1912 // Artikel
Josef Strasser // Der Arbeiter und die Nation

Der Arbeiter und die Nation

1912

Josef Strasser: Der Arbeiter und die Nation, Reichenberg, 1912.
Neu herausgegeben vom Junius Verlag, Wien, 1982.


1. Die Frage

Der Mensch ist ein Bündel von Widersprüchen. Das Individuum, das „gesellschaftliche Atom“, ist selber eine ganze Gesellschaft – eine Gesellschaft, in der es meist sehr lebendig, oft unfriedlich zugeht, in manchen Fällen unfriedlich bis zum Selbstmord. Nicht zwei, hundert Seelen wohnen in der Brust auch des armseligsten Menschen und jede strebt nach der Alleinherrschaft, die sie doch nicht erringen kann, ohne die ganze Gesellschaft zu zerstören. Jeder einzelne liegt, wie mit seiner Umwelt, so auch mit sich selber beständig im Kampf, und die Geschichte eines Menschen ist nur zu verstehen als die Entwicklung der Widersprüche, die sein Ich ausmachen. Interessengegensätze bestehen nicht nur zwischen verschiedenen Individuen, jeder Mensch hat gegensätzliche Interessen. Wie in jeder anderen Gesellschaft entwickelt sich auch im Individuum eine Verfassung. Wir nennen sie gemeinhin Vernunft. Wie die Verfassung eines Staates, wenn schon nicht formell, so doch nach ihrem Inhalt nichts anderes ist als ein Kompromiß zwischen den Klassen, die in diesem Staate leben, so ist die Vernunft, die Verfassung des einzelnen, ein Kompromiß zwischen seinen verschiedenen Begierden. Dieser entwickelt sich erst allmählich. Niemand bringt seine Vernunft mit auf die Welt, jeder muß Lehrgeld für sie zahlen. Zuerst lassen wir allen unseren Neigungen freien Lauf, wir gehen ohne alle Rücksicht auf den größtmöglichen Lustgewinn aus. Dabei stoßen wir auf Widerstände –in der Außenwelt und in uns selber. Unserer Habsucht z.B. werden Grenzen gesetzt sowohl durch äußere Hindernisse, als auch durch unseren Ehrgeiz, unsere Genußsucht, unsere Liebe zu anderen usw. Wir begreifen, daß sich nicht alle unsere Triebe ungehemmt entwickeln dürfen, weil die Widersprüche zwischen ihnen, voll entfaltet, unseren Untergang herbeiführen müßten. Aus den zuwideren Erfahrungen, die wir machen, lernen wir unsere Neigungen zügeln, unsere Widersprüche fruchtbar machen, uns auf eine praktische Weise widersprechen. Wir verzichten auf einiges, auf vieles, auf das meiste, um nicht alles zu verlieren. Wir bescheiden uns, wir treffen ein Abkommen mit uns selber, wir werden vernünftig. Vernunft ist die rechtzeitige Erinnerung an empfangene Prügel.1

Nicht alle haben dieselbe Vernunft, können sie nicht haben. Was für den einen das Vernünftige ist, kann für den anderen aberwitzig sein. Der Mann hat eine andere Vernunft als die Frau, der Greis eine andere als der Jüngling, der Künstler eine andere als der Bürokrat. Jede Verschiedenheit unserer Veranlagung und unserer Verhältnisse bedingt eine Abweichung unserer Vernunft von der der anderen. Wer nicht seine Vernunft hat, der hat überhaupt keine.

Was vom Individuum gilt, das gilt auch von jeder Gruppe von Individuen, von einem Kaffeekränzchen, einem Schachklub, einer philosophischen Gesellschaft so gut wie von einem Stand, einer Kaste, einer Religionsgenossenschaft, einer Nation. Auch in jeder Klasse bestehen, wie in jedem Individuum, Interessengegensätze, und die Klasse kann sich nur behaupten, wenn sie dieser Gegensätze Herr wird, wenn sie ihre Widersprüche überwindet. Und es ist ein verläßliches Zeichen des Verfalls, wenn eine Klasse ihre Ideologie preisgibt, d.h. mit ihren inneren und äußeren Widersprüchen nicht mehr fertig werden kann.

Wie jedes Individuum, so muß auch jede Klasse ihre Vernunft selbst hervorbringen. Und wie der einzelne nicht aus Moralpredigten, sondern nur aus seinen unangenehmen Erlebnissen lernt, so die Klasse nur aus ihren Niederlagen. Nehmen wir das Proletariat. Kein Sozialdemokrat fällt vom Himmel. Wohl sagen wir: Der Sozialismus ist die proletarische Weltanschauung, aber das bedeutet nicht, daß die sozialistischen Ideen dem Arbeiter angeboren sind. Er muß sich sein Klassenbewußtsein mühsam erarbeiten. Nichts ist dem Proletariat in seinen Anfängen fremder als sein Ureigenstes, die proletarische Denkweise: behaftet mit allen bürgerlichen Vorurteilen tritt es in die Geschichte ein; die Klasse, die berufen ist, die gewaltigste aller gesellschaftlichen Revolutionen zu vollziehen, hängt lange Zeit an kleinbürgerlich-reaktionären Idealen. Erst im Laufe einer eben so langwierigen als schmerzhaften Entwicklung bringt die kapitalistische Wirklichkeit den Arbeitern die schreienden Widersprüche zwischen ihren überkommenen bürgerlichen Anschauungen – also ihrer proletarischen Unvernunft – und ihrer gesellschaftlichen Lage zum Bewußtsein. Das Proletariat muß ungeheures Leid erdulden, ehe es sich von seinen unproletarischen Traditionen freimacht, sich auf die eigenen Füße stellt, „seinen eigenen Kopf aufsetzt“, seine eigene, die proletarische Vernunft entwickelt.

Daß die Befreiung der Arbeiterklasse das Werk der Arbeiter selbst sein muß, erscheint uns heute als eine Binsenwahrheit. Aber wie lange hat das Proletariat gebraucht, bis es die Notwendigkeit des Klassenkampfes erkannte! Wie schwer ist ihm die Einsicht in diese Notwendigkeit geworden, mit welcher Leidenschaft hat es seinen Aberglauben verteidigt, ja wie oft erleben wir es noch heute, daß große Schichten des Proletariats zu Meinungen zurückkehren, die längst als abgetan gegolten haben! Was ist der Revisionismus anderes als ein Rückfall in bürgerliche Anschauungen, ein Versuch, in die proletarische Weltanschauung dieses oder jenes bürgerliche Vorurteil einzuflicken? Ist die Blockpolitik nicht die alte Harmonieduselei? All der Unsinn, der heute hochnäsig den Anspruch erhebt, für das Ergebnis der neuesten wissenschaftlichen Forschung genommen zu werden, steht bereits in einem ehrwürdigen Alter, er stammt aus den Kinderjahren des Proletariats. Der Revisionismus hat nicht einen einzigen originellen Gedanken gehabt, seine Lehren sind nur die „wissenschaftliche“ Formulierung der kindlichen Irrtümer, in denen das Proletariat am Beginn des kapitalistischen Zeitalters befangen war. Wie hat es denn damals ausgesehen? Der Klassenkampf, den der Revisionismus, wenn er konsequent sein will, verpönen muß, weil ein „Zusammenarbeiten“ des Proletariats mit anderen Klassen, wie die Erfahrung lehrt, nur möglich ist, wenn die Arbeiter den proletarischen Standpunkt verlassen, dieser Klassenkampf erscheint dem naiven Proletarier als ein Ding der Unmöglichkeit, besser gesagt: er denkt überhaupt nicht an seine Möglichkeit. Er sucht sein Heil in einem guten Einvernehmen mit dem Kapitalisten. Er arbeitet für seinen Ausbeuter wie ein Pferd, liest ihm jeden Wunsch von den Augen ab, ist unterwürfig, kriecherisch, vernadert seine Mitarbeiter, kurz er sucht eine bessere Stellung zu ergattern, indem er alle Sklavenlaster übt. Er weiß nichts von Solidarität. Er sieht in seinem Mitarbeiter nicht den Genossen, sondern den Konkurrenten. Nicht im Verein mit den anderen Arbeitern und im Kampf gegen den Unternehmer will er vorwärts kommen, sondern im Kampf gegen die Klassengenossen und im Frieden mit dem Kapitalisten. Die Fehlerhaftigkeit seiner Logik liegt auf der Hand: seine Rechnung kann nur richtig sein, so lange nur einzelne so rechnen wie er; tun es alle, wird das Schuften, das Schweifwedeln, das Denunzieren allgemeiner Brauch, so entfällt für den Unternehmer jeder Grund, die „Bravheit“ zu belohnen – Musterknaben werden nur prämiert, wenn sie Ausnahmen sind. Mit anderen Worten: die Lohndrücker- und Streikbrechermoral kann auf die Dauer nicht die allgemeine proletarische Moral sein, denn gerade durch ihre Verallgemeinerung macht sie sich unmöglich. So kommen die Arbeiter zu der Erkenntnis, daß sie ihre Lage nur verbessern können, wenn sie sich zum Kampf gegen die Ausbeutung zusammenschließen. Von da bis zum ausgereiften Klassenbewußtsein führt freilich noch ein sehr langer und beschwerlicher Weg. Wenn der Arbeiter auch schon weiß, daß er allein nichts ausrichten kann, so ist er doch noch weit entfernt von der Auffassung, daß alle Arbeiter zusammengehören. Von Klassenbewußtsein ist auf dieser Stufe der Entwicklung noch keine Rede, nur von dessen ersten dumpfen Regungen. Noch sieht der Proletarier über seine Fabrik, seine Stadt, seine Branche nicht hinaus, noch blickt der gelernte Arbeiter mit aristokratischem Hochmut auf den ungelernten herab, noch betrachtet der Einheimische mißgünstig den zugewanderten „Fremden“. Aber die Wahrheit, daß sich die Arbeiter ohne Rücksicht auf irgendwelche zwischen ihnen bestehende Gegensätze vereinigen müssen, ist nun einmal auf dem Marsch. Zwar sucht die Bourgeoisie die Entwicklung des proletarischen Klassenbewußtseins mit allen Mitteln zu verhindern. Es gibt keinen Gegensatz, keinen Unterschied zwischen den Arbeitern, den sie nicht auszunützen bemüht wäre. Sie nährt den Künstlerstolz, der gewissen Arbeitergruppen eigen ist, sie hetzt den qualifizierten Arbeiter gegen den unqualifizierten, sie fruktifiziert die in der Arbeiterschaft noch lebendigen religiösen und nationalen Vorurteile. Aber sie vermag die Entwicklung nur zu verzögern, nicht ihr Halt zu gebieten. Es kommt die Zeit, in der der Mahnruf des Kommunistischen Manifestes: „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ in tausend und abertausend Proletarierherzen ein Echo weckt. Das Proletariat hat sich sein Klassenbewußtsein erarbeitet. Noch sind nicht die Arbeiter aller Berufe, aller Nationen dazu erwacht, noch kann es einzelnen, selbst großen Gruppen von Arbeitern wieder getrübt werden, ja verloren gehen, aber für die Klasse ist die Erkenntnis der Zusammengehörigkeit aller Arbeiter zum Kampfe gegen den Kapitalismus ein unverlierbarer Besitz geworden.

Was bedeutet nun die Aufforderung des Kommunistischen Manifestes? Will Marx sagen, daß das Klasseninteresse des Arbeiters dessen sämtliche Interessen einschließt, sodaß z.B. Arbeiter verschiedener Nationalität keine gegensätzlichen Interessen haben können? Oder meint er, daß Interessenverbände, auch nationale, innerhalb des Proletariats möglich sind, daß aber alle derartigen besonderen Gruppeninteressen unberücksichtigt bleiben müssen, wenn nicht das proletarische Gesamtinteresse zu kurz kommen soll? Oder ist er am Ende gar der Meinung, daß die Arbeiter überhaupt keine nationalen Interessen haben, daß also, was man so nennt, nur bürgerliches Interesse ist, das aus demagogischen Gründen unter einem irreführenden Namen auftritt?

Daß es innerhalb des Proletariats Interessengegensätze gibt, ist evident. Wenn sich zwei Arbeiter um dieselbe Arbeitsstelle bewerben, so sind sie schon gegensätzlich interessiert. Erringt nun der eine diese Stelle, indem er überdurchschnittliche Leistungen anbietet und unterdurchschnittliche Forderungen stellt, so hat er wohl sein momentanes persönliches Interesse durchgesetzt, aber er hat zugleich die allgemeinen Arbeitsbedingungen verschlechtert, also seine Klasse geschädigt und damit auch seine eigenen Aussichten vermindert. Er hat, wie alle schlechten Wirte, der Gegenwart die Zukunft geopfert. Die Versuchung zu solcher Wirtschaft tritt an die Arbeiter täglich heran, aber je öfter sie ihr erliegen, desto rascher erkennen sie, daß diese Wirtschaft unvernünftig ist, daß die Masse der Arbeiter auf keinen grünen Zweig kommen kann, wenn sie nicht ihre persönlichen Interessen dem Klasseninteresse unterordnen. Nicht anders verhält es sich mit den Brancheninteressen. Ein Blick in die englische Gewerkschaftsgeschichte zeigt uns, wohin die Arbeiter kommen, wenn sie sich zünftlerisch gegeneinander abschließen und in der Verfolgung ihrer beruflichen Interessen das Klasseninteresse außer acht lassen

Wie steht’s nun mit den nationalen Interessen? Begeben sich die Arbeiter nicht auf einen Irrweg, wenn sie eine nationale Politik anstatt einer Klassenpolitik treiben? Die nationalistischen Demagogen bestreiten das. Nach ihrer Lehre ist nicht die Klasse, sondern die Nation die höchste, die wichtigste Interessengemeinschaft. Sie erklären: Die Nation ist ein Organismus, und die Klassen, in die sie zerfällt, sind voneinander ebenso abhängig, wie die einzelnen Organe eines Lebewesens miteinander in Wechselwirkung stehen. Darum müssen sich die deutschen Arbeiter mit den deutschen Fabrikanten, Handwerkern, Bauern vereinigen, wenn sie etwas erringen wollen, nicht mit den tschechischen, polnischen, italienischen Arbeitern. Nicht alle Klassengenossen, sondern alle Volksgenossen gehören zusammen.

Diese Theorie ist nur eine Modernisierung des Märchens von der Interessenharmonie. Dennoch ist die Arbeiterklasse von ihr nicht unberührt geblieben. Die tschechoslawische „Sozialdemokratie“ ist durch die eigenartigen Verhältnisse, unter denen die tschechischen Arbeiter leben, ganz in den Bann nationalistischer Anschauungen geraten. Sie glaubt dem Nationalismus die rührende Geschichte des Menenius Agrippa, daß die unteren Klassen einer Nation nur gedeihen können, wenn sie der Nation, wie die herrschenden Klassen sich zu nennen belieben, mit Hingebung dienen, genauso, wie der menschliche Organismus nur gesund bleiben kann, wenn dem Magen die anderen Organe genug Nahrung zuführen. Aber auch die deutsche Sozialdemokratie hat sich von nationalistischen Anwandlungen nicht ganz frei zu erhalten vermocht. Freilich, zu den Kräften, die in ihr wirken, gehört der Nationalismus noch nicht. Die Masse der deutschen Arbeiterschaft ist von Haus aus international gestimmt, und so ist der Nationalismus in unserer Partei bis heute nicht viel mehr gewesen als eine persönliche Schrulle einzelner Genossen. Aber ein prinzipieller Gegensatz besteht zwischen den Anschauungen des Separatisten Nemec und denen des nationalen Sozialdemokraten Pernerstorfer nicht. Beide wollen dasselbe, und wenn der Nationalismus des einen rabiat und stößig, der des anderen zivilisiert und temperiert ist, so erklärt sich das nicht aus einem Gegensatz ihrer Grundanschauungen, sondern aus der Verschiedenheit ihrer historischen Situation. Gingen die deutschen Arbeiter den Weg, den Pernerstorfer für den rechten hält, so müßten sie früher oder später dorthin kommen, wo Nemec und die Majorität der tschechischen Arbeiterschaft heute stehen.

Bisher haben die deutschen Proletarier keine Lust gezeigt, diesen Weg einzuschlagen. Das hat die nationalistische Demagogie, die seit einigen Jahren verzweifelte Anstrengungen macht, das Proletariat „zu seiner nationalen Pflicht zurückzuführen“, bewogen, ihre Lehren sozialistisch aufzuputzen. Sie versucht ihr Glück mit einer Melange von Sozialismus und Nationalismus. Danach ist der Mensch ein Amphibium: er gehört einmal einer Klasse und einmal einer Nation an. Er ist einmal ein Deutscher, ein Franzose, ein Engländer und einmal ein Fabrikant, ein Bauer, ein Arbeiter. Er hat Klasseninteressen und er hat nationale Interessen. Und diese haben mit jenen gar nichts zu tun. Den nationalen Kampf also muß die deutsche Arbeiterklasse, wie immer sie für ihre Klasseninteressen kämpft, im Verein mit den anderen Klassen des deutschen Volkes führen. Der deutsche Proletarier mag als Proletarier machen, was er will, als Deutscher ist er an den heiligen Gütern der deutschen Nation ebenso interessiert wie der deutsche Kapitalist, und darum muß er mit diesem zusammengehen, wenn es sich um nationale Fragen handelt.

Diese Theorie, die natürlich niemals klar formuliert worden ist, hat bei unseren national gestimmten Genossen Anklang gefunden, und auch in der Masse der deutschen Arbeiter besteht, trotz der entschiedensten Ablehnung des Nationalismus, keine Klarheit darüber, wie es sich eigentlich mit den diversen heiligsten Gütern der Nation verhält. Sehen wir sie uns also einmal an. Wie verhalten sich Klasseninteressen und nationale Interessen zueinander? Sind sie wirklich voneinander unabhängig? Und wenn das nicht der Fall sein sollte: Modifiziert das Klasseninteresse das nationale Interesse oder ist es vielleicht umgekehrt? Widersprechen Klasseninteressen und nationale Interessen einander? Und wenn dem so sein sollte: Wie ist dieser Widerspruch zu lösen? Durch einen Kompromiß? Oder wenn ein solcher nicht möglich oder nicht zweckmäßig sein sollte: Welches Interesse ist das höhere, das nationale oder das proletarische?

2. Die Größe und Macht der Nation 2

„Das Ziel aller nationalen Politik ist die Größe und Macht der Nation.“

Die naiven Nationalen glauben das und die wissenden, denen der Nationalismus nur ein demagogisches Werkzeug ist, behaupten wenigstens, daß sie es glauben. Die sozialistischen Nationalen gehören, als „Realpolitiker“, natürlich zu den naiven, ihre Begeisterung für die Größe ihrer Nation ist echt. Kein Wunder also, daß die Separatisten, die Naivsten unter den Naiven, eine Politik machen, als wäre das Ziel der Arbeiterbewegung nicht die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, sondern die Erhöhung des tschechischen Volkes zur Nation der Nationen. Die Massen der deutschen Arbeiterschaft freilich haben die Größe ihrer Nation noch nie als ein Ziel der proletarischen Politik angesehen. Immerhin durfte Pernerstorfer in Versammlungen, ohne auf Widerspruch zu stoßen, die Behauptung wagen: „Schade um jeden Mann, den die deutsche Nation an eine andere verliert!“

Aber mitnichten verschonen uns die Nationalen um dieses einen Gerechten willen mit ihrem Zorne. Sie behaupten, daß wir uns einen blauen Teufel um die Größe der deutschen Nation kümmern. Dieser Vorwurf hat nun auch Genossen gekränkt, die sonst nationalen oder nationalistischen3 Regungen unzugänglich zu sein scheinen, und sie bemühen sich, ihn – wie sie glauben, beileibe nicht als Nationalisten, sondern als Sozialdemokraten – zu entkräften. Den Schimmel für diese Widerlegung finden sie bereits vor. Wo die religiöse Ideologie in den Massen noch so stark war, daß sie unserer Agitation Schwierigkeiten machte, da haben findige Genossen entdeckt, daß wir Sozialdemokraten eigentlich viel bessere Christen sind als die Leute, die den Namen Christi beständig im Munde führen, und daß das Christentum – das wahre Christentum – mit dem Sozialismus viel mehr gemein hat als mit dem offiziellen Christentum. Nach dieser Methode werden nun auch die Nationalen abgetrumpft. Es wird ihnen entgegengehalten, daß wir durch unsere politische, gewerkschaftliche und sonstige Arbeit für das deutsche Proletariat und damit für die deutsche Nation viel mehr leisten als alle nationalen Parteien zusammengenommen; daß wir uns also gute Deutsche nennen dürfen, ja sogar – siehste! – bessere Deutsche als die Nationalen; daß wir national im edelsten Sinne des Wortes sind.

