die Gegenwart, so wie sie wirklich ist, marxistisch zu erfassen, um aus der richtig erkannten Wirklichkeit und nicht aus einer schematischen Zitatologie die Richtschnur für Verhalten und Handeln, für Schaffen und Forschen zu gewinnen.
Natürlich ist dieser Prozess – auch abgesehen von den Hemmungen durch die Instanzen – kein einfacher. Es gehört zum Wesen der wissenschaftlichen Forschung (und der künstlerischen Gestaltung), dass sie in den meisten Fällen erst durch vielfache Irrungen sich zur maximalen Annäherung an die Wirklichkeit heranarbeiten kann. Da in der Stalinschen Periode die Zentralinstanz unfehlbar sein musste, mussten die von den kleinen Stalins bewerkstelligten Anwendungen ebenfalls «vollkommen» sein. Dass diese «Vollkommenheit» und «Endgültigkeit» eine äußerst ephemere war, dass sie nicht selten nach kurzer Zeit als Abweichung verworfen wurde, ist ebenfalls eine Signatur dieser Zeit. Auch hier gibt es über die Stimmung der russischen Intelligenz am Anfang der dreißiger Jahre ein Dokument der Witzfolklore. Damals erschien jedes Jahr ein Band der Literatur-Enzyklopädie, natürlich stets streng im Sinne der «Vollkommenheit» redigiert. Jedoch bis die Drucklegung vollendet war, wurden aus den dogmatisch fixierten Wahrheiten fast ausschließlich ebenso dogmatisch festgestellte Fehler. Der Volksmund nannte deshalb dieses Werk nur «Enzyklopädie der Abweichungen». Ein Verzicht auf die bürokratisch dekretierte «Endgültigkeit», ein öffentliches Austragen der realen Differenzen in Wissenschaft und Kunst würde innerlich einen ungeahnten Aufschwung für den Marxismus bedeuten und nach außen – sehr gegen die Auffassung der Stalinschen Kulturbürokratie – die Autorität der wirklich fähigen marxistischen Gelehrten und Künstler nur heben.
Im Jahre 1798, bei einer Diskussion über Verfassungsänderungen in Württemberg, schrieb der junge Hegel : «Wenn eine Veränderung geschehen soll, so muss etwas verändert werden.» Das trifft auf die gegenwärtige Situation genau zu; so kann man die wirklichen Lager voneinander unterscheiden. Denn seit dem 22. Kongress ist es bereits unmöglich geworden, der Kritik der Stalinschen Zeit ganz aus dem Wege zu gehen. Sie ist allgemein geworden. Aber die einen sagen: Das und das ist unrichtig gewesen, Wissenschaft und Kunst befinden sich aber bereits in neuem Aufschwung. Die anderen sagen: Wir haben mit der Kritik der Vergangenheit begonnen, jetzt gilt es, auf Grund dieser fortlaufenden Kritik die ideellen und organisatorischen Grundlagen für einen künftigen Aufschwung erst zu schaffen. Es ist klar: Die einen wollen so verändern, dass alles beim Alten bleibe, bloß soll das Alte eine neue Aufschrift erhalten. Natürlich ist im zweiten Fall nicht gemeint, dass ein Reformwerk vollendet werden müsse, dessen Resultate erst nachher, nach seiner Vollendung, sichtbar werden können. Nein. Eine ehrliche Reformbewegung kann schon inmitten des Kampfes um die Grundlagen neue Ergebnisse in Wissenschaft und Kunst zeitigen. Es handelt sich aber um einen langwierigen, widerspruchsvollen Prozess.
Lieber Herr Carocci, ich fühle, mein Brief ist unerträglich lang geworden, obwohl ich nur einen kleinen Teil von dem aussprach, was Ihre Fragen in mir angeregt haben. Entschuldigen Sie also sowohl die Länge wie das Fragmentarische.
Mit herzlichen Grüßen Georg Lukács