Was man sich unter einem guten oder gar unter einem besseren Deutschen vorzustellen hat, ist dabei freilich ein dunkles Geheimnis geblieben, denn unsere Parteisachverständigen im Deutschtum bewahren ein hartnäckiges Stillschweigen darüber und wir profanen Internationalen verstehen nichts von der Sache. Davon aber später. Jetzt interessiert uns eine andere Frage: Die Genossen, die die Angriffe der Nationalen auf unser unzulängliches Deutschtum so eifrig abwehren und uns durchaus als gute Deutsche erscheinen lassen wollen, machen – sonst wäre ja ihr Beginnen völlig unverständlich – die Voraussetzung, daß einem Sozialdemokraten die Größe und die Macht seiner Nation nicht gleichgültig sein darf. Wie kommen sie zu dieser Annahme? Meinen sie etwa, daß die Richtigkeit des Satzes: „Es ist schade um jeden Mann, den wir Deutsche an eine andere Nation verlieren“, jedem von selber, ohne Beweis einleuchten muß? Der erdrückenden Majorität der deutschen Arbeiter leuchtet sie nicht ein. Die glaubt, die Aufgabe der Arbeiter bestehe einzig und allein darin, ihre Klasse so groß und mächtig zu machen, daß sie die bürgerliche Gesellschaft überwinden kann. Wenn diese Ansicht veraltet ist, wenn die Arbeiter nun glauben sollen, daß das Proletariat jeder Nation auch noch für die Größe und Macht seiner Nation zu kämpfen hat, so müssen die nationalen Reformatoren des Sozialismus doch den Versuch machen, für die Richtigkeit ihrer Auffassung einen Beweis zu liefern. Also: Welches Interesse hat die deutsche Arbeiterklasse daran, daß die deutsche Nation möglichst groß und mächtig wird, daß es möglichst viele Deutsche gibt? U.A.w.g. Nehmen wir, bis zum Eintreffen dieser Antwort, an: ein solches Interesse ist vorhanden. Dann stehen wir vor einer neuen Frage. Wenn sich die Sozialdemokraten jeder Nation möglichst viele Landsleute wünschen müssen, wie soll sich dann das Proletariat einer Nation zum Wachstum und zum Machtstreben der anderen Nationen verhalten? Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder die deutschen Sozialdemokraten haben ein Interesse daran, daß sich auch die anderen Nationen entwickeln – dann ist es ein Rätsel, warum wir gerade unser Interesse für die Entwicklung des deutschen Volkes betonen sollen. Oder das Wachstum der anderen Nationen schädigt uns deutsche Sozialdemokraten, dann müssen die Arbeiter verschiedener Nationen einander bekämpfen, dann ist das „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ ein heilloser Unsinn, dann hat der Separatismus recht. Man sieht:

Der Fall, der so einfach sich präsentiert,
ist sehr verwickelt und kompliziert
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und unsere deutschnationalen Genossen haben auch bisher mit weiser Selbstbeschränkung darauf verzichtet, sich auf die Erörterung dieser kitzlichen Fragen einzulassen.

Viel einfacher als für die sozialistischen Nationalen steht die Sache für die bürgerlichen. Sie können sagen: An der Tafel des Lebens ist nicht für alle gedeckt. Und wie nicht alle Individuen dazu gelangen können, sich zu eigener und fremder Lust zu entwickeln, ja wie sogar sehr viele verkümmern, in Not und Elend umkommen müssen, so können auch nicht alle Völker einen Platz an der Sonne einnehmen. Darum ist der Kampf zwischen ihnen unvermeidlich, und jedes muß trachten, möglichst groß und mächtig zu werden. Wer von diesem Kampfe nichts wissen will, wer von Völkerverbrüderung schwatzt, der ist ein Narr, wenn nicht gar ein schlechter Kerl. Das sollen sich ganz besonders die Arbeiter gesagt sein lassen. Wohl muß sich, die Welt ist eben unvollkommen, der Proletarier mit einem bescheideneren Lose begnügen als der Fabrikant, aber wenn sich eine Nation in Respekt zu setzen weiß, so profitiert davon nicht nur ihre Bourgeoisie, sondern auch ihr Proletariat. Beweis: England. Nur weil England die Werkstatt der Welt war, konnten die englischen Kapitalisten ihren Arbeitern so günstige Arbeitsbedingungen gewähren. Also war der englische Arbeiter daran interessiert, daß England der Lieferant des Auslandes, der Herr großer Kolonien bleibe. Bedarfes noch eines weiteren Beweises, daß nicht der Internationalismus, sondern der Nationalismus auch für die Arbeiterklasse die beste Politik ist, daß nicht der Klassengegensatz, sondern der nationale Gegensatz von größerer Bedeutung ist? Gemach. Gerade das Beispiel Englands beweist das Gegenteil von dem, was es beweisen soll. Dabei sehen wir ganz davon ab, daß die Erzählungen von der glänzenden Lage der englischen Arbeiterklasse ins Reich der Fabel gehören. Wir wollen annehmen, daß die englische Kapitalistenklasse wirklich väterlich für das englische Proletariat gesorgt hat. Dann müssen wir aber fragen: Warum tut sie es denn nicht mehr? Die Antwort ist sehr einfach: Weil sie es nicht mehr kann. England hat seine dominierende Stellung auf dem Weltmarkt verloren, und damit ist auch der alte Tradeunionismus, der nur unter ganz außergewöhnlichen Bedingungen möglich war (weswegen ihn manche bürgerlichen Gelehrten für die normalste und vernünftigste Arbeiterpolitik halten), unmöglich geworden. Der Kapitalismus hat sich über die ganze Erdkugel ausgebreitet, und die Verschärfung des Konkurrenzkampfes zwischen den Bourgeoisien der verschiedenen Staaten hat eine Verschärfung der Klassengegensätze in allen kapitalistischen Ländern, auch in England, zur Folge gehabt. Spät, aber doch muß das englische Proletariat dahinterkommen, daß es sich nur durch den rücksichtslosesten Klassenkampf aus seiner Lage befreien kann, und der als vorbildlich gepriesene Tradeunionismus macht Bankrott. Die sozialistischen Nationalen können sich übrigens auf England schon darum nicht berufen, weil sie jede Ausbeutung, nicht nur die einer Klasse durch die andere, sondern auch die einer Nation durch die andere, ablehnen müssen, wenn sie nicht ihre sozialistischen Grundsätze preisgeben wollen.

Ebensowenig können sie als Sozialisten mit dem malthusianischen Argument Staat machen, daß zu wenig Nahrungsmittel für alle Menschen und alle Nationen vorhanden sind und daß darum der Kampf, wie zwischen den Individuen, so zwischen den Nationen unvermeidlich ist und jede Nation die anderen niederzuringen trachten muß. Denn die Entwicklung der Technik hat die Ergiebigkeit der menschlichen Arbeit so gesteigert, daß wir behaupten können: In einer vernünftig eingerichteten Gesellschaft, in einer Gesellschaft, in der die Produktion nicht mehr durch das Privateigentum an den Produktionsmitteln eingeengt ist, in einer solchen Gesellschaft wird kein Individuum und kein Volk zum Elend verdammt sein. Das Spießersprüchlein, daß es immer Arme und Reiche geben wird, ist abgetan, und am allerwenigsten, sollte man meinen, können sich Sozialisten, die den Sozialismus modernisieren wollen, auf solche „Wahrheiten“ aus der guten alten Zeit berufen.

Die Nationalen – aber wieder nur die bürgerlichen, nicht die sozialistischen –könnten uns einwenden: Auch wenn Ihr mit Eurer Ablehnung des Malthusianismus recht hättet, wäret Ihr noch immer im Unrecht. Selbst wenn die Mittel vorhanden wären, alle Nationen groß zu machen, wäre der Internationalismus eine Irrlehre. Denn die Menschen sind von Natur aus nicht gleich. Es gibt Edelvölker und minderwertige Nationen. Den letzteren fehlen die geistigen und sittlichen Fähigkeiten zu aller höheren Entwicklung, und alle Mühe, die man an sie wendet, ist umsonst. Und wenn diese niedrigen Rassen schon fähig sind, sich die Errungenschaften der Kultur zu eigen zu machen, so verstehen sie nicht, die Kulturgüter richtig zu gebrauchen. Sie wären also eine beständige Gefahr für die Edelvölker.

Das ist Schwatz, und die Anhänger der Lehre von den Edelvölkern und den minderwertigen Nationen sind auch bisher alle Beweise schuldig geblieben. Keine einzige von den Tatsachen, auf die sie sich berufen, ist eindeutig, aber viele Tatsachen sprechen unzweideutig gegen sie4. Wir haben gesehen, daß sich „minderwertige“ Völker, sobald der Kapitalismus bei ihnen eingezogen war, in moderne Kulturnationen verwandelten. Das schlagendste Beispiel bieten uns die Japaner, die zu der so verachteten gelben Rasse gehören. In wenigen Jahrzehnten haben sie die Entwicklung vom verrotteten Feudalstaat zum Kapitalismus und Parlamentarismus durchgemacht. Wenn übrigens unsere guten Deutschen von der deutschen Geschichte eine Ahnung hätten, so müßten sie wissen, daß ihre Nation nicht immer als ein Edelvolk gegolten hat, ja, daß sie z.B. einmal von den Italienern als barabarisch, als „dummes deutsches Vieh“ verachtet wurde. Hat uns das gehindert ein Kulturvolk zu werden? Und hindert uns der Haß der französischen Chauvinisten gegen die „schmutzigen Preußen“ und der Spott der Engländer über die „deutschen Würste“, kulturell immer höher zu steigen? Werden die Tschechen ihre kulturellen Bestrebungen als utopisch aufgeben, weil Herr Karl Hermann Wolf* sie zur minderwertigen Nation ernannt hat? Aber wozu unter Sozialisten über die Theorien des Herrn Wolf viele Worte verlieren? Auch unsere Parteinationalen wollen ja von seinem brutalen Nationalismus nichts wissen. Sie mißgönnen den anderen Nationen ihre Größe und Macht nicht, sie wollen nur auch das eigene Volk groß und mächtig sehen. Aber warum, warum? Nochmals: Welches Interesse hat das deutsche Proletariat an der Größe und Macht der deutschen Nation? Ist es am Ende die geistige, die kulturelle Macht, ist es die nationale Kultur, die die Angehörigen eines Volkes zu einer Interessengemeinschaft vereinigt?

Wir wollen erst gar nicht in Betracht ziehen, daß alle Kultur immer internationaler wird, sodaß die „nationale“ Kultur immer weniger geeignet erscheint, nationalistische Anschauungen und Forderungen zu stützen. Nehmen wir an, es gibt eine nationale Kultur in jenem Sinne, in dem die Nationalen, wenigstens bei feierlichen Anlässen, von ihr reden.

Also: verbindet die deutsche Kultur die verschiedenen Klassen des deutschen Volkes zu einer Interessengemeinschaft? Gibt es auf kulturellem Gebiet oder wenigstens auf einem Teile dieses Gebietes, und sei er noch so klein, keinen Klassengegensatz und keinen Klassenkampf?

Schon die flüchtigste Betrachtung der bürgerlichen Kulturpolitik zwingt uns, diese Frage zu verneinen. Gewiß, das Bürgertum stemmt sich nicht prinzipiell aller kulturellen Entwicklung entgegen. Wenn eine kulturelle Errungenschaft profitsteigernd oder profitschützend wirkt oder die Annehmlichkeiten des Profitkonsums vermehrt, so gerät das Bürgertum in einen förmlichen Freudenrausch. Aber eine kulturelle Tat, die keine der angeführten Wirkungen hat oder gar die Mehrwertaneigner zu ängstigen geeignet ist, erscheint dem Bürgertum als eine traurige Verirrung des menschlichen Geistes, ja als ein ruchloser Anschlag auf die höchsten Güter der Nation. Es widersetzt sich mit Zähnen und mit Klauen jeder Demokratisierung der Kultur, weil sie das Proletariat begehrlicher und wehrhafter machen kann. Und es wird immer gleichgültiger gegen alle Kulturgüter, die die Profitmacherei zwar nicht gefährden, aber auch nicht fördern. Wie überall, so haben wir auch auf kulturellem Gebiet Klassengegensätze und Klassenkämpfe. Was die Proletarier an Kultur besitzen, hat ihnen entweder die Bourgeoisie gegeben, um die kapitalistische Ausbeutung rentabler zu machen (Volksschule!), oder sie haben es ihren Ausbeutern in hartem Kampfe abtrotzen müssen. Die Arbeiterklasse hat andere kulturelle Interessen als das Bürgertum. Der Bourgeois will eine Kultur, die auf der Arbeit und Kulturlosigkeit anderer beruht und diese anderen im Zustande der Sklaverei und Kulturlosigkeit erhält. Die Arbeiter streben einen Gesellschaftszustand an, in dem Arbeit und Kulturgenuß vereinigt, Ausbeutung und Kulturlosigkeit verschwunden sind. Bürgerliche und proletarische Kulturpolitik müssen ebenso verschiedene Wege gehen wie bürgerliche und proletarische Wirtschaftspolitik.

Um aber auf die Größe und Macht der Nation im landläufigen Sinne dieser Redensart zurückzukommen: Was interessiert den Bourgeois Größe und Macht seines Volkes, was versteht er überhaupt darunter? Will z.B. der reichsdeutsche Bourgeois, daß der Deutsche gesund, kräftig, mutig, intelligent, gebildet sei? So etwas fällt ihm nicht im Traume ein. Es ist ihm egal, daß der deutsche Arbeiter durch Überarbeit und Unterkonsum geschwächt und allen möglichen Krankheiten preisgegeben wird, daß er kränkliche, ja lebensunfähige Kinder in die Welt setzt und vorzeitig stirbt. Intelligenz und Bildung verlangt er vom Arbeiter allerdings, aber nur so viel, als zur Bedienung der Maschine notwendig ist – was darüber ist, das ist vom Bösen. Und vollends Arbeiter, die ihren eigenen Kopf haben, sind dem deutschen wie jedem anderen Kapitalisten ein Greuel. Er will ein anspruchsloses und unterwürfiges deutsches Volk. Die Herren, die nur mit von Rührung erstickter Stimme von der Größe der deutschen Nation reden können, haben nichts dagegen, daß die Majorität des deutschen Volkes durch den Kapitalismus körperlich, geistig und sittlich gefährdet wird, daß es verkommt, ja sie wollen, daß es verkommt, wenn’s fürs Geschäft gut ist.

Unter der Größe des deutschen Volkes verstehen diese Deutschnationalen die Größe des Profits der deutschen Kapitalistenklasse. Ihr Nationalismus bedeutet Militarismus, Marinismus, Kolonialpolitik, Imperialismus – Dinge, die das Proletariat verwerfen muß.

Auch in Österreich unterstützt das Bürgertum den Imperialismus. Aber dieser kann in einem von mehreren Völkern bewohnten Lande nicht, wie im Nationalstaat, als Nationalismus auftreten. So militärfromm unsere Deutschnationalen auch sind, sie können die Dreadnoughts nicht, wie die reichsdeutschen Nationalisten, zu den heiligsten Gütern der deutschen Nation rechnen. Der österreichische Nationalismus ist nicht großbürgerlich, sondern mittelständlerisch und kleinbürgerlich. Nicht Heer und Rotte interessieren ihn, sondern ganz andere Dinge, vor allem die Sprache.

3. Die Sprache

Der österreichische Nationalitätenstreit stellt sich in der Hauptsache als Sprachenstreit dar. Die meisten nationalen Fragen sind Sprachenfragen, und wenn man das Treiben der Nationalisten beobachtet, könnte man zu dem Schluß kommen, es sei ihnen auf dieser Welt nichts wichtiger als ihre Muttersprache. Die kleinste Sprachenfrage kann Parlament und Regierung in die größten Verlegenheiten stürzen: Straßentafeln und Stationsaufschriften haben in unserem teueren Vaterlande schon wildere Stürme hervorgerufen als die ernstesten sozialen Dinge. Unter den heiligsten Gütern der Nation scheint die Sprache das Allerheiligste zu sein.

Aber recht seltsam kontrastiert mit der glühenden Begeisterung der Nationalisten für ihre Sprache ihre – rohe Gleichgültigkeit gegen ihre Sprache. Nirgends wird ein schlechteres Deutsch gesprochen und geschrieben als im nationalen Lager. Man wird unter den führenden Persönlichkeiten des Nationalverbandes nicht allzuviele finden, die einen geraden deutschen Satz bauen können, und die Schreib knechte des Nationalismus, die Schriftleiter, ringen mit der so heiß geliebten Muttersprache wie mit einem Todfeind. Sie denken deutsch, sie fühlen deutsch, aber sie können nicht Deutsch. Und was hat der Nationalismus getan, um die Kenntnis der deutschen Sprache im deutschen Volke zu verbreiten und zu vertiefen? Nichts, absolut nichts. Mit seiner Liebe zur deutschen Sprache scheint es also eine ganz eigene Bewandtnis zu haben.

Und in der Tat: diese Liebe ist genau so groß wie die wirtschaftliche Bedeutung der Sprache für jene Bevölkerungsschichten, aus denen sich die Kerntruppen des Nationalismus rekrutieren.

Aber ist das möglich? Ist die Sprache nicht ein „ideales“ Gut? Was hat sie mit der Ökonomie zu schaffen? Und selbst angenommen, die Sprache hätte eine wirtschaftliche Bedeutung, müßte diese nicht für alle Volksgenossen dieselbe sein?

Wir wollen sehen.

Im Produktionsprozeß des Kapitals, in der Fabrik, in der industriellen Arbeit spielt die Sprache eine ganz untergeordnete Rolle. Der tschechische Proletarier kann in einer deutschen Stadt Arbeit finden, auch wenn er des Deutschen nur sehr mangelhaft mächtig ist, ja selbst wenn er kein Wort Deutsch versteht. Der Handarbeiter, ausgenommen allenfalls der Schriftsetzer, arbeitet nicht in einer Sprache, sondern in Holz, Metall, Garn usw. Das Gebiet seiner Muttersprache ist nur ein kleiner Teil des Gebietes, in dem er Arbeit finden kann. Seine Freizügigkeit wird durch seine Sprachkenntnisse nicht eingeschränkt, er ist auf kein bestimmtes Sprachgebiet angewiesen. Die Sprache hat also für ihn als Arbeiter sehr wenig zu bedeuten, sie gehört nicht zu seinen Erwerbsmitteln.

Es gibt aber Arbeitsprozesse, die ohne Sprache schlechthin undenkbar sind, in denen die Sprache die Rolle des wichtigsten Arbeitsmittels spielt, weil die Arbeit in diesen Arbeitsprozessen großen-, wenn nicht größtenteils in Hören und Reden, in Lesen und Schreiben besteht. Hierher gehören die Arbeiten im Zirkulationsprozeß des Kapitals, in Handel und Verkehr, in den Amtsstuben, in den Schulen usw. Alle diese Arbeiten können nur in einer bestimmten Sprache verrichtet werden. Der Lehrer kann die Kinder nur in einer bestimmten Sprache zu Gottesfurcht, Patriotismus und anderen Tugenden erziehen. Der Bürokrat muß die Parteien, die seine Ruhe stören, in einer bestimmten Sprache anschnauzen – unartikulierte Laute könnten ja die Autorität beeinträchtigen. Die Sprache ist also für die Spracharbeiter, wie man Beamte, Lehrer, Advokaten etc. zusammenfassend nennen kann, von der eminentesten Wichtigkeit. Ein Reichenberger Weber kann in Lodz oder Moskau mit ein paar polnischen und russischen Brocken sein Fortkommen finden, ein deutscher Lehrer aber mag der genialste Pädagoge sein, er ist ganz unbrauchbar, wenn er das deutsche Sprachgebiet verläßt, ohne die Sprache des Landes, das er aufsucht, vollständig zu beherrschen. Der Spracharbeiter ist, im Gegensatz zum industriellen Arbeiter, an das Sprachgebiet gebunden. Die Größe des Sprachgebiets hat also eine wirtschaftliche Bedeutung für ihn. Denn je größer das Gebiet seiner Sprache ist, desto mehr Arbeitsgelegenheiten hat er.

Nun leben die österreichischen Völker nicht in geschlossenen Territorien, und das gibt den Spracharbeitern verschiedener Nationalität die Möglichkeit, einander die Posten in Schule und Amt streitig zu machen, eine Verschiebung der Sprachgrenze zu versuchen. Da hat das Kapital in eine deutsche Stadt tschechische Arbeiter gebracht, tschechische Handwerker, Krämer, Gastwirte sind nachgekommen, und auch ein paar tschechische Ärzte und Advokaten haben sich eingefunden. Ist die Stadt nun noch deutsch oder ist sie gemischtsprachig? Soll jetzt nach wie vor nur deutsch oder deutsch und tschechisch amtiert und unterrichtet werden? Der Kampf um Amt und Schule entbrennt. Am hitzigsten führen ihn die Spracharbeiter und das Kleinbürgertum, aus dessen Nachwuchs sich die Spracharbeiterschaft ergänzt. Die Deutschen wollen, daß nur deutsch, die Tschechen, daß auch tschechisch amtiert und unterrichtet wird, denn jedes Amt, jede Schule bedeutet Arbeitsgelegenheit für soundso viele Spracharbeiter, und je nachdem eine bestimmte Sprachenfrage gelöst wird, verbessern sich die wirtschaftlichen Existenzbedingungen der einen Spracharbeitergruppe auf Kosten der anderen. Der Sprachenstreit ist ein wirtschaftlicher Streit zwischen den Spracharbeitern und Kleinbürgern verschiedener Nationen.

Die ökonomische Bedeutung der Sprache für den Spracharbeiter wird noch gesteigert durch die bürgerliche, ja kleinbürgerlich-künstlerische Denkweise der Spracharbeiterschaft. Der manuelle Arbeiter führt, sobald er klassenbewußt geworden ist, den Kampf um die Verbesserung seiner Lage nicht, indem er seine Arbeitskollegen niederzutrampeln sucht, sondern indem er im Verein mit ihnen den Anteil seiner Klasse am Arbeitsprodukt zu vergrößern bemüht ist. Anders der Spracharbeiter. Ihm widerstrebt es noch, sich eine bessere Existenz durch die Anwendung proletarischer Methoden zu erkämpfen. Er kämpft um die Vergrößerung seines individuellen Anteils am Arbeitsprodukt, er will vorwärtskommen auf Kosten seiner Kollegen. Das führt zum Strebertum und zur Cliquenbildung. Cliquenbildend kann nun alles Mögliche wirken: Adelstitel, Vermögen, Beziehungen, Bildung, Religion, „Rasse“ und natürlich auch die Nationalität. Die deutschen Spracharbeiter begnügen sich nicht mit der Forderung: In dem Gebiet, das wir als deutsch ansehen, darf nur deutsch amtiert und unterrichtet werden. Sie verlangen nicht bloß, daß in diesem Gebiet Lehrer und Beamte des Deutschen vollkommen mächtig sein sollen. Nicht die Sprachkenntnis, die Nationalität soll dem Beamten und dem Lehrer die Qualifikation geben. Diese Forderung zeigt deutlich, daß die Begeisterung der Nationalen für die deutsche Sprache Humbug ist, daß es ihnen nicht um die Sprache, sondern nur um die wirtschaftlichen Interessen der Spracharbeiterschaft und ihres kleinbürgerlichen Anhangs zu tun ist. Denn wäre es anders, wäre die Liebe unserer Nationalen zur deutschen Sprache wirklich so heiß, wie sie vorgeben, so müßten sie es mit Freuden begrüßen, wenn Angehörige anderer Nationen die deutsche Sprache so weit erlernen, daß sie in ihr Unterricht erteilen oder Recht sprechen können, und diesen von der deutschen Sprache eroberten Nichtdeutschen dürfte das Fortkommen in deutschen Landen nicht erschwert werden. Aber unsere guten Deutschen sind Sprachzünftler. Nur der Deutsche soll seine Kenntnis der deutschen Sprache in Amt und Schule verwerten dürfen, und will der Tscheche deutsch amtieren oder unterrichten, so ist das – mag er auch das beste Deutsch sprechen und schreiben – unlauterer Wettbewerb. Bedarfes eines Beweises, daß ein Sozialist eine solche Politik nicht mitmachen kann? Wir lachen die Nationalen aus, wenn sie uns erzählen, sie würden sich dafür einsetzen, daß die Fabrikanten im deutschen Sprachgebiet nur deutsche Arbeiter beschäftigen, und wir würden die Vertreibung der nicht-deutschen Arbeiter aus dem deutschen Sprachgebiet, selbst wenn sie möglich wäre, als unsozialistisch verwerfen. Warum sollten wir den Spracharbeitern eine Extrawurst braten?5

Wenn wir behaupten, daß der Sprachenstreit ein wirtschaftlicher Streit zwischen den Spracharbeitern verschiedener Nationen ist, so bedeutet das natürlich nicht, daß er das Industrieproletariat, überhaupt die anderen Schichten der Bevölkerung nichts angeht. Auch der Handarbeiter hat sprachliche Interessen, aber sie sind ganz anderer Art als die des Spracharbeiters. Für diesen ist die Sprache ein Arbeits- und Erwerbsmittel, für den Industriearbeiter nur ein Mittel des Verkehrs und ein Bildungsmittel wie für jeden anderen auch. Die Spracharbeiter stehen, natürlich nicht eingestandenermaßen, auf dem Standpunkt, daß sich die Bevölkerung nach Amt und Schule, das heißt nach den wirtschaftlichen Bedürfnissen der Spracharbeiterschaft richten muß. Das Proletariat aber muß erklären: Umgekehrt! Amt und Schule haben sich nach den Bedürfnissen der Bevölkerung zu richten, das Publikum ist nicht für die Spracharbeiter, die Spracharbeiter sind für das Publikum da, und der Standpunkt der Spracharbeiter ist genauso verrückt, wie es verrückt wäre, wenn die Schuster erklärten: die Bevölkerung muß gezwungen werden, mehr Schuhe zu konsumieren, damit mehr Schuster beschäftigt werden können.

Das industrielle Proletariat ist also an der Sprache ganz anders interessiert als die Spracharbeiterschaft, und wenn die Nationalen behaupten, die Sprache sei ein gemeinsames Gut aller Volksgenossen, und die Sprachenfragen müßten darum von allen Klassen der Nation in derselben Weise behandelt werden, so ist das nur ein Versuch, die Arbeiter fremden Interessen dienstbar zu machen.

Aber wenn auch nicht zu bezweifeln ist, daß verschiedene Klassen derselben Nation verschiedene sprachliche Interessen haben, so ist noch nicht bewiesen, daß die sprachlichen Interessen der Arbeiterklassen verschiedener Nationen miteinander harmonieren. Es wäre möglich, daß die sprachlichen Interessen des deutschen Proletariats nicht nur andere sind als die der deutschen Spracharbeiterschaft, sondern daß sie auch mit denen des tschechischen Proletariats kollidieren. Wie stehts damit?

Nehmen wir die Schulfrage. In irgendeiner deutschen Stadt kämpft die tschechische Minorität um eine Schule. Wie sollen sich die deutschen Arbeiter dazu stellen? Sie müssen selbstverständlich verlangen, daß die tschechischen Kinder in der Schule ebensoviel lernen können wie die deutschen. Je besser die Schulbildung, mit der der Proletarier in die Fabrik kommt, desto leichter wird er für den Klassenkampf gewonnen werden. Steckt man nun die tschechischen Kinder in die deutschen Schulen, in denen sie, da sie des Deutschen nicht mächtig sind, dem Unterricht nicht folgen können, so lernen sie nicht nur selber nichts, sie hindern auch die deutschen Kinder, denen nun der Lehrer weniger Sorgfalt widmen kann, so viel zu lernen, als sie sonst hätten lernen können. Schon aus diesem Grund, den auch einsichtigere Deutschnationale gelten lassen, müssen die deutschen Arbeiter die Forderung nach der Errichtung tschechischer Minoritätsschulen unterstützen. Sie müssen das aber auch darum tun, weil sie nicht wollen können, daß eine ungenügende Schulbildung die tschechischen Schulkinder in die Gefahr bringt, daß sie Lohndrücker und Streikbrecher werden.

Und wie die Schulfrage, so müssen wir auch die Ämterfrage behandeln. Gericht, Polizei, jedes Amt spielt im Klassenkampf eine Rolle, in neunundneunzig von hundert Fällen eine für die Arbeiter nicht sehr angenehme Rolle. Sie wird noch unangenehmer, wenn der Arbeiter im Verkehr mit den Behörden nicht nur durch das gegen ihn gemachte und durch das Klassenbewußtsein der Beamten noch verschärfte Gesetz, sondern auch noch durch seine (oder, was dasselbe ist: der Beamten) Sprachunkenntnis benachteiligt wird. Wir müssen darum fordern, daß die Ämter auch den sprachlichen Bedürfnissen der Minoritäten Rechnung tragen.

Solange also Arbeiter die Frage der Schul- und Amtssprache vom Arbeiterstandpunkt behandeln, können nationale Zwistigkeiten zwischen ihnen nicht entstehen. Solche Differenzen können sich erst dann entwickeln, wenn sich Arbeiter vom proletarischen Standpunkt abdrängen lassen.

4. Die heimatliche Scholle

Die heimatliche Scholle gehört zu jenen Dingen, von denen die Schriftleiter und Versammlungsbarden ganz besonders gerne singen und sagen. Aber vergeblich wird man in ihren weitschweifigen und bombastischen Deklamationen über dieses Thema einen positiven Inhalt suchen. Man wird nichts finden als die Behauptung: der Boden, auf dem wir sitzen, gehört uns; die Nation hat ein Recht auf ihren Boden, und dieses Recht müssen alle Volksgenossen, auch die Arbeiter, verteidigen, weil es für alle gleich wertvoll ist.

Also auch der deutsche Boden stellt angeblich eine Interessengemeinschaft zwischen dem deutschen Proletariat und der deutschen Bourgeoisie her.

Wie sieht es mit den Beweisen für diese Behauptung aus? Vor allem: Was ist unter dem Recht der Nation auf ihren Boden zu verstehen? Kann man der nationalen Terminologie schon im Allgemeinen nichts weniger nachrühmen als Klarheit, so gehört im Speziellen das Wort von der heimatlichen Scholle und den Rechten, die mit ihr verbunden sind, zu den allerunbestimmtesten nationalen Phrasen. Es kann alle möglichen Bedeutungen annehmen. Aber was immer es bedeuten mag, das Vorhandensein einer Interessengemeinschaft zwischen dem Proletariat und den anderen Klassen einer Nation kann man damit, wie wir sehen werden, nicht beweisen.

Eine Nation muß, wenn sie überhaupt sein soll, irgendwo sein. Aber läßt sich daraus ein Recht der Nation auf ein bestimmtes Gebiet ableiten, gleichviel welchen Inhalt dieses Recht hat?

Faktisch kann natürlich jede Nation so viel Recht in Anspruch nehmen, als sie durch Waffengewalt oder auf andere Art behaupten kann. Aber davon sprechen wir jetzt nicht. Es handelt sich uns hier um die ideologische Ableitung des Rechtes.

Setzen wir den Fall, die ganze menschliche Gesellschaft ist zu einer einzigen Gemeinschaft, einer Weltrepublik vereinigt. Dann bestimmt die Gesamtheit im Interesse der Gesamtheit über die Besiedlung und Bebauung des Bodens, und das Recht einer einzelnen Gruppe auf ein bestimmtes Territorium leitet sich von dem Rechte der Gesamtheit her und kann, wenn’s nottut, auf ihren Schutz rechnen.

Aber wie steht’s heute? Heute kann keine Nation ihr Recht auf ein bestimmtes Gebiet von dem Rechte der Gesamtheit ableiten. Sie muß nach einem anderen Rechtstitel suchen, wenn es ihr nicht genügt, daß sie ihren Boden mit Gewehren und Kanonen behaupten kann.

Solcher Rechtstitel gibt es verschiedene. Uns interessiert aber hier nur einer, nämlich der historische, und zwar deshalb, weil sich die Nationalen, wie alle Leute, die unhistorisch denken, hauptsächlich auf ihn stützen. Die Logik der Anhänger des historischen Rechtes ist von einer erhabenen Einfachheit: Weil eine Sache schon gestern so war, wie sie heute ist, soll sie auch morgen so sein; weil sich auch die ältesten Leute nicht erinnern können, daß Krähwinkel jemals tschechisch gewesen wäre, muß der deutsche Charakter von Krähwinkel immerdar unangetastet bleiben.

Daß der Streit über solche historischen Rechte in pure Kinderei ausarten muß, zeigen uns die Katzbalgereien der Deutschnationalen mit den Tschechischnationalen (z.B. über die bange Frage: soll man Teplitz oder Töplitz schreiben?) Tag für Tag in der ergötzlichsten Weise. Versteht sich, daß auch die Separatisten gern von Hus und Zizka reden – sie haben eben das proletarische Bewußtsein verloren. Denn das Proletariat kann als eine revolutionäre Klasse überhaupt keinen historischen Rechtstitel anerkennen. Es sucht die Begründung seiner Rechtsanschauungen nicht in verstaubten Archiven, sondern in der lebendigen Wirklichkeit. Die wirtschaftliche Entwicklung hat die Arbeiterseele umgemodelt, sie hat in den Arbeitern Bedürfnisse geweckt, denen alle herkömmlichen Rechtsbegriffe in der lächerlichsten Weise widersprechen, und so hat sich das Rechtsbewußtsein, wie überhaupt die ganze Ideologie des Arbeiters von Grund aus gewandelt. Recht ist dem klassenbewußten Arbeiter, was den Klasseninteressen des Proletariats entspricht, ein anderes Recht erkennt er nicht an. Das heißt natürlich nicht, daß er die bestehenden Rechtsverhältnisse einfach ignoriert, denn sie sind Tatsachen und der Sozialdemokrat rechnet mit den Tatsachen. Aber die Frage, wie wir uns zu den durch die bürgerliche Rechtsordnung geschaffenen Verhältnissen stellen, ist für uns eine Frage nicht des Rechtes, sondern der Taktik oder, wie es in unserem Programm heißt: wir suchen mit allen zweckmäßigen, dem natürlichen Rechtsbewußtsein des Volkes entsprechenden Mitteln ans Ziel zu kommen.

Wie verhalten wir uns also zu dem Recht der Nation auf ihren Boden, das in den geltenden Gesetzen begründet ist oder durch eine Änderung der Gesetze begründet werden soll? Ein solches Recht an und für sich kennen wir nicht. Es hängt von seinem konkreten Inhalt ab, ob wir es billigen oder verwerfen. Wir werden es verteidigen, wenn das proletarische Interesse das erheischt, sonst werden wir es bekämpfen. Damit sind wir wieder bei der Frage angelangt: Was bedeutet das Recht der Nation auf ihren Boden?

Es kann, wie bereits gesagt, sehr verschiedenes bedeuten. Nehmen wir an, eine Nation macht den Versuch, ein anderes Volk zu unterwerfen oder gar aus seinem Gebiet zu vertreiben. Wie soll sich das Proletariat der angegriffenen Nation verhalten? Es wird zu den Waffen greifen, aber nicht, weil die Angreifer ein nationales oder staatliches Recht, sondern weil sie ein proletarisches Recht verletzen. Kann man, weil sich auch die Bourgeoisie des Überfallenen Volkes zur Wehr setzen wird, von einer Interessengemeinschaft zwischen Bourgeoisie und Proletariat sprechen? Nein, diese Gemeinschaft besteht nur zufällig, nur scheinbar: die Bourgeoisie kämpft für bürgerliche, das Proletariat für proletarische Interessen. Mit dem Recht der Nation auf ihren Boden, was immer es bedeuten mag, hat der Krieg nichts zu tun. Ganz deutlich wird uns das, wenn wir noch zwei andere Fälle ins Auge fassen: Eine Nation läßt ihr Heer in ein fremdes Gebiet einmarschieren, um einen Aufstand der unterdrückten Klassen in diesem Gebiet niederzuwerfen. Oder die Invasion hat den Zweck, den Unterdrückten die Freiheit zu bringen. Wie steht’s in diesen beiden Fällen mit dem Recht der Nation auf ihren Boden? Sie zeigen uns, daß dieses Recht nur eine Demagogenphrase ist.

Aber die angeführten Möglichkeiten haben für uns hier nur akademisches Interesse. Die Deutschnationalen prügeln zwar tschechische Turner und Sänger, die einen „Eroberungszug“ in deutsches Land unternommen haben, für ihr Leben gern aus diesem Gebiet wieder hinaus, aber daß die Tschechen sie mit Krieg überziehen könnten, ist ihnen auch in ihren tollsten chauvinistischen Träumen noch nicht eingefallen. Wenn sie darüber jammern, daß die Tschechen das Recht der deutschen Nation auf ihren Boden verletzen, so meinen sie nicht eine kriegerische Expedition, sondern die friedliche Einwanderung von Tschechen in deutsches Land. Die Herren tun, als ob diese Einwanderung der schrecklichste der Schrecken für das deutsche Volk wäre, und während der Krisenjahre, die wir hinter uns haben, sind sie, um die deutschen Arbeiter einzufangen, an die Fabrikanten mit dem Verlangen herangetreten, wo Entlassungen notwendig wären, vor allem die tschechischen Arbeiter zu entlassen. Die Fabrikanten begriffen den demagogischen Wert dieser Forderung auch und erfüllten sie, soweit es ihre geschäftlichen Interessen erlaubten. Die nationalen Blätter konnten in dieser Zeit des öfteren mit Genugtuung melden, daß in Betrieben, die ihre Produktion einschränken mußten, zunächst tschechische Arbeiter entlassen worden seien. War diese „Säuberung“ des deutschen Bodens nicht im Interesse der deutschen Arbeiter gelegen?

Nein. Das Proletariat muß Freizügigkeit fordern. Nicht aus irgendeiner nebelhaften Freiheitsvorstellung heraus. Die Freizügigkeit ist ja eine sehr fadenscheinige Freiheit. Nur scheinbar gibt sie dem Arbeiter die Möglichkeit, seinen Aufenthaltsort nach seinem Belieben zu wählen. In Wirklichkeit bedeutet sie, daß die Bewegung des Proletariers nur durch das Verwertungsbedürfnis des Kapitals bestimmt werden darf und daß er sich diesem unterordnen muß, wenn er nicht verhungern oder verkommen will. Eben darum aber ist die vollkommenste Freizügigkeit in einer Gesellschaft, in der in der Produktion die vollkommenste Anarchie herrscht, eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Will man aber die Freizügigkeit, so muß man auch ihre Konsequenzen wollen, also z.B. den Zuzug tschechischer Arbeiter in deutsches Gebiet. Ein Recht der Nation auf ihren Boden als Recht auf die Ausschließung Fremder von der Arbeitsgelegenheit auf diesem Boden muß in der kapitalistischen Gesellschaft als ein Unding erscheinen, und der erbitterte Protest der Nationalen gegen die slawische „Hochflut“ ist eine Donquichotterie oder ein frecher Schwindel, solange sie kein Mittel gegen die Einwanderung von tschechischen Proletariern wissen. Und wenn sie eines wüßten, so müßten die deutschen Arbeiter gegen dessen Anwendung protestieren, und zwar in ihrem ureigensten Interesse. Denn was wäre die Folge, wenn kein tschechischer Fuß mehr durch seinen profanen Tritt die heilige deutsche Erde entweihen könnte? Kommt der Berg nicht zum Propheten, so kommt der Prophet zum Berg: könnten die tschechischen Arbeiter nicht mehr ins deutsche Gebiet einwandern, so würde das deutsche Kapital ins tschechische Gebiet auswandern. Solche Dinge sind schon dagewesen. Die deutschen Arbeiter könnten zwar von ihrem Standpunkt gegen solche Wanderlust des Kapitals nichts einwenden, aber sie müßten dagegen protestieren, daß sie künstlich geweckt werde. Der deutsche Arbeiter hat kein Interesse daran, gegen die tschechische Einwanderung anzukämpfen.

Wie steht’s aber mit den anderen Klassen, vor allem mit der industriellen Bourgeoisie? Hat der deutsche Arbeiter keinen Grund, dem tschechischen Arbeiter, wie es die Nationalen gern sähen, den Krieg zu erklären, wenn er auf deutscher Erde Arbeit sucht, so hat der Fabrikant im deutschen Gebiet sogar allen Grund, die tschechische Einwanderung zu fördern, und diese ist ja auch vor allem durch das Bedürfnis des Kapitals nach Arbeitskräften hervorgerufen worden. Und das deutsche Kleinbürgertum? Der Krämer, der Handwerker, der Gastwirt, so gute Deutsche sie auch sind, haben nichts gegen den Zuzug von Tschechen einzuwenden, so lange diese Tschechen Arbeiter – das heißt für die deutschen Kleinbürger: Konsumenten, Käufer, Kunden – sind. Sie schreien erst, wenn auch der tschechische Krämer, der tschechische Schneidermeister im deutschen Gebiet erscheinen, wenn also die Tschechen nicht mehr bloße Ausbeutungsobjekte für sie sind, sondern ihnen auch als Konkurrenten gegenübertreten und ihnen am Ende gar auch noch in der Gemeindestube Scherereien verursachen. Der deutsche Handwerker holt seine Lehrbuben am liebsten aus dem Tschechischen, er zieht den tschechischen Gehilfen dem deutschen vor; sein nationales Gewissen erwacht erst, wenn sich der tschechische Gehilfe selbständig macht und mit ihm rivalisiert. Und nicht anders steht’s mit den deutschen Beamten, Advokaten, Ärzten, mit dem ganzen neuen Mittelstand. Der deutsche Intellektuelle macht seine Einkäufe gern bei tschechischen Geschäftsleuten, wenn sie billiger verkaufen als ihre deutschen Konkurrenten, er hält gewöhnlich ein tschechisches Dienstmädchen, weil es anspruchsloser und gefügiger ist als ein deutsches, auch er wird erst national, wenn der Tscheche mit ihm konkurriert. Das gesamte deutsche Bürgertum hat gegen die tschechische Einwanderung nichts, solange sie eine Arbeitereinwanderung ist. Sein Nationalgefühl wird erst rege, wenn dem tschechischen Arbeiter der tschechische Geschäftsmann, Beamte, Arzt, Rechtsanwalt folgt. Und weil den deutschen Spießbürgern ihre tschechischen Konkurrenten zuwider sind, soll der deutsche Arbeiter gegen die tschechische Einwanderung protestieren, und er wird des Verrats an der eigenen Nation beschuldigt, weil er nicht albern genug ist, das Recht der Nation auf ihren Boden, das dem Bürgertum gleichgültig ist, solange es nur durch tschechische Proletarier „verletzt“ wird, zu verteidigen, das heißt, sich gegen seine tschechischen Klassengenossen aufhetzen zu lassen.

Es könnte noch in einem anderen Sinne von einem Recht der Nation auf ihren Boden gesprochen werden. Soll eine Nation nicht verlangen dürfen, daß die in ihr Gebiet einwandernden Fremden sich assimilieren? Unsere Nationalen stehen wirklich auf diesem Standpunkt – was sie natürlich nicht hindert, alles zu tun, um den Tschechen im deutschen Gebiet die Assimilation zu erschweren und zu verekeln. Aber wie soll die Pflicht zur Assimilation vom sozialdemokratischen Standpunkt begründet werden? Was läßt sich vom sozialdemokratischen Standpunkt gegen die völlige Tschechisierung einer deutschen, die völlige Germanisierung einer tschechischen Stadt einwenden – vorausgesetzt natürlich, daß sich eine solche Entnationalisierung ohne Zwang und Gewaltanwendung vollzieht?

Ludo Hartmann hat in einem Artikel zur Frage der nationalen Minoritätsschulen den sehr interessanten Versuch unternommen, die Pflicht zur Assimilation vom sozialistischen Standpunkt zu begründen. Er meint, daß man die Sprache, unbeirrt von aller nationalen Ideologie, nur als ein Verkehrs- und Veständigungsmittel betrachten darf; tue man dies, so erscheine die Assimilation vom Standpunkte der Gesamtheit aus als das Zweckmäßige und daher das Erstrebenswerte. Hartmann verwirft darum die von Bauer vorgeschlagene Minoritätsschule (in der auch die Sprache der Mehrheit gelehrt werden soll), denn er findet, daß Bauer nicht vom kollektivistischen, sondern vom individualistischen Standpunkt ausgeht, und daß dessen Minoritätsschule ihren Zweck -Erleichterung der Assimilation ohne Zwang zur Assimilation – zu erreichen kaum geeignet sein dürfte; er empfielt eine Schule, in der die nichtdeutschen Kinder als (wegen ihrer mangelhaften Kenntnis des Deutschen) minderbefähigte Schüler behandelt werden sollen.

Bauer behandelt also die Nationalität als Privatsache, Hartmann nicht. Wer hat recht?

Auf den ersten Blick könnte man versucht sein, Hartmann beizupflichten, denn er geht von Voraussetzungen aus, deren Richtigkeit auf der Hand liegt. Prinzipiell ist, wie dem Liberalismus alles, so dem Sozialismus nichts Privatsache. Er betrachtet alles vom Standpunkt der Gesamtheit. Also muß er, was auf die Gesellschaft wirkt, der Leitung durch die Gesellschaft zu unterwerfen suchen. Und da die Sprache gesellschaftlich nicht gleichgültig, vielmehr höchst wichtig ist, so werden in der sozialistischen Gesellschaft die sprachlichen Verhältnisse als eine Angelegenheit der Gesamtheit behandelt werden. Diese Behandlung wird auch zweifellos die sein, die Hartmann wünscht. Das sozialistische Weltparlament wird erklären: Die Sprache ist ein Verkehrs- und Verständigungsmittel, aber die Sprachen sind ein Verkehrshindernis, die Vielsprachigkeit widerspricht der Sprachfunktion, und dieser Widerspruch wird um so fühlbarer, je mehr Sprachen sich zu Kultursprachen entwickeln. Er müßte also in der sozialistischen Gesellschaft, in der jede Sprache eine Kultursprache werden würde, unerträglich werden. Machen wir also der Vielsprachigkeit ein Ende, erheben wir eine Sprache zur allgemeinen Vermittlungssprache, lassen wir sie in allen Schulen der Welt lehren, und sie wird sehr bald die alleinige Sprache werden, also den Zweck der Sprache, ein Mittel der Verständigung und des Verkehrs zu sein, in der vollkommensten Weise erfüllen6.

So könnte das sozialistische Weltparlament reden. Aber wer kann heute, in der bürgerlichen Gesellschaft, die in zwei große Klassen zerrissen ist und in zahllose Staaten zerfallt, eine solche Sprache führen? Nicht einmal wir Sozialisten. Denn, das übersieht Hartmann, der Sozialismus an der Macht und der Sozialismus in der Opposition sind nicht dasselbe und müssen sich darum verschiedener Methoden bedienen. Allerdings bestimmt unsere Aktion auch heute das Gesamtinteresse der Zukunft, darin hat Hartmann recht. Aber wir haben nur eine Möglichkeit, das Gesamtinteresse der Zukunft zu vertreten: indem wir das gegenwärtige Interesse des Proletariats, als der Klasse, der die Zukunft gehört, verfolgen. Hartmann hat also unrecht, wenn er sagt:

„Die Arbeiterschaft darf bei der Beurteilung der deutsch-tschechischen Frage nicht von der Tatsache ausgehen, daß in den deutschen Gebieten Böhmens und Wiens die Minoritäten größtenteils aus Proletariern bestehen, die in erster Linie von den Beschwerden, welche die Assimilation mit sich bringt, betroffen werden.“

Wir müssen vielmehr diese und überhaupt jede nationale Frage genau so behandeln wie alle anderen Fragen: ausschließlich vom Standpunkt des Proletariats aus. Um das zu erkennen, braucht man nur die Gedanken Hartmanns zu Ende zu denken. Setzen wir den Fall, wir wollten die Sprachenfrage nach seinem Rezept lösen, also die Sprache lediglich als ein Verkehrs- und Verständigungsmittel behandeln. In einer sozialistischen Gesellschaft könnten wir das, wie gesagt, tun: sobald Ausbeutung und Unterdrückung aufgehört haben, kommt die Sprache wirklich nur noch als ein Verkehrs- und Verständigungsmittel in Betracht. Aber heute ist dem nicht so. Heute ist es für die besitzenden Klassen der Nation nicht gleichgültig, wie groß die Nation ist. Je mehr Tschechen es gibt, desto selbstbewußter kann das tschechische Bürgertum auftreten, desto eher wird es sich bei der deutschen Bourgeoisie und bei der Regierung in Respekt setzen. Die Sprache hat also heute nicht bloß die Bedeutung eines Verkehrs- und Verständigungsmittels, sie ist eine Quelle politischer Macht. Darum wird jede Bourgeoisie, wo sie kann, auf nationale Eroberungen ausgehen. Sie wird keinesfalls geneigt sein, die Minoritäten ihrer Nation preiszugeben, wohl aber wird sie für die Assimilation der Fremden in ihrem Gebiet schwärmen. Unter diesen Umständen ist der Weg, den uns Hartmann weist, ungangbar, denn er führt nicht ans Ziel: die Pflicht zur Assimilation würde nicht die Assimilation bewirken, sie würde nur zur Schikanierung der Minorität durch die Majorität und der Majorität durch die Minorität führen. Darunter hätte vor allem das Proletariat zu leiden. Die Arbeiter würden – ganz wie es die Bourgeoisie wünscht – national erregt werden, und diese Erregung müßte ihr Klassenbewußtsein trüben, ihre Tauglichkeit zum Klassenkampf vermindern.

Wir können also den von Hartmann gezeigten Weg nicht einschlagen. Nun gibt es aber, solange eine Regelung der sprachlichen Verhältnisse, die dem Gesamtinteresse Rechnung trägt, nicht durchführbar ist, nur zwei Möglichkeiten: entweder wir geben die nationalen Minoritäten den Majoritätsnationen, das heißt deren besitzenden Klassen, preis, oder wir suchen die Behandlung der Nationalität als Privatsache zu erzwingen. Wir können natürlich nur das letztere tun. Der Vorschlag Bauers, dessen Verwirklichung den Tschechen im deutschen Sprachgebiet die Möglichkeit der Assimilation ohne Nötigung zur Assimilation schaffen würde, ist darum der korrektere, denn er behandelt die Nationalität als Privatsache.

Aber haben wir nicht gesagt: dem Sozialismus ist prinzipiell nichts Privatsache? Sehr wohl. Wir haben aber auch gesagt, daß der Sozialismus in der Opposition etwas anderes ist als der Sozialismus an der Macht. Wenn wir heute an den Staat die Forderung richten, daß er die Nationaltät, wie manches andere, als Privatsache behandeln solle, so bedeutet das nicht, daß wir unsere Prinzipien aufgegeben haben. Es bedeutet auch nicht, daß wir die Nationalität für gesellschaftlich gleichgültig halten. Es bedeutet vielmehr, daß wir der Meinung sind: die Zeit, in der die Gesamtheit die nationalen Verhältnisse im Interesse der Gesamtheit regeln kann, ist noch nicht gekommen, wohl aber ist die Zeit vorüber, in der die besitzenden Klassen sie entsprechend ihren Herrschaftsinteressen reglementieren konnten.

Also auch ein Recht der Nation auf ihren Boden, dem die Pflicht der Nationsfremden zur Assimilation entsprechen soll, kann der Sozialdemokrat nicht anerkennen, wenn er nicht allen seinen Prinzipien zum Trotz ein Recht auf Vergewaltigung der nationalen Minoritäten statuieren will.

Den ärgsten Spektakel über die Verletzung des nationalen Rechtes auf den Boden machen die Nationalisten, wenn ein „deutsches“ Haus oder Grundstück in tschechische Hände übergeht. Sie meinen also, das Privateigentum an Grund und Boden müsse im deutschen Land ein Privilegium der Deutschen sein. Solche Privilegien hat es gegeben: Klassen, Nationen, Rassen usw. sind vom Grundeigentum ausgeschlossen gewesen. Aber der Gleichmacher Kapitalismus hat mit diesen Privilegien aufgeräumt. Er kennt nur ein Privileg, das des Geldsacks. Wer ein Grundstück, ein Haus oder irgendeine andere Sache bezahlen kann, der darf sie auch erwerben. Wer dieses Privileg einschränken will, wer die Gleichheit alles dessen, was zahlungsfähig ist, bekämpft, der will aus der kapitalistischen Gesellschaft zu vorkapitalistischen Zuständen zurückkehren, er ist ein Reaktionär, und die Arbeiter, die über den Kapitalismus hinauswollen, können keine Gemeinschaft mit ihm haben. Aber auch abgesehen davon ist es für den Arbeiter gleichgültig, in wessen Händen sich der Hausbesitz befindet, denn er ist an dem Haus, in dem er wohnt, nur als Mieter interessiert, und den geht es sehr wenig an, welcher Nation der Hausagrarier, der ihn ausbeutet, angehört. Übrigens verkaufen auch die besten Deutschen ihre Häuser, wenn sie es mit Vorteil tun können, mit der größten Gemütsruhe an Tschechen. Auch hier sehen wir, daß die wirtschaftlichen Interessen stärker sind als die nationalen Interessen. Die Begeisterung für den heimatlichen Boden kühlt sich ab, sobald er mit Profit losgeschlagen werden kann. Ja, diese Begeisterung ist unter den Hausagrariern so schwach, daß die Begeisterung der anderen der Häuserspekulation ein ergiebiges Feld der Tätigkeit eröffnet hat. Und die deutschen Schutzvereine, zu deren vornehmsten Aufgaben die Erhaltung des deutschen Bodens in deutschen Händen gehört, verfluchen heute nicht nur jene Deutschen, die ihre Häuser statt an sie an Tschechen verkaufen, sondern auch diejenigen, die ihnen durch den Hinweis auf das Vorhandensein generöser tschechischer Käufer die höchsten Preise für ihre Chaluppen abpressen. Das ist die Dialektik des Nationalismus. Er führt sich immer selbst ad absurdum.

Was immer man sich unter dem Recht der Nation auf ihren Boden vorstellen mag, eine Interessengemeinschaft zwischen Bourgeoisie und Proletariat stellt die heimatliche Scholle nicht her.

5. Der Nationalcharakter

Zu den höchsten Gütern der Nation rechnen die Nationalen als „Ethiker“ und „Idealisten“ natürlich auch den Nationalcharakter, ja sie erklären ihn für das nationale Gut – alles andere erhält ja, sagen sie, erst als Mittel zur Erhaltung der deutschen „Edelart“ Sinn und Wert. Und nun will es ihr Pech, daß gerade der Nationalcharakter das fragwürdigste aller nationalen Güter ist. Nämlich, er existiert gar nicht.

Was ist denn unter Nationalcharakter zu verstehen? Gewöhnlich definiert man ihn als die Summe aller körperlichen, geistigen und sittlichen Eigenschaften, die allen oder doch den meisten Angehörigen der Nation gemein sind. Angenommen, es gibt einen Nationalcharakter in dieser Bedeutung des Wortes – was sollen wir in der Politik, der er, wenn die Nationalen recht hätten, Ziel und Inhalt geben müßte, mit ihm anfangen? Setzen wir den Fall: alle Deutschen sind blond, und die Blondheit gehört also zum deutschen Nationalcharakter. Was soll es uns? Die Blondheit ist und bleibt für die Politik ganz gleichgültig. Oder: zum deutschen Nationalcharakter rechnet man auch eine Eigenschaft, die die Deutschen selbst Gründlichkeit, die anderen Völker Schwerfälligkeit oder Umständlichkeit nennen. Was soll der Politiker mit ihr machen? Hat man schon je etwas von einer Aktion zur Erhaltung der so viel gerühmten deutschen Gründlichkeit gehört?

Aber das nur nebenbei, denn es ist keine Frage, daß es einen Nationalcharakter in dem Sinne, in dem man das Wort gewöhnlich gebraucht, überhaupt nicht gibt. Keinem Zweifel unterliegt es natürlich, daß die Tendenz zur Entwicklung eines solchen Nationalcharakters immer vorhanden ist. Von den Einflüssen, denen eine Nation ausgesetzt ist, sind wenigstens einige für alle Nationsangehörigen gleich oder doch ähnlich, und Gleiches bewirkt Gleiches, Ähnliches Ähnliches. Aber gewiß ist auch, daß sich die Tendenz zur Bildung eines Nationalcharakters in der bürgerlichen Gesellschaft nur sehr unvollkommen durchsetzen kann, weil ihr da andere Tendenzen entgegenwirken, und zwar umso stärker entgegenwirken, je weiter die Entwicklung des Kapitalismus fortschreitet. Die Spaltung der Nation in Klassen, von denen jede dieselben Ereignisse anders erlebt, anders empfindet, anders wertet, anders verarbeitet, hindert die Entwicklung neuer Nationalcharaktere und zerstört die alten. Dazu kommt, daß der Kapitalismus jede Nation mit fremden Elementen durchsetzt, und zwar jeden Teil der Nation mit anderen: der Elsässer hat andere Eigentümlichkeiten als der Deutschböhme. Nicht zu vergessen, daß auch nicht alle Angehörigen einer Nation unter denselben natürlichen Verhältnissen leben, daß auch die Verschiedenheit des Klimas, der Bodenbeschaffenheit usw. innerhalb der Nation differenzierend wirkt: der Deutsche an der Waterkant und der Deutsche in den Tiroler Bergen sind verschiedene Menschen. Was bleibt unter solchen Umständen vom Nationalcharakter übrig? Man versuche doch einmal, jene Eigenschaften anzugeben, die dem Wiener Kaffeehausliteraten, dem Ostseefischer, dem Finanzmann in Berlin W., dem Reichenberger Weber – die Reihe läßt sich beliebig verlängern – gemein sind. Die Mühe wird umsonst sein. Wenn es aber auch einen Nationalcharakter im gebräuchlichen Sinne des Wortes entweder gar nicht oder nur in Anfängen oder Resten gibt, so kann man doch von einem Charakter des Nationsganzen, einem Nationscharakter sprechen. Man hebt z.B. als unterscheidendes Merkmal der französischen Nation ihren Geist hervor. Das bedeutet aber nicht, wenn es auch oft so aufgefaßt wird, daß alle oder die meisten Franzosen geistreich sind, sondern nur, daß wir im französischen Volke mehr Menschen von Geist finden als bei anderen Völkern, wobei sie aber immer noch eine kleine Minorität des französischen Volkes ausmachen können. Wenn in Deutschland erst jeder tausendste, in Frankreich aber schon jeder hundertste Mensch Esprit besitzt, so werden wir von den Franzosen, obwohl neunundneunzig Prozent, also die erdrückende Majorität, von ihnen nicht geistreich sind, sagen, sie sind ein geistreiches Volk. Durch eine liederliche Logik ist aus diesem Charakter der Nation der typische Charakter der Nationsangehörigen geworden. Man drückt die Ansicht, daß es im französischen Volk mehr geistreiche Menschen gibt als unter anderen Völkern, salopp so aus: die Franzosen sind geistreich. Natürlich kann man dann auch sagen: der Franzose ist geistreich. Im Handumdrehen ist aus dem Nationscharakter, dem Charakter des Nationsganzen, der Nationalcharakter, der gemeinsame Charakter der Nationsangehörigen geworden.

Der Nationscharakter ist veränderlich. Seine Struktur entspricht der sozialen Struktur der Nation, seine Entwicklung ist abhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Forderung nach seiner Erhaltung ist also eine Utopie, und zwar eine reaktionäre Utopie. Unsere Nationalen deklamieren so gerne von der deutschen Art – wobei sie allerdings nicht die heutige deutsche Art meinen, sondern eine, die schon der Vergangenheit angehört und nur noch in kümmerlichen Resten in die Gegenwart hineinragt. Sie stellen sich unter dem idealen Deutschen den klassischen Kleinbürger vor, dessen Handwerk noch einen goldenen Boden hatte und der, bei aller Engherzigkeit und Beschränktheit, in seiner Welt ein ganzer Kerl war. Diesen Kleinbürger kostümieren sie à la Siegfried, drücken ihm den Balmung in die Faust, setzen ihn unter bengalische Beleuchtung, und der Deutsche, wie er sein soll, ist fertig. Aber der deutsche Kleinbürger, nicht nur der, den sich unsere Nationalen zurechtgemacht haben, auch der, der wirklich einmal existiert hat, existiert in unserer Welt nicht. Mit dem Verkommen des Handwerks ist natürlich auch die Handwerkerart verkommen. Sie erhalten, oder besser gesagt, zu neuem Leben erwecken zu wollen, heißt: ihre wirtschaftlichen Voraussetzungen wiederherstellen zu wollen. In der Praxis läuft das hinaus auf die Forderung nach der Hemmung der wirtschaftlichen Entwicklung durch zünftlerische Schikanen, in der Theorie auf die Forderung nach der Rückkehr zu einer vorkapitalistischen Produktionsweise. Es ist kleinbürgerlich, reaktionär, keineswegs sozialistisch, revolutionär. Wie sollen sich also Proletarier, Sozialdemokraten für die Erhaltung des Nationalcharakters begeistern?

Noch mehr: Wir Sozialdemokraten wollen nicht nur die heutigen Nationscharaktere nicht erhalten, wir arbeiten geradezu an ihrer Zerstörung. Und zwar nicht nur, indem wir ihre sozialen Voraussetzungen, den Kapitalismus und die Reste vorkapitalistischer Produktionsweisen, beseitigen wollen. Wir nehmen die Zerstörung des heutigen Nationscharakters nicht etwa als zwar ungewollte, aber unvermeidliche Folge unserer revolutionären Aktion mit in den Kauf. Wir arbeiten bewußt und mit Absicht an ihr. Was bedeutet denn der Satz: die Sozialdemokratie will das Proletariat erziehen? Nichts anderes als daß die Sozialdemokratie jedes Landes die spezifischen Unzulänglichkeiten und Laster ihres Proletariats bekämpft. Und da die Schwächen und Fehler des deutschen, tschechischen, italienischen Proletariats zum deutschen, tschechischen, italienischen Nationscharakter gehören, so bedeutet das Ankämpfen gegen sie das bewußte Arbeiten an der Ummodelung des deutschen, tschechischer, italienischen Nationscharakters.

Aber wir arbeiten auch noch in einer anderen Richtung an der Änderung des Nationscharakters. Nicht nur durch die Erziehung des deutschen Proletariats verändert die Sozialdemokratie den deutschen Nationscharakter, sie wirkt auch auf die anderen Klassen der deutschen Nation. Freilich nicht erzieherisch, wie auf die Arbeiterklasse, sondern auf ganz andere Art. Vor zwanzig Jahren hat man in unseren Versammlungen allerdings noch oft die Redensart gehört: Wir müssen unsere Gegner zur Vernunft und zur Anständigkeit erziehen. Dieser Satz war ein Nachhall der utopistischen Auffassung, daß die sozialistische Gesellschaft das Werk der Edlen und Einsichtigen sein werde. Viele Genossen glaubten damals noch den Sozialismus rascher durchsetzen zu können, wenn es ihnen gelänge, die Gegner „aufzuklären“ und zu „bessern“. Wir sind aber von dieser Auffassung ganz abgekommen. Heute weiß jeder Sozialdemokrat, daß keine Klasse einen Selbstmord begeht und daß es darum unmöglich ist, die an der Erhaltung der Privateigentumsgesellschaft interessierten Klassen zur „Vernunft“ und zur „Anständigkeit“ zu erziehen7, weil eben für sie etwas anderes vernünftig und anständig ist, als für uns. Wir haben erkannt, daß wir einen ganz anderen Einfluß als einen pädagogischen auf die Gegner nehmen müssen. Wir wissen, daß im Klassenkampf, wie im Krieg, sehr viel darauf ankommt, den Feind zu demoralisieren, und wir wirken auch Tag für Tag demoralisierend auf die Feinde der Arbeiterklasse ein. Nicht in dem Sinne natürlich, daß wir sie schlecht, feig, brutal machen wollen. Wir beweisen, daß die Argumente, mit denen sie die bürgerliche Gesellschaftsordnung verteidigen, nicht stichhaltig sind. Sie müssen dazu schweigen oder mit Lügen antworten –in jedem Fall verlieren sie ihr gutes Gewissen. Wir zeigen den Widerspruch zwischen ihren Theorien und ihrer Praxis auf, und sie müssen wieder schweigen oder wieder lügen. Jede Niederlage im wirtschaftlichen Kampfe demütigt sie, jede Wahlschlacht, die sie verlieren, schwächt ihr Selbstbewußtsein. Der unaufhaltsame Aufstieg des Proletariats macht sie unsicher. Sie werden an sich irre, sie verkommen. Aus den auf ihr Recht und ihre Macht stolzen Herren werden brutale Feiglinge. Auch dadurch ändert das kämpfende Proletariat die Nationscharaktere.

Um Mißverständnissen vorzubeugen: Wenn wir durch die Erziehung des deutschen Proletariats und durch die Demoralisierung seiner Ausbeuter und Unterdrücker bewußt an der Änderung des deutschen Nationscharakters arbeiten, so tun wir das selbstverständlich nicht aus irgendwelchen nationalen Gründen, sondern nur aus proletarisch-sozialistischen. Die Erziehung des deutschen Proletariats durch die Sozialdemokratie hat auch nicht bloß eine nationale, sondern eine internationale Bedeutung. Nicht bloß weil unter den deutschen Arbeitern soundso viele nichtdeutsche Proletarier leben. Auch wenn im deutschen Sprachgebiet kein einziger nichtdeutscher Arbeiter wäre, würde jede Hebung des deutschen Proletarierbewußtseins eine Hebung des Proletarierbewußtseins überhaupt sein. Und natürlich ändert jeder Sieg des russischen, französischen, englischen Proletariats auch den deutschen Nationscharakter, indem er den deutschen Proletarier aufrichtet und den deutschen Spießbürger niederdrückt.

Hinter der Forderung der Nationalen nach der Erhaltung des Nationalcharakters verbirgt sich – ganz genauso, wie hinter der Forderung der Klerikalen nach der Erhaltung der christlichen Moral – nur der Wunsch der herrschenden Klassen, nach wie vor ihre „Herrentugenden “ betätigen zu können und dem Proletariat die Sklavenlaster, die Anspruchslosigkeit, die Unterwürfigkeit (die die Nationalen deutsche, die Klerikalen christliche Tugenden nennen) zu erhalten, das heißt den wirtschaftlichen und politischen Status quo, das kapitalistische Eigentum und den bürgerlichen Staat, zu konservieren.
Auch der Nationscharakter stellt keine Interessengemeinschaft zwischen Bourgeoisie und Proletariat her, auch an ihm haben diese beiden Klassen entgegengesetzte Interessen, auch er ist ein Objekt des Klassenkampfes.

6. Das Nationalgefühl

Wenn den Nationalen gar nichts mehr einfällt, so berufen sie sich auf das Nationalgefühl. Man beweise ihnen, daß die Gegensätze, die die Nation in verschiedene Klassen zerreißen, stärker sind als alle nationalen Gemeinsamkeiten, und sie werden sich hinter dem Nationalgefühl verschanzen. Genaueres über Inhalt und Funktion dieses Gefühls ist von ihnen allerdings nicht zu erfahren. Nach ihren Reden zu schließen ist es eine geheimnisvolle, mit dem plumpen Verstand nicht zu begreifende Kraft, die die Angehörigen einer Nation trotz allem, was sie auseinander und gegeneinander treibt, zusammenzwingt.

Das Argument vom Nationalgefühl ist allerdings schon in dem Augenblick widerlegt, in dem es notwendig wird. Muß ich mich gegenüber einem Volksgenossen, den ich für den Nationalismus gewinnen will, auf das Nationalgefühl berufen, so ist auch schon bewiesen, daß er entweder kein Nationalgefühl hat, oder daß es zu schwach ist, seine politische Haltung zu beeinflussen. Es geht mir in diesem Falle wie dem Pfaffen, der sich gegenüber dem Atheisten, dem gar kein Beweis vom Dasein Gottes imponiert, zuletzt auf die „unleugbare Tatsache“ beruft, daß jedem Menschen eine innere Stimme sagt: Es gibt einen Gott. Was gegenüber einem Menschen, der nun einmal so pervers ist, daß er nicht einmal national empfindet, der Hinweis auf das Nationalgefühl soll, ist schlechterdings nicht einzusehen. Aber nehmen wir an, daß Gefühle nach Belieben hervorgerufen und reguliert werden können, nehmen wir an, daß der Hinweis auf die Kraft des Nationalgefühls imstande ist, diese Kraft zu erzeugen, dann wäre immer noch zu beweisen, daß das Nationalgefühl eine politische Gemeinschaft herzustellen vermag.

Sehen wir uns daraufhin einmal unsere Deutschnationalen an. Wäre es wahr, daß das Nationalgefühl die breite Kluft überbrücken kann, die das Bürgertum und die Arbeiterschaft einer Nation voneinander trennt, so müßte es die verschiedenen Schichten des Bürgertums einer Nation, zwischen denen doch keine so großen Gegensätze bestehen, erst recht verbinden und zusammenhalten können. Aber das ist, wie wir wissen, nicht der Fall. Den deutschen Fabrikanten hindert sein Nationalgefühl nicht, tschechische Arbeiter ins deutsche Land zu ziehen. Die besten Deutschen verkaufen um des schnöden Mammons willen ihre Häuser an Tschechen. Wie viele gute Deutsche gibt es, die ihre Einkäufe in deutschen Geschäften besorgen, wenn die Tschechen billiger verkaufen? Der deutsche Handwerker, der keinen tschechischen Lehrbuben mag, und die deutsche Hausfrau, die ein deutsches Dienstmädchen einer „Libuschatochter“ vorzieht, können sich als Raritäten ausstellen lassen. Usw. usw. Das schwächste ökonomische Interesse vermag über den Bürgerlichen mehr als das Nationalgefühl mit all seiner unwiderstehlichen Gewalt.

Begeben wir uns vom ökonomischen auf das politische Gebiet, so zeigt sich uns dasselbe Bild. Die besten deutschen Männer können durch die lächerlichsten, kleinlichsten Bagatellen so gegeneinander aufgebracht werden, daß sie, ihr allmächtiges Nationalgefühl in der zottigen Mannsbrust verbergend, auf einander losdreschen, als hätten sie den slawischen Erbfeind vor sich. Z.B.: In der „Metropole von Deutschböhmen“, in Reichenberg, ist ein Landtagsmandat freigeworden. Als Kandidaten treten zwei Nationale auf. Politisch gleichen sie einander wie ein faules Ei dem andern, beide sind anerkanntermaßen gute Deutsche. Über Prinzipien kann also im Wahlkampf nicht gestritten werden. Unglücklicherweise hat auch keiner von den Wahlwerbern silberne Löffel gestohlen, beide sind untadelige Ehrenmänner, es kann also auch keiner die Wähler für sich gewinnen, indem er die persönliche Integrität des andern bestreitet. Nichtsdestoweniger entwickelt sich eine hitzige Wahlkampagne, denn der eine Kandidat – wohnt nicht in Reichenberg, sondern in Ruppersdorf, einem Vorort von Reichenberg. Unerhört: so ein Mensch will Reichenberg im Landtag vertreten! Ja, kann er sich denn in die Weltanschauung eines Reichenbergers hineindenken, vermag er, der, wenn er auch aus einer alten Reichenberger Familie stammt, zum Ruppersdorfer herabgesunken ist, noch zu begreifen, was in der Seele eines Reichenbergers vorgeht? Ist seine Kandidatur nicht eine Unverschämtheit? Die Reichenberger brauchen keinen Ruppersdorfer! Durch ganz Reichenberg gellt dieser Schlachtruf, und der Ruppersdorfer fällt, wie sich’s gebührt, mit Schimpf und Schande durch. Und solche Geschichten haben wir nicht bloß einmal, wir haben sie hundertmal erlebt, sie wiederholen sich immer wieder. Alle Deutschen gehören zusammen, „das Vaterland muß größer sein“, aber wenn irgendwo bei einer Wahl einem einheimischen Kandidaten ein „Fremder“ (und für die Oberkrähwinkler fängt die Fremde, die Wildnis schon in Unterkrähwinkel an) gegenübertritt, dann wird auf sein Deutschtum gepfiffen, mag es auch von anerkannt vorzüglicher Qualität sein. Dann heißt es: Reichenberg den Reichenbergern! Dann kann das Vaterland nicht klein genug sein. Nicht nur die Klasseninteressen, auch die kleinlichsten Cliqueninteressen vermögen über unsere Nationalen mehr als ihr Nationalgefühl. Oder ist dieses am Ende überhaupt kein Nationalgefühl? Sind die Leute, die sich gute Deutsche nennen, am Ende nur „gute“ Reichenberger, Linzer, Grazer, Kemmelbacher? Verwechseln sie nicht vielleicht Nationalgefühl mit Bezirksmeierei und Lokalpatriotismus? Was ist denn das Nationalgefühl überhaupt?

Legt man einem Nationalen die Frage vor, woran er denn eigentlich merkt, daß er national empfindet, so bekommt man die Antwort: „Ich fühle mich unter Deutschen wohler als unter Nichtdeutschen“. In dieser Behauptung mengt sich Wahrheit und Irrtum. Der Mann müßte sagen: „In einer Umgebung, an die ich gewöhnt und angepaßt bin, fühle ich mich wohler als in einer fremden“. Er verwechselt das Gewohnte mit dem Deutschen, er übersieht, daß nicht alles, woran er sich gewöhnt hat, deutsch ist, und daß er an sehr viel Deutsches nicht gewöhnt ist. Einen Deutschnationalen, der in einem deutsch-böhmischen Städtchen aufgewachsen ist und die dort ansässige tschechische Minorität grimmig haßt, verschlägt irgendein Zufall in ein gottverlassenes Nest in der deutschen Schweiz. Wie wird sein Nationalgefühl diese Probe bestehen? Es ist sehr wahrscheinlich, daß er, trotzdem er nun unter lauter Deutschen lebt und ihm kein Tscheche mehr den Grimm weckt, gar bald Heimweh bekommen wird; daß ihm das „Schwyzer Dütsch“ viel härter ans Ohr schlagen wird, als das „Böhmakeln“, das er daheim oft verspottet hat. Wenn der gute Mann denkt, wenn er sich von dem, was er erlebt, Rechenschaft zu geben bemüht ist, so könnte er die Entdeckung machen, daß, was er für Nationalgefühl gehalten hat, Liebe zur Heimat, also etwas ganz anderes ist. Er könnte dahinterkommen, daß das Nationalgefühl ein sehr schwaches Band ist, und daß wir uns der Täuschung, es könne alle Volksgenossen miteinander verbinden, nur hingeben können, wenn wir es infolge irgendwelcher Umstände mit stärkeren Gefühlen verwechseln können, das heißt: wenn ihm irgend ein starkes wirtschaftliches oder politisches Interesse Nahrung gibt.

Immerhin: es gibt ein Nationalgefühl, und wenn es auch nicht, wie viele, wie die meisten Nationalisten glauben, dasselbe ist wie die Lust am Gewohnten, so ist es doch die Lust an einer bestimmten Art von gewohnten Dingen. Es ist also eine bestimmte Art von Denkfaulheit, von geistiger Trägheit – wie geschaffen zur Stütze einer konservativen, ja reaktionären Politik.

Eine solche Politik kann nicht die Politik der Arbeiterklasse sein. Freilich ist auch dem Proletarier das Behagen am Gewohnten nicht fremd, auch ihm fehlt das Nationalgefühl nicht ganz. Aber es ist durch die Verhältnisse, unter denen er lebt, dafür gesorgt, daß es nicht allzusehr erstarkt, daß sein Konservativismus nicht die Oberhand über seinen Revolutionarismus bekommt. Ausnahmen kommen freilich vor, auch als Massenerscheinung, aber sie können, wie wir am Separatismus sehen werden, nicht von Dauer sein; sie müssen mit den außerordentlichen Umständen, unter denen allein sie entstehen können, wieder verschwinden. Die Existenzbedingungen des Proletariats sind weniger stabil als die irgendeiner anderen Klasse. Der Arbeiter ist heute hier, morgen dort, er arbeitet im Winter am Webstuhl, im Sommer als Maurer, seine Existenz ist nie gesichert, jeder Tag kann eine radikale Änderung seiner Verhältnisse bringen. Er ist gezwungen, fortwährend umzulernen, fortwährend neue Eindrücke zu verarbeiten. Dazu kommt, daß das Gewohnte für ihn – anders als für den Bourgeois – sehr oft das Unerfreuliche ist, also ihn nicht gerade zu behaglichem Verweilen einzuladen geeignet erscheint. Kurz, alles vereinigt sich, um seinen Geist beweglicher zu machen, als den anderer Menschen, und die Freude am Gewohnten, die Beschaulichkeit in ihm nicht aufkommen zu lassen. Alles züchtet in ihm die Lust an der Veränderung. Natürlich nicht die Lust an der Veränderung schlechthin, am Abenteuern und an der Landstreicherei (der verfällt nur der entgleiste Proletarier), sondern die Lust an der rationellen, den Bedürfnissen des Proletariats entsprechenden Veränderung, an der revolutionären Betätigung. Mögen die Nationalen noch so radikal fortschrittlich tun, mögen sie noch so große Worte gebrauchen, die Politik des Nationalgefühls erscheint schon dem naiven Arbeiter kleinlich und reaktionär. Er lacht über den Nationalismus, wie man in der Zeit der nationalen Einheitsbewegungen über die Kleinstaaterei, über den Kantönligeist gelacht hat. Die Welt des Nationalismus ist dem Arbeiter von Haus aus zu eng, zu armselig. Er ist ein naturwüchsiger Internationaler, und wer gegen seinen Internationalismus das Nationalgefühl ausspielt, der ist ihm ebenso komisch wie ein Verehrer der guten alten Zeit, der heute, in der Ära der rapidesten technischen Entwicklung, den Handwebstuhl wieder zu Ehren bringen möchte.

Wie gesagt: das Nationalgefühl, wie so manches andere Gefühl, das die Bourgeoisie in der Arbeiterschaft großziehen möchte, ist dem Arbeiter nicht völlig fremd. Aber es ist verkümmert. Ebenso wie der Bourgeois seine Gefühle zu zügeln weiß, wie er z.B. nur so weit für den Fortschritt schwärmt, als es der Profitmacherei nützlich ist, hat auch der Arbeiter gelernt, jene Gefühle zu unterdrücken, die seinen Klasseninteressen widersprechen. Er mag eine überkommene Abneigung gegen Juden haben, aber der Antisemitismus erscheint ihm nichtsdestoweniger als eine Albernheit. Er mag das Deutsch des Tschechen komisch finden, dessen Temperament und Lebensgewohnheiten mögen ihn fremd anmuten, er ist doch international. Er weiß, daß Vorurteile, die unser Verstand längst überwunden hat, in unseren Gefühlen noch lebendig sein können, und er steht darum seinem Gefühlsleben kritisch gegenüber. Weil etwas für sein Gefühl fremd ist, ist es für sein Urteil noch nicht schlecht. Der Versuch der Nationalen, das Nationalgefühl des Arbeiters demagogisch auszunutzen, muß ebenso scheitern wie ihre übrigen Versuche, den Arbeitern das Märchen von der Harmonie der kapitalistischen und proletarischen Interessen in einer nationalen Verkleidung glaubhaft und sympathisch zu machen.

7. Die nationale Autonomie

Nach der Meinung vieler Genossen ist die nationale Autonomie berufen, dem Nationalitätenstreit ein Ende zu machen und den Völkerfrieden herbeizuführen. Diese Auffassung ist aber ebenso falsch wie der Glaube an die Allmacht des Parlamentarismus, an die Möglichkeit der Durchsetzung unserer letzten Forderungen in den bürgerlichen Parlamenten. Warum also verlangen wir die nationale Autonomie?

Eine Vorfrage: Was ist nationale Autonomie? Wenn die Separatisten dieses Wort gebrauchen, so meinen sie die völlige Souveränität der tschechoslawischen „Sozialdemokratie“. Das ist aber ein Doppelmißverständnis, denn es gibt außer den Separatisten auch noch einige andere Tschechen und Souveränität ist nicht dasselbe wie Autonomie. Die Souveränität, die Selbstherrlichkeit, die die Separatisten für sich verlangen, ist mit dem Sozialismus überhaupt nicht vereinbar. Der Sozialist kennt nur eine Souveränität: die der Gesamtheit. Wir haben keinen Grund anzunehmen, daß die sozialistische Gesellschaft in souveräne nationale Gruppen zerfallen wird, dagegen haben wir die triftigsten Gründe zu der Annahme, daß in der sozialistischen Gesellschaft, auch solange sie aus verschiedenen Völkern bestehen wird, nicht die Nation, sondern der Bund der Nationen die höchste Instanz sein wird: nicht alle Teile der Erde sind von derselben Beschaffenheit, wir haben nicht überall dieselben Tiere, dieselben Pflanzen, dieselben Kohlen- und Erzlager usw., und schon das drängt zur Schaffung eines einzigen großen Wirtschaftsgebietes. Wir wollen aber zugeben, daß es sich da um eine Frage handelt, die wir uns noch reiflich überlegen können. Keine Frage aber ist es, daß wir heute in der sozialdemokratischen Partei keiner Gruppe eine Autonomie nach dem Geschmack der Separatisten, d.h. die völlige Selbständigkeit gewähren können, wenn wir nicht einen Selbstmord begehen wollen. Gegenüber dem Kapitalismus haben alle Arbeiter dasselbe Interesse, und darum müssen alle proletarischen Kräfte zu einer einheitlichen Aktion zusammengefaßt werden. Das ist aber nur möglich in einer einheitlichen Partei, und die nationale Autonomie, die der Separatismus meint, ist darum ein Unding. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß wir jede Autonomie in der Partei verwerfen. Wie jede Organisation, jeder einzelne Vertrauensmann einer gewissen Selbständigkeit bedarf, so kann auch den nationalen Gruppen der Partei eine gewisse Autonomie, d.h. die Selbstverwaltung innerhalb der durch die Gesamtpartei im Interesse der Gesamtpartei gezogenen Grenzen nötig sein. Wie weit diese Autonomie gehen darf, darüber später. Vorher ein paar Worte über die nationale Autonomie im Staate. Warum verlangen wir sie, da sie doch nichts spezifisch Sozialistisches ist und auch, wie gesagt, keineswegs die Lösung der nationalen Frage bedeutet?

Wir müssen wiederholen: Der Sozialismus an der Macht ist etwas anderes als der Sozialismus in der Opposition, die sich selbst regierende kollektivistische Gesellschaft etwas anderes als das in der bürgerlichen Gesellschaft um die Macht ringende Proletariat. Wenn wir von dieser bürgerlichen Gesellschaft die nationale Autonomie fordern, so bedeutet das noch nicht, daß wir in der sozialistischen Gesellschaft den Nationen Autonomie gewähren werden. Wir verlangen vom heutigen Staat sehr viele Dinge, für die wir uns nach der Sozialisierung der Produktionsmittel sehr energisch bedanken würden. Z.B.: Wir verlangen heute die Einführung der obligatorischen Zivilehe, damit ist aber über die Frage, ob wir in der sozialistischen Gesellschaft auf dem Standesamt heiraten werden, noch gar nichts gesagt. Oder: Wir verlangen, daß der Unternehmer ins Loch wandert, wenn er ein Arbeiterschutzgesetz gröblich verletzt hat. Darf man daraus folgern, daß es in der sozialistischen Gesellschaft Zuchthäuser geben wird? Und solcher Beispiele ließen sich hundert und aberhundert anführen. Die Forderungen, die wir an die heutige Gesellschaft richten, sind nicht sozialistisch in dem Sinne, daß ihre Erfüllung uns schon ans Ziel führt, sondern nur in dem Sinne, daß sie die gesellschaftliche Entwicklung auf dem Wege zu unserem Ziel vorwärts treibt. Und auch nur in diesem Sinne ist die Forderung nach der nationalen Autonomie sozialistisch. Aber wieso? Kann uns die nationale Autonomie, wenn sie uns schon selbst kein Ziel ist, doch unseren Zielen näherbringen?

Ich muß mir hier eine kleine Abschweifung von unserem Thema erlauben. Wie stellen wir uns zu Religion und Kirche? Wie uns unsere Gegner des Verrats an unserer Nation bezichtigen, so machen sie uns auch den Vorwurf, daß wir die Religion „abschaffen“ wollen. Das ist natürlich Unsinn. Aber nicht, weil es absolut falsch wäre, sondern weil es einen geschichtlichen Vorgang, der aus der bürgerlichen Welt hinausführt und darum über den bürgerlichen Horizont geht, in die Enge der bürgerlichen Weltanschauung zwängen will. In einer sozialistischen Gesellschaft ist, wenn Marx recht hat, für Religion und Kirche kein Platz; es fehlten dort die Voraussetzungen für die Erhaltung der alten und für die Entstehung neuer Religionen und Kirchen. Gerade aber weil wir wissen, daß Religion und Kirche soziale Ursachen haben, können wir, solange diese Ursachen noch wirken, die Religion unmöglich abschaffen wollen. Dennoch bereiten wir ihren Untergang vor, weil wir ihr – selbstverständlich nicht als werktätige Atheisten, sondern als Sozialisten – den Boden abgraben (und abgraben müssen), auf dem allein sie gedeihen kann. Es nützt der Religion nichts, daß wir nicht daran denken, sie abzuschaffen – ihr Untergang würde sich auch als ungewollte und unvorhergesehene Folge der Sozialisierung der Produktionsmittel und der damit verbundenen Aufhebung aller Ausbeutung und Unterdrückung von Menschen durch Menschen einstellen. Andererseits würde es sie nicht schädigen, wenn wir sie mit den Freidenkern (die zur Religion ein rationalistisches, also unrationelles Verhältnis haben wie Hartmann zur Nation) abschaffen wollten, denn sie kann nicht um einen Tag früher verschwinden als ihre sozialen Voraussetzungen. Die Einsicht in diesen Sachverhalt kommt in unserem Programm klar zum Ausdruck. Wir fordern vom Staat die Erklärung der Religion zur Privatsache, das heißt: das Proletariat, das berufen ist, eine gesellschaftliche Umwälzung zu vollziehen, die der Religion den Nährboden nehmen muß, fordert die vollkommenste Religionsfreiheit, die religiöse Autonomie. Ist das nicht ein schreiender Widerspruch? Einen solchen muß jeder annehmen, der in der bürgerlichen Denkweise befangen ist; auch der Sozialist, der nicht dialektisch denkt, wird unsere Stellung zur Religion mißverstehen. Beweis dessen die wunderlichen Auslegungen, die sich der Satz: Erklärung der Religion zur Privatsache, schon hat gefallen lassen müssen. Der Schein des Widerspruchs muß für jeden entstehen, der rationalistisch denkt, der also die Menschen für logische Automaten hält und darum nicht weiß, daß ein Ding noch lange nicht abgetan ist, wenn er beweisen kann oder beweisen zu können glaubt, daß es „unvernünftig“ ist, das heißt, wenn es sein allerhöchstes Mißfallen erregt; daß wir die Dinge nicht willkürlich machen können, weil jedes Ding das Resultat eines Prozesses ist, und das Resultat ohne den Prozeß, die Wirkung ohne die Ursachen, nicht zu haben ist.

Unser Verhältnis zur Nation ist dem zu Religion und Kirche in gewisser Beziehung analog. Es ist zunächst gleichgültig, ob wir die Nation wegen ihrer Vorzüge lieben oder ob sie uns vielleicht wegen ihrer Beschränktheiten zuwider ist. Es gilt nicht, der Nation eine Zensur zu erteilen, auf daß sie sich bessere, wir müssen ihr Entwicklungsgesetz suchen. Haben wir dieses gefunden, so wissen wir, daß die Nationen, wie die Religionen und Kirchen, gesellschaftliche Erscheinungen sind, daß sie in der bürgerlichen Gesellschaft verschiedene Wandlungen durchgemacht haben und den Kapitalismus in ihrer heutigen Gestalt nicht überdauern werden. Die Nation muß sich weiterentwickeln. Man mag sich nun diese Entwicklung vorstellen wie Otto Bauer, der glaubt, daß sich die Nationen in der sozialistischen Gesellschaft erst recht differenzieren werden, oder mit anderen Sozialisten annehmen, daß der Kollektivismus uns die Einheitssprache bringen wird; in jedem Fall nehmen wir an, daß die sozialistische Produktionsweise die Nationen verändern wird, daß sich die künftige Menschheit auch national von der heutigen ebensosehr unterscheiden wird wie der Kollektivismus vom Kapitalismus. Und wir arbeiten, wie gesagt, bewußt und mit Absicht an der Veränderung der Nation. Wir wollen aus den Deutschen etwas Undeutsches oder meinetwegen Überdeutsches machen. Wen Wortspielereien zu ergötzen vermögen, der mag mit Nietzsche sagen: „Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen.“ Wer sich aber nicht in dieser Lage befindet, für den hat das Wort: „Wir sind gute Deutsche“ jeden Sinn verloren. Vielleicht wird jemand einwenden wollen: Just weil wir die nationale Autonomie fordern, sind wir gute Deutsche, gute Tschechen usw., denn kann man als Sozialist für die Nation noch mehr verlangen als die Autonomie? Worauf zu erwidern wäre: Wir verlangen auch die religiöse Autonomie, sind wir deswegen gute Katholiken, Lutheraner oder Juden? Die Forderung nach der religiösen Autonomie bedeutet keine Konzession an die religiös Gesinnten, nicht einmal die Toleranz gegen Andersdenkende oder religiösen Indifferentismus; sie bedeutet natürlich noch weniger, daß wir die Religionen erhalten oder gar ihre Macht befestigen wollen. Die religiöse Autonomie gibt der Religion nur, was sie kraft ihrer Tatsächlichkeit beanspruchen kann, sie ist nur die Anerkennung dieser Tatsächlichkeit. Sie gibt den Kirchen die Möglichkeit der Selbstbestimmung, aber sie nimmt ihnen zugleich die Möglichkeit, als Kirche zu herrschen. Genauso verhält es sich mit der nationalen Autonomie. Sie bedeutet nicht nur das Recht der nationalen Selbstbestimmung, sondern auch und vor allem die Aufhebung aller Herrschaft, die sich auf einen nationalen Titel stützt. Die Autonomie läßt den Kirchen und Nationen nur den Platz, der ihnen vermöge ihrer Realität eingeräumt werden muß, wenn sie nicht im gesellschaftlichen Leben die schwersten Störungen hervorrufen, insbesondere auf das im Klassenkampf stehende Proletariat hemmend und verwirrend einwirken sollen – den Platz, den sie brauchen, nicht um sich zu erhalten, sondern um sich auszuleben. Wenn die vorstehenden Ausführungen richtig sind, so ist ohne weiteres klar, daß der Versuch, die nationale „Gliederung“ unserer Organisationen als eine selbstverständliche Konsequenz des Prinzips der nationalen Autonomie hinzustellen, auf einem grotesken Mißverständnis beruht. In den Gewerkschaften gibt es auch, abgesehen von den Separatisten, keinen Menschen, der das bestreiten würde. Die nationale Autonomie in der politischen Organisation dagegen verteidigen auch Genossen, die des Separatismus gänzlich unverdächtig sind. Sie erklären: „Wir müssen innerhalb der Partei nationale Autonomie gewähren, weil wir sie im Staate verlangen“. Aber wir verlangen vom Staate auch die religiöse Autonomie, dennoch ist es uns darum noch nie eingefallen, uns in der Partei nach Religionsbekenntnissen zu sondern. Also ist auch unsere Forderung nach nationaler Autonomie im Staate kein Grund, die nationale Autonomie in der Partei zu verwirklichen.

In seinem Buche über die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie hat Genosse Otto Bauer die Notwendigkeit der nationalen Gliederung unserer politischen Organisationen mit einigen anderen Argumenten zu beweisen versucht. Vor allem verweist er auf die Bedürfnisse der Agitation: die Partei „muß zu den Arbeitern jeder Nation in der Versammlung, in der Presse, in der Organisation in ihrer Sprache sprechen. So braucht sie für die Arbeiter jedes Volkes besondere Redner, besondere Agitatoren, besondere Schriftsteller. Dadurch gliedert sich der Körper der Partei naturgemäß in sprachliche, also national differenzierte Gruppen“. Wort für Wort dasselbe könnte aber auch von den Gewerkschaften behauptet werden. Entweder müßte also auch die Gewerkschaftsorganisation in nationale Gruppen zerrissen werden, oder die sprachliche Verschiedenheit ist auch in der Partei kein Grund zu nationaler „Differenzierung“, zur Zertrümmerung der einheitlichen Organisation.

Genosse Bauer fährt fort: „Wenn auch die gesamte Arbeiterklasse mit gleichen Mitteln zu gleichem Ziele strebt, so stehen doch die Arbeiter der verschiedenen Nationen verschiedenen Parteien gegenüber. Dadurch sind den Arbeitern der verschiedenen Nationen auch verschiedene Kampfaufgaben gestellt“. Wenn das ein Grund zur Zerstörung der einheitlichen internationalen politischen Organisation ist, so dürfen auch die Arbeiter einer Nation nicht in einer Partei vereinigt sein. Die deutschen Arbeiter haben im Sudetengebiet andere Gegner zu bekämpfen als in den Alpenländern. Hat es jemals auf die Kämpfe, die sie zu führen hatten, nachteilig eingewirkt, daß sie derselben Partei angehören?

Am wichtigsten aber erscheint dem Genossen Bauer folgender Grund für die nationale Gliederung der Partei: „Der Sozialismus tritt bei jeder Nation, von der er aufgenommen wird, zu den überlieferten Ideologien der Nation in Gegensatz und wird gerade durch den Kampf mit ihnen zur ganzen Geschichte der Nation in Beziehung gesetzt. Daher ist die sozialistische Gedankenwelt der Deutschen bei aller Übereinstimmung doch im Einzelnen verschieden von der Gedankenwelt der polnischen oder der italienischen Genossen“. Das ist richtig, aber auch die Gedankenwelt des deutschen Holzhauers und des deutschen Bauernknechts ist eine ganz andere als die des deutschen Fabrikarbeiters, ja man darf wohl behaupten, daß sich das geistige Leben des deutschen Industrieproletariers von dem des deutschen Landarbeiters in vielen Beziehungen stärker unterscheidet als von dem des tschechischen Industrieproletariers. Noch mehr. „Ihren Gedanken, ihren Stimmungen, ihrem Temperament nach“ sind die deutschen Schmiede den deutschen Webern, die deutschen Maurer den deutschen Mechanikern weniger ähnlich als ihren tschechischen Berufsgenossen. Nichtsdestoweniger haben alle deutschen Arbeiter in einer Partei Platz, warum sollen gerade die nationalen Unterschiede die Arbeiterpartei in mehrere Parteien zerreißen dürfen?

In dem einen Punkt haben die Separatisten recht: Wenn die Zerreißung der österreichischen Sozialdemokratie in mehrere nationale Parteien ein Fortschritt war, dann ist nicht einzusehen, warum nicht neben der Wiener Gewerkschaftskommission die Prager Kommission als vollkommen ebenbürtige Körperschaft stehen soll. Der gewerkschaftliche Separatismus ist nur eine Konsequenz des politischen, logisch und auch historisch. Denn es ist nicht richtig, daß der Separatismus seinen Reformeifer ursprünglich auf die Gewerkschaften beschränkt und erst später die politische Organisation in den Bereich seiner segensreichen Tätigkeit gezogen hat. Die Dinge liegen gerade umgekehrt. Seinen ersten Triumph hat der Separatismus auf dem Wimberger Parteitag 1897 gefeiert, die Gliederung der österreichischen Sozialdemokratie in nationale Gruppen war seine erste Großtat.

Freilich wurde das damals nicht erkannt. Auch Genossen, die über den Verdacht nationalistischer Neigungen erhaben sind, haben die nationale Gliederung der Partei für einen Fortschritt gehalten. Wie es möglich war, daß der gewerkschaftliche Separatismus sofort als solcher erkannt und bekämpft wurde, der politische aber nicht? Dieser Unterschied erklärt sich daraus, daß die Aufgaben der politischen Organisation viel komplizierter sind als die der Gewerkschaft. Ob eine bestimmte Taktik, eine bestimmte Organisationsform zweckmäßig ist oder nicht, muß in der Gewerkschaft viel früher offenbar werden als in der politischen Organisation, denn es handelt sich in der Gewerkschaft um viel einfachere, klarere Verhältnisse. Das Übergehen der Tschechoslawen von der zentralistischen zur separatistischen Gewerkschaftsorganisation muß zur Folge haben, daß sie nicht die kleinste Lohnerhöhung, nicht die unbedeutendste Arbeitszeitverkürzung durchsetzen können, und daß infolgedessen ihre „Gewerkschaften“ die Arbeiter nicht anziehen. Das ist ein klarer Mißerfolg, und die Separatisten können das vor Leuten, deren Gehirne der Nationalismus noch nicht vollständig verwüstet hat, unmöglich in einen Erfolg umdichten. Nicht so einfach liegen die Dinge in der Politik. Da ist die Möglichkeit von Scheinerfolgen viel größer als auf wirtschaftlichem Gebiet. Zum Beispiel: Die Separatisten können behaupten, daß sie ohne die Bewegungsfreiheit, die sie der nationalen Gliederung der Partei verdanken, den großen Wahlsieg im Jahre 1907 nicht hätten erringen können. Dieses Argument der Notwendigkeit der nationalen Selbständigkeit macht gewiß einen großen Eindruck auf viele Genossen. Vor allem natürlich auf jene, die der Meinung sind, daß die Macht unserer Partei von der Anzahl ihrer Mandate abhängt, und daß es gleichgültig ist, wie man die Mandate bekommt; aber auch auf andere: ein großer Wahlsieg kann ja auch aus dem Erstarken der Organisation zu erklären sein. Freilich kann er auch andere Ursachen haben: Es ist möglich, daß viele sozialdemokratische Stimmen von Mitläufern herrühren, denen die Partei sympathisch ist, nicht weil sie sich in ihren Anschauungen dem Sozialismus nähern, sondern weil sich die Partei vom Sozialismus entfernt, indem sie z.B. dem Nationalismus Konzessionen macht. Wahlziffern lassen immer verschiedene Deutungen zu, und die richtige findet auch der gründlichste Kenner aller in Betracht kommenden Verhältnisse nicht in jedem Falle sofort. Auch er kann für einen ersten Erfolg halten, was sich nach einigen Jahren als Scheinsieg erweist. Es gibt auch in der Politik Arsenik-Esser-Erfolge. Eine Partei kann sich scheinbar kräftig entwickeln, während sie in Wirklichkeit dem Verfall zutreibt. Der Separatismus hat es uns gezeigt. Es dauert in einem solchen Falle natürlich immer ein Weilchen, bis der wahre Sachverhalt erkannt wird. In der Politik haben wir eben mit viel verwickeiteren Verhältnissen zu tun als in der Gewerkschaft.

Und so wird der Separatismus wohl noch eine geraume Zeit sein Unwesen treiben können, in der gewerkschaftlichen und erst recht in der politischen Organisation. Aber schließlich werden wir doch zu der Auffassung zurückkehren müssen, daß die nationale Autonomie in der Parteiorganisation, wie wir sie seit dem Wimberger Parteitag haben, ein Unding ist.

Damit wollen wir keineswegs sagen, daß die Umstände, auf die Bauer hinweist, um die nationale Gliederung der Partei zu rechtfertigen, gleichgültig sind. Die Partei muß ihnen vollkommen Rechnung tragen, sie muß den Genossen jeder Nation die für die Propaganda notwendige Bewegungsfreiheit gewähren. Aber das ist möglich auch innerhalb einer einheitlichen, geschlossenen Partei. Die Zerreißung der Partei in autonome nationale Gruppen hat ihr den schwersten Schaden zugefügt, und sie wird uns noch viel mehr schädigen, wenn wir nicht den Weg einschlagen, der zur Einheit der Organisation führt. Nur in einer straff zentralisierten internationalen Organisation ist auf die Dauer eine Politik des Internationalismus möglich.

8. Der Internationalismus

Wir sind ausgegangen von der Feststellung, daß jeder Mensch gegensätzliche Interessen hat und daß, wer nicht im Widerstreit seiner Interessen verkümmern oder gar untergehen will, zwischen ihnen einen Ausgleich zustande bringen muß. Peter z.B. ist Fabrikant, Sportsmann, Deutschnationaler und noch vieles, vieles andere. In jeder Eigenschaft hat er bestimmte Interessen, und diese geraten miteinander in Widerspruch. Als guter Deutscher kann er keinen Tschechen sehen, aber als Fabrikant mag er die tschechischen Arbeiter nicht missen. Der Sport erfordert viel Zeit und noch mehr Geld, das Geschäft aber verlangt einen Mann, der den zur Aneignung und Akkumulation von Mehrwert erforderlichen sittlichen Ernst besitzt, also mit Zeit und Geld nicht wie ein Kavalier, sondern wie ein Krämer umgeht. Wie soll Peter diese – und tausend andere – Widersprüche lösen? Soll er, wenigstens soweit es die Rücksicht auf seinen Profit erheischt, seinen Tschechenhaß unterdrücken, oder soll er nur deutsche Arbeiter beschäftigen, also eine Schmälerung seines Einkommens riskieren? Soll er als Automobilist seine Fabrik vernachlässigen oder als solider Geschäftsmann seine sportlichen Neigungen, wenn schon nicht aufgeben, so doch zügeln? Und solcher Alternativen gibt es, wie gesagt, unzählige. Jeder Tag stellt den Menschen vor ein Entweder-Oder, täglich und stündlich geraten wir in Widersprüche.

Hier interessiert uns nur einer von diesen Widersprüchen, der zwischen Klasseninteresse und nationalem Interesse.

Aber besteht ein solcher Widerspruch? Was ist Klasseninteresse? Gibt es überhaupt ein besonderes Klasseninteresse? Diese Frage soll nicht bedeuten, ob die verschiedenen Klassen der Gesellschaft verschiedene Interessen haben, ob es also besondere kapitalistische, proletarische, kleinbürgerliche Interessen gibt, sondern: Hat eine Klasse neben ihren Klasseninteressen noch andere Interessen? Hat das Proletariat neben seinen proletarischen noch nationale, künstlerische, sportliche und sonstige Interessen? Oder ist es die Summe aller Interessen, die die Klasse hat?

Die letzte Frage ist zu bejahen. Ein Mensch gehört nicht nur mit einzelnen Seiten seines Wesens, sondern in seiner Totalität zu einer Klasse. Er ist nicht nur auf wirtschaftlichem und politischem, sondern auch auf jedem anderen Gebiet Proletarier oder Bourgeois, Großgrundbesitzer oder Parzellenbauer, kurz Angehöriger irgendeiner Klasse. Er hat kein Interesse, das von seiner Klassenlage unberührt bleibt, der Klassengegensatz zieht sich durch das ganze gesellschaftliche Leben, nicht nur durch einzelne Sphären desselben. Die Fragestellung: Wie verhalten sich Klasseninteressen und nationale Interessen zueinander? ist also falsch. Sie setzt als bewiesen voraus, was erst zu beweisen wäre: daß die nationalen Interessen nicht zu den Klasseninteressen gehören, daß also verschiedene Klassen dieselben nationalen Interessen haben und daß darum die Arbeiterklasse einer Nation im Nationalitätenstreit mit den anderen Klassen dieser Nation, nicht mit den Arbeiterklassen der anderen Nationen gemeinsame Sache machen muß. 

Wir müssen also anders fragen: Wie verhalten sich die nationalen Interessen eines Menschen zu seinen übrigen Interessen, das heißt, wie verhält er sich in dem Widerstreit, in den seine nationalen Interessen mit den übrigen geraten?

Ich bin ein Deutscher. Als solcher habe ich das Interesse, daß die deutsche Sprache, die deutsche Kultur, die deutsche Sitte möglichst weit verbreitet sind, denn je deutscher die Welt, je größer der Bereich des Deutschtums, desto leichter und bequemer wird mir das Leben. Ich kann in einem fremden Land umso leichter fortkommen, je besser man meine Sprache dort versteht, und ich werde mich dort umso rascher einleben, je mehr die Einwohner dieses Landes von deutschem Wesen beeinflußt sind. Als Deutscher hätte ich also eigentlich das Interesse, die ganze Welt zu germanisieren.

Aber ich kann dieses Interesse nicht zu meiner alleinigen Richtschnur machen, denn ich habe noch andere, stärkere Interessen. Welcher Art diese sind, das hängt von meiner wirtschaftlichen Lage ab. Als Fabrikant werde ich meinen deutschen Interessen zum Trotz tschechische Arbeiter ins deutsche Land ziehen. Als Händler werde ich mich im Verkehr mit Tschechen der tschechischen Sprache bedienen. Bin ich Hausherr, so werde ich einen guten Zahler einem schlechten als Mieter vorziehen, mag auch dieser ein Deutscher und jener ein Tscheche sein. Muß ich eine Hypothek aufnehmen, so werde ich zu einer tschechischen Bank gehen, wenn sie mehr borgt und weniger Zinsen nimmt als die deutsche Sparkasse. Will ich mein Haus verkaufen, so wird mir der meistbietende Käufer der liebste sein, auch wenn er ein Tscheche ist; ja wenn’s geht, werde ich trotz meinem Deutschtum aus der Angst der guten Deutschen vor der slawischen Hochflut Kapital schlagen, also irgendeiner deutschnationalen Schutz- und Abwehrorganisation mein Haus zu einem sonst nicht zu erzielenden Preise anzuhängen versuchen. Als Handwerker werde ich mit Vorliebe tschechische Lehrlinge und Gehilfen beschäftigen. Als Beamter werde ich trotz meiner Begeisterung für die deutsche Sprache meiner Frau ein tschechisches Dienstmädchen halten. Rentiert sich’s, so werde ich meine Einkäufe bei tschechischen Geschäftsleuten machen.

Das heißt: Geraten die nationalen und die wirtschaftlichen Interessen eines Menschen miteinander in Widerspruch, so erweisen sich die wirtschaftlichen Interessen als die stärkeren. Vereinzelte Ausnahmen können vorkommen. Einzelne Individuen können sich von ihrer Klasse loslösen, die Masse kann es nicht. Und die Klasse stellt ihre wirtschaftlichen Interessen über die nationalen Interessen, jede Klasse ist nur soweit national gesinnt, als es ihre wirtschaftlichen Interessen erlauben. Warum soll gerade das Proletariat die nationalen Interessen den wirtschaftlichen voranstellen? Würde es etwa besser fahren, wenn es, wo seine wirtschaftlichen Interessen mit den nationalen in Widerspruch geraten, diese über jene stellte? Wir haben bei der Betrachtung der diversen nationalen Güter gesehen, daß das nicht der Fall ist. Wir haben gesehen, daß, was das Bürgertum nationales Interesse nennt, nur bürgerliches Interesse ist. Für dieses kann der Arbeiter ebensowenig kämpfen wie für Lohnverkürzungen und Arbeitszeitverlängerungen. Allerdings sind Nationalität und Sprache auch dem Arbeiter nicht gleichgültig. Aber er begibt sich, wie wir gesehen haben, auf einen Irrweg, wenn er den nationalen Dingen eine höhere Bedeutung beimißt als der Klassenkampf erfordert. Für den klassenbewußten Proletarier ist der Proletarier das Maß der Dinge, nicht der Deutsche, der Katholik usw. Er beurteilt alles vom proletarischen, nichts vom nationalen, religiösen oder irgendeinem anderen Standpunkt. Wo nationale Streitigkeiten entstehen, da ergreift er als Proletarier, nicht als Angehöriger dieser oder jener Nation Partei. Das bedeutet der proletarische Internationalismus. Nicht mehr, nicht weniger – nicht Gleichgültigkeit gegen die nationalen Dinge, aber auch nicht deren unproletarische Überschätzung.

Wie alles Proletarische wird in der bürgerlichen Welt auch unser Internationalismus nicht verstanden. Und zwar mißdeuten ihn nicht nur unsere bürgerlichen Gegner, sondern auch unsere bürgerlichen Freunde, die Revisionisten. Jene meinen, daß der sozialistische Internationalismus eine Konsequenz unserer „rohen Gleichmacherei“ ist; nach ihrer Ansicht sind uns, wie überhaupt alle Differenzierung, so auch die nationalen Unterschiede ein Greuel, und wir wollen sie darum natürlich „abschaffen“. Über diese Auslegung des Internationalismus braucht man kein Wort zu verlieren; wer nicht zu begreifen vermag, daß die sozialdemokratische Gleichheitsforderung nichts anderes bedeutet als die Forderung nach der Aufhebung der Klassenunterschiede, mit dem kann man nicht reden. Umsomehr ist über die Mißdeutung des Internationalismus durch die Revisionisten zu sagen. In ihnen hat die proletarische Ideologie die bürgerliche erschüttert, und sie statten dem Proletariat den Dank dafür ab, indem sie seine Ideologie durch die bürgerliche zu erschüttern bemüht sind. Ihr Internationalismus ist also etwas ganz anderes als der des Proletariats, aber er entspricht auch nicht den unverfälscht bürgerlichen Vorstellungen vom Internationalismus. Ganz im Gegenteil: Erblicken die vom Sozialismus unberührten Bürgerlichen im Internationalismus den grimmigsten Widersacher des Nationalismus, so sind die revisionistischen Sozialdemokraten Freunde jedes Nationalismus, versteht sich nur jedes „wahren“, jedes „echten“ Nationalismus. Sie sind national „im edelsten Sinne des Wortes“. Der Internationalismus ist ihnen die Summe aller Nationalismen. Sie meinen: Jede Nation kann sich frei und ungehemmt entwickeln, keine braucht die anderen in ihrer Entwicklung zu stören oder sich von ihnen stören zu lassen. Der Internationalismus ist nach dieser Anschauung ein sittlich geläuterter Nationalismus, des Nationalismus höchste Vollendung und Superlativ. Der Nationalismus widerspricht nach der Meinung unserer Parteinationalen dem Internationalismus nicht nur nicht, er ist ihnen vielmehr dessen logische Voraussetzung. Die beiden gehören zusammen, sie ergänzen einander, einer ist die Korrektur des andern.

Dieser Internationalismus wäre ganz schön, aber er fußt auf einer falschen Voraussetzung. Es ist nämlich nicht ganz richtig, daß die Nationen unter allen Umständen nebeneinander leben können, ohne einander ins Gehege zu kommen. In der bürgerlichen Gesellschaft hat jede Nation die Tendenz zur Ausdehnung, also, wo sich dieser Tendenz Hindernisse entgegenstellen, zum Angriff. Und jeder nationale Kampf muß den revisionistischen Internationalismus ad absurdum führen. Denn was soll das Proletariat mit ihm anfangen, wo es zum Nationalitätenstreit kommt? Soll es, wenn zwei Nationen aneinander geraten, beiden Recht geben? Nach der Logik des nationalistelnden Sozialismus wäre das eigentlich das einzig Mögliche, nach der gemeinen Logik aber ist es das Unmöglichste. Sollen also die Arbeiter beiden Parteien unrecht geben? Es ist denkbar, daß beide unrecht haben, aber die Behauptung, daß im Nationalitätenstreit beide Teile unter allen Umständen im Unrecht sein müssen, wäre doch ein bißchen zu kühn. Doch die Arbeiter hätten noch andere Möglichkeiten: Im deutsch-tschechischen Streit könnte sich das deutsche Proletariat zur deutschen, das tschechische zur tschechischen Bourgeoisie schlagen. Aber in diesem Falle kämen die national fühlenden Sozialisten nicht nur mit ihrer eigenen Theorie in Widerspruch, sie müßten auch den nationalen Streit ins Proletariat tragen, also die Einheit und Einigkeit des Proletariats zerstören. Bleibt nur noch eins: Sie müßten den Nationalitätenstreit nach den Grundsätzen der nationalen „Gerechtigkeit“ zu schlichten suchen. Aber was ist national gerecht? Kein Mensch weiß es, das heißt jeder Nationale hält seine persönlichen nationalen Vorurteile für die lauterste nationale Gerechtigkeit. Der nationale Internationalismus oder internationale Nationalismus müßte also auch in diesem Fall zur Fortsetzung des nationalen Streites führen. Er würde sich zwar vom bürgerlichen Nationalismus durch seine Zahmheit unterscheiden, aber auch das nur am Anfange, später jedoch, wie uns das Beispiel des Separatismus zeigt, die bürgerliche Konkurrenz an Wildheit und Skrupellosigkeit noch überbieten. In jedem Falle wäre das Ergebnis eines solchen Internationalismus der nationale Hader im Proletariat.

Für das Bürgertum ist das natürlich ein Ziel, aufs Innigste zu wünschen. Eben darum kann das Proletariat diesem Ziele nicht zustreben, und nicht schroff genug kann es einen Internationalismus ablehnen, der zum Völkerstreit führt, das heißt zu einem Streit, in dem sich die Bürgerlichen jeder Nation von ihren proletarischen Volksgenossen die Kastanien aus dem Feuer holen lassen wollen. Das Proletariat kann sich nur zu einem Internationalismus bekennen, der die Überwindung der nationalen Gegensätze im Proletariat bedeutet, wie der Sozialismus überhaupt die Erkenntnis bedeutet, daß die Gegensätze zwischen einzelnen Proletariern oder zwischen verschiedenen Proletariergruppen belanglos sind gegenüber dem Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat.

9. Der Kampf gegen den Nationalismus

Das Bürgertum hat in seiner revolutionären Zeit die Gottesidee aus der Naturerklärung verbannt, aber die bürgerliche Geschichtsauffassung ist ohne den lieben Gott nie ausgekommen. Freilich betrachtet sie die historischen Ereignisse nicht als Schickungen des Himmels, sondern als Werke der bedeutenden Männer8 – aber der bedeutende Mann, der große Denker ist ihr eine Art kleiner Gott, sein Werk etwas „restlos nicht zu Erklärendes“, eine Schöpfung aus Nichts, eine Wirkung ohne Ursache, ein Wunder, kurz etwas Göttliches.

Eine andere Auffassung von der Rolle des Genies in der Geschichte haben wir. Wir nehmen mit Marx an, daß nicht unser Bewußtsein unser Sein, sondern sondern umgekehrt unser Sein unser Bewußtsein bestimmt, daß die „Idee“ in der Wirtschaft wurzelt. Alle Geschichte ist uns Massengeschichte, nicht nur die Masse bestimmend, sondern auch von ihr bestimmt, von ihr gemacht. Sie ist nicht das Werk von Heroen, der große Mann ist nicht der Zauberer, der aus Nichts etwas macht, er hat vor den gewöhnlichen Menschen, dem „Herdenvieh“, nur eines voraus: daß er selbsttätig ins Bewußtsein heben kann, was im Unterbewußtsein auch der anderen vorbereitet daliegt, von ihnen aber nicht selbständig bewußt gemacht werden kann. Allerdings bringt der geniale Mensch etwas Neues, aber seine Bedeutung besteht darin, daß dieses Neue den anderen nicht fremd ist, daß es sie wie etwas Altes anmutet, daß sie es schon in sich hatten und nur nicht so ausdrücken, d.h. aus dem Unterbewußtsein herausdrücken konnten wie er.

Die Leistung von Marx und Engels besteht also nicht, wie die Bürgerlichen glauben, darin, daß sie dem Proletariat ihre Gedanken aufgedrängt, sondern darin, daß sie aus dem Proletariat seine Gedanken herausgeholt haben. Sie haben ausgesprochen, was in Millionen Gehirnen bewußt werden wollte, sie haben dem Proletariat zum Bewußtsein seiner selbst verholfen. Nichts anderes als das Bewußtsein des Proletariats von sich selbst ist der Sozialismus.

Aber der Arbeiter ist darum nicht von Haus aus Sozialdemokrat, sein Selbstbewußtsein muß sich erst entwickeln. Das proletarische Denken muß erlernt werden. Das ist eine langwierige und mühsame Arbeit, nicht nur für den Intellektuellen9, den seine Verhältnisse zu unproletarischen Anschauungen drängen, sondern auch für den Arbeiter, den alles zum Sozialismus disponiert. Da man sich aber als Sozialdemokrat umso besser betätigen kann, je mehr man Sozialdemokrat ist, so ist die erste und wichtigste Aufgabe der Partei die Agitation, die Aufklärung der Massen.

Aber wie leiten wir den Prozeß ihres Bewußtwerdens, wie agitieren wir?

Es ist, nach dem Gesagten, nicht Aufgabe des Agitators, in die Masse etwas ihr Fremdes hineinzutragen. So agitiert der Demagoge. Er will dem Proletarierhirn bürgerliche Anschauungen aufpfropfen und die proletarischen Gedanken, die es zu denken geneigt ist, im Keime ersticken. Er will dem Arbeiter etwas einreden und etwas ausreden, ihn sich selbst entfremden. Der sozialdemokratische Agitator aber will den Arbeiter zu sich selbst bringen. Er will ihm nicht etwas, das ihm wesensfremd ist, oktroyieren, sondern sein Eigenstes aus ihm herausholen. Aber wie fängt er das an?

Er darf es natürlich nicht machen wie jener guesdistische Student, der eine Bauernversammlung durch einen Vortrag über die dialektische Methode für die Partei gewinnen wollte und von den Bauern, die sich natürlich für gefoppt hielten, hinausgeworfen wurde. Will ich mit jemandem diskutieren, so muß ich an Vorstellungen anknüpfen, die ihm geläufig sind. Aber hier entsteht eine große Gefahr. Wie sieht es in der Seele des Indifferenten aus? Der Inhalt seines Bewußtseins ist fast ganz bürgerlich. Das Proletarische in ihm ist unbewußt, halbbewußt, unklares, dumpfes Gefühl, unsichere Sehnsucht. Wie groß ist da für den Agitator die Versuchung, die bürgerlichen Vorurteile dadurch zu bekämpfen, daß er ihnen eine proletarische Deutung gibt, die proletarischen Anschauungen zu propagieren, indem er sie bürgerlich deutet, also den Indifferenten nicht zum Verstehen, sondern zum Mißverstehen des Sozialismus zu erziehen! Denn schwer, ja unmöglich scheint es zu sein, auf einem anderen Wege ans Ziel zu kommen.

Aber es gibt einen anderen Weg. Setzen wir den Fall, wir wollen eine ganz indifferente, strenggläubige, überhaupt in allen Arme-Leut‘-Vorurteilen befangene Arbeiterschichte aufklären. Sollen wir ihr – was z.B. unsere Freidenker für das Zweckmäßigste halten – die Widerlegungen der Beweise vom Dasein Gottes vorsetzen? Es würde uns ergehen wie dem erwähnten Bauemaufklärer, wir könnten nur Mißtrauen und Schläge ernten. Oder sollen wir die Sache am anderen Ende anpacken und den Leuten erzählen, daß Christus „eigentlich ein Sozialist“ war und daß das „wahre“ Christentum dem Sozialismus eng verwandt ist? Das hieße den Sozialismus mißdeuten. Was sollen wir also tun? Wir werden Theorie und Praxis der Ausbeuter miteinander konfrontieren. Wir werden zeigen, daß die Taten dieser Christen den christlichen Anschauungen widersprechen, daß ihnen das ganze Christentum nur ein Herrschaftsmittel ist. Des weiteren werden wir dem naiven Proletarier an Tatsachen zeigen, daß sein Glaube an die Ewigkeit der bürgerlichen Gesellschaft (denn nichts anderes ist sein Glaube, daß die Erde ein Jammertal ist) auf falschen Voraussetzungen beruht. Ohne ihn in seinen Empfindungen nutzlos zu verletzen, aber auch ohne seinen Vorurteilen irgendeine Konzession zu machen, werden wir ihn so in eine Stimmung versetzen, die ihn für unsere Wirtschaftslehre empfänglich macht und ihn in unsere Organisation treibt. Aus dem Widerstreit, in den diese proletarische Stimmung mit seiner Arme-Leut‘-Ideologie gerät, muß sich schließlich sein proletarisches Selbstbewußtsein entwickeln.

Genauso wie jede andere unproletarische Ideologie müssen wir auch den Nationalismus behandeln. Wir müssen zeigen, daß die Taten der Nationalen mit ihren Reden in Widerspruch stehen. Wir müssen zeigen, daß der Arbeiter, der ein nationales Ideal hat, nicht nur dieses Ideal, sondern auch die Ziele, auf die ihn seine Klassenlage hinweist, nie erreichen kann. Besonders wir deutschen Sozialdemokraten hätten, selbst wenn die opportunistische Taktik im allgemeinen richtig wäre, keinen Grund, dem Nationalismus auch nur das kleinste Zugeständnis zu machen, denn wir befinden uns ihm gegenüber in einer überaus günstigen Situation: Der deutsche Proletarier ist dank den besonderen historischen Bedingungen, unter denen er lebt, vom Nationalismus fast unberührt geblieben, er ist sozusagen ein geborener Internationaler. Dennoch sind wir seit einiger Zeit „gute Deutsche“. Früher waren wir bloß internationale Sozialdemokraten. Der Fortschritt zum Deutschtum ist eine Errungenschaft der letzten Jahre. Wie kommen wir zu ihr? Wir verdanken sie einer ungeheuerlichen, grotesken Überschätzung der Werbekraft des nationalen „Gedankens“. Die Wahlreform hat das nationale Bürgertum so erschreckt, daß es die fast schon aufgegebenen Versuche, wenigstens einen Teil der Arbeiterschaft national zu „organisieren“, mit dem Mut der Verzweiflung wieder aufgenommen hat. Dazu kommt, daß der Separatismus die Stellung der internationalen Sozialdemokratie gegenüber den nationalen Parteien verschlechtert hat. Wie soll man den wütigen Ansturm des Nationalismus abschlagen? Von unseren führenden Genossen scheinen manche der Meinung zu sein, daß der intransigente Internationalismus dem Nationalismus nicht standzuhalten vermag, daß den Nationalismus nur der Nationalismus schlagen kann. So sind wir, förmlich über Nacht, aus Respekt vor den Nationalen gute Deutsche geworden. Es ist ihnen gelungen, uns eine Konzession abzupressen. Allerdings sieht diese Konzession, das ist das Bestechende an ihr, wie eine Abfertigung aus. „Ihr beschuldigt uns des Verrats an der Nation? Lächerlich. Wir sind gute Deutsche, ja wenn wir’s recht bedenken, sogar bessere Deutsche als ihr.“ So wird der Teufel wieder einmal mit dem Beelzebub ausgetrieben.

Gute Deutsche. Gegen die Anwendung dieser Redensart spricht, abgesehen von allem anderen, schon der Umstand, daß sie dem Wortschatz des Nationalismus entlehnt ist. Solche Anleihen bei einer fremden Terminologie haben unter allen Umständen etwas Mißliches. Sie wirken verwirrend, und zwar nicht auf unsere Gegner – die lachen uns ja nur aus, wenn wir als gute Deutsche auftreten –, sondern auf unsere Genossen. Das Wort von den guten Deutschen ist ihnen als der Schlachtruf eines Feindes verdächtig geworden, es gilt ihnen fast für ein Schimpfwort, und nun soll es auf einmal unsere Parole sein. Der „schlichte“ Arbeiter, dem „staatsmännische“ Erwägungen fremd sind, begreift das umsoweniger, als er mit dem vertrackten Wort nicht einmal den klaren Sinn verbinden kann. Und unsere guten Deutschen haben es bisher, wie bereits erwähnt, ängstlich vermieden, sich selber zu definieren. Wir sind gute Deutsche, aber wir wissen nicht, was das ist.

Und wir werden es schwerlich jemals erfahren. Denn es scheint, daß das ominöse Wort alle möglichen Bedeutungen annehmen kann, nur gerade eine sozialistische nicht. Soll es die Besitzer jener Vorzüge bezeichnen, die das deutsche Volk nach der Behauptung der Nationalen vor allen anderen Völkern der Erde voraus hat, dann sind die deutschen Arbeiter keine guten Deutschen, denn der Kapitalismus hat sie körperlich heruntergebracht, er hat sie ausgeschlossen vom Genusse der deutschen Kultur, er läßt sie nicht einmal die Muttersprache ordentlich erlernen. Wie kann man sie gute Deutsche nennen? Aber vielleicht soll dieses Wort etwas anderes bedeuten, vielleicht soll es besagen: Wir sind alle deutsch gesinnt. Aber was heißt das? Wer ist deutsch gesinnt? Wer es mit dem deutschen Volke gut meint? Aber wir meinen es mit ganzen Klassen des deutschen Volkes, mit allen Ausbeutern und Unterdrückern, gar nicht gut. Und auch wenn als deutsches Volk nur die ausgebeuteten und unterdrückten Deutschen zu betrachten sein sollten, dürften wir uns bloß deswegen, weil wir ihre Interessen vertreten, noch lange nicht gute Deutsche nennen. Denn wir bekämpfen Ausbeutung und Unterdrückung nicht nur, weil und soweit Deutsche unter ihnen leiden. Wir kämpfen auch gegen die Ausbeutung und Unterdrückung von Tschechen, Ruthenen, Italienern, nach der Logik unserer guten Deutschen wären also wir deutschen Sozialdemokraten nicht nur gute Deutsche, sondern auch gute Tschechen, Ruthenen, Italiener. Warum also sollten wir gerade unser Deutschtum betonen? Etwa, weil wir meist mit Deutschen zu tun haben? Der organisierte Schuhmacher arbeitet natürlich in der Schuhmacherorganisation, nennt er sich darum einen guten, überzeugten Schuster?

Wir können uns drehen und wenden wie wir wollen, es wird uns nicht gelingen, mit der Phrase: „Wir sind gute Deutsche“ irgendeinen vernünftigen Sinn zu verbinden. Nichtsdestoweniger scheinen manche Genossen im Kampf gegen den Nationalismus von ihr Wunder zu erwarten. Genosse Renner hat es in seiner Broschüre: Der deutsche Arbeiter und der Nationalismus fertiggebracht, sie auf siebzig Seiten zwar nicht zu erklären, aber zu begründen. Diese Schrift enthält sehr viel Wertvolles. Renner zeigt, wie sehr die Praxis der Nationalen mit ihrer Ideologie im Widerspruche steht, er zeigt, daß sich hinter den nationalen Phrasen bürgerliche Interessen verstecken. Aber er denkt: Doppelt hält besser, und so läßt er neben einer durchaus sozialistischen Widerlegung des Nationalismus eine durchaus unsozialistische herlaufen. Er meint freilich, daß er sich nur einer „ungewohnten Terminologie“ bedient, nur den „Ton“ der Ideologie der Gegner, an die er sich wendet, „etwas angepaßt“ hat. Aber er hat mehr getan. Er hat die nationalistische und die sozialistische Ideologie einander angleichen wollen. Er hat Wein in Jauche geschüttet, aber dadurch nicht, wie er wollte, die Jauche veredelt, sondern nur den Wein verdorben. Er redet z.B. von der „Gefahr“, die dem heutigen Wien von der tschechischen Zuwanderung droht! Oder er sagt: „Alle gewerkschaftliche Organisation hat als erste Aufgabe, jeden Arbeiter in seiner Arbeitsstelle gegen Maßregelung zu schützen, also an seinem Wohnort in seiner Stellung zu erhalten, damit jeder in seinem Lande bleiben und dort sich und seine Familie redlich ernähren könne.“ Was soll das Kleinbürgersprüchlein: „Bleibe im Lande und nähre dich redlich“ im Munde eines Sozialdemokraten? Hindert man den Arbeiter nicht geradezu, das Wesen der Gewerkschaft zu erfassen, wenn man ihm erzählt, daß die Gewerkschaft kleinbürgerliche Ideale hat? Wenn wir sagen dürfen, daß die Gewerkschaften dem Arbeiter ermöglichen sollen, im Lande zu bleiben und sich redlich zu nähren, dann dürfen wir auch behaupten, daß wir Monarchisten sind, weil wir nicht den Königsmord predigen, daß wir gut kapitalistisch gesinnt sind, weil wir jede Hemmung des Kapitalismus durch zünftlerische Schikanen bekämpfen, daß wir religiös sind, weil wir die Erklärung der Religion zur Privatsache verlangen, usw. Aber wo kommen wir da hin? Wird es uns, wenn wir diesen Weg einschlagen, gelingen, auch nur aus einem einzigen Arbeiter einen wirklichen Sozialdemokraten zu machen?

Nochmals: Was soll die Phrase, daß wir gute Deutsche sind? Den, der national, d.h. bürgerlich denkt, werden wir auch durch die leidenschaftlichsten Beteuerungen unseres Deutschtums nicht überzeugen, er wird sich über uns nur lustig machen. Zu gewinnen haben wir als gute Deutsche also nichts. Wohl aber zu verlieren. Wir verwirren den Arbeiter, wenn wir ihm jetzt auf einmal entdecken, daß er „ein treuer Sohn seines Volkes“ ist, den Gegnern aber können wir mit unserem Deutschtum nichts anhaben. So wenig ihnen das Sozialisteln nützt, so wenig uns das Nationalisteln. Wir können die Nationalen nicht aus dem Felde schlagen, indem wir es ihnen gleich zu tun, oder gar sie zu überbieten suchen. Wir können nur eines: der nationalistischen Ideologie die Ideologie des intransigenten Internationalismus entgegensetzen.


Anmerkungen

1. Das ist auch die Volksmeinung. Beweis dessen die Nebenbedeutung der Wörter: gerissen, gerieben, abgebrüht, g’haut, ‚brennt usw. Auch das Sprichwort: „Das gebrannte Kind fürchtet das Feuer“ zeigt, daß das Volk sehr wohl weiß, auf welchen Wegen wir zur Vernunft kommen.

2. Von der Macht einer Nation kann, streng genommen, überhaupt nicht gesprochen werden, weil keine Nation als Nation organisiert ist. Wir wollen es aber, zur Vereinfachung der Diskussion, nicht streng nehmen.

3. Die Unterscheidung zwischen nationaler und nationalistischer Gesinnung ist mir zu fein. Ich finde, daß sich Nationale und Nationalisten nicht wesentlich voneinander unterscheiden: der Nationale ist nur ein gestutzter, ein gemäßigter Nationalist, aber doch ein Nationalist.

4. Es ist mir natürlich nicht ganz unbekannt, daß es Rassen und infolgedessen auch Rassenunterschiede gibt. Auch erlaube ich mir nicht zu bestreiten, daß die Rasseneigentümlichkeiten die gesellschaftliche Entwicklung beeinflussen. Ich sage nur, daß die Rassentheoretiker noch keine einzige Tatsache festgestellt haben, die die nationalistische Politik rechtfertigen würde.

5. Unsere Genossen im Parlament haben es getan. In der Debatte über den Dringlichkeitsantrag Körner gab Genosse Seliger am 20. März 1912 im Namen der Fraktion eine Erklärung ab, in der es heißt: „Der Grundsatz: ‚Deutsche Richter für die deutschen, tschechische Richter für die tschechischen Bezirke‘ würde dann (wenn das Volk die Richter wählte) ganz selbstverständlich gelten. Wir erkennen daher den Grundsatz, daß für die deutschen Bezirke deutsche, für die tschechischen Bezirke tschechische Richter ernannt werden sollen, während für die gemischten Bezirke Richter aus beiden Nationen zu bestellen sind, auch unter der heutigen Gerichtsverfassung als berechtigt an.“ Dagegen wäre zu bemerken: Es ist durchaus nicht selbstverständlich, daß in einem deutschen Gerichtsbezirk nur ein deutscher, in einem tschechischen nur ein Tscheche gewählt werden würde. Im Jahre 1897 haben die deutschen Sozialdemokraten im dritten Wiener Wahlkreis den Tschechen Nemec, der damals noch Sozialdemokrat war, ins Parlament schicken wollen. Warum sollten deutsche Sozialdemokraten nicht auch bei einer Richterwahl einem Tschechen ihre Stimme geben dürfen? Wir können nur verlangen, daß ein Richter die Sprache, in der er amtieren soll, vollkommen beherrscht. Die Forderung aber, daß diese Sprache auch seine Muttersprache sein muß, läßt sich vom sozialistischen Standpunkt nicht begründen, und die Fraktion ist die sozialistische Begründung ihrer Anschauung auch schuldig geblieben.

6. Wenn ich von einer Weltsprache rede, so denke ich natürlich nicht an Volapük und Esperanto. Aber der Spott, mit dem man die Vorkämpfer dieser „Weltsprachen“ überhäuft, scheint mir doch übers Ziel zu schießen. Ihr Grundgedanke, daß eine bewußte Sprachentwicklung möglich sein muß, ist richtig. Wenigstens ist nicht einzusehen, warum wir nicht, wie andere gesellschaftliche und natürliche Prozesse, auch die Entwicklung der Sprache sollten bewußt leiten können. Freilich müßten wir, um es zu können, erst hinter das Entwicklungsgesetz der Sprache gekommen sein, und der wesentliche Irrtum der Esperantisten usw. besteht darin, daß sie das nicht begreifen. Sie sind „überspannt“, aber nur so, wie es auch die utopistischen Sozialisten waren.

7. In einem sehr bescheidenen Sinne kann von einer Erziehung der Kapitalistenklasse durch die Arbeiter gesprochen werden. Die Arbeiter können es dahin bringen, daß die Unternehmer gewisse Forderungen bewilligen, ohne es auf einen Kampf ankommen zu lassen: wenn sich z.B. der Arbeiter, weil eine starke Organisation hinter ihm steht, eine unanständige Behandlung nicht gefallen lassen muß, so sieht der Fabrikant ein, daß auch der Arbeiter ein Mensch ist. Aber diese Einsicht ist Einsicht nicht in die Bedürfnisse, sondern in die Macht des Proletariats, und die Arbeiter haben sie den Kapitalisten beigebracht, nicht indem sie ihnen von der Schönheit der sozialistischen Idee vorschwärmten, sondern durch den Klassenkampf; nicht durch die Stärke ihrer Argumente, sondern durch das Argument ihrer Stärke.

8. „Kain hätte anstatt des Abel den Bebel erschlagen müssen.“ In dieser Antwort auf die bekannte Scherzfrage: „Wie hätte die Entstehung der Sozialdemokratie verhindert werden können?“ hat die bürgerliche Geschichtsauffassung ihren klassischen Ausdruck gefunden.

9. Die Intellektuellen beschweren sich über Hochnäsigkeit oder Demagogie, wenn man ihnen sagt, daß der „einfache“ Arbeiter für den Sozialismus mehr Verständnis besitzt als der graduierteste Akademiker. Die guten Leutchen sind genauso geistreich wie jener Wiener, der sich nicht genug darüber wundern kann, daß in Paris Jeder Hausmeister“ französisch redet